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Foucault - Traum

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(139/140) Insofern kann die <strong>Traum</strong>erfahrung nicht von ihrem ethischen Gehalt<br />

getrennt werden. Nicht weil sie geheime Neigungen, uneingestehbare Begierden enthüllen und<br />

die ganze Wolke der Triebe aufwirbeln würde, nicht weil sie wie der Gott Kants »auf Herz<br />

und Nieren prüft«, sondern weil sie die Bewegung der Freiheit im echten Sinne<br />

wiederherstellt, weil sie darlegt, auf welche Weise sie sich gründet oder sich entfremdet, auf<br />

welche Weise sie sich als radikale Verantwortlichkeit in der Welt konstituiert bzw. wodurch<br />

sie sich vergisst und sich dem Sturz in die Kausalität preisgibt. Der <strong>Traum</strong> ist die absolute<br />

Enthüllung des ethischen Gehalts, das entblößte Herz. Eben diese Bedeutung zeigte Platon im<br />

Buch X der Politeia an und nicht in einem präfreudianischen Stil die heimlichen Äußerungen<br />

des Triebes. Der Weise hat nämlich nicht dieselben Träume wie die Gewaltmenschen – wie<br />

jener »tyrannische«, der Tyrannei seiner Begierden unterworfene und der politischen<br />

Tyrannei des nächstbesten Thrasymachos verfallene Mensch; der Mensch der Begierde träumt<br />

von Schamlosigkeit und Wahnsinn: »Wenn ein an Körper und Temperament gesunder Mensch<br />

sich dem Schlaf überlässt, nachdem er den vernünftigen Teil seiner Seele geweckt hat [...],<br />

wenn er ebenso vermieden hat, das Element der Begierde hungrig oder satt zu lassen, so dass<br />

es sich in Ruhe befindet und keinerlei Verwirrung ins Beste bringt [...], wenn dieser Mensch<br />

gleichermaßen das zornige Element besänftigt hat und eben nicht der von Zorn gegen<br />

jemanden erregte Körper einschläft; wenn er diese beiden Elemente der Seele beruhigt und<br />

das dritte, in dem die Weisheit angesiedelt ist, angeregt hat, und wenn er dann schließlich<br />

ruht, dann, wie du weißt, kommt er besser denn je mit der Wahrheit in Berührung, und dann<br />

sind die Visionen seiner Träume keineswegs regellos.« 61<br />

Die Geschichte der Kultur hat dieses Thema vom ethischen Wert des <strong>Traum</strong>es sorgsam<br />

bewahrt; recht oft ist seine Bedeutung als Vorbote für ihn bloß sekundär; was das<br />

<strong>Traum</strong>gesicht für die Zukunft des Träumenden verkündet, leitet sich allein von dem her, was<br />

er an Verpflichtungen oder Bindungen seiner Freiheit enthüllt. Jézabel kommt nicht, um<br />

Athalie das bevorstehende Unheil vorauszusagen; ihr wird eilends verkündet, dass »der<br />

grausame Gott der Juden nochmals obsiegen werde« über sie, sie macht (140/141) ihr nur<br />

deutlich, dass ihre Freiheit durch die Reihe ihrer Verbrechen gefesselt und hilflos der Rache<br />

ausgeliefert sei, die die Gerechtigkeit wiederherstellt. Zwei Arten von Träumen werden als<br />

besonders bedeutsam angesehen: der <strong>Traum</strong> des verstockten Sünders, der auf seiner<br />

schwankenden Bahn in die Hoffnungslosigkeit plötzlich erkennt, wie sich vor seinen Augen<br />

der Weg des Heils öffnet (mitunter wird dieser <strong>Traum</strong> auf eine andere Gestalt übertragen, die<br />

weniger blind ist und besser imstande, dessen Sinn zu erfassen: Dies ist so bei dem berühmten<br />

<strong>Traum</strong> der heiligen Cäcilia, die aus dem <strong>Traum</strong>gesicht herausliest, dass ihr Sohn nunmehr<br />

bereit sei für Gott), und der <strong>Traum</strong> des Mörders, der im <strong>Traum</strong> sowohl jenem Tod begegnet,<br />

den er gegeben hat, als auch dem Tod, der auf ihn lauert, und der den Schrecken einer<br />

Existenz entdeckt, die er selbst durch einen Blutschwur mit dem Tod verbunden hat. Eben<br />

dieser <strong>Traum</strong>, der in der Wiederholung des Gewissensbisses die Vergangenheit mit der<br />

Gegenwart verbindet, der sie in der Einheit eines Schicksals verknüpft, sucht die Nächte eines<br />

Macbeth heim; auf ihn stößt man so häufig in der klassischen Tragödie.<br />

Bleicher Körper, gelähmter Körper, kalte Masse von Gebein<br />

Die die Sanftheit meiner Zufriedenheiten stört<br />

Objekt voller Schrecken, grauenvolle Gestalt<br />

Gemisch von Schrecken aller Art<br />

61 Politeia, Buch X, 571e-572a.

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