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Dokumentation-Jahrestagung 2011 - Bundesministerium für Bildung ...

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<strong>Jahrestagung</strong> <strong>2011</strong><br />

Perspektive Berufsabschluss<br />

<strong>Dokumentation</strong> der <strong>Jahrestagung</strong> vom 6. bis 7. Oktober <strong>2011</strong><br />

in Frankfurt am Main


Impressum<br />

Herausgeber<br />

<strong>Bundesministerium</strong><br />

für <strong>Bildung</strong> und Forschung (BMBF)<br />

Referat Berufsorientierung,<br />

Chancengerechtigkeit für Jugendliche<br />

53170 Bonn<br />

Internet: http://www.bmbf.de<br />

Redaktion<br />

Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR),<br />

Projektträger im DLR (PT-DLR), Bonn<br />

Gestaltung<br />

Multitask Agentur für Live-Markenführung GmbH<br />

Druck<br />

Europrint medien GmbH<br />

Bonn, Berlin 2012<br />

Bildnachweis<br />

Fotograf: Sven Hobbiesiefken


1<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Einführung 3<br />

Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel der Bundesregierung<br />

Grußwort Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung „Berufliche <strong>Bildung</strong>; Lebenslanges Lernen“<br />

im <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />

Chancengerechtigkeit und <strong>Bildung</strong>szugänge – Betrachtungen aus Landessicht<br />

Klaus Wilhelm Ring, Abteilung „Berufliche Schulen, Schulen für Erwachsene,<br />

Lebensbegleitendes Lernen“, Hessisches Kultusministerium<br />

Chancengerechtigkeit als bildungspolitische Forderung und ökonomische Notwendigkeit<br />

Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der<br />

Deutschen Arbeitgeberverbände<br />

Chancen verbessern – Strukturen optimieren – Fachkräfteentwicklung fördern<br />

Fachdiskussion<br />

4<br />

9<br />

17<br />

26<br />

Fachforen – Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel 30<br />

Forum 1<br />

Herkunft, soziales Umfeld, geschlechtsspezifische Hürden und Berufswahlverhalten:<br />

Optimierung durch das Regionale Übergangsmanagement<br />

Forum 2<br />

Regionales Übergangsmanagement als bildungspolitische Koordinationsstrategie:<br />

Kooperationen von Programmen zur Verbesserung der Übergänge von der Schule<br />

in die Berufsausbildung<br />

Forum 3<br />

Beteiligung an beruflicher <strong>Bildung</strong> erhöhen: interkulturelle Netzwerke zur Erschließung<br />

der Potenziale von (jungen) Menschen mit Migrationsgeschichte<br />

Forum 4<br />

Fachkräftebedarf von Unternehmern sichern: mit Nachqualifizierung Personalentwicklung<br />

An- und Ungelernter betreiben<br />

Forum 5<br />

Erwachsene auf dem Weg zum Berufsabschluss: berufliche Kompetenzen feststellen,<br />

dokumentieren, anerkennen<br />

Das Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />

Gesprächsrunde: Rückblick und Ausblick, Ergebnisse und Handlungsempfehlungen<br />

30<br />

32<br />

35<br />

38<br />

41<br />

44<br />

Impressionen 48<br />

Moderation: Judith Schulte-Loh, WDR


3<br />

Einführung<br />

Mit dem Programm „Perspektive Berufsabschluss“ fördert das<br />

BMBF in 97 Regionen Strukturen im Übergang von der Schule<br />

in die Berufsausbildung und in der beruflichen Nachqualifizierung<br />

junger Erwachsener ohne Berufsabschluss. In der Förderinitiative<br />

„Regionales Übergangsmanagement“ werden<br />

in kommunaler Verantwortung 55 Projekte umgesetzt, die auf<br />

eine effektivere zielgruppenbezogene Förderung Jugendlicher<br />

durch den Aufbau und die Weiterentwicklung regionaler<br />

Kooperationsstrukturen zielen. Die 42 in der Förderinitiative<br />

„Abschlussorientierte modulare Nachqualifi zierung“ geförderten<br />

Projekte schaffen regionale beziehungsweise branchenbezogene<br />

Angebotsstrukturen zur Fachkräfte gewinnung. Ziel<br />

ist es, modulare Nachqualifizierung als flexiblen und bedarfsgerechten<br />

Weg zum Erreichen eines Berufsabschlusses<br />

bekannt zu machen und Strukturen so zu gestalten, dass die<br />

Möglichkeit der Externenprüfung signifikant stärker<br />

genutzt wird.<br />

Die <strong>Jahrestagung</strong> <strong>2011</strong> hatte das Thema „Chancengerechtigkeit<br />

als bildungspolitisches Ziel“. Chancengerechtigkeit be zog<br />

sich dabei nicht nur auf die beiden Querschnittsthemen „Gender<br />

Mainstreaming“ und „Cultural Mainstrea ming“, sondern wollte<br />

neben den Faktoren Geschlecht und Herkunft auch beleuchten,<br />

welchen Einfluss das soziale Umfeld auf <strong>Bildung</strong>szugänge,<br />

Berufswahlverhalten und <strong>Bildung</strong>swege hat. Engagierte<br />

Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erörterten<br />

auf dem Podium, wie Chancengerechtigkeit in der bildungspolitischen<br />

Praxis umgesetzt werden kann. In Fachforen wurde<br />

der Schwerpunkt durch Impulsreferate und Erfahrungen aus<br />

der Projektarbeit vertieft. Wie können im Ausland erworbene<br />

berufliche Abschlüs se berücksichtigt werden? Welche Rolle<br />

spielt das Geschlecht beim Berufseinstieg? Welchen Beitrag<br />

zur Ausbildungsförderung kann Elternarbeit leisten? Zu diesen<br />

und weiteren Aspekten fand auf der <strong>Jahrestagung</strong> ein reger<br />

Meinungsaustausch statt. Eine begleitende Projektmesse stellte<br />

Ergebnisse der 97 Förderprojekte vor.


4 gruSSwort<br />

Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel<br />

der Bundesregierung<br />

Grußwort Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung „Berufliche <strong>Bildung</strong>;<br />

Lebenslanges Lernen“ im <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Namen von<br />

Frau Bundesministerin Schavan und Herrn Parlamentarischen<br />

Staatssekretär Braun begrüße ich Sie ganz herzlich<br />

zu der <strong>Jahrestagung</strong> <strong>2011</strong> des Programms „Perspektive<br />

Berufsabschluss“.<br />

Das Programm „Perspektive Berufsabschluss“ trifft ein Kernanliegen<br />

der <strong>Bildung</strong>spolitik der Bundesregierung: Niemand<br />

darf verloren gehen! Jeder muss die Chance auf eine berufliche<br />

Qualifizierung bekommen, um ein selbstbestimmtes Leben<br />

führen zu können.<br />

Das Eröffnen von <strong>Bildung</strong>schancen ist eng verknüpft mit<br />

Investitionen in <strong>Bildung</strong>.<br />

Für die Bundesregierung haben Investitionen in <strong>Bildung</strong><br />

und Forschung hohe Priorität!<br />

Der Bundesfinanzminister hat in seiner diesjährigen Rede<br />

zur Einbringung des Bundeshaushalts noch einmal explizit<br />

betont, dass es auch sein Ziel sei, die Bundesrepublik Deutschland<br />

zu einer <strong>Bildung</strong>srepublik zu machen, und dass aus seiner<br />

Sicht Investitionen in die Köpfe nachhaltigere Wachstumsimpulse<br />

setzen als Investitionen im klassischen Sinne. Trotz der<br />

angespannten Haushaltssituation sieht der Entwurf des Bundeshaushalts<br />

vor, die Investitionen für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />

auch für 2012 deutlich an­ wachsen zu lassen: Es ist geplant,<br />

dass der Haushalt im <strong>Bildung</strong>s­ und Forschungsbereich um fast<br />

10 Prozent auf ein Rekordniveau von 12,8 Milliarden Euro ansteigt.<br />

Das ist in Zeiten der Haushaltskonsolidierung ein mehr<br />

als klares politisches Statement!<br />

Diese Investitionen in <strong>Bildung</strong> werden sich auszahlen: In<br />

Deutschland liegt die <strong>Bildung</strong>srendite fast doppelt so hoch wie<br />

im OECD­Durchschnitt. Gerechte <strong>Bildung</strong>schancen und damit<br />

<strong>Bildung</strong> für alle lohnen sich – für das Individuum, für soziale<br />

Gemeinschaften und für unser Land insgesamt. <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit<br />

führt zu sozialer Gerechtigkeit.<br />

Mit <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit meine ich, wohlgemerkt, nicht<br />

gleiche <strong>Bildung</strong> für alle, sondern freien Zugang zu <strong>Bildung</strong> mit<br />

fairen <strong>Bildung</strong>schancen für alle.<br />

Die Fakten bestätigen, dass sich die <strong>Bildung</strong>schancen in<br />

Deutschland in den vergangenen Jahren verbessert haben: So<br />

viele Abiturientinnen und Abiturienten, so viele Hochschulanfängerinnen<br />

und ­anfänger und so viele junge Menschen, die<br />

einen Hochschulabschluss geschafft haben, hatten wir noch<br />

nie. Es gab noch nie so viele <strong>Bildung</strong>saufsteiger innen und ­aufsteiger.<br />

Deutlich mehr junge Leute, die nicht aus einem Akademikerhaushalt<br />

stammen, studieren, nämlich rund 20 Prozent.<br />

Zum Vergleich: Mitte der 90er Jahre waren es nur 15,5 Prozent.<br />

Wir sind bei den Angeboten im Bereich der frühkindlichen<br />

<strong>Bildung</strong> und beim Ausbau von Ganztagsschulen erheblich vorwärtsgekommen.<br />

Umgekehrt geht die Anzahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss,<br />

der Jugendlichen im Übergangssystem, der Jugendlichen<br />

ohne Ausbildungsplatz und der Jugendlichen ohne<br />

Ausbildungsabschluss beständig zurück.<br />

Durch das vom BMBF auf den Weg gebrachte Anerkennungsgesetz<br />

für im Ausland erworbene <strong>Bildung</strong>sabschlüsse<br />

werden bis zu 300.000 Menschen endlich die Möglichkeit<br />

erhalten, ihren im Ausland erworbenen Abschluss anerkannt<br />

zu bekommen.<br />

Das sind wichtige Schritte für mehr Chancengerechtigkeit.<br />

Und diese Fortschritte sind mehr als erfreulich! Dennoch ist<br />

uns völlig klar: Wir sind noch lange nicht am Ziel, sondern erst<br />

auf dem Weg zu einer gerechten <strong>Bildung</strong>srepublik.<br />

Die Bundesregierung ist sich darüber im Klaren, dass zum<br />

Erreichen von Chancengerechtigkeit noch an vielen Stellschrauben<br />

gedreht werden muss. Aber ich bin zuversichtlich,<br />

dass uns das gelingen wird, denn schon Goethe, in dessen<br />

Geburtsstadt wir heute tagen, hat gesagt: „Sobald der Geist auf<br />

ein Ziel gerichtet ist, kommt ihm vieles entgegen.“<br />

Dies muss aber mit einer anderen seiner Weisheiten gekoppelt<br />

werden: „Es ist nicht genug, zu wissen, man muss es auch<br />

anwenden, es ist nicht genug, zu wollen, man muss es auch tun.“<br />

Meine Damen und Herren, zu diesem „Tun“ bekennt sich<br />

die Bundesregierung. Es gibt Stimmen, die sagen, dass sich aufgrund<br />

des demografischen Wandels in Deutschland Themen<br />

wie Übergangssystem, Altbewerber oder Ausbildungsplatzmangel<br />

von selbst lösen werden. Unsere Analyse der Entwicklungen<br />

fällt anders aus: Wir halten es trotz der demografischen<br />

Entwicklung für notwendig zu handeln, und zwar gezielt im<br />

Hinblick auf gering qualifizierte Jugendliche.<br />

Deshalb hat das BMBF seine Kräfte und Instrumente in der<br />

Initiative „Abschluss und Anschluss – <strong>Bildung</strong>sketten bis zum


Kornelia haugg<br />

5<br />

Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung „Berufliche <strong>Bildung</strong>, Lebenslanges Lernen“ im <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />

Berufsabschluss“ gebündelt, um Jugendliche frühzeitig auf<br />

dem Weg in eine Ausbildung zu begleiten. Die Initiative „<strong>Bildung</strong>sketten“<br />

beinhaltet im Wesentlichen die Instrumente:<br />

Potenzialanalyse, individuelle Begleitung und Berufsorientierung.<br />

Das „Berufsorientierungsprogramm in überbetrieblichen<br />

und vergleichbaren Berufsbildungsstätten“ (BOP), das seit 2008<br />

Jugendlichen sehr erfolgreich Einblicke in die praktischen Tätigkeiten<br />

dualer Berufe bietet, ist ein wichtiger Bestandteil dieser<br />

Initiative. Durch die frühe Begegnung mit dualen Berufen und<br />

das eigene Arbeiten an der Werkbank wird den Jugendlichen<br />

die Attraktivität von Ausbildung deutlich. Das BMBF hat seit<br />

April 2008 Maßnahmen der Berufsorientierung für mittlerweile<br />

über 240.000 Jugend liche mit einem Mitteleinsatz von mehr<br />

als 100 Millionen Euro bewilligt. Das Berufsorientierungsprogramm<br />

steht allen Schülerinnen und Schülern der Klassen 7<br />

bzw. 8 diskriminierungsfrei offen. Es ist eine individuelle Begleitung<br />

für diejenigen, die Förderung brauchen. Und es ist<br />

uns gelungen, diese Aktivitäten gut mit Länderaktivitäten zu<br />

vernetzen. Mit Hessen und mit anderen Ländern haben wir<br />

bilaterale Vereinbarungen abgeschlossen, weitere sind in Vorbereitung.<br />

Wir wollen zu einem vernetzten Miteinander kommen<br />

und durch unsere flankierenden Angebote die Wirkung<br />

und die Effektivität der Förderung optimieren.<br />

Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt unseres<br />

Tuns ist die Stärkung von Regionen und Kommunen. Dafür<br />

steht zum einen das Programm „Lernen vor Ort“, das Kommunen<br />

dabei unterstützt, ein kohärentes <strong>Bildung</strong>sma na gement<br />

aufzubauen.<br />

Einen besonderen Schwerpunkt in der Stärkung von Kommunen<br />

und Regionen haben wir aber auch mit dem Programm<br />

„Perspektive Berufsabschluss“ gesetzt. Dieses Programm hat<br />

zwei Schwerpunkte: „Regionales Übergangsmanagement“<br />

und „Modulare abschlussorientierte Nachqualifizierung“. Das<br />

„Regionale Übergangsmanagement“ fokussiert sich auf den<br />

Übergang von der Schule zur Ausbildung. Um erfolgreich zu<br />

sein, müssen Kräfte gebündelt und Maßnahmen aufeinander<br />

abgestimmt und verzahnt werden. Kompetenzen und Ressourcen<br />

einer Region, einer Kommune müssen für eine gemeinsame<br />

Zielsetzung gebündelt werden.<br />

Das Programm stärkt die Regionen. Wir gehen aber weit<br />

darüber hinaus: Denn das Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />

hat nicht nur in den Kommunen, sondern in einigen<br />

Bundesländern überregional strukturelle Veränderungen<br />

angeregt. Die von den Förderregionen ausgehenden Entwicklungen<br />

haben zum Teil einen landesweiten Diskurs entfacht.<br />

Die Grundgedanken des Programms, den Übergang zu syste­


6 Kornelia haugg<br />

dann langfristig Akzeptanz, wenn alle entscheidenden Akteure<br />

und Anbieter einbezogen sind. Alle müssen an einem Strang<br />

ziehen.<br />

Dies gilt sowohl für das „Regionale Übergangsmanagement<br />

als auch für die „Abschlussorientierte modulare Nachquali fizierung“:<br />

Eine intensive Netzwerkarbeit ist die Basis für eine<br />

gelingende Koordinierung der Angebote und Maßnahmen.<br />

Gegenwärtig haben fast 44 Prozent aller Arbeitslosen keine<br />

Ausbildung. Dieser hohe Anteil unterstreicht, dass das Risiko,<br />

arbeitslos zu werden, besonders hoch ist, wenn man keine abgeschlossene<br />

Berufsausbildung hat. Umgekehrt zeigen diese<br />

Zahlen auch, welche Qualifizierungsreserve in den Menschen<br />

ohne Ausbildungsabschluss liegt.<br />

Sowohl bei Arbeitslosen, aber genauso auch bei Beschäftigten,<br />

die keinen Abschluss aufweisen, setzt die zweite Förderinitiative<br />

des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ an.<br />

matisieren und Nachqualifizierung als Regelangebot vor Ort<br />

zu schaffen, werden mittlerweile vielerorts weit über die Grenzen<br />

der Projektregionen hinaus unterstützt.<br />

Dem Grundsatz „Prävention statt Reparatur“ hat sich die<br />

erste Förderinitiative der „Perspektive Berufsabschluss“ verschrieben.<br />

Das „Regionale Übergangsmanagement“ zielt<br />

darauf ab, dass durch frühzeitiges Eingreifen „Reparaturen“<br />

bei jugendlichen <strong>Bildung</strong>sverläufen so weit wie möglich reduziert<br />

