14.05.2014 Aufrufe

Berliner Bestell-Fax für Themenhefte - Der Paritätische Berlin

Berliner Bestell-Fax für Themenhefte - Der Paritätische Berlin

Berliner Bestell-Fax für Themenhefte - Der Paritätische Berlin

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Lektüre<br />

Zeit essen Seele auf<br />

Das Langsame ist wichtiger<br />

als das Schnelle<br />

In Kürze erscheint im Carl-Auer-Verlag ein Buch,<br />

das sich mit dem Faktor Zeit in Therapie und Beratung<br />

auseinandersetzt.<br />

Seit zwei, drei Jahren wissen wir endlich, was Pokrastination<br />

ist: Die Neigung zum Aufschieben und Vertagen.<br />

Kein Small Talk kommt ohne das Trendthema „Entschleunigung“<br />

aus; wir sollen immerfort die Langsamkeit<br />

entdecken und „Slow Food“ mampfen. Die Zeit selbst,<br />

die ihm den Namen gab, ist dem Zeitgeist ausgeliefert.<br />

Jetzt hat auch die Fachwelt das Thema „Zeit“ wiederentdeckt<br />

und, Hans-Werner Fassbinders<br />

Filmtitel verändernd, „Zeit essen Seele<br />

auf“ auf den Buchdeckel gedruckt.<br />

Untertitel: „<strong>Der</strong> Faktor Zeit in Therapie<br />

und Beratung“. Das Buch aus dem<br />

fachlich renommierten Verlag Carl-<br />

Auer nimmt sich in zwölf Kapiteln die<br />

Zeit, das Thema Zeit in der Psychiatrie<br />

zu beleuchten, aber auch im Lebenslauf,<br />

in Beratung und Therapie sowie in der<br />

Organisation.<br />

Lese<br />

stoff<br />

Zehn Thesen zum Thema Zeit in<br />

der Psychiatrie<br />

Nicht alle Beiträge sind brandneu – im<br />

ersten Aufsatz, der gewissermaßen die<br />

Pflöcke programmatisch absteckt, werden<br />

„Zehn Thesen zum Thema Zeit in<br />

der Psychiatrie“ wiedergegeben, die der<br />

Autor Luc Ciompi (geb. 1929) vor mehr als 20 Jahren<br />

formuliert hat. Kernthese des Schweizer Psychiaters,<br />

Autors und Wissenschaftlers ist, dass das Langsame<br />

wichtiger sei als das Schnelle, wenn es um psychiatrische<br />

Behandlung geht.<br />

Dieses Primat der Langsamkeit gilt auf gar nicht so paradoxe<br />

Weise selbst in der Notfallpsychiatrie, wie der Notfallpsychiater<br />

Urs Hepp an anderer Stelle des Buches aus<br />

seinem Berufsalltag berichtet – wo es darauf ankomme,<br />

das Prinzip der Langsamkeit auch dort zur Geltung zu<br />

bringen, wo die Situation auf Hektik eingerichtet ist.<br />

Das erfordert Haltung. „Wenn ich eine (...) vorläufige<br />

Lösung gefunden habe, überlege ich immer „Kann ich<br />

heute Nacht ruhig schlafen?“ Falls ich diese Frage mit<br />

„nein“ beantworte, ist dies immer ein deutliches Zeichen,<br />

dass die angestrebte Lösung noch nicht tragfähig<br />

ist“. Geduldig und (auch <strong>für</strong> Laien anschaulich) rückt<br />

Luc Ciompi die „Eigenzeit“, also die gelebte Zeit des Patienten<br />

als Leitfaden aller Behandlung ins Zentrum, erklärt<br />

wie die euphorischen Maniker daran scheitern, ihre<br />

Zeit zu beschleunigen, wie Schizophrene sie zu spalten<br />

versuchen, Neurotiker drehen und verleugnen und wie<br />

sie <strong>für</strong> den Depressiven scheinbar still steht. Die Kunst<br />

der Ärzte und Therapeuten besteht nun darin, ihren Patienten<br />

an die „Eigenzeit“ zu führen - „die Zerstörung<br />

der persönlichen Eigenrhythmen und -tempi kränkt also<br />

und macht unter Umständen richtig krank, stellen wir<br />

zusammenfassend fest“, schreibt Luc Ciompi.<br />

<strong>Der</strong> Appell des Psychiaters, mit der Zeit der Patienten<br />

(und den eigenen zeitlichen Ressourcen) schonend umzugehen,<br />

verhalle leider unter dem Druck des Gesundheitssystems,<br />

kommentieren die Herausgeber Ulrike<br />

Borst und Bruno Hildenbrand: „Heute erfassen die Fallpauschalen<br />

auch die Psychiatrie, und in der Folge wird<br />

es zu einer weiteren Beschleunigung psychiatrischer<br />

Behandlungen kommen.“ Die aktuelle<br />

Entwicklung gehe in Richtung<br />

Manualisierung und damit Standardisierung,<br />

eine Fehlentwicklung des Gesundheitswesens,<br />

warnen sie.<br />

Die Verdichtung und Vertaktung von<br />

Zeit habe in Therapie und Beratung<br />

längst stattgefunden, schreiben die<br />

Herausgeber, heute gehöre die „Kurzzeittherapie“<br />

zu den meistdiskutierten<br />

Strömungen in der systemischen Beratung<br />

und Therapie. Kann es sein,<br />

dass unter dem Druck des Ökonomischen<br />

Ciompis Festlegung auf die<br />

Psychiatrie als Disziplin der Geduld<br />

und Langmut, außer Kraft gesetzt<br />

wird? Ein Bollwerk gegen die „Logik<br />

der Wirtschafts- und Beschäftigungssysteme“<br />

sieht Bruno Hildenbrand,<br />

Soziologe und Therapeut, in den Familien, die er, etwas<br />

romantisierend, „als Freischärler ihrer eigenen Zeit“ bezeichnet.<br />

Als Lebensform seien Familien in der Lage,<br />

die ihnen gemäße Zeitstrukturierung zu erhalten. Diese<br />

Fertigkeit, die durch die Konstellation Mutter-Vater-<br />

Kinder eine Eigenständigkeit und eine eigene Dynamik<br />

erhält, könnte Familien gegen die „Dynamik marktkapitalistischer<br />

Gesellschaften, die im rasenden Stillstand<br />

um sich selber kreisen, vielleicht ein bisschen resistenter<br />

und resilienter machen. Nicht nur in der Familientherapie<br />

könne es gut sein, mit den Klienten auszuhandeln,<br />

dass es sinnvoll sein kann, aus der Dynamik des „Immer<br />

mehr, immer besser, immer weiter“ auszusteigen.<br />

Die neue Devise hieße dann: Es eilt nicht.<br />

Ulrike Borst (Hrsg.), Bruno Hildenbrand (Hrsg.)<br />

Zeit essen Seele auf. <strong>Der</strong> Faktor Zeit in Therapie<br />

und Beratung. 237 Seiten, Carl-Auer-Verlag 2012;<br />

Preis 24,95 Euro<br />

März 2012 23

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!