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Fernraum: Der Fernraum als der Raum, durch den man sich ablöst, sich meidet oder den man<br />
erforscht oder erobert; der Nahraum als der Raum der Ruhe, der Vertrautheit und der<br />
Zuhandenheit. Doch in bestimmten Erfahrungen ist dieses Verhältnis gestört: Der Fernraum<br />
lastet nun auf dem Nahraum, besetzt ihn von allen Seiten mit massiver Präsenz, gleichsam in<br />
einer Umklammerung, die sich nicht lockern lässt. Bald durchdringt die Ferne langsam die<br />
poröse Gegenwart des Nahraumes und vermischt sich mit ihm in einer vollständigen<br />
Abschaffung der Perspektive, wie bei den Katatonischen, die dem, was »um sie herum«<br />
geschieht, gleichgültig, als wäre alles fern, und dennoch betroffen »beiwohnen«, als wäre alles<br />
nah, die somit die objektive Versetzung der Dinge an den Horizont und die eigentliche<br />
Bewegung ihrer Körper vermischen. Bald dringt der Fernraum wie ein Meteor in die<br />
unmittelbare Sphäre des Subjekts ein: Ein Zeuge dafür ist jener Kranke, dessen Fall Binswanger<br />
77 berichtet; er ist im Raum ordentlich orientiert, doch in seinem Bett liegend hat er den<br />
Eindruck, dass ein Stück von der Eisenbahn dort unter seinem Fenster sich vom Horizont löst,<br />
in sein Zimmer eindringt, es durchquert, sich ihm in den Schädel bohrt und sich schließlich in<br />
sein Gehirn rammt. In all diesen (153/154) Metathesen des Nahen und des Fernen verliert der<br />
Raum seine Sicherheit, er lädt sich auf mit erstickenden Drohungen und plötzlichen Gefahren, er ist<br />
von Einbrüchen durchfurcht. Der Raum, Zeichen meiner Ohnmacht. Die Polarität des Hellen und<br />
des Dunklen ist nicht identisch mit der des Nahen und des Fernen, auch wenn sie nicht immer<br />
davon unterschieden wird. Minkowski 78 hat diesen dunklen Raum beschrieben, in dem die halluzinatorischen<br />
Stimmen widerhallen und zugleich Fernes und Nahes sich vermischen. In dieser<br />
schwarzen Welt erfolgt die räumliche Einbeziehung nicht nach Art der Gesetze der<br />
Nebeneinanderstellung, sondern gemäß den besonderen Modalitäten der Einwicklung oder<br />
Verschmelzung. Der Raum hat nun nicht mehr die Rolle zu verteilen, aufzuteilen; er ist nur mehr<br />
die Bewegung von Figuren und Klängen; er folgt dem Fluss und dem Rückfluss ihrer<br />
Erscheinungen. Diese nächtliche Räumlichkeit vor Augen, kann man wie Minkowski den hellen<br />
Raum analysieren, der sich vor dem Subjekt höhlt, den eingeebneten und sozialisierten Raum, in<br />
dem ich über den Modus der Aktivität alle meine Bewegungsvirtualitäten erfahre und in dem jedes<br />
Ding seinen bestimmten Platz hat, den seiner Funktion oder seines Gebrauchs. Tatsächlich steht<br />
dem Raum der Dunkelheit radikaler noch ein Raum reinen Leuchtens gegenüber, in dem alle<br />
Dimensionen sich, wie es scheint, zugleich erfüllen und abschaffen, in dem alle Dinge ihre Einheit<br />
zu finden scheinen, nicht in der Verschmelzung flüchtiger Erscheinungen, sondern im Aufblitzen<br />
einer den Blicken voll und ganz dargebotenen Gegenwärtigkeit.<br />
Erfahrungen dieser Art sind von Rümke beschrieben worden: 79 Eine seiner Kranken<br />
verspürt in ihr etwas so Weites und so Stilles, eine ungeheuer große Wasserfläche, und sie selbst hat<br />
das Empfinden, sich in diese lichtvolle Durchsichtigkeit zu verströmen. Eine andere erklärte: »Es<br />
gab Zeiten, wo alles, was ich sah, enorme Ausdehnungen annahm; Menschen schienen Riesen, alle<br />
Gegenstände und Entfernungen erschienen mir wie in einem Opernglas; es ist immer, als ob ich<br />
z.B. beim Sehen nach draußen durch ein Fernrohr gucke. Viel mehr Perspektive, Tiefe und Klarheit<br />
in allem.«<br />
(154/155) Schließlich hat Binswanger selbst die vertikale Achse des Raumes in ihrer<br />
Bedeutung für die Existenz analysiert: das Thema der rauen und langwierigen Anstrengung, der<br />
77 »Das Raumproblem in der Psychopathologie«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 24. Februar<br />
1933, Nr. 145, 1933, S. 598-647. [Wiederveröffentlicht in: Ausgewählte Werke, Bd. 3: Vorträge und Aufsätze, a.a.O.,<br />
S. 123-177. A. d. Ü.]<br />
78 »Esquisses phénoménologiques«, in: Recherches philosophiques, Bd. IV, 1934-1935, S. 295-313.<br />
79 Zur Phänomenologie und Klinik des Glücksgefühls, Berlin 1924.