werden. Denn wir brauchen klare und transparente Übergangswege,<br />

die die Stärken der Jugendlichen erkennen und<br />

fördern und die sie in Ausbildung einmünden lassen.<br />

Letztes Jahr hat das BMBF das „Regionale Übergangsmanage<br />

ment“ mit 28 neuen Projekten bundesweit um mehr als das<br />

Doppelte erweitert.<br />

Die Projekte haben intensiv dazu beigetragen, dass die Problematik<br />

des „Angebotsdschungels“ beim Übergang von der<br />

Schule in den Beruf bundesweit in das Bewusstsein der Öffentlichkeit<br />

kam. Unter anderem dank der Projekte im „Regionalen<br />

Übergangsmanagement“ ist die Zielrichtung, nämlich Transparenz<br />

und Koordinierung, allgemein anerkannt und unumstritten.<br />

Sie werden mir recht geben: Die Angebote im Übergangsbereich<br />

Schule/Beruf sind vielerorts selbst für Experten unübersicht<br />

lich. Deswegen prüfen die von „Perspektive Berufs abschluss“<br />

geförderten Projekte die bestehenden Förderinstrumente,<br />

stimmen sie besser aufeinander ab und bündeln sie sinnvoll.<br />

Das schafft Transparenz der Angebote und Maßnahmen. Und:<br />

Nicht alles, was angeboten wird, ist auch effektiv und zielführend.<br />

Das Herstellen der Transparenz findet allerdings nur<br />

Im Rahmen der Programmerweiterung haben wir in der<br />

Förderinitiative „Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung“<br />

neben dem branchenübergreifenden Ansatz gezielt<br />

branchen­ und zielgruppenbezogene Projekte in zukunftsträchtigen<br />

Sektoren ausgewählt. Denn in einigen Branchen ist<br />

der Fachkräftebedarf schon jetzt deutlich spürbar: im IT­Bereich,<br />

in der Logistik­ sowie in der Gesundheits­ und Pflegebranche.<br />

So hat sich das Projekt „Finish IT – modulare, abschlussorientierte<br />

Nachqualifizierung für junge Erwachsene mit aka demischem<br />

Vorwissen“ des CyberForums am Standort Karlsruhe auf<br />

IT­Berufe fokussiert und wendet sich an Studienabbrecher sowie<br />

an Menschen mit im Ausland erworbenen und in Deutschland<br />

bisher nicht verwertbaren Abschlüssen. Hinter dem Cyber-<br />

Forum verbirgt sich eines der größten und aktivsten Hightech­<br />

Unternehmer­Netzwerke in Deutschland mit ca. 900 Vereinsmitgliedern,<br />

davon ca. 740 Unternehmen. Die mit dem Projekt<br />

kooperierenden IT­Betriebe gewinnen auf diese Weise qualifiziertes<br />

IT­Personal.<br />

Drei neue Projekte widmen sich der Nachqualifizierung in<br />

Pflegeberufen. Insbesondere qualifiziertes Altenpflegepersonal<br />

ist aufgrund der demografischen Entwicklung mehr denn<br />

je gesucht. Dabei erleben die Projekte hautnah, wie unterschiedlich<br />

die Altenpflegeausbildung in den einzelnen Bundesländern<br />

ausgestaltet ist. Eines unserer Projekte ist in den beiden<br />

Bundesländern Rheinland­Pfalz und Niedersachsen tätig,<br />

hinzu kommen das Ausbildungs­ und Umschulungszentrum<br />

aus Schwaan in Mecklenburg­Vorpommern und das Deutsche<br />

Rote Kreuz im westfälischen Borken.<br />

Die Herausforderungen der Nachqualifizierungsprojekte<br />

in der Altenpflege unterscheiden sich deutlich von denen der<br />

anderen Projekte. Nachqualifizierung in der Altenpflege<br />

basiert auf dem Altenpflegegesetz; dessen Umsetzung ist Ländersache;<br />

einen bundeseinheitlichen Ausbildungsrahmenplan


Kornelia haugg<br />

7<br />

gibt es nicht. Es gibt keine Regelung zur Nachqualifizierung<br />

und keine Externenprüfung. Deswegen kann ich mit Recht<br />

sagen: Diese Projekte leisten Pionierarbeit!<br />

Das zeigt auch ein Blick auf zwei andere Projekte im Bereich<br />

der Nachqualifizierung: Strafgefangenen wird ermöglicht,<br />

einen anerkannten Berufsabschluss nachzuholen, um so ihre<br />

sozialen Reintegrationsmöglichkeiten nach dem Vollzug zu<br />

verbessern. Die dauerhafte Eingliederung in den Ausbildungsund<br />

Arbeitsmarkt ist einer der entscheiden­den Faktoren für<br />

die soziale Integration; wir reduzieren damit die Rückfallwahrscheinlichkeit.<br />

Die Projekte erfüllen damit nicht nur einen<br />

bildungspolitischen Auftrag, sondern leisten auch einen wichtigen<br />

volkswirtschaftlichen Beitrag, bei dem die Justizministerien<br />

in vier Bundesländern intensiv mit einbezogen werden.<br />

Die BMBF­Projekte eröffnen Gefangenen noch während der<br />

Haftzeit eine echte Chance auf eine selbstständige Lebensführung<br />

und straffreie Rückkehr in die Gesellschaft.<br />

Es ist mir wichtig, auch die Projekte besonders zu würdigen,<br />

die das Programm begleiten: Ein Erfolg beispielsweise des Projekts<br />

„Unterstützung regionaler Projekte zur Nachqualifizie rung<br />

bei Fragen der Zulassung zur Externenprüfung“, das von der<br />

Zentralstelle für die Weiterbildung im Handwerk (ZWH) umgesetzt<br />

wird, zeigte sich darin, dass der DHKT im November 2010<br />

eine Empfehlung für die Zulassung zur Externenprüfung verabschiedete<br />

und bundesweit an alle Handwerkskammern<br />

übermittelte. Diese Empfehlung ist unmittelbar auf das Begleitprojekt<br />

zurückzuführen. Damit ist ein Meilenstein geschafft!<br />

Ich hoffe sehr, dass auch der Deutsche Industrie­ und Handelskammertag<br />

seinen Mitgliedskammern eine vergleichbare<br />

Empfehlung zukommen lässt. Wir werden diese Entwicklung<br />

mit großer Spannung verfolgen.<br />

Die beiden weiteren Begleitprojekte im Programm arbeiten<br />

förderinitiativenübergreifend und sorgen für mehr Chancengerechtigkeit<br />

bei Migrantinnen und Migranten.<br />

Während rund 40 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund<br />

in Deutschland eine berufliche Ausbildung machen,<br />

entschließen sich von den jungen Menschen aus Migrantenfamilien<br />

lediglich 29 Prozent dazu. Vor diesem Hintergrund<br />

kommt dem Thema Cultural Mainstreaming im Programm<br />

„Perspektive Berufsabschluss“ eine besondere Bedeutung zu.<br />

Das Begleitprojekt „Mit MigrantInnen für MigrantInnen“<br />

stützt das Empowerment von Migrantinnen und Migranten<br />

durch Entwicklung und Förderung interkultureller Vertretungsstrukturen.<br />

Schwerpunkt des Begleitprojektes ist es, den<br />

Aufbau interkultureller Netzwerke voranzutreiben und<br />

Migrantenorganisationen zu befähigen, gleichberechtigt in<br />

den regionalen Netzwerken mitzuarbeiten. Über das Projekt<br />

setzen wir „<strong>Bildung</strong>sbeauftragte“ ein, die in ihren Migrantenorganisationen<br />

junge Menschen mit Migrationshintergrund<br />

und deren Familien bei Fragen der beruflichen Integration<br />

unterstützen.<br />

Ein weiteres Begleitprojekt führt das Zentrum für Türkeistudien<br />

und Integrationsforschung in Essen durch. Es trägt den<br />

Titel „<strong>Bildung</strong> ist Zukunft – biz“. Und damit kennen Sie spätestens<br />

jetzt ein türkisches Wort, „biz“ heißt nämlich übersetzt<br />

„wir“. Das drückt aus, dass das Projekt eine Art Verantwortungsgemeinschaft<br />

schaffen möchte: ein Mediennetzwerk.<br />

Die für die türkische Community in Deutschland wichtigen<br />

Medien informieren intensiv über <strong>Bildung</strong>s­ und Ausbildungswege,<br />

also über konkrete <strong>Bildung</strong>schancen in Deutschland.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, 49, also knapp die Hälfte<br />

der Projekte im Programm „Perspektive Berufsabschluss“ werden<br />

ihre Arbeit im März 2012 – nein, gerade hoffentlich nicht<br />

beenden. Ich wünsche mir sehr, dass die Projekte die Schubkraft<br />

der BMBF­Förderung nutzen, um nun in die Verstetigung<br />

der Programminhalte zu gehen. Schaffen Sie es, auch nach<br />

Auslaufen des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ die<br />

Ansätze der beiden Initiativen in bestehende Institutionen


8 Kornelia haugg<br />

regional zu verankern? Noch einmal bemühe ich Goethe, der<br />

diesem Veranstaltungsort so eng verbunden war: „Aller Anfang<br />

ist leicht, und die letzten Stufen werden am schwersten und<br />

seltensten erstiegen.“ Ich hoffe, dass wir Goethe bald insofern<br />

korrigieren können, als die Projekte hoffentlich gerade nicht<br />

selten die letzte Stufe, nämlich die nachhaltige und dauerhafte<br />

Umsetzung des „Regionalen Übergangsmanagements“ bzw.<br />

der „Abschluss orientierten modularen Nachqualifizierung“,<br />

ohne Förderung erklimmen, dass es uns gelingen wird, nachhaltige<br />

Strukturen in den Regionen zu implementieren.<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Tagung im<br />

Programm „Perspektive Berufsabschluss“ ist ein guter Anlass,<br />

mich bei den hier anwesenden kommunalen, regionalen und<br />

auch überregionalen Akteuren und bei den einzelnen <strong>Bildung</strong>strägern,<br />

die sich vor Ort unermüdlich engagieren, ganz herzlich<br />

zu bedanken. Mit Ihrem Einsatz tragen Sie dazu bei, dass<br />

Jugendliche und junge Erwachsene qualifizierte Ausbildung<br />

und Arbeit bekommen; Sie leisten einen wichtigen Beitrag für<br />

mehr Chancengerechtigkeit in unserem Land. Haben Sie dafür<br />

vielen Dank!<br />

Während der gesamten Tagung und Projektmesse wünsche<br />

ich Ihnen allen anregende Diskussionen und viele weiterführende<br />

Erkenntnisse.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!


KlauS-wilhelm ring<br />

9<br />

Chancengerechtigkeit und <strong>Bildung</strong>szugänge –<br />

Betrachtung aus Landessicht<br />

Klaus­Wilhelm Ring, Abteilung „Berufliche Schulen, Schulen für Erwachsene, Lebensbegleitendes Lernen“, Hessisches Kultusministerium<br />

Klaus-Wilhelm Ring, Abteilung „Berufliche Schulen, Schulen für Erwachsene,<br />

Lebensbegleitendes Lernen“, Hessisches Kultusministerium<br />

Sehr verehrte Damen und Herren,<br />

im Namen der hessischen Kultusministerin Frau Dorothea<br />

Henzler richte ich Ihnen die herzlichsten Grüße<br />

aus und wünsche Ihrer Tagung zum Thema Chancengerechtigkeit<br />

als bildungspolitisches Ziel einen guten<br />

Verlauf und viel Erfolg. Ich bedanke mich auch im Namen<br />

der hessischen Landes regierung, dass die <strong>Jahrestagung</strong><br />

<strong>2011</strong> in Hessen durchgeführt wird, und hoffe, dass sie<br />

ebenso erfolgreich sein wird wie die <strong>Jahrestagung</strong> 2010<br />

in Leipzig. Weiterhin bedanke ich mich, dass Sie mir die<br />

Gelegenheit geben, über die bildungspoliti schen Aktivitäten<br />

zu berichten, die das Land Hessen unternommen<br />

hat, um der im Zentrum der Tagung stehenden Thematik<br />

der Chancengerechtigkeit und der <strong>Bildung</strong>szugänge<br />

Rechnung zu tragen.<br />

Die deutsche Gesellschaft belegt jährlich viele Tausende von<br />

Lernenden mit Enttäuschung, zeitlicher <strong>Bildung</strong>sverzögerung<br />

und dem Ausschluss von <strong>Bildung</strong>soptionen. In einem demokratischen<br />

System wie dem der Bundesrepublik Deutschland<br />

bedeutet dies in vielen Fällen den Ausschluss vom lebenslangen<br />

beziehungsweise lebensbegleitenden Lernen und damit eine<br />

starke Benachteiligung für die persönliche und berufliche Entwicklung<br />

der hiervon betroffenen Menschen. Teilhabe an <strong>Bildung</strong><br />

in einer Demokratie kann aber nicht verbunden sein mit<br />

dem Versagen von <strong>Bildung</strong> und der Verhinderung der Anerkenn<br />

ung von Teilkompetenzen, sondern sie muss jeder Bürgerin<br />

und jedem Bürger immer wieder die Option für einen neuen<br />

<strong>Bildung</strong>sbeginn und für den Anschluss an bisher erlangtes<br />

Wissen ermöglichen.


10 KlauS-wIlHelm RInG<br />

Benjamin Franklin hat einmal gesagt: „Eine Investition<br />

in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen.“ Und zur Optimierung<br />

des Zinsertrages durch <strong>Bildung</strong> müssen alle <strong>Bildung</strong>soptionen<br />

genutzt und vernetzt werden.<br />

Die Eingliederung benachteiligter Menschen in die Berufsund<br />

Arbeitswelt ist eine zentrale Aufgabe der Gesellschaft. Ohne<br />

die Einbindung dieser Menschen werden Persönlichkeiten<br />

zerstört, Problemfälle für die Zukunft geschaffen und politische<br />

Systeme gefährdet. Trotz der vielen Stärken, die das deutsche<br />

Berufsbildungssystem aufweist, steht es weiterhin vor einer<br />

Reihe von Herausforderungen:<br />

• Die schwachen PISA-Ergebnisse mancher Hauptschülerinnen<br />

und Hauptschüler sind ein Indiz für<br />

einen der Gründe, warum viele junge Menschen<br />

beim Übergang von der Pflichtschulzeit in die<br />

Berufsausbildung scheitern.<br />

• Eine weitere Herausforderung ist die Weltwirtschaftskrise,<br />

hierdurch hat die Wirtschaft in den<br />

vergangenen Jahren weniger Ausbildungsstellen<br />

zur Verfügung gestellt. Durch die mittlerweile<br />

verbesserte Konjunktur ändert sich diese Situation.<br />

• Das Übergangssystem, an dem heute fast genauso<br />

viele junge Menschen teilnehmen wie am dualen<br />

System, leidet unter übermäßiger Fragmentierung<br />

und fehlender Transparenz.<br />

• Eine wichtige Herausforderung der Zukunft für<br />

Deutschland ist der demografische Wandel, der dazu<br />

führt, dass die Jahrgangskohorten kleiner werden.<br />

Deutschland verliert derzeit pro Generation ein Drittel<br />

der Bevölkerung.<br />

Mittlerweile haben sich die Trends der demografischen<br />

Entwicklung verfestigt, die sich bereits in der Vergangenheit<br />

dergestalt abzeichneten, dass einer sinkenden Zahl junger<br />

Menschen, die für eine Berufsausbildung zur Verfügung stehen,<br />

eine wachsende Zahl älterer Menschen, die aus dem Erwerbsleben<br />

ausscheiden, gegenübersteht.<br />

Als Folge mehren sich die Befürchtungen eines zukünftigen<br />

Fachkräftemangels und die Klagen von Betrieben – insbesondere<br />

im Handwerk –, dass für freie Ausbildungsplätze nicht<br />

mehr genügend geeignete Bewerberinnen und Bewerber zur<br />

Verfügung stehen. Der Blick auf die vergangenen Jahre zeigt,<br />

dass auf Bundesebene im Durchschnitt zwischen 14 und 16 Prozent<br />

der Jugendlichen nicht in eine Berufsausbildung einmündeten.<br />

Im Vergleich dazu lag die Zahl in Hessen im Jahre 2006<br />

noch bei 13,8 Prozent. Aber erfreulicherweise ist eine deutliche<br />

positive Tendenz erkennbar, denn im Jahr 2010 reduzierte sich<br />

die Zahl auf 10,6 Prozent und lag damit deutlich unter dem<br />

Bundesdurchschnitt. Diese Zahlen belegen den erkennbaren<br />

Erfolg der hessischen bildungspolitischen Anstrengungen. Sie<br />

zeigen aber auch, dass die Senkung der immer noch zu hohen<br />

Zahlen von an- und ungelernten Jugendlichen und jungen<br />

Erwachsenen weiterer Anstrengungen bedarf, um ihnen eine<br />

positive Berufs- und Lebensperspektive zu eröffnen.<br />

Bei der genannten Risikogruppe handelt es sich vornehmlich<br />

um junge Menschen, die unter ungünstigen Ausgangsvoraussetzungen<br />

ihren Lebens-, <strong>Bildung</strong>s- und Ausbildungsweg<br />

antreten müssen. Dazu zählen vor allem leistungsschwächere<br />

und sozial benachteiligte Jugendliche, junge Erwachsene ohne<br />

Schulabschluss, vor allem aber Jugendliche ausländischer<br />

Herkunft und junge Aussiedler.<br />

Das fortgeschriebene Ziel zukünftiger bildungspolitischer<br />

Bemühungen in Hessen ist es deshalb, diesen jungen Erwachsenen,<br />

aber auch den Menschen in niedrigerer beruflicher<br />

Position und/oder in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen,<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern höheren Alters und<br />

Migrantinnen und Migranten durch ein Bündel von Unterstützungsmaßnahmen<br />

Chancengerechtigkeit angedeihen zu lassen,<br />

um so eine erfolgreiche Berufsaus-, Fort- und Weiterbildung zu<br />

ermöglichen. Die Maßnahmen müssen, sollen sie zum Erfolg<br />

führen, bereits im Kleinkindalter beginnen, die schulische und<br />

berufliche Ausbildung begleiten und bis ins Erwachsenenalter<br />

niederschwellig abrufbar sein.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen sie mich nun auf<br />

die Maßnahmen und Unterstützungsangebote eingehen, die<br />

den Menschen im Lande Hessen mehr Chancengerechtigkeit<br />

eröffnen sollen.<br />

Der hessische <strong>Bildung</strong>s- und Erziehungsplan<br />

Novalis hat einmal gesagt: „Jede Stufe der <strong>Bildung</strong> fängt mit<br />

Kindheit an. Daher ist der am meisten gebildete, irdische<br />

Mensch dem Kinde so ähnlich.“<br />

Mit dem hessischen <strong>Bildung</strong>s- und Erziehungsplan für<br />

Kinder im Alter von null bis zehn Jahren hat sich die Landesregierung<br />

zum Ziel gesetzt, einen zentralen Beitrag zur Optimierung<br />

der <strong>Bildung</strong>schancen für die heranwachsende Generation<br />

zu leisten. Mit ihm wird eine Grundlage zur Verfügung gestellt,<br />

um jedes Kind in seinen individuellen Lernvoraussetzungen,<br />

seiner Persönlichkeit und seinem Entwicklungsstand anzunehmen,<br />

angemessen zu begleiten und zu unterstützen. Der<br />

<strong>Bildung</strong>s- und Erziehungsplan steht für eine Pädagogik der<br />

Ko-Konstruktion, die das Kind mit seinen individuellen Lernvoraussetzungen<br />

in den Mittelpunkt stellt. Dabei stellt die<br />

Sprachförderung ein zentrales Thema der <strong>Bildung</strong> von Anfang<br />

an dar. So werden bereits in den Kindertagesstätten Unterstützungsprogramme<br />

angeboten und mit Blick auf den Beginn<br />

der Schulzeit kontinuierlich weitergeführt, um allen Kindern<br />

vergleichbare Startchancen zu ermöglichen.


KlauS-wIlHelm RInG<br />

11<br />

Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb<br />

Die so genannten SchuB-Klassen (Lernen und Arbeiten in<br />

Schule und Betrieb) sind durch den Europäischen Sozialfonds<br />

geförderte Projekte für besondere Klassen mit erhöhtem Praxisanteil,<br />

die seit mehreren Jahren in Hessen angeboten werden.<br />

Auf diese Weise soll es gelingen, „schulmüde“ Schülerinnen<br />

und Schüler durch die Hinführung an die Arbeitswelt neu zu<br />

motivieren. Aufgenommen werden Schülerinnen und Schüler,<br />

deren Stärken, deren Kompetenzen und deren Arbeitshaltung<br />

besonders gefördert werden müssen, da sie wegen erheblicher<br />

Lern- und Leistungsrückstände voraussichtlich keine Chancen<br />

haben, in den Regelklassen den Hauptschulabschluss zu<br />

erreichen.<br />

Zielsetzung der Maßnahme ist es,<br />

• die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler<br />

zu stärken und zu stabilisieren,<br />

• Erfolgserlebnisse zu schaffen und die Lern- und<br />

Leistungsmotivation zu steigern,<br />

• die Beschäftigungs- und Ausbildungsfähigkeit<br />

zu erhöhen und<br />

• eine strukturierte Berufsorientierung sowie Praxiserfahrungen<br />

zu ermöglichen, um Schul- und Ausbildungsabbrüche<br />

und unnötige Warteschleifen zu<br />

reduzieren beziehungsweise zu vermeiden.<br />

Diese Maßnahme ist eine pädagogische Einheit und dauert<br />

zwei Jahre, wobei die Größe der Lerngruppe 12 bis 15 Schülerinnen<br />

und Schüler nicht überschreiten sollte. Die Ausbildung<br />

erfolgt in der Regel an zwei ganztägigen, aufeinander folgenden<br />

Praxistagen. Eine Kooperation mit beruflichen Schulen ist<br />

dabei möglich. Weiterhin soll sichergestellt werden, dass die<br />

Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Maßnahme mindestens<br />

drei Berufsfelder kennen lernen. Aus den Erfahrungen mit<br />

SchuB-Klassen und den Entwicklungen auch in anderen Bundesländern<br />

wurde in Hessen mit dem neuen Schulgesetz, das vor<br />

wenigen Monaten verabschiedet wurde, die Mittelstufenschule<br />

beschlossen.<br />

Mit dieser neuen Schulform wird ein zukunftsfähiges<br />

An gebot für Schulen mit den <strong>Bildung</strong>sgängen Haupt- und Realschule<br />

geschaffen. Von besonderer Attraktivität ist dabei die<br />

enge Kooperation mit beruflichen Schulen und mit Betrieben,<br />

wodurch ein nahtloser Übergang in ein Ausbildungsverhältnis<br />

ermöglicht werden soll. Dadurch sollen Kinder und Jugendliche<br />

mit eher praktisch ausgerichteten Begabungen durch einen<br />

stark projektorientierten Unterricht und eine intensive Berufsorientierung<br />

in ihren Fähigkeiten bestärkt sowie motiviert und<br />

der direkte Übergang in eine Berufsausbildung des dualen<br />

Systems erleichtert werden.<br />

Schülerinnen und Schüler der Mittelstufenschule erfahren<br />

in beiden abschlussbezogenen <strong>Bildung</strong>sgängen eine systematische<br />

Berufsorientierung gemäß den Standards der landesweiten<br />

Strategie „OloV“ (landesweite Strategie zur Optimierung<br />

der lokalen Vermittlungsarbeit bei der Schaffung und<br />

Besetzung von Ausbildungsplätzen in Hessen).<br />

Die Förderung der Ausbildungsreife wird unterstützt durch<br />

fachtheoretischen und fachpraktischen Unterricht in den<br />

berufsbildenden Schulen. Alle Schülerinnen und Schüler werden<br />

dadurch frühzeitig auf die Anforderungen der beruflichen<br />

Ausbildung vorbereitet und erhalten umfassende Kenntnisse<br />

über die entsprechenden Berufsbilder. Durch die Zusammenarbeit<br />

mit Betrieben in der Region wird ihnen im Rahmen von<br />

Betriebspraktika die Möglichkeit eröffnet, Erfahrungen in der<br />

Berufs- und Arbeitswelt zu sammeln.


12 KlauS-wIlHelm RInG<br />

Konkret bedeutet dies, dass sich der Unterricht zwar weiterhin<br />

in Kernfächer und in Lernbereiche aufgliedert, dass aber<br />

durch eine Verstärkung des projektorientierten Unterrichts<br />

fächerübergreifendes Arbeiten ermöglicht wird. In Kooperation<br />

mit berufsbildenden Schulen findet der berufsfeldbezogene<br />

Unterricht statt, der in Abstimmung mit den Kammern und<br />

je nach Region in unterschiedlichen Berufsfeldern angeboten<br />

wird. Als mögliche Berufsfelder im praxisorientierten <strong>Bildung</strong>sgang<br />

kommen Bautechnik, Metalltechnik, Farbtechnik und<br />

Raumgestaltung, Ernährung und Hauswirtschaft, Körperpflege<br />

oder Agrarwirtschaft in Frage.<br />

Die berufsbildenden Schulen entwickeln gemeinsam mit<br />

der Mittelstufenschule berufsfeldbezogene und lernfeldorientierte<br />

Curricula für den fachpraktischen und fachtheoretischen<br />

Unterricht in den Jahrgangsstufen acht bis neun. Die vorgesehenen<br />

Betriebspraktika finden entweder in Blockform oder in<br />

Form von betrieblichen Lerntagen statt und ergänzen die<br />

Berufsorientierung. Durch eine flexible Stundentafel wird die<br />

Organisation des berufsfeldbezogenen Unterrichts und der<br />

betrieblichen Lerntage ermöglicht.<br />

In der Jahrgangsstufe neun nehmen alle Schülerinnen<br />

und Schüler am Abschlussverfahren der Hauptschule teil. Die<br />

vorgesehene Projektprüfung ist thematisch den Inhalten des<br />

berufsbildenden Unterrichts zuzuordnen. Der berufsfeldbezogene<br />

Unterricht wird in die Zeugnisse aufgenommen. Der<br />

Übergang in die Jahrgangsstufe zehn setzt den qualifizierenden<br />

Hauptschulabschluss voraus. Die Schülerinnen und<br />

Schüler, die die Jahrgangsstufe zehn besuchen, nehmen am<br />

Verfahren zum mittleren Abschluss (Realschulabschluss) teil.<br />

„OloV“ – Optimierung der lokalen<br />

Vermittlungsarbeit bei der Schaffung und<br />

Besetzung von Ausbildungsplätzen in Hessen<br />

Das <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung hat 193<br />

Einzelprogramme identifiziert, davon 21 auf Bundes- und die<br />

restlichen auf Landesebene, die junge Menschen beim Übergang<br />

von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt begleiten<br />

sollen. Ihre Dauer, Ihr Aufbau und ihre Zielgruppen sind unterschiedlich.<br />

Leider sind diese Einzelprogramme in der Regel<br />

nicht aufeinander abgestimmt. In Hessen versuchen wir seit<br />

einigen Jahren durch das Projekt „OloV“ regionale Netzwerke<br />

zu knüpfen, damit optimale Steuerung und Abstimmung<br />

ermöglicht werden. „OloV“ wird seit Juli 2005 aus Mitteln des<br />

Landes Hessen und des Europäischen Sozialfonds gefördert<br />

und war zunächst ein gemeinsames Projekt aller Partner des<br />

hessischen Paktes für Ausbildung. Seit Ende 2008 wurde daraus<br />

eine landesweite Strategie.<br />

„Ziel des gemeinsamen Vorhabens der Paktpartner und<br />

der Arbeitsverwaltung ist die Optimierung der lokalen Vermittlungstätigkeit<br />

bei der Schaffung und Besetzung von Ausbildungsplätzen<br />

in Hessen (OloV).“ Dazu waren die Erarbeitung<br />

und der Einsatz von hessenweiten Standards zur qualitativen<br />

Verbesserung der Berufsorientierung an den Schulen und zur<br />

qualitativen und quantitativen Verbesserung von Ausbildungsvermittlungsprozessen<br />

notwendig.<br />

Diese Standards haben die Aufgaben,<br />

• die Berufsorientierung der Jugendlichen und ihre<br />

Ausbildungsfähigkeit zu verbessern,<br />

• die Ausbildungs- und Praktikumsplätze ziel -<br />

gerichtet zu akquirieren und<br />

• die Kompetenzen der Jugendlichen im Vermittlungsprozess<br />

besser zu berücksichtigen.<br />

Um diese strategisch wichtigen Ziele an den Schulen um -<br />

zusetzen, werden berufsorientierende Angebote zielgruppengerecht<br />

adressiert, praxisbezogen gestaltet und auf die Bedarfe<br />

der Wirtschaft ausgerichtet. Deshalb ist die gemeinsame Anstrengung<br />

und Einbindung aller am Prozess beteiligten Akteure<br />

eine wichtige Voraussetzung, um Schülerinnen und Schüler<br />

rechtzeitig und differenziert über die in der Region gegebenen<br />

beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten zu informieren und<br />

entsprechende Einblicke und Kontakte herstellen zu können.<br />

Alle 28 hessischen Regionen arbeiten inzwischen an der<br />

Umsetzung der „OloV“-Qualitätsstandards. Alle hessischen<br />

Schulen mit den <strong>Bildung</strong>sgängen Haupt- und Realschule sind<br />

an „OloV“ beteiligt und seit dem Schuljahr 2010/<strong>2011</strong> wurden<br />

zusätzlich Schulen für Erziehungshilfe und Schulen für Lernhilfe<br />

in die „OloV“-Strategie aufgenommen.<br />

Das Bundesprogramm „Perspektive Berufsabschluss“ ist<br />

in vielen Grundsätzen mit der landesweiten Strategie „OloV“<br />

identisch.


KlauS-wIlHelm RInG<br />

13<br />

Beide Programme<br />

• dienen der Steigerung von Effektivität und Qualität<br />

der Förderinstrumente des Übergangsmanagements<br />

durch Verbesserung regionaler Kooperationen und<br />

Stärkung vorhandener Netzwerkstrukturen und<br />

• wollen den Aufbau eines regionalen Übergangsmanagements<br />

anstoßen, die Umsetzung wirksamer<br />

Verfahren des Übergangsmanagements unterstützen<br />

und die in der Entwicklung und Erprobung von<br />

Übergangsmanagement gewonnenen Erfahrungen,<br />

Einsichten, Standards und Instrumente für eine<br />

Nachnutzung für Politik, Verwaltungen und Praxis<br />

bundesweit bereitstellen.<br />

Aus diesen Gründen haben wir alle hessischen Projekte des<br />

Regionalen Übergangsmanagements mit „OloV“ verbunden.<br />

Im Rahmen regelmäßiger Koordinierungstreffen erfolgt ein<br />

Informationsaustausch über die verschiedenen Projekte in den<br />

Regionen, um neue Ideen und positive Ergebnisse zu kommunizieren<br />

und für Partnerprojekte nutzbar zu machen. Hierdurch<br />

werden Parallelentwicklungen vermieden und Synergien der<br />

unterschiedlichen Strukturen genutzt.<br />

<strong>Bildung</strong>sgänge zur Berufsvorbereitung<br />

Mit der Verordnung über die Ausbildung und Abschlussprüfun<br />

gen in den <strong>Bildung</strong>sgängen zur Berufsvorbereitung wurden<br />

neue Regelungen, wie nachfolgend aufgelistet, eingeführt, die<br />

benachteiligte Jugendliche noch besser fördern sollen:<br />

• Übergangskonferenzen mit Vertreterinnen und Vertretern<br />

der abgebenden Schulen und der beruflichen<br />

Schulen unter Federführung des zuständigen staatlichen<br />

Schulamts, auch in Zusammenarbeit mit der Jugendberufshilfe,<br />

der Agentur für Arbeit und den kommunalen<br />

SGB-II-Trägern.<br />

• Vernetzung mit Angeboten der Jugendberufshilfe<br />

und der Agentur für Arbeit.<br />

• Pädagogische Vereinbarungen beziehungsweise Lernverträge<br />

können Regelungen über Lernziele, schulisches<br />

und außerschulisches Verhalten, Fremd- und Selbst -<br />

kontrolle oder über Selbstverpflichtungen zu bestimmten<br />

Tätigkeiten sowie über mögliche Konsequenzen bei<br />

Fehlverhalten enthalten. Lernverträge sollen so zu einer<br />

stärkeren Verbindlichkeit beitragen.<br />

• Der berufsbezogene Lernbereich soll möglichst Qualifizierungsbausteine<br />

oder Teilqualifikationen vermitteln.<br />

Durch die Absolvierung verschiedener anerkannter<br />

Qualifizierungsbausteine sollen die Schülerinnen und<br />

Schüler Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben, die<br />

den Ausbildungsordnungen anerkannter Ausbildungsberufe<br />

entnommen sind, um die berufliche Handlungsfähigkeit<br />

für einen Beruf zu fördern, die Vergleichbarkeit<br />

der erworbenen Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt zu<br />

ermöglichen und die Schülerinnen und Schüler zur<br />

Aufnahme einer Tätigkeit oder einer Ausbildung in einem<br />

anerkannten Ausbildungsberuf zu befähigen.<br />

Die Zertifizierung der Qualifizierungsbausteine erfolgt<br />

durch die jeweils zuständige Stelle (zum Beispiel die<br />

Kammern). Die Qualifizierungszertifikate und Teilnahmebescheinigungen<br />

werden den Schülerinnen und Schülern<br />

mit dem jeweiligen Abschlusszeugnis beziehungsweise<br />

Abgangszeugnis ausgehändigt. Mit dem Einsatz von<br />

Qualifizierungsbausteinen werden die Chancen, die sich<br />

aus den Regelungen der BAVBVO (Verordnung über die<br />

Bescheinigung von Grundlagen beruflicher Handlungsfähigkeit<br />

im Rahmen der Berufsausbildungsvorbereitung)<br />

und des Berufsbildungsreformgesetzes ergeben haben,<br />

für eine bessere berufliche Eingliederung von benachteiligten<br />

Jugendlichen in Hessen genutzt.<br />

• In den Übergangskonferenzen werden individuelle<br />

Fördermaßnahmen und Schullaufbahnempfehlungen<br />

für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler<br />

abgestimmt.<br />

• Förderkonzepte und individuelle Förderpläne werden<br />

auf Grundlage von Ist-Analysen erstellt. Sie sollen<br />

zukunftsorientiert sein und den individuellen Förderbedarf<br />

berücksichtigen. Durch ein schulisches Gesamtkonzept<br />

werden Schwerpunkte der Beschulung gebildet,<br />

zum Beispiel Deutschförderung für Jugendliche<br />

mit Migrationshintergrund.


14 KlauS-wIlHelm RInG<br />

Das Programm zur Eingliederung in die Berufs- und<br />

Arbeitswelt (EIBE) richtet sich an benachteiligte Jugendliche<br />

und junge Erwachsene, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind.<br />

Oberstes Ziel des Programms ist die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit<br />

der Zielgruppe durch das Erlangen von Ausbildungs-<br />

und Berufsreife. Der Übergang von der Schule in eine<br />

Berufsausbildung oder ein Arbeitsverhältnis beziehungsweise<br />

vollschulische <strong>Bildung</strong>sgänge soll erleichtert beziehungsweise<br />

ermöglicht werden. Die Maßnahme „EIBE“ findet an beruflichen<br />

Schulen in ganz Hessen statt und wird vom Europäischen Sozialfonds<br />

gefördert. Die Förderhöchstdauer beträgt maximal<br />

zwei Jahre, wobei die Vermittlung in eine Berufsausbildung<br />

oder einen vollschulischen <strong>Bildung</strong>sgang nach einem Jahr<br />

angestrebt wird.<br />

Wesentliche Förderinstrumente sind die Betreuung und<br />

Begleitung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch<br />

Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen in Form von Coachings,<br />

die durch freie Träger in Form von Gruppen- und Einzel<br />

betreuung angeboten werden. Sie ergänzen die pädagogische<br />

Arbeit der Schulen. Die sozialpädagogische Betreuung<br />

wird durch Laufbahnberatung ergänzt. Die Erstellung eines<br />

Qualifizierungsportfolios dient dazu, Kompetenzen und Stärken<br />

der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu dokumentieren.<br />

Zu Beginn der Maßnahme werden individuelle Förderpläne<br />

gemeinsam mit den Teilnehmern erstellt. Beide Seiten legen<br />

vertraglich die Erreichung bestimmter Lernziele und die notwendigen<br />

Hilfestellungen durch die Schule und den Coach fest.<br />

Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, mindestens<br />

einen Qualifizierungsbaustein nach BAVBVO zu erwerben. Die<br />

betrieblichen Anteile der Qualifizierungsbausteine werden<br />

im Rahmen betrieblicher Praktika erarbeitet.<br />

Bereits etablierte Kooperationen zwischen Schulen und<br />

Betrieben sind um zusätzliche Akteure aus dem Bereich der<br />

abgebenden Schulen, Jobcenter, Einrichtungen der Jugendhilfe,<br />

der Vereine, Kirchen und gemeinnützigen Organisationen<br />

zu ergänzen. Solche regionalen Netzwerke verschiedenster<br />

Akteure sind zur optimalen Förderung und Begleitung der<br />

Jugendlichen zu knüpfen und zu pflegen. Die Entwicklung von<br />

Qualifizierungsbausteinen sollte von Anfang an durch Kammern<br />

und Innungen begleitet werden. Hierbei sind die Netzwerke<br />

von „OloV“ zu nutzen.<br />

Das Modellprojekt „QuABB“<br />

Qualifizierte berufspädagogische Ausbildungsbegleitung<br />

in Berufsschule und Betrieb<br />

„QuABB“ dient der frühzeitigen Erkennung von Problemen<br />

in der Ausbildung, der Stabilisierung von Jugendlichen, deren<br />

Ausbildungsabschluss gefährdet ist, und der Senkung der Zahl<br />

der Ausbildungsabbrüche in Hessen. Dazu unterstützen Ausbildungsbegleiterinnen<br />

und Ausbildungsbegleiter von Abbruch<br />

bedrohte Jugendliche und bei Bedarf auch deren Ausbilderinnen<br />

und Ausbilder. An erster Stelle werden die Jugendlichen intensiv<br />

begleitet, die ohne professionelle Hilfe keine Abschlussperspek<br />

tive entwickeln können und ihren Ausbildungsplatz<br />

aufgeben würden. Präventives Ziel ist zum einen, ein<br />

„Frühwarn system“ zu entwickeln, um Problemfelder beziehungsweise<br />

Krisen, die leicht zu Abbrüchen führen können,<br />

rechtzeitig zu erkennen und ihnen mit auf den individuellen<br />

Fall zugeschnittenen Beratungs- und Begleitungsmethoden<br />

begegnen zu können. Zum anderen soll geprüft werden, ob<br />

schwache Schulabgängerinnen und Schulabgänger systematisch<br />

unterstützt und durch eine Begleitperson längerfristig<br />

stabilisiert werden können.<br />

In enger Zusammenarbeit mit den Akteuren der Lernorte<br />

Schule und Betrieb werden Ausbildungsbegleiterinnen, Ausbildungsbegleiter<br />

und Beratungslehrerinnen und -lehrer frühzeitig<br />

präventiv tätig und entwickeln aufeinander abgestimmte<br />

Interventionsmöglichkeiten – insbesondere in Zielregionen und<br />

Branchen, in denen besonders hohe Auflösungsquoten auszumachen<br />

sind. Da oft mehrere sich gegenseitig bedingen de<br />

Problemlagen bei den gefährdeten Jugendlichen zu einem<br />

Ausbildungsabbruch führen, wird auf eine Verzahnung von<br />

schulischen, berufspädagogischen und sozialpädagogischen<br />

Lösungsansätzen und Förderangeboten gesetzt.<br />

HESSENCAMPUS<br />

HESSENCAMPUS ist ein freiwilliger Verbund öffentlicher<br />

Träger, der die Potenziale der beteiligten beruflichen Schulen,<br />

der Schulen für Erwachsene und der Volkshochschulen für<br />

das lebensbegleitende Lernen intensiver und systematischer<br />

zur Geltung bringen und die öffentlichen Ressourcen besser<br />

nutzen soll. Das Land sowie die beteiligten Kreise und Städte<br />

wollen durch HESSENCAMPUS eine höhere Beteiligung von<br />

Erwachsenen aller Altersstufen an <strong>Bildung</strong> erreichen, die<br />

Chancen der Menschen zur sozialen Teilhabe und zur persönlichen<br />

Entfaltung erhöhen sowie ihre Regionen und Hessen als<br />

dynamische und innovative Standorte der Wissensgesellschaft<br />

stärken.<br />

HESSENCAMPUS ist ein zentraler Ansatzpunkt der hessischen<br />

Landesregierung zur Umsetzung der bildungspolitischen<br />

Leitlinie, nach der die Teilhabe von Erwachsenen an <strong>Bildung</strong><br />

(sowohl in Fallzahlen als auch in Frequenz und Dauer) substantiell<br />

erhöht werden soll. Besonders bedeutsam ist in diesem<br />

Zusammenhang ein möglichst niedrigschwelliger Zugang für<br />

Bevölkerungsgruppen, die bisher der <strong>Bildung</strong> im Erwachsenenalter<br />

ferngeblieben sind, sowie die bessere Integration der<br />

Migrantinnen und Migranten. Dieser Frage kommt für die<br />

Zukunft des Landes hohe Aufmerksamkeit zu, weil es in gleichem<br />

Maße um die Umsetzung der individuellen Rechte auf<br />

<strong>Bildung</strong> wie um die Sicherung und den Ausbau des <strong>Bildung</strong>spotenzials<br />

des Landes, aber auch um die wirtschaftliche Entwicklung<br />

unseres Landes und seiner Regionen geht.


KlauS-wIlHelm RInG<br />

15<br />

Durch HESSENCAMPUS werden Strukturen und Angebote<br />

von <strong>Bildung</strong>sangeboten auf die Bedürfnisse, Lebenslagen,<br />

be ruflichen und sozialen Verhältnisse vor allem jener Gruppen<br />

der Bevölkerung abgestellt, die allgemein als „bildungsfern“<br />

bezeichnet werden. Hierfür werden im HESSENCAMPUS berufliche<br />

<strong>Bildung</strong>, allgemeine <strong>Bildung</strong> im Sinne von kultureller,<br />

sozialer und politischer Teilhabe und Lebensbewältigungsfähigkeit<br />

sowie <strong>Bildung</strong> als zweite Chance verknüpft.<br />

Die vier zentralen Leitgedanken des HESSENCAMPUS<br />

können wie folgt beschrieben werden:<br />

1. Im Zentrum steht die „erwachsene<br />

LernerInnen-Persönlichkeit“.<br />

2. Die individuellen Lernbiografien bilden den Bezug<br />

für das pädagogische Geschehen.<br />

3. Lebensweltnähe ist sowohl pädagogisches Leitprinzip<br />

als auch der Schlüssel für „Niedrigschwelligkeit“ und<br />

„Attraktivität“.<br />

4. Lebensbewältigungsfähigkeit soll auf die praktische,<br />

orientierende und das Selbstbewusstsein stärkende<br />

Aufgabe gelingender <strong>Bildung</strong> hinweisen.<br />

Die Anzahl der HESSENCAMPUS-Initiativen hat sich von<br />

neun Startinitiativen im Jahr 2007 so weit erhöht, dass damit<br />

eine weitgehend flächendeckende Präsenz in Hessen erreicht<br />

ist. Am HESSENCAMPUS sind mittlerweile über 200 <strong>Bildung</strong>seinrichtungen<br />

und andere Akteure beteiligt, sowohl in der<br />

Steuerung der Initiativen insgesamt als auch durch Mitarbeit<br />

an den Leitprojekten der Zentren. Dazu zählen 42 berufliche<br />

Schulen, 20 Volkshochschulen und acht Schulen für Erwachsene.<br />

Weiterhin vertreten sind allgemeinbildende Schulen, Hochschulen,<br />

Berufsbildungszentren, Beschäftigungsgesellschaften<br />

oder Einrichtungen der Jugendhilfe, Arbeitsagenturen und die<br />

regionale Wirtschaft.<br />

In kurzer Zeit sind beachtliche Entwicklungen angebahnt<br />

worden, beispielsweise in der <strong>Bildung</strong>sberatung in den Regionen,<br />

in neuen gemeinsamen <strong>Bildung</strong>sangeboten wie der<br />

Produktionsschule oder in der Lernkultur der beteiligten Einrichtungen.<br />

Es ist gelungen, die miteinander verknüpften<br />

Lehrkompetenzen, Erfahrungen, Kursprogramme und Curricula<br />

aus den Feldern berufliche <strong>Bildung</strong>, <strong>Bildung</strong> der zweiten<br />

Chance und allgemeine <strong>Bildung</strong> zu neuen Angeboten der<br />

<strong>Bildung</strong>, Beratung und Lebensgestaltungskompetenz zusammenzuführen<br />

und zu bündeln. Die gute Resonanz und die<br />

praktischen Erfahrungen bestätigen – trotz vieler noch zu<br />

über windender Schwierigkeiten – den eingeschlagenen Weg<br />

der Zusammenarbeit von unterschiedlichen <strong>Bildung</strong>seinrich -<br />

t un gen und ihren Trägern.


16 KlauS-wIlHelm RInG<br />

Die konsequente Verfolgung des Ziels der Schaffung von<br />

<strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit für die Bürgerinnen und Bürger und der<br />

Modernisierung der außerschulischen Weiterbildung und des<br />

lebensbegleitenden Lernens in Hessen mündet im Entwurf für<br />

ein neues hessisches Weiterbildungsgesetz. Die Novelle knüpft<br />

im Kern an das derzeit geltende und bewährte Weiterbildungsgesetz<br />

an, erweitert aber gleichzeitig den Handlungsspielraum<br />

für die an der Weiterbildung beteiligten öffentlichen und freien<br />

Träger zur Weiterentwicklung des Systems lebensbegleitenden<br />

Lernens in Hessen.<br />

Als wichtigste Neuerungen sind vorgesehen:<br />

• Das „strategische Bündnis“ HESSENCAMPUS, seit Jahren<br />

erfolgreich praktiziert, wird auf rechtlich sichere Füße<br />

gestellt.<br />

• Die Möglichkeit von Verbünden von beruflichen Schulen,<br />

Schulen für Erwachsene und Volkshochschulen ist<br />

ausdrücklich vorgesehen und hat zum Ziel, <strong>Bildung</strong><br />

für Erwachsene ganzheitlicher und attraktiver als<br />

bisher zu gestalten und damit immer mehr Menschen<br />

am lebensbegleitenden Lernen teilhaben zu lassen.<br />

• Das übergeordnete Ziel, die Weiterbildungsbeteiligung<br />

von Erwachsenen zu fördern, wird als programmatische<br />

Vorgabe in den Gesetzestext aufgenommen und als<br />

Aufgabe der Weiterbildungseinrichtungen definiert.<br />

• Ebenso wird die Möglichkeit der Einrichtung einer<br />

regionalen <strong>Bildung</strong>skoordination im Gesetz verankert,<br />

wobei Land und Kommunen den Auftrag haben,<br />

die notwendigen Rahmenbedingungen für ein für alle<br />

Bürgerinnen und Bürger erreichbares, am Bedarf<br />

orientiertes und abgestimmtes <strong>Bildung</strong>sangebot zu<br />

schaffen.<br />

• Um den Bedarf zu ermitteln und noch besser zu koordinieren,<br />

soll es eine regionale <strong>Bildung</strong>skoordination<br />

geben, damit Angebote breiter angelegt werden<br />

können, die <strong>Bildung</strong>sberatung verbessert wird und<br />

Ressourcen effektiver genutzt werden.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

unterstützt und gestützt werden all unsere landesweiten<br />

Bemühungen durch elf Projekte, gefördert vom <strong>Bundesministerium</strong><br />

für <strong>Bildung</strong> und Forschung im Rahmen des Programms<br />

„Perspektive Berufsabschluss“. Hiervon sind fünf Projekte<br />

der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement“ und<br />

sechs Projekte der Förderinitiative „Abschlussorientierte<br />

modulare Nachqualifizierung“ zuzuordnen. Alle hessischen<br />

Projekte arbeiten sehr eng mit Initiativen und Programmen<br />

des Landes Hessen zusammen und allen Beteiligten gelten<br />

großer Dank und Anerkennung für ihr Engagement und die<br />

erfolgreiche Arbeit.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hessische<br />

Schul- und <strong>Bildung</strong>spolitik bereits jetzt im Sinne der Tagung<br />

„Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel“ sehr<br />

erfolgreich ist. So hat auch der in den vergangenen Wochen<br />

veröffentlichte <strong>Bildung</strong>smonitor bestätigt,<br />

• dass der Erfolg von Schülerinnen und Schülern in<br />

Hessen immer weniger von ihrer sozialen Herkunft<br />

abhängt und<br />

• dass bei der <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit in Hessen in<br />

den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte<br />

zu verzeichnen sind.<br />

Demzufolge hat das Land einen Sprung von Platz zehn<br />

auf Platz sieben im jährlichen bundesweiten Leistungsvergleich<br />

gemacht.<br />

Ich sehe optimistisch in die Zukunft und erwarte eine weitere<br />

Optimierung des Übergangs von der allgemeinbildenden<br />

Schule in eine Berufsausbildung und eine breite Bereitschaft<br />

der Bevölkerung zum lebenslangen Lernen für eine positive<br />

wirtschaftliche und politische Entwicklung.<br />

Am Ende meiner Ausführungen möchte ich an das Zitat<br />

von John F. Kennedy erinnern: „Was ist teurer als <strong>Bildung</strong>?<br />

Keine <strong>Bildung</strong>!“<br />

Ich wünsche allen eine erfolgreiche Tagung, viele Anregungen<br />

und einen starken Optimismus zur Entwicklung optimaler<br />

Förderkonzepte für Jugendliche, die besonderer Hilfe<br />

beim Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt bedürfen, und<br />

bedanke mich bereits jetzt für Ihr zukünftiges Engagement.<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


peter clever<br />

17<br />

Chancengerechtigkeit als bildungspolitische Forderung<br />

und ökonomische Notwendigkeit<br />

Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung BDA | Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />

Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung<br />

BDA | Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />

Vielen Dank, Frau Schulte-Loh, für die freundliche Begrüßung,<br />

Frau Haugg, Herr Ring. Als ich gefragt wurde, ob<br />

ich den Vortrag halten will, wollte ich nicht gleich den<br />

Titel kritisieren, sondern nahm es so, wie es steht: „Chancengerechtigkeit<br />

als bildungspolitische Forderung und<br />

ökonomische Notwendigkeit.“ Aber ich möchte dies auch<br />

als gesellschaftspolitische Forderung formuliert sehen.<br />

Denn was auch immer wir machen, sollten wir vor dem<br />

Hintergrund folgender Fragen tun: In was für einer<br />

Gesellschaft wollen wir leben? Wo wollen wir hin? Wie<br />

stellen wir uns das Zusammenleben in einer modernen,<br />

hochindustrialisierten Gesellschaft vor?<br />

Ich bin überzeugt: Wir wollen, dass alle Menschen glücklich in<br />

unserer Gesellschaft leben können, und dabei spielt <strong>Bildung</strong><br />

eine große Rolle. Wir sind alle vor etwa einem Jahrzehnt aufgeschreckt<br />

worden durch die PISA­Ergebnisse. Sie haben uns<br />

nüchtern in Zahlen vorgeführt, wo wir stehen. Was ich besonders<br />

wichtig finde, ist der Blick über die eigenen nationalen Grenzen<br />

hinaus. Da können wir feststellen, dass der soziale Status des<br />

Elternhauses in Deutschland mehr darüber entscheidet, welchen<br />

<strong>Bildung</strong>serfolg jemand hat, als seine Talente. Wir können aber<br />

auch sehen, dass es in anderen Ländern besser funktioniert als<br />

bei uns, <strong>Bildung</strong>serfolg vom sozialen Status der Eltern zu entkoppeln<br />

und mehr die individuellen Talente entscheiden zu<br />

lassen. Dies finde ich ausgesprochen wichtig. Ähnlich ist auch<br />

der Blick auf diejenigen, die wir Menschen mit Migrationsgeschichte<br />

nennen. Ich tue mich da mittlerweile schwer, weil die


18 peteR cleveR<br />

Bezeichnung „Migrationshintergrund“ fast schon zu einer<br />

Stigmatisierung wird, was sie gerade nicht sein soll. Denn Menschen<br />

mit Migrationsgeschichte sind überproportional am so<br />

genannten „High End“ vertreten, was man aber sehr schnell vergisst.<br />

Es gibt viele, bei denen die Integration sehr gut gelungen<br />

ist, die aus der interkulturellen Kompetenz und der Mehrsprachigkeit<br />

viel mehr Potenzial entwickelt haben, als es jemand tut,<br />

der nicht über Migrationsgeschichte verfügt. Auf der anderen<br />

Seite sind sie überproportional stark am „Low End“ vertreten,<br />

wo es erhebliche Nachteile gibt, die überwunden werden<br />

müssen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass wir diesen Begriff<br />

„Menschen mit Migrationsgeschichte“ nicht immer nur mit<br />

dem „Low End“ verbinden. Wir müssen dafür sorgen, dass er<br />

nicht stigmatisiert, sondern nur den analytischen Blick schärft,<br />

der uns zeigt, wo wir besser werden können und müssen. Denn<br />

auch hier zeigt sich, dass in vergleichbaren Industrieländern<br />

die <strong>Bildung</strong>sergebnisse derer, die zugewandert sind, besser<br />

sind als in Deutschland. Politisch und auch gesellschaftspolitisch<br />

herausfordernd ist, dass bei uns die Herkunft mehr über<br />

den <strong>Bildung</strong>serfolg entscheidet als das Talent, denn dieser<br />

Zusammenhang sagt uns und unserem System: Es gelingt uns<br />

nicht, Chancengerechtigkeit herzustellen, jedenfalls nicht im<br />

möglichen und erst recht nicht im wünschbaren Ausmaß.<br />

Chancen unabhängig von der sozialen Herkunft zu eröffnen,<br />

ist deshalb zu Recht ein zentrales bildungspolitisches Thema,<br />

weil es große gesellschaftspolitische Konsequenzen hat. Und<br />

Chancengerechtigkeit ist übrigens überhaupt kein Gegensatz<br />

zum Leistungsprinzip, denn es geht ja darum, dass jeder Mensch<br />

sein Leistungspotenzial tatsächlich entdeckt und dann auch<br />

aus sich heraus mit eigenem Engagement und mit Hilfe des<br />

<strong>Bildung</strong>ssystems und seiner Einrichtungen entfalten kann. Wir<br />

brauchen dementsprechend bessere Startchancen für alle,<br />

verknüpft mit einer klaren Orientierung am Leistungsprinzip.<br />

Und deshalb müssen wir zweierlei versuchen zu erreichen:<br />

Chancen eröffnen und Anstrengungen fordern<br />

Erstens müssen wir durch die gezielte Förderung bei jedem<br />

Menschen alle Talente entfalten. Ich rede nachher häufiger<br />

von Kindern, aber ich sage Ihnen, es gilt eigentlich für Menschen<br />

jeder Altersstufe. Der Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt<br />

Hans nimmermehr“ ist bei mir mit zehn Fragezeichen versehen.<br />

Selbst wenn man es intellektuell und auch empirisch untermauern<br />

könnte, wäre es zumindest keine Ermutigung für diejenigen,<br />

die Spätzünder sind oder die Brüche im Leben erfahren<br />

haben. Deshalb würde ich diese „Volksweisheit“ etwas relativieren.<br />

Ich glaube, es kommt bei jedem Menschen darauf an,<br />

gegebenenfalls auch später im Leben, Talente und Begabungen<br />

zu entdecken, zu entfalten und Fähigkeiten und Kompetenzen<br />

zu entwickeln. Jedem Menschen muss eine Chance dazu gege ben<br />

werden und nicht nur eine, sondern immer wieder neue<br />

Chancen.<br />

Auch hier spanne ich den Bogen zu der Frage: In welcher<br />

Gesellschaft will ich leben? Ich will in einer chancenvollen<br />

Gesellschaft leben. Nicht in einer, in der ich in eine Familie mit<br />

Migrationsgeschichte hineingeboren bin und ohnehin in<br />

meinem Leben keine Chance mehr haben werde, weil ich die<br />

Unterstützung von meinem Elternhaus nicht bekomme, die<br />

andere mit einer anderen Biografie und anderem Elternhaus<br />

bekommen können. Ich wünsche mir auch nicht, dass jemand,<br />

der einen Bruch in seinem Leben erfahren hat, weil er zum<br />

Beispiel krank geworden ist, für sein ganzes Leben in eine Sackgasse<br />

gerät. Ich wünsche mir, dass wir in einer chancenvollen<br />

Gesellschaft leben, und deshalb muss jedem auch in jedem Alter<br />

wieder eine neue Chance gegeben werden.<br />

Diese Art von Chancengerechtigkeit wird übrigens nicht<br />

zu gleichen Ergebnissen für alle führen. Es geht hier nicht um<br />

Gleichmacherei. Denn die Menschen haben ganz unterschiedliche<br />

Talente und Begabungen, und die Ergebnisse werden<br />

dementsprechend auch unterschiedlich sein. Was nichts über<br />

den Wert der Menschen sagt. „Die Würde des Menschen ist<br />

unantastbar“ – der erste Satz in unserem Grundgesetz ist zu<br />

Recht ein kluger Spruch, der eben nicht die Würde des Menschen<br />

von seinen Talenten und Fähigkeiten her definiert, sondern<br />

aus seinem Menschsein heraus. Jeder Mensch hat Talente und<br />

Begabungen. Diese müssen entdeckt werden, auch deshalb,<br />

weil man nur darüber Selbstbewusstsein entwickeln kann. Ein<br />

Mensch, der nicht das Gefühl hat, ich kann etwas, oder besser<br />

noch: ich kann etwas, und das wird gebraucht, entwickelt kein<br />

Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Das sage ich bewusst<br />

als Vertreter der Arbeitgeber, die oft in den Verdacht gestellt<br />

werden, in der <strong>Bildung</strong>spolitik immer nur eine utilitaristische<br />

Sichtweise zu vertreten, die nur die direkte Verwertbarkeit der<br />

<strong>Bildung</strong>sergebnisse sofort an der Maschine, im Betrieb als eigenes<br />

Interesse im Blick hat. Die Persönlichkeitsentwicklung sei<br />

eine Sache, die wir angeblich auf die Seite schieben. Ich will da<br />

einen klaren Kontrapunkt setzen. Die Gesellschaft, auch die<br />

moderne Wirtschaftsgesellschaft, ist eine, bei der nicht „Herr<br />

im Hause“ gilt, also Befehl und Gehorsam, sondern sie braucht<br />

den selbstbewussten, problemorientierten Menschen und Mitarbeiter,<br />

der eigenständig, kreativ, innovativ arbeitet. Das kann<br />

keine verkümmerte Persönlichkeit sein, sondern muss eine<br />

selbstbewusste Persönlichkeit sein. Und deshalb sind ökonomische<br />

Notwendigkeit und der gesellschaftspolitische Anspruch<br />

von Chancengerechtigkeit und Persönlichkeitsentwicklung kein<br />

Gegensatz, sondern sie laufen gleichgerichtet.<br />

Das eine zentrale Element von <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit ist<br />

die gezielte Förderung, die Entdeckung und Förderung von<br />

Talenten. Das zweite ist der Anspruch, dass man mit seinen<br />

Begabungen, wenn sie entdeckt und gefördert werden, auch<br />

etwas anfangen muss. Kurz gesagt: dass man sich anstrengen<br />

muss. Dabei haben Eltern eine ganz zentrale Bedeutung. Das<br />

widerspricht nicht unserer Forderung für eine stärkere frühkindliche<br />

<strong>Bildung</strong>. Hier geht es überhaupt nicht darum, Eltern<br />

aus ihrer Verantwortung zu entlassen oder ihnen gar die<br />

Kinder zugunsten von Staatseinrichtungen wegzunehmen.


peteR cleveR<br />

19<br />

Genau das Gegenteil wollen wir. Eine nachhaltige frühkindliche<br />

Förderung kann nur gemeinsam mit den Eltern gelingen. Aber<br />

in einer Gesellschaft, in der die Familie üblicherweise ein Kind<br />

oder zwei Kinder hat, tut es Kindern auch im ganz frühen Alter<br />

gut, in Gruppen mit sieben, acht, neun Kindern zu sein. Die<br />

staatliche Einrichtung spielt dann eine große pädagogische<br />

Rolle und nicht in Konkurrenz, sondern als Ergänzung und als<br />

Unterstützung dessen, was in den Familien geschieht.<br />

Die Politik hat aus meiner Sicht bisweilen Hemmungen,<br />

Anstrengungen des Einzelnen auch zum Thema zu machen.<br />

Sie meint, dies werde nicht goutiert. Aber man sollte einmal<br />

ernsthaft über die Frage nachdenken: Was bringt eigentlich<br />

das höchste Glück? Ist das der Lottogewinn? Oder die ersten<br />

selbst verdienten 200 Euro? Wer ist glücklicher: der, der den<br />

Kilimandscharo nach langem Training selbst in zwei Tagen<br />

hochgekraxelt ist? Oder derjenige, der vom reichen Vater oder<br />

Onkel einen Hubschrauberflug geschenkt bekommt und zur<br />

selben Zeit auf dem Gipfel abgestellt wird wie der andere, der<br />

mühsam heraufgeklettert ist? Meine Antwort: Es gibt kein anstrengungsloses<br />

Glück. Ich glaube sogar, die Anstrengung ist<br />

Voraussetzung für die Maximierung von Glück. Und deshalb<br />

muss auch Politik keine Angst haben, den Menschen Anstrengungen<br />

abzuverlangen. Die Kunst besteht darin, die Anstrengung<br />

bis zum maximal Möglichen zu steigern, aber die Sensibilität<br />

dafür zu haben, wo die Überforderung beginnt. Denn wo<br />

ständige Überforderung zum permanenten Versagenserlebnis<br />

wird, dort wird auch kein selbstbewusster, selbstständig denkender<br />

Mensch herangebildet. Deshalb ist der entscheidende<br />

Punkt nicht die Frage nach der Anstrengung generell, sondern<br />

die nach der Nichtüberforderung.<br />

Mein Zwischenfazit lautet also: Wir müssen beide Pole<br />

verfolgen, Talente fördern und Anstrengungen fordern – und<br />

jedem immer wieder eine Chance geben.<br />

Chancengerechtigkeit als ökonomische<br />

Notwendigkeit<br />

Warum müssen wir diese beiden Ziele auch unter ökonomischen<br />

Gesichtspunkten verfolgen? Der Bundespräsident<br />

hat kürzlich gesagt: „<strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit ist ein Gebot der<br />

sozialen Verantwortung und ein Gebot der wirtschaftlichen<br />

Vernunft.“ Das ist auch meine Botschaft: Eine chancengerechte<br />

<strong>Bildung</strong> hat zum einen nachhaltige sozial- und gesellschaftspolitische<br />

Konsequenzen. Aber sie hat auch für jeden Einzelnen<br />

Konsequenzen im Hinblick auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit,<br />

seiner Berufsfähigkeit und ist damit Grundlage für die<br />

Teilhabe der Menschen an unserem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen<br />

und kulturellen Leben. Das ist auch wieder die<br />

Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen: wo alle mitmachen<br />

können? Oder wo die einen Theater spielen und die<br />

anderen immer nur Zuschauer sind und vielleicht noch nicht<br />

einmal verstehen, was für ein Stück gespielt wird? Ich will<br />

eine Gesellschaft, in der Teilhabe unser gemeinsames Ziel ist,<br />

in der Arbeit wie außerhalb der Arbeit, zum Beispiel auch im<br />

Bereich der Kultur.<br />

Ich habe eben schon angedeutet, dass chancengerechte<br />

<strong>Bildung</strong> im Kern auch nachhaltige Standort- und Wirtschaftspolitik<br />

ist. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als die <strong>Bildung</strong>spolitik<br />

eigentlich eine Domäne von speziellen Fachleuten, zum<br />

Beispiel von Lehrern oder Professoren, war – ein Expertenthema.<br />

Ein früherer Bundeskanzler hätte sie wohl „Gedöns“<br />

genannt. Uns ist es aber gelungen, auch in der Wirtschaft die<br />

<strong>Bildung</strong>spolitik zur strategischen Größe zu erklären. Dass wir<br />

nicht über irgendeinen Randbereich reden, sondern in einem<br />

rohstoffarmen Land über den eigentlich wichtigsten Rohstoff –<br />

nämlich die Fähigkeiten des Menschen, sich kognitiv, emotional<br />

und praktisch zu entwickeln. Das ist es, was über unsere Zukunft<br />

entscheidet, und deshalb hat <strong>Bildung</strong>spolitik einen ganz zentralen<br />

politischen Stellenwert. Nur von gut qualifizierten,<br />

kreativen – im Kern übrigens auch sich fair behandelt fühlenden<br />

– Menschen können neue Ideen entwickelt und hochwertige<br />

Produkte und Dienstleistungen angeboten werden,<br />

die die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit des Standorts<br />

Deutschland und damit unseren Wohlstand und unser


20 peteR cleveR<br />

größtmögliches Maß an sozialer Sicherheit gewährleisten.<br />

Ich sage bewusst auch „sich fair behandelt fühlende Menschen“<br />

– nicht als Samariter, der versucht, ein schönes Arbeitgeberimage<br />

vorzugaukeln. Wettbewerb ist immer sehr stark<br />

von eigenen Zielen geprägt, hat ein Element des Egoismus.<br />

Aber es gibt einen dummen Egoismus, der quasi mit Scheuklappen<br />

wie ein Panzer durch die Gegend fährt. Und es gibt<br />

einen aufgeklärten Egoismus, der immer darauf achtet, dass<br />

die berechtigten Interessen der Mitspieler durch die eigene<br />

Interessenwahr nehmung nicht unter die Räder kommen.<br />

Die berechtigten Interessen des anderen sind zu respektieren.<br />

Auch wieder die Frage: In welcher Gesellschaft möchten wir<br />

leben? Wir Rheinländer haben immer gesagt: leben und leben<br />

lassen. Eine sehr kurze Formel, aber eine sehr praktische, auch<br />

im Hinblick auf unsere bildungspolitischen Ziele.<br />

<strong>Bildung</strong>spolitische Herausforderungen<br />

Wir haben in Deutschland viele gut qualifizierte Menschen,<br />

hochkompetent, sehr engagiert, aber es gibt noch zu viele<br />

Potenziale, die brachliegen. Sie kennen die Zahlen im Wesentlichen:<br />

6,5 Prozent der Schulabgänger haben keinen Abschluss,<br />

bei denen mit ausländischem Pass sind es mehr als doppelt so<br />

viele. Und 15 Prozent der jungen Menschen zwischen 20 und<br />

29 haben keinen Berufsabschluss und auch hier ist die Zahl<br />

derer mit ausländischem Pass doppelt so hoch. Dies wollen und<br />

können wir uns nicht länger leisten, denn Deutschland gehen<br />

die Menschen aus.<br />

Ich habe kürzlich in der SPD-Fraktion die Frage gestellt: Wie<br />

schätzen Sie eigentlich die Zeitspanne von der Wiedervereinigung<br />

bis heute ein? Übertragen könnte man sagen, das war<br />

vorgestern für mich, aber sie ist noch in lebhafter Erinnerung,<br />

diese Euphorie der Wendezeit. Und wenn man das in einer<br />

gefühlten Zahl ausdrücken sollte, dann hätte ich von neun,<br />

zehn oder elf Jahren gesprochen. Es sind schon 22 Jahre seit<br />

1989. Und deshalb, Frau Schulte-Loh, bin ich Ihnen sehr dankbar,<br />

dass Sie das Thema der Langfristigkeit eben auch für die<br />

Politik angesprochen haben. Politiker sollen nicht „abschalten“,<br />

wenn über das Jahr 2030 gesprochen wird. Denn für die großen<br />

Fragen der Entwicklung unseres Landes muss man diese vermeintlich<br />

langen Perspektiven im Blick haben und auch den<br />

Willen haben, in diesen Perspektiven politisch zu arbeiten und<br />

nicht nur auf die nächste Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahl<br />

zu schielen.<br />

In 20 Jahren wird das Erwerbspersonenpotenzial in<br />

Deutschland, also die Zahl der Menschen zwischen 15 und 65,<br />

von 50 auf 42 Millionen zurückgehen. Das sind keine Prognosen,<br />

sondern das sind Berechnungen, die wir machen können,<br />

weil wir wissen, dass diese Menschen schon geboren, respektive<br />

nicht geboren sind. An dieser Zahl kann man dann nur noch<br />

durch Zuwanderung etwas verändern. Bei der gerade genannten<br />

Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials ist unterstellt,<br />

dass es im Jahresdurchschnitt einen positiven jährlichen<br />

Wanderungssaldo von 100.000 Personen für Deutschland gibt.<br />

Im Moment haben wir aber sogar einen leicht negativen Saldo.<br />

Das heißt, dass diese Zahl das Problem eher unterzeichnet – im<br />

Moment jedenfalls – als dass sie es dramatisiert. Wenn wir die<br />

ganz nüchterne Analyse machen, dass die Menschen weniger<br />

werden, werden wir auch zu dem Ergebnis kommen, dass wir,<br />

weil die Menschen nicht da sind, auch Arbeitskräftemangel<br />

haben werden.<br />

Laut Prognosen wird die Fachkräftelücke ohne Gegensteuern<br />

der Politik im Jahre 2030 5,2 Millionen betragen. Ganz<br />

besonders stark ist der Fachkräftemangel schon heute in den so<br />

genannten MINT-Berufen: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft,<br />

Technik. Glücklicherweise müssen wir heute den<br />

Begriff MINT nicht mehr erklären wie noch vor ein paar Jahren.<br />

Aktuell fehlen 154.000 MINT-Fachkräfte, und schon in weniger<br />

als zehn Jahren wird die Lücke auf 230.000 ansteigen. Dies ist<br />

etwas, was mit großen Wertschöpfungsverlusten einhergeht.<br />

Unternehmen werden Aufträge nicht annehmen können, die<br />

sie mit ausreichend Fachkräften erledigen könnten. Das ist<br />

nicht nur eine Frage der Wertschöpfung für den Einzelnen oder<br />

ein einzelnes Unternehmen. Hier geht es um die Grundlage<br />

unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit insgesamt, um<br />

unsere gesellschaftspolitische und soziale Leistungsfähigkeit.<br />

Deshalb müssen wir die Folgen der Demografie ernst nehmen<br />

und wirksam gegensteuern. Wichtig ist eine Gesamtstrategie,<br />

die nicht zulässt, wie es heute bisweilen passiert, dass man sagt:<br />

Zuerst müsst ihr die Menschen hier in Deutschland richtig<br />

qualifizieren und dann prüfen wir, ob wir uns auch in der Welt<br />

umschauen müssen nach guten Köpfen. Deutschland wird noch<br />

lange brauchen, bis es zu einem interessanten und begehrten<br />

Zuwanderungsziel wird. Wir werden noch sehr viele Werbeanstrengungen<br />

unternehmen müssen, um uns attraktiv zu<br />

machen für kluge, gut ausgebildete Menschen überall auf der<br />

Welt. Und da haben wir keine Zeit zu verlieren, damit müssen<br />

wir jetzt anfangen und dürfen dies nicht gegen die gleichzeitig<br />

zu leistende Aufgabe der besseren Qualifizierung unseres<br />

heimischen Potenzials ausspielen.<br />

Wo wir weniger werden, müssen wir besser werden.<br />

Altbundespräsident Köhler hat bei einer großen gesellschaftspolitischen<br />

Rede bei uns in der BDA gesagt: „… und wir müssen<br />

im globalen Wettbewerb um so viel besser sein, wie wir teurer<br />

sind.“ Das ist keine ideologische Aussage, das ist eine ganz<br />

nüchterne Analyse der Wettbewerbssituation. Und weil wir<br />

besser werden müssen – da bin ich wieder bei der <strong>Bildung</strong>spolitik<br />

–, kommt der <strong>Bildung</strong>spolitik strategische Bedeutung zu.<br />

Bund und Länder haben sich im Rahmen der Qualifizierungsinitiative<br />

konkrete Ziele gesetzt und auch schon viele Schritte<br />

auf dem Weg zu einer besseren <strong>Bildung</strong> in Deutschland vereinbart.<br />

Wichtig war uns dabei, dass konkrete, messbare Ziele und<br />

Zielgrößen vereinbart worden sind, denn der Fortschritt hin<br />

zu mehr Qualität im <strong>Bildung</strong>ssystem muss messbar sein. Nur so<br />

entsteht ein Veränderungsdruck, der allein von Sonntagsreden<br />

nicht ausgeht. Die deutschen Arbeitgeber verbinden deshalb<br />

ihre bildungspolitischen Forderungen seit Jahren mit konkreten


peteR cleveR<br />

21<br />

Messgrößen. Und wir haken bei den Verantwortlichen in den<br />

Ländern und beim Bund immer wieder nach, wie die Umsetzung<br />

vorankommt. Wichtig ist, dass wir die Defizite benennen,<br />

aber auch das nicht missachten, was auf der Habenseite schon<br />

verbucht werden kann. Dies heißt nicht Schönwetter machen<br />

oder Probleme wegdefinieren. Aber wenn man nicht auch den<br />

Fortschritt sichtbar werden lässt, dann erlahmt die Motivation,<br />

auf diesem Reformweg weiterzugehen.<br />

Erfreulich ist, dass die Quote der Schulabbrecher, die 2005<br />

noch bei 10 Prozent lag, jetzt auf aktuell 6,5 Prozent abgesenkt<br />

wurde. Aber wir sagen, das ist immer noch zu viel. Wir müssen<br />

die Quote weiter auf 4 Prozent senken bis 2015.<br />

Und die frühkindliche <strong>Bildung</strong> wird ausgebaut, jawohl, das<br />

ist sehr gut. Bis 2013 soll für über ein Drittel aller Kinder unter<br />

drei Jahren ein Betreuungsangebot vorzufinden sein. Aber wir<br />

fragen auch nach der Qualität der Betreuung, die gesichert<br />

werden muss. Ich komme nachher noch mal kurz auf dieses<br />

Thema zurück.<br />

Und es ist Konsens, dass mehr und besserer Unterricht in den<br />

MINT-Fächern stattfinden soll. Denn für ein Hochtechnologieland<br />

wie Deutschland ist es ausgeschlossen, dass wir die MINT-<br />

Thematik nicht wirklich nach vorne bringen. Und deshalb fragen<br />

wir auch, ob diese MINT-Fächer in den Schulen verbindlich<br />

belegt werden müssen und ob der Unterricht tatsächlich so<br />

anschaulich gestaltet wird, dass junge Menschen auch für MINT<br />

begeistert werden können. Ich weiß, dass Lehrer Angeboten,<br />

wie sie Unterrichtsgestaltung verändern können, grundsätzlich<br />

sehr offen gegenüberstehen. Sie brauchen vor allem praktische<br />

Tipps, die sie konkret im Unterricht anwenden können.<br />

Und die Kultusminister haben richtigerweise <strong>Bildung</strong>sstandards<br />

beschlossen. Wir fragen als BDA immer wieder nach,<br />

wie weit sie im Unterricht implementiert sind und ob der Erfolg<br />

auch überprüft wird.<br />

Insgesamt haben wir kein Defizit an Programmatik. Wir<br />

haben ein Defizit an Umsetzung in vielen Bereichen, und deshalb<br />

treiben wir als BDA auch nicht mehr die programmatische<br />

Diskussion an, sondern vor allem die Umsetzungsdiskussion.<br />

Neben den Fortschritten, die ich eben angedeutet habe, gibt es<br />

großen Handlungsbedarf.<br />

Frühkindliche <strong>Bildung</strong> stärken<br />

Die frühkindliche <strong>Bildung</strong> spielt eine zentrale Rolle. Denn<br />

wie fast überall gilt: Es kommt auf einen guten Anfang an. Das<br />

entscheidende Fundament für mehr <strong>Bildung</strong>s- und Chancengerechtigkeit<br />

wird in den jungen Jahren gelegt. Da muss<br />

an gesetzt werden, denn gerade hier steht das Fenster für das<br />

Lernen aufgrund der natürlichen Neugier der Kinder weit<br />

offen. Frühkindliche <strong>Bildung</strong> ist nicht die Universität für Kleine.<br />

Die Kinder werden auch nicht vom Spielen abgehalten und<br />

schon zu kleinen Schülern gemacht, die still sitzen und einem<br />

Vortrag folgen müssen. Die Kunst besteht eben darin, Anreize<br />

fürs Spiel so zu setzen, dass aus der entdeckenden Neugier<br />

oder dem neugierigen Entdecken Verständnis für sprachliche,<br />

naturwissenschaftliche, gesellschaftliche Zusammenhänge<br />

und Problemlösungen entwickelt wird. Das ist die Kunst der<br />

Frühpädagogen. Ich maße mir nicht an, zu sagen, ich weiß, wie<br />

es geht. Aber ich weiß, dass es viele gibt, die wissen, wie es geht,<br />

und die deshalb auch gestärkt werden müssen. Das gilt auch in<br />

der Frage einer angemessenen Bezahlung. Das wird man nicht<br />

von heute auf morgen regeln können, aber ich will es hiermit<br />

adressieren: Wir tun uns in Deutschland sehr schwer, die Dienstleistung<br />

von Mensch zu Mensch angemessen zu honorieren.<br />

Eine Maschine zu bedienen, wird hoch geachtet – dabei gibt<br />

es keine kompliziertere Maschine als den Menschen. Und<br />

diese Arbeit wird bei uns nicht wirklich wertgeschätzt. Das ist<br />

übrigens keine Frage nur an die Arbeitgeber, das ist eine Frage,<br />

die wir uns alle selbst stellen müssen. Und wer stolz sagt, für<br />

meinen letzten Haarschnitt habe ich 8 Euro bezahlt, der soll<br />

nicht nachher sagen, dass aber der, der mir die Haare geschnitten<br />

hat, 12 Euro die Stunde mindestens verdienen soll.<br />

Wir wollen, dass auch die Erzieher in den Einrichtungen<br />

professionell begleitet werden und dass sie in der Lage sind,<br />

den Kindern diese Anreize zu geben für Lernfortschritte schon<br />

im Kindergarten. Spätestens mit drei Jahren, in vielen Fällen<br />

auch schon mit zwei Jahren, ist der Besuch einer Kindertageseinrichtung<br />

für jedes Kind eine Bereicherung. Und noch mal:<br />

Es geht nicht darum, die Kinder den Eltern wegzunehmen. Im<br />

Gegenteil, es gehört zu einer guten frühkindlichen <strong>Bildung</strong>, dass<br />

es gelingt, eine <strong>Bildung</strong>s- und Erziehungspartnerschaft von<br />

Eltern und Erziehern mit dem gemeinsamen Ziel der optimalen<br />

Förderung der Kinder hinzukriegen. Ich weiß, wie schwer es<br />

ist, an manche Eltern heranzukommen. Aber man muss diese<br />

Bemühung auf sich nehmen und versuchen, die Menschen<br />

dort abzuholen, wo sie wohnen. Da geht der Lehrerberuf oder<br />

der Beruf der Erzieherin oder des Erziehers im Kindergarten<br />

über in sozialpädagogische Tätigkeit. Dafür muss man sich<br />

öffnen, sonst werden wir dieses große Wort der <strong>Bildung</strong>s- und<br />

Erziehungspartnerschaft zwischen der Einrichtung und den<br />

Eltern nicht wirklich mit Leben füllen können.


22 peteR cleveR<br />

Von zentraler Bedeutung ist die Sprachförderung. Dies<br />

gilt besonders, aber nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund.<br />

Hier ist es oft schwierig: Da bemühen sich die Eltern,<br />

deutsch zu reden, und sagen, wir probieren es. Aber sie können<br />

selbst nicht perfekt Deutsch. Gleichzeitig vernachlässigen sie<br />

ihre Herkunftssprache, die sie besser beherrschen. Resultat ist,<br />

dass die Kinder zum Beispiel weder gut türkisch noch gut deutsch<br />

sprechen können. Das ist die schlechteste Voraussetzung, überhaupt<br />

Sprache lernen zu können. Deshalb ist es ganz wichtig,<br />

dass man dort, wo die Eltern nicht gut deutsch sprechen können,<br />

sie natürlich ermuntern sollte, ihre Muttersprache mit den<br />

Kindern zu pflegen. Gleichzeitig muss an anderer Stelle nachgesteuert<br />

werden, was die Eltern eben nicht leisten können,<br />

und wo sie auch nicht mehr selbst hinentwickelt werden können.<br />

Da darf man kein Schwarz-Weiß-Bild zeichnen. Wie groß<br />

der Handlungsbedarf ist, zeigen die Sprachstandsfeststellungen,<br />

die glücklicherweise mittlerweile flächendeckend in unserem<br />

Land erhoben werden: Sie stellen immerhin bei 30 Prozent aller<br />

Vorschulkinder einen konkreten Förderbedarf fest.<br />

Schule muss Ausbildungsreife sicherstellen<br />

Der nächste Schritt hin zum Berufsabschluss muss von der Schule<br />

geleistet werden. Sie muss sicherstellen, dass junge Menschen<br />

mit dem erforderlichen Rüstzeug für eine Ausbildung ausgestattet<br />

werden. Das gelingt aktuell zu oft nicht. Wieder einmal<br />

sagt uns PISA: 19 Prozent der Schüler sind nicht ausbildungsreif,<br />

mehr als diejenigen ohne Schulabschluss. Ein Schulabschluss<br />

bedeutet nicht unbedingt auch schon Ausbildungsreife.<br />

Gleich zeitig bleiben immer mehr Ausbildungsplätze<br />

unbesetzt, der Arbeitsmarkt dreht sich hin zu einem Arbeitnehmerarbeitsmarkt.<br />

Arbeitgeber müssen sich ganz anders<br />

bemühen, sie können sich nicht nur die Besten aussuchen,<br />

denn die sind schon vergeben, sie müssen jetzt noch verstärkt<br />

ihr Radar öffnen für Gruppen, die man früher weniger stark<br />

im Blick hatte. Hier ändert sich vieles, der Arbeitsmarkt dreht<br />

sich, aus unserer Perspektive bleiben Ausbildungsplätze leider<br />

unbesetzt, weil geeignete Bewerber nicht da sind. Daher müssen<br />

wir alles tun, um mehr junge Menschen ausbildungsfähig<br />

zu machen.<br />

Im letzten Jahr gab es 60.000 nicht besetzte Ausbildungsplätze,<br />

und deshalb begrüßen wir es auch von der BDA aus,<br />

dass bei der Verlängerung und Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes<br />

vor rund einem Jahr die Themen Ausbildungsreife<br />

und Berufsorientierung stärker in den Fokus gerückt worden<br />

sind. Sie waren zwar schon immer Gegenstand des Paktes, aber<br />

sie haben angesichts der demografischen Entwicklung nochmals<br />

an Bedeutung gewonnen. Daher ist es auch gut, dass die<br />

Länder offizieller Paktpartner geworden sind, weil wir hier<br />

über ein zentrales Thema sprechen, das in der Kompetenz der<br />

Länder liegt und in erster Linie dort angegangen werden muss.<br />

Ich erkenne auch ausdrücklich an, dass in den letzten Jahren<br />

einiges passiert ist, um Schulen besser aufzustellen. Erste Erfolge<br />

sind sichtbar: Die PISA-Ergebnisse 2009 zeigen einen klaren<br />

Trend zur Verbesserung, gerade auch bei den bislang schwächeren<br />

Schülern. So hat der Anteil von Schülern, die im Lesen<br />

zur Risikogruppe gehören, zwischen 2000 und 2009 von 22,6<br />

auf 18,5 Prozent abgenommen. Das ist spürbar, aber immer<br />

noch ein zu hohes Niveau. Das ist nicht zufriedenstellend, aber<br />

es zeigt sich, man kann etwas bewegen.<br />

Analysen zeigen zusätzlich, dass zwischen den Schulen,<br />

Ländern und Regionen zum Teil eklatante Unterschiede in der<br />

Schulqualität bestehen. Das ist nicht gerade ein Ausdruck von<br />

<strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit in unserem Land. Und wir beobachten<br />

mit großer Sorge, dass es bei bildungspolitischen Reformen oft<br />

an der Umsetzung hapert. Es werden zum Teil Modellversuche<br />

gemacht, ohne dass wirklich eine Breitenwirkung, von der man<br />

immer behauptet, dass sie intendiert sei, wirklich angegangen<br />

wird. Zum Teil dominieren Aktionismus und unausgegorene<br />

Schnellschüsse in der <strong>Bildung</strong>spolitik, ein zu starkes Hin und<br />

Her bis zum Zurückrudern bei längst gestarteten Maßnahmen,


peteR cleveR<br />

23<br />

je nach Regierungswechsel, ist zu beobachten. Das schafft<br />

übrigens in der <strong>Bildung</strong>slandschaft einen Reformunwillen,<br />

selbst bei den gutmütigsten Reformwilligen. Diese Unruhe<br />

geht oft von Nebenkriegsschauplätzen aus, und ich sage es<br />

jetzt bewusst auch mal sehr konkret und benenne auch Länder.<br />

... Es geht immer von den Themen „Schulorganisation“ und<br />

„Schulstruktur“ aus. Dies beschäftigt die Schulen heutzutage<br />

oft mehr als ihre eigentliche Aufgabe, guten Unterricht zu<br />

machen, zu bilden, individuell zu fördern und zu erziehen. So<br />

war es in Hamburg: Die Umstrukturierung der weiterführenden<br />

Schulen zur Stadtteilschule war noch nicht abgeschlossen,<br />

als schon die Primarschule eingeführt werden sollte.<br />

In Schleswig-Holstein wurde das achtjährige Gymnasium eingeführt.<br />

Nachdem man es flächendeckend etabliert hatte,<br />

dürfen Schulen jetzt wieder auf G9 umstellen. In Mecklenburg-<br />

Vorpommern hat sogar mehrmals ein Wechsel zwischen G8<br />

und G9 stattgefunden. In Baden-Württemberg wurde erst mit<br />

der Werkrealschule eine neue Schulform eingeführt, da soll<br />

sie schon wieder storniert werden.<br />

Die Politik muss überlegen, was sie eigentlich Schülern<br />

und Eltern zumutet, wenn sie dieses oft nur parteipolitisch<br />

motivierte Hin und Her weiter betreibt. Wenn man zutiefst<br />

überzeugt ist, dass eine Regierung einen absolut falschen Schritt<br />

gegangen ist, muss man ihn korrigieren. Ich will keinem Politiker<br />

etwas zumuten. Aber ich will anmahnen, mehr Distanz zu<br />

den reinen Organisations- und Institutionsfragen herzustellen<br />

und Raum zu schaffen für die inhaltlichen Fragen der <strong>Bildung</strong>spolitik.<br />

Darauf kommt es an. Und das ist das, worauf sich<br />

Politik konzentrieren muss. Ich war auch lange ein Anhänger<br />

des dreigliedrigen Schulsystems. Wenn ich ehrlich bin, es ist<br />

egal, ob dreigliedrig oder zweigliedrig. Es gibt gute Hauptschulen<br />

und es gibt schlechte Hauptschulen. Lasst uns ganz<br />

pragmatisch die Organisationsfragen ohne großes politisches<br />

Gerede, entsprechend der demografischen Entwicklung,<br />

erledigen. Wenn eine Hauptschule zu klein wird, weil die kritische<br />

Masse nicht mehr da ist, muss sie in der Folge mit einer<br />

anderen Schule zusammengelegt werden. Daraus muss keine<br />

große Debatte gemacht werden, sondern es ist Konzentration<br />

auf die inhaltlichen Fragen der <strong>Bildung</strong>spolitik gefragt. Verlässliche<br />

Rahmenbedingungen für Schulen sind auch eine der<br />

Voraussetzungen für den <strong>Bildung</strong>serfolg in den Schulen.<br />

Reformen müssen stringent und langfristig ausgerichtet<br />

sein und erfordern übrigens auch von der Parteipolitik bisweilen,<br />

einen Weg weiter mitzugehen, den man selbst vielleicht anders<br />

gegangen wäre. Aber da es nicht eine völlig andere Richtung<br />

ist, sollte man um der Langfristigkeit und Berechenbarkeit<br />

willen auch hier über den eigenen Schatten springen und die<br />

parteipolitischen Vorlieben zugunsten der wirklich wichtigen<br />

inhaltlichen Fragen beiseitestellen. Denn wir müssen daran<br />

arbeiten, dass die Quote der Schulabbrecher jetzt im nächsten<br />

Schritt auf 4 Prozent halbiert wird, dass der Anteil der leistungsschwächsten<br />

Schüler weiter gesenkt werden kann auf höchstens<br />

15 Prozent und der der leistungsstärksten vielleicht auf<br />

15 Prozent gesteigert werden kann.<br />

Und wir brauchen vier Grundorientierungen, die ich gerne<br />

in jedem Bundesland gleichermaßen gefördert sehen will:<br />

1. eine starke, individuelle Förderung von Schülern:<br />

Das setzt voraus, dass Unterrichtsmethoden verändert<br />

werden und in der Qualifizierung der Lehrer die<br />

methodisch-didaktischen Fähigkeiten stärker in<br />

den Blick genommen werden.<br />

2. Wir brauchen ganz eindeutig mehr Ganztagsangebote:<br />

Dies ist nicht nur eine Frage von <strong>Bildung</strong>, sondern<br />

eine gesellschaftspolitische Frage von großer Bedeutung.<br />

Wir sehen es in der Bundesagentur für Arbeit, wo ich im<br />

Verwaltungsrat sitze, immer wieder, wie sehr eine<br />

mangelnde ganztägige Kinderbetreuungseinrichtung<br />

dazu führt, dass Arbeitskräfte nicht in Erwerbsarbeit<br />

kommen, obwohl sie wollen.<br />

3. Wir brauchen mehr Selbstständigkeit für die Schulen:<br />

Da muss auch ein Druck auf die Finanzminister ausgeübt<br />

werden, damit Schulen nicht mehr nach Stellenplänen<br />

arbeiten müssen, sondern ihnen mehr zugetraut wird,<br />

zum Beispiel auch in der Auswahl ihres Personals<br />

oder ihres Profils, je nach Umfeld, in dem sie ihre<br />

<strong>Bildung</strong>saufgabe zu erledigen haben.<br />

4. Wir brauchen eine praxisnähere Lehrerausbildung,<br />

die, wie bereits gesagt, stärker auf die methodischdidaktischen<br />

Kompetenzen abzielt.<br />

Berufsorientierung stärken<br />

Zur Ausbildungsreife gehört eine fundierte Berufsorientierung.<br />

Ich habe bisher nur über Forderungen an die Politik und<br />

an andere gesprochen. Ich sage ganz klar: Berufsorientierung<br />

geht nicht ohne die Unternehmen. Da müssen die Unternehmen<br />

mitmachen. Wenn heute Lehrer nicht wissen, wie die Arbeitswelt<br />

aussieht, wenn Schüler keine Vorstellung haben, was wirklich<br />

im Unternehmen passiert, wie ein Unternehmen funktioniert,<br />

welche Art von Berufen es gibt – wenn ganz viel Unwissenheit<br />

herrscht, die dazu führt, dass sich alle auf nur fünf oder sechs<br />

Ausbildungsberufe stürzen, dann steht dahinter auch ein Mangel<br />

an Austausch zwischen Schule und Wirtschaft.


24 peteR cleveR<br />

Wir bieten über unser Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT<br />

mit rund 450 regionalen Arbeitskreisen an, dass Schulen die<br />

Garantie haben, mindestens einen Partner aus der Wirtschaft<br />

vermittelt zu bekommen, meistens sind es sogar mehrere. Hier<br />

sind die Unternehmen gefordert, aber sie sind auch sehr offen<br />

dafür, sich zu engagieren.<br />

Wo die Kooperation funktioniert, wo zum Beispiel Schülerpraktika<br />

organisiert werden, beobachtet man oft eine Art von<br />

„Klebeeffekt“, der etwas mit Chancengerechtigkeit zu tun hat.<br />

Da werden Leute entdeckt, die man sonst über ein formales<br />

Bewerbungsverfahren mit Zeugnissen oft nicht entdeckt hätte.<br />

Denn die Aussage von Zeugnissen kann oft etwas völlig anderes<br />

sein als das Erleben des Menschen vor Ort. Dann sieht man auf<br />

einmal jemanden, der zwar ein, zwei schlechte Noten hat, der<br />

aber leistungsbereit ist, gut mit Menschen umgehen kann, handwerklich<br />

geschickt ist und ins Unternehmen passt. Was meinen<br />

Sie, was da für eine Kraft gerade auch von kleinen Unternehmen<br />

entwickelt wird, bei dem, was noch nicht passt – etwa dem<br />

Dreisatz –, nachzuschulen, sich mit dem Mädchen oder dem<br />

Jungen hinzusetzen und das gemeinsam zu lernen. Die Persönlichkeit<br />

kann man nicht mehr nachjustieren im Unternehmen,<br />

aber bestimmte Dinge kann man nachlernen. Viele Unternehmer<br />

sind bereit, den jungen Menschen zu helfen. Wir wissen aus<br />

Erfahrungen mit Schülerpraktika, dass ein sehr ordentlicher<br />

„Klebeeffekt“ möglich ist. Das ist in beiderseitigem Interesse,<br />

im Interesse der Schülerinnen und Schüler und im Interesse<br />

der Unternehmen.<br />

Übergänge verbessern<br />

Wir müssen den Übergang von der Schule in die Ausbildung,<br />

wenn er nicht auf Anhieb gelingt, durch passgenaue Angebote<br />

versuchen zu erleichtern. Aus meiner Sicht fehlt es hier nicht<br />

an engagierten und vielfältigen Angeboten. Ganz viele von<br />

Ihnen hier im Saal sind in diesem Bereich engagiert. Aber es<br />

fehlt an einem Überblick über die verschiedensten Maßnahmen<br />

und an einer sinnvollen Abstimmung und Koordination,<br />

auch an Erkenntnissen über die Erfolge und Wirksamkeit von<br />

Übergangsmaßnahmen. Deshalb mein klares Plädoyer für die<br />

Evaluation der verschiedenen Maßnahmen und für den Versuch,<br />

zu einem besseren Koordinieren vor Ort zu kommen. In<br />

der Bundesagentur für Arbeit haben wir den regionalen Arbeitsmarktmonitor<br />

RAMON entwickelt, der auf eine sehr interessante<br />

Art und Weise tagesaktuell die statistischen Daten zu<br />

Strukturentwicklungen auf der lokalen Ebene zusammenführt.<br />

Er ist eine gute Basis dafür, zu einem Netzwerk zu kommen,<br />

bei dem die Bundesagentur für Arbeit moderieren kann – und<br />

übrigens auch kooperieren kann mit denen, die in diesem<br />

Übergangssystem tätig sind. Ich lade jeden ein, dazu mit der<br />

örtlichen Agentur für Arbeit Kontakt aufzunehmen. Wir müssen<br />

diesen regionalen Arbeitsmarktmonitor bekannter machen.<br />

Denn es kommt auf eine gute regionale Koordinierung an.<br />

Mehr differenzierte Angebote in der Ausbildung<br />

schaffen<br />

Für diejenigen, die trotz intensiver Förderung Schwierigkeiten<br />

am Übergang in Ausbildung haben oder beispielsweise Spätzünder<br />

sind, müssen wir wegkommen vom Alles-oder-nichts-<br />

Prinzip in der Ausbildung. Deshalb plädiere ich hier nochmals,<br />

wissend, wie brisant das Thema gerade im Verhältnis zu den<br />

Kammern ist, für eine modulare Vorgehensweise. Wer das volle<br />

Programm einer Berufsausbildung noch nicht geschafft hat,<br />

kann es aber eventuell noch später schaffen und sollte, wenn<br />

er abgebrochen hat, zertifiziert bekommen, was er bisher an<br />

Kompetenzen erworben hat. Zu sagen, die Ausbildung wurde<br />

abgebrochen und damit war alles „für die Katz“, ist weder<br />

menschlich anständig noch dient es den Unternehmen. Ihnen<br />

werden diese Menschen nur als Ungelernte präsentiert, anstatt<br />

zu sagen: Da hat jemand 50 Prozent des geforderten Ausbildungsprofils<br />

geschafft. Ich plädiere sehr dafür, modulares Vorgehen<br />

zu enttabuisieren. Das <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong><br />

und Forschung hilft uns sehr mit den Modellversuchen, in<br />

denen diese modulare Vorgehensweise erprobt wird. Wir sind<br />

der festen Überzeugung, dass dies der richtige Weg ist.<br />

Ähnlich steht es um ein anderes Thema, das politisch insbesondere<br />

im Verhältnis zu den Gewerkschaften hochbrisant<br />

ist. Die Gewerkschaften nennen es die Schmalspurausbildung,<br />

wenn wir von Berufen sprechen, die ein weniger hohes theoretisches<br />

Anforderungsprofil haben und damit vor allem Jugendlichen<br />

mit (zunächst) weniger stark ausgeprägten Begabungen<br />

und Talenten eine Chance eröffnen. Sie sollten mit einer dreijährigen<br />

Berufsausbildung kombinierbar sein, damit bei entsprechender<br />

Leistung der Durchstieg möglich ist. Ein gutes<br />

Beispiel gibt es im Einzelhandel: Es gibt den Kaufmann im<br />

Einzelhandel als dreijährige Berufsausbildung; dann gibt es die<br />

zweijährige Ausbildung im Verkauf, die identisch ist mit den<br />

ersten beiden Jahren des dreijährigen Berufs. Ich habe mir<br />

gerade für den jetzigen Vortrag die Zahlen geben lassen. Die<br />

Zahl derer, die aus der Ausbildung zum Verkäufer zu jener zum<br />

Kaufmann im Einzelhandel aufgestiegen sind, ist von 1.000<br />

im Jahre 2005 auf 3.500 im Jahre 2010 gestiegen. Das heißt, hier<br />

zeigt sich eine große Dynamik bei der Durchlässigkeit. Ich verkenne<br />

nicht, dass dies immer noch nur ein begrenzter Prozentsatz<br />

vom Gesamtvolumen der Neuverträge ist, das bei 27.000<br />

liegt, aber wir haben hier eine positive Gesamtentwicklung. Dies<br />

zeigt, dass wir uns viel menschengemäßer verhalten, wenn wir<br />

die Möglichkeit eines differenzierten, schrittweisen Vorgehens<br />

und der Modularisierung in der Berufsausbildung versuchen zu<br />

perfektionieren, anstatt dieses zu tabuisieren. Das ist keine<br />

Ab kehr von einer Breitenausbildung und vom Berufsprinzip.<br />

Wir brauchen Persönlichkeitsbildung und die Menschen müssen<br />

so weit wie möglich und so breit wie möglich ausgebildet<br />

werden. Aber wir wollen sie eben auch nicht überfordern.


peteR cleveR<br />

25<br />

fühlen in unserer Gesellschaft. Denn wir wollen in einer Gesellschaft<br />

leben, die eben nicht nur aus Deutschen besteht, sondern<br />

die sich in einer sich stärker globalisierenden Welt immer<br />

mehr durch Vielfalt auszeichnen wird. Deshalb müssen wir hier<br />

zu Kompetenzfeststellungsverfahren kommen.<br />

Peter Clever im Gespräch mit Judith Schulte-Loh, WDR<br />

Zweite Chance eröffnen<br />

Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bemerkung machen<br />

zu denjenigen, die vielleicht die zweite, dritte oder vierte<br />

Chance benötigen. Nachqualifizierung ist eine zweite Förderlinie<br />

des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ und sie<br />

ist sicherlich nicht immer einfach. Formale Lernprozesse<br />

sind für viele ungelernte Erwachsene nicht selbstverständlich<br />

und haben auch oft etwas Beängstigendes. Die Aktivierung<br />

und richtige Ansprache sind deshalb wichtige Elemente von<br />

Nachqualifizierung und wichtig ist zudem der richtige Methodenmix.<br />

Formale, trockene Lernangebote im Klassenzimmer<br />

helfen oft überhaupt nicht weiter, sondern sehr oft bringt die<br />

Praxisnähe die Menschen dazu, dass sie sogar über sich hinauswachsen,<br />

dass sie auf einmal merken, wofür man eigentlich<br />

lernt. Das habe ich übrigens von Regina Görner, die bis jetzt noch<br />

im geschäftsführenden Vorstand der IG Metall ist, gelernt. Sie<br />

hat gesagt, die duale Berufsausbildung in Deutschland hat<br />

bei den mehr praktisch begabten Menschen deshalb einen so<br />

großen Erfolg, weil sie auf das Prinzip Ernstfall setzt: Man sieht<br />

sofort, wofür man etwas lernt, ist sofort im Kundenkontakt.<br />

Und deshalb ist der Lernort Betrieb auch von großer, großer<br />

Bedeutung.<br />

Anerkennung ausländischer Abschlüsse<br />

verbessern<br />

Glücklicherweise haben wir jetzt das Anerkennungsgesetz<br />

in Aussicht. Ich hoffe, dass es sich nicht zum bürokratischen<br />

Monstrum entwickelt. Den Versuch ist es allemal wert, und<br />

richtig ist auch der Ansatz zu sagen: Man hat in einer bestimmten<br />

Zeitspanne einen Anspruch auf eine Entscheidung darüber,<br />

anzuerkennen und zu dokumentieren, was man kann und was<br />

man nicht kann. Es darf nicht länger so gehen, wie ich es noch<br />

im letzten Jahr erlebt habe: Einem ausländischen Arzt, der nach<br />

vielen Hürden den Weg in eine Stelle bei einer Rehabilitationsklinik<br />

in Oberfranken gefunden hat, wurde eine Oberarztstelle<br />

in Oberbayern, also innerhalb desselben Bundeslandes, angeboten.<br />

Dafür musste er sich von Punkt null an einer neuen Prüfungsprozedur<br />

des dann zuständigen Regierungspräsidiums<br />

stellen.<br />

Föderalismus – das ist meine letzte Bemerkung zum Thema<br />

meines Vortrags – ist gut, aber er ist nicht der Freibrief für eine<br />

Kleinstaaterei in einer sich globalisierenden Welt. Deshalb muss<br />

das Kooperationsverbot nach meiner persönlichen Meinung<br />

auch aus der Verfassung gestrichen werden, damit wir die<br />

finanziellen Ressourcen des Bundes und der Länder in einer<br />

vernünftigen Art und Weise koordinieren. Was der Föderalismus<br />

uns an Vielfalt bietet, sollten wir pflegen. Aber wir müssen<br />

auch die Kraft aufbringen, Dinge einheitlich zu regeln, die<br />

einheitlich geregelt werden müssen – das sind viele, auch Schulstrukturfragen.<br />

Denn es darf nicht sein, dass der Umzug von<br />

Eltern mit ihren Kindern zum Hindernislauf wird und neue<br />

<strong>Bildung</strong>sungerechtigkeiten schafft. Hier hat die Politik die<br />

Pflicht, die Hürden niedriger zu machen, und deshalb plädiere<br />

ich für ein Stück mehr Entgegenkommen auch seitens der<br />

Kultusministerkonferenz hin zu einheitlichen Regeln da, wo<br />

es die Lebenswirklichkeit verlangt.<br />

Vielen Dank!<br />

Ich wünsche mir, dass wir – verbunden mit dem Bild der Gesellschaft,<br />

in der wir leben – deutlich besser werden in der Frage<br />

der Kompetenzfeststellungen. Dies gilt insbesondere mit Blick<br />

auf die ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

in unserem Lande: Frau Schulte-Loh hat gerade ein Beispiel<br />

genannt mit der polnischen Ärztin, die als Pflegerin gearbeitet<br />

hat. Es gibt noch viel dramatischere Fälle: Da sind Ärzte aus der<br />

Ukraine, die Toiletten putzen. Das ist zwar keine ehrenrührige<br />

Arbeit und das hat nichts mit dem Wert des Menschen zu tun.<br />

Aber wir haben zu wenig Wissen und sitzen bisweilen noch auf<br />

einem hohen Ross im Hinblick auf die Anerkennung dessen,<br />

was im Ausland an Wissen und Kompetenz erworben worden<br />

ist. Hier müssen wir ein Potenzial heben, auch damit sich diese<br />

ausländischen Menschen wirklich gewollt und angenommen


26 facHDISKuSSIon<br />

Fachdiskussion<br />

Chancen verbessern – Strukturen optimieren –<br />

Fachkräfteentwicklung fördern<br />

Eva Strobel und Andreas Haberl mit Moderatorin Judith Schulte-Loh<br />

Teilnehmende:<br />

• Hulisi Bayam, Unternehmer und Mitglied des Integrationsbeirats des Landes Hessen<br />

• Andreas Haberl, Hauptabteilungsleiter Berufliche <strong>Bildung</strong>, Handwerkskammer Wiesbaden<br />

• Martin Peußer, Personaldirektor VINCI Energies Deutschland GmbH<br />

• Prof. Dr. Sylvia Rahn, Professorin für Berufspädagogik an der Westfälischen<br />

Wilhelms-Universität Münster<br />

• Eva Strobel, Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion<br />

Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit<br />

Moderation: Judith Schulte-Loh, WDR


facHDISKuSSIon<br />

27<br />

Zentrales Thema dieser Fachdiskussion waren die Fragen,<br />

wie junge, aber auch ältere Menschen systematisch beim Einstieg<br />

in das Berufsleben unterstützt werden können und wie<br />

Menschen mit Migrationshintergrund besser, also auch zielgruppengerechter<br />

angesprochen werden könnten. Der Einsatz<br />

von <strong>Bildung</strong>sbeauftragten im Begleitprojekt „Mit Migrant-<br />

Innen für MigrantInnen“ der MOZAIK gGmbH wurde gleich zu<br />

Beginn als sehr guter Weg herausgestellt, Migrantenorganisationen<br />

partnerschaftlich einzubeziehen. Betrachtet wurde des<br />

Weiteren der Bereich der allgemeinbildenden Schulen, da schon<br />

dort mit Maßnahmen zur Erreichung von Chancengerechtigkeit<br />

begonnen werden muss. Auf diesen Maßnahmen müssen<br />

die Fördermaßnahmen im Übergangsbereich Schule/Beruf<br />

aufbauen. Transparenz, Orientierungswissen und regionale<br />

Koordination seien gefragt, um mit der Vielfalt der Förderprogramme<br />

beim Übergang Schule/Beruf besser umgehen zu<br />

können.<br />

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels<br />

zeichne sich ein großer Bedarf an Nachwuchskräften ab, und<br />

dementsprechend groß sei die Bereitschaft, zu kooperieren und<br />

sich an Förderprogrammen zu beteiligen. Auch wenn weniger<br />

leistungsstarke Jugendliche dadurch beim Berufseinstieg neue<br />

Chancen bekommen könnten, müsse ihnen weiterhin geholfen<br />

werden, die für sie passende Berufsausbildung zu finden, auf<br />

eine Ausbildung gut vorbereitet zu sein und diese auch erfolgreich<br />

abzuschließen. Regionale Koordination aller Beteiligten<br />

des Übergangsbereichs Schule/Beruf und der Wirtschaft führten<br />

hierbei zu mehr Erfolg und Effektivität.<br />

Chancen verbessern – schon in der Schule<br />

Prof. Dr. Sylvia Rahn griff den Umstand auf, dass die soziale<br />

Herkunft nach wie vor die Chancen der Jugendlichen beeinflusst.<br />

Aufgrund dieser Unterschiede, die sich auf die schulischen<br />

Leistungen auswirken, vermag regionales Übergangsmanagement<br />

allein kaum Chancengerechtigkeit herzustellen.<br />

Ziel sollte es sein, benachteiligten Jugendlichen über ihre<br />

Herkunftsfamilien hinaus Hilfe zu bieten und mehr Praxisbezug<br />

auch in die Lehramtsausbildung zu bringen.<br />

In der Schule müsse mehr über die Berufspraxis und die<br />

Arbeitswelt informiert werden, forderte Andreas Haberl von<br />

der Handwerkskammer. Martin Peußer, der Unternehmensvertreter,<br />

wünschte sich längere als die üblichen 14-tägigen<br />

Schulpraktika. Eva Strobel, Bundesagentur für Arbeit, sah es als<br />

Aufgabe, „dass den Schülerinnen und Schülern Ausbildungsreife<br />

und Berufswahlkompetenz mitgegeben werden“.<br />

Strukturen verbessern, Netzwerke stärken<br />

Häufig wird die Vielfalt der Fördermaßnahmen und -programme<br />

für den Berufs(wieder)einstieg als nicht übersichtlich<br />

genug angesehen. Mehr Transparenz – zum Beispiel über<br />

Internetangebote – ist ein Weg, regionale Koordinierung ein<br />

weiterer. Herr Haberl nannte in diesem Zusammenhang das<br />

Programm „OloV“, in dessen Rahmen in Hessen Standards für<br />

die regionale Zusammenarbeit vereinbart wurden. Frau Strobel<br />

fasste zusammen, dass Netzwerke nötig seien, „die eine anerkannte<br />

Größe in der Region sind“. Sie regte an, sich deutschlandweit<br />

über erfolgreiche Ansätze und ihre Inhalte auszutauschen.<br />

„Das föderalistische System in Deutschland zwingt<br />

uns geradezu, regional zu bleiben“, betonte Hulisi Bayam.<br />

„Das Problem ist, herauszufinden, was für einen selbst das<br />

Beste ist. Und da ist die persönliche Ansprache sehr wichtig.“<br />

Als Beispiele nannte er die Elternarbeit und die Ansprache<br />

von türkischen Betrieben. Die Frage, wie ein gutes, abgestimmtes<br />

Unterstützungsprogramm in der Region aussieht,<br />

sei weiterhin nicht beantwortet. Nach Ansicht von Frau Prof.<br />

Dr. Rahn ginge es vor allem um eine gute Kombination, also<br />

aufeinander aufbauende Angebote und Maßnahmen in einem<br />

transparenten und verbindlichen Fördersystem. Weiterer<br />

Wissensaufbau sei hierfür nötig.<br />

Fachkräfteentwicklung nachhaltig fördern<br />

Herr Peußer, der auf dem Podium ein Unternehmen mit rund<br />

59.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vertrat, davon 5.200<br />

in Deutschland mit 300 Auszubildenden, berichtete von seinen<br />

Erfahrungen mit Arbeitssuchenden. Für 150 offene Stellen<br />

wurden mit Hilfe der Arbeitsagenturen ca. 10.000 Arbeitslose<br />

und Empfänger von Arbeitslosengeld II angesprochen. 100 Personen<br />

waren zur Einführungsveranstaltung gekommen, nur<br />

zehn konnten eingestellt werden. Er hat daraus den Schluss<br />

gezogen, dass für viele Arbeit nicht attraktiv sei und die Sozialisierung<br />

für die Arbeitswelt früher ansetzen müsse. Auch seine<br />

Erfahrungen mit der Bundesagentur seien sehr unterschiedlich:<br />

„Wenn die richtigen Menschen an bestimmten Positionen sitzen,<br />

dann passiert auch etwas, wenn die nicht an den richtigen<br />

Stellen sitzen, dann wird das sehr schwierig.“ Er mahnte des<br />

Weiteren, dass bei den Strukturdiskussionen die Inhalte nicht<br />

vergessen werden dürften.<br />

Herr Haberl stellte klar, dass es im Handwerk bei Nachqualifizierung<br />

nicht darum gehe, Arbeitslose in Beschäftigung<br />

zu bringen. Auch seien Jugendliche hierfür keine Klientel – sie<br />

sollten und könnten eher in eine Ausbildung gehen. Nachqualifizierung<br />

bedeute im Handwerk, ungelernte oder angelernte<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insbesondere in<br />

betrieblichen Prozessen weiter zu qualifizieren. Aufgrund der<br />

kleinen Betriebsgrößen im Handwerk sei es eine Zukunftsaufgabe,<br />

die Kräfte hierfür zu bündeln.


28 facHDISKuSSIon<br />

Eva Strobel Hulisi Bayam Martin Preußer Prof. Dr. Sylvia Rahn<br />

Nachhaltigkeit werde im Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />

in der Einschätzung von Herrn Haberl dann erzielt,<br />

wenn die entscheidenden politischen Akteure diese Aufgaben<br />

als Teil der regionalen Wirtschaftsförderung sehen und als ein<br />

positives Strukturmerkmal in ihrer Region. Dann sei die Bereitschaft<br />

auch zu finanziellem Engagement gegeben. Herr Peußer<br />

appellierte aus Unternehmens sicht an die Politik: „Es ist ganz<br />

wichtig, dass Sie bitte nicht wieder ein neues Projekt machen,<br />

eine neue Initiative, sondern wirklich die Themen weiter bearbeiten,<br />

die Sie gut angefangen haben.“ Wenn es wirtschaftlich<br />

Sinn macht, seien auch die Unternehmen dabei.<br />

Frau Prof. Dr. Rahn wies nochmals darauf hin, dass es trotz<br />

aktuell günstiger Zahlen in einigen Regionen nicht gelinge,<br />

Jugendliche in eine Berufsausbildung zu bringen. Sie plädierte<br />

für mehr Aufmerksamkeit innerhalb der Regionen. Um Maßnahmenkarrieren<br />

zu verhindern, seien transparente und kohärente<br />

Fördersysteme notwendig.<br />

Weitere Aspekte<br />

Aus dem Plenum wurde darauf hingewiesen, dass es in<br />

Deutschland 7,5 Millionen funktionale Analphabeten gebe,<br />

mehr, als Hessen Einwohner hat. „Eine Bankrotterklärung<br />

unseres <strong>Bildung</strong>ssystems“, sagte Frau Prof. Dr. Rahn und führte<br />

aus, dass es auch noch immer keine klaren Mindeststandards<br />

zum Begriff Ausbildungsreife gebe – und dazu gehöre die<br />

Grundbildung als Basiskompetenz.<br />

die Fläche zu bringen. Berufsorientierung müsse früh einsetzen<br />

und das pädagogische Personal müsse für diese Aufgaben<br />

geschult werden.<br />

Auf die Frage, wie sich sein Unternehmen den speziellen<br />

Zielgruppen öffne, nannte Herr Haberl als Beispiel den „Tag<br />

der Orientierung“, bei dem es um praktische Übungen und um<br />

die Vermittlung von Praktika gehe. Auch in neuen Testverfahren<br />

werde mehr Wert auf Praxiserfahrung gelegt. Jugendliche mit<br />

schlechteren Startchancen zu stärken sei, so Frau Strobel, auch<br />

das Ziel der Bundesagentur für Arbeit. Im Rahmen der Kampagne<br />

„Ich bin gut“ sollen diese Jugendlichen unmittelbar in<br />

eine Ausbildung vermittelt werden. Die Bundesagentur stelle<br />

außerdem im nächsten Haushaltsjahr 80.000 Plätze für ausbildungsbegleitende<br />

Hilfen zur Verfügung.<br />

Auch Herr Bayam sieht „Probearbeiten“ im Betrieb als einen<br />

guten und chancenreichen Einstieg für leistungsschwächere<br />

Jugendliche: „Ich glaube, das letzte Jahrzehnt hat die Unternehmerschaft<br />

ganz schön verwöhnt, weil sie sehr, sehr viele<br />

Abiturientinnen und Abiturienten für Ausbildungsberufe zur<br />

Verfügung hatte. Wir sind heute in der Phase, dass die Industrie<br />

sich umgewöhnen muss.“<br />

Ein weiterer Hinweis aus dem Plenum beleuchtete die<br />

Schnittstelle in der individuellen Begleitung der Jugendlichen<br />

durch Lehrkräfte und andere Akteure des Übergangsbereichs.<br />

Ziel müsse es dabei sein, individuell für die Bedarfe jedes einzelnen<br />

Jugendlichen methodisch wie didaktisch eine sinnvolle<br />

Reihenfolge in der Begleitung aufzubauen. Hier wird ein großer<br />

Bedarf in der Aus- und Weiterbildung der Begleitpersonen,<br />

auch der Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter, gesehen. Es<br />

gelte auch, die Erfahrungen aus den geförderten Projekten in


facHDISKuSSIon<br />

29<br />

Fragen aus dem Plenum an die Diskussionsrunde<br />

Fazit<br />

Herr Haberl resümierte, dass der kommunale Ansatz des<br />

Programms „Perspektive Berufsabschluss“ für die Regionen<br />

sehr wichtig sei: „Der demografische Wandel entschärft zwar<br />

einige Probleme. Jugendliche mit schlechteren Startchancen<br />

wird es aber weiterhin geben.“ Und für sie sei das Programm<br />

der richtige Ansatz. Auch für Frau Strobel stand die regionale<br />

Koordination der vielfältigen Akteure für eine erfolgreiche und<br />

effektive Unterstützung derer, die Hilfe benötigen, im Mittelpunkt.<br />

Die Regelangebote der Agenturen für Arbeit und die<br />

Maßnahmen der einzelnen Förderprogramme müssten effektiv<br />

genutzt werden.<br />

„Ich halte es für sehr wichtig, dass man die Ergebnisse aus<br />

der bisherigen Tätigkeit gut analysiert und die zur Verfügung<br />

stehenden finanziellen und personellen Ressourcen punktgenauer<br />

einsetzt.“ – Diesen Schluss zog Herr Bayam und forderte<br />

mehr Aufklärung und Informationen, die auch an der Basis<br />

ankommen. Frau Prof. Dr. Rahn betonte noch einmal: „Es ist<br />

wichtig, die Maßnahmenkarrieren in der jeweiligen Region zu<br />

analysieren und daraus für die Verbesserung der Integration<br />

in die berufliche <strong>Bildung</strong> die richtigen Schlüsse zu ziehen.“<br />

Herr Peußer wünschte sich mehr Dialog: „Involvieren Sie uns<br />

Unternehmen noch mehr, ich glaube, wir vertragen das.“


30 FACHFOREN<br />

Forum 1<br />

Herkunft, soziales Umfeld,<br />

geschlechtsspezifische Hürden<br />

und Berufswahlverhalten:<br />

Optimierung durch das Regionale<br />

Übergangsmanagement<br />

Impulse:<br />

• Prof. Dr. Sylvia Rahn,<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />

• Dr. Tim Brüggemann,<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />

• Ingmar Petersohn,<br />

Regionales Übergangsmanagement<br />

Mittelsachsen<br />

Moderation: Anna-Maria Wagner, Regionales<br />

Übergangsmanagement Kreis Düren<br />

Die Auseinandersetzung mit dem Thema dieses Forums erfolgte<br />

in zwei Schritten. Im Anschluss an einen Impulsvortrag von<br />

Prof. Dr. Sylvia Rahn und Dr. Tim Brüggemann und eine Aussprache<br />

über die präsentierten wissenschaftlichen Befunde<br />

im Plenum traten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des<br />

Forums im Zuge eines Expertenkarussells in einen Erfahrungsaustausch<br />

über den Umgang mit den sozialen und geschlechtsspezifischen<br />

Hürden im Regionalen Übergangsmanagement ein.<br />

Am Beginn des Impulsvortrags stand die Überlegung,<br />

dass nicht jede soziale und geschlechtsabhängige Disparität im<br />

Übergang Schule/Beruf als Ausdruck mangelnder <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit<br />

aufzufassen sei und zudem nicht jedes Ungleichheitsphänomen,<br />

das als Ausdruck von <strong>Bildung</strong>sungerechtigkeit<br />

aufgefasst werden kann und muss, sinnvoller Gegenstand<br />

des Regionalen Übergangsmanagements an der Schnittstelle<br />

von der Schule in den Beruf werden kann. Vor diesem Hintergrund<br />

präsentierten Frau Prof. Dr. Rahn und Dr. Brüggemann<br />

Befunde der jüngeren Übergangsforschung. Sie verdeutlichten<br />

am Beispiel einer unter ihrer Leitung laufenden regionalen<br />

Paneluntersuchung der Ergebnisse der PISA-Untersuchungen<br />

und der Hamburger Untersuchungen von Leistungen, Motivation<br />

und Einstellung von Schülerinnen und Schülern in den Ab -<br />

schlussklassen der Berufsschulen (ULME-Studien) sowie der<br />

Bewerberbefragung von Bundesagentur und Bundesinstitut<br />

für Berufsbildung, dass<br />

Prof. Dr. Sylvia Rahn, Universität Münster<br />

• die geschlechtsspezifischen Disparitäten im Übergang<br />

Schule/Beruf schon früh im beruflichen Orientierungsprozess<br />

entstehen,<br />

• das Regionale Übergangsmanagement Schule/Beruf für<br />

die Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsphänomene,<br />

die sich in den primären Herkunftseffekten niederschlagen,<br />

zu spät kommt,<br />

• das Regionale Übergangsmanagement aber nach<br />

Lösungen für die erheblichen sekundären Herkunftseffekte<br />

suchen kann und sollte.<br />

Als Gründe für die Entstehung sekundärer Herkunftseffekte<br />

stellten Frau Prof. Dr. Rahn und Dr. Brüggemann die<br />

„Erwartungen“, die die Eltern nach dem „Prinzip der Abstiegsvermeidung“<br />

an die <strong>Bildung</strong>s- und Berufskarrieren ihrer Kinder<br />

richten, die empirisch nachweislich hohen <strong>Bildung</strong>s- und Ausbildungsaspirationen<br />

von Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />

der ersten und zweiten Generation sowie die geringe<br />

Neigung der Eltern, geschlechtsuntypische Berufswahlen ihrer<br />

Kinder zu fördern, heraus. Diese Einflussfaktoren stellen wichtige<br />

Bedingungen des Regionalen Übergangsmanagements dar.<br />

Dass die Eltern vermittels ihrer Erwartungen, aber auch<br />

durch direkte Unterstützungsleistungen eine hohe Bedeutung<br />

für das Übergangsgeschehen haben, wurde in Beiträgen aus<br />

dem Plenum nachdrücklich bestätigt. Es wurde berichtet, dass<br />

Eltern solchen Maßnahmen, in denen Jugendliche, die den<br />

Hauptschulabschluss voraussichtlich nicht erreichen werden,<br />

in separaten Angeboten gefördert werden sollen, die Unterstützung<br />

versagen. Darüber hinaus wurde hervorgehoben,<br />

dass sich in Regionen mit einer dramatisch hohen SGB-II-Quote<br />

die Frage der Abstiegsvermeidung für viele Familien nicht<br />

mehr stellt und das Regionale Übergangsmanagement mit<br />

dem Problem der „doppelten Benachteiligung“ der Jugendlichen<br />

zu kämpfen hat.


FACHFOREN<br />

31<br />

Über solche Ungleichheitsphänomene hinaus, an deren<br />

Entstehung das Orientierungsverhalten der Jugendlichen und<br />

ihre Eltern selbst beteiligt sind, verwiesen Frau Prof. Dr. Rahn<br />

und Dr. Brüggemann zudem im Rückgriff auf die Befunde einer<br />

Untersuchung der Universität Konstanz auf die Bedeutung der<br />

Signalwirkung des Migrationshintergrunds. Er wirke sich im<br />

Rekrutierungsverhalten der Betriebe mindernd auf die Chancen<br />

aus, eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu erhalten.<br />

Dass es sich lohnt, im Regionalen Übergangsmanagement auch<br />

an dieser „Stellschraube“ anzusetzen, unterstrich eine Teilnehmerin<br />

des Forums, die aus eigener Projekterfahrung zu berichten<br />

wusste, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, die<br />

es mit externer Unterstützung bis zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch<br />

geschafft hatten, ihre Einstellungschancen<br />

deutlich verbessern konnten.<br />

Angeregt durch kurze Texte und Grafiken wurde in Kleingruppen<br />

diskutiert, welche Konzepte und Einzelmaßnahmen<br />

in den Regionen zur Studien- und Berufswahlorientierung erprobt<br />

werden, um einen Beitrag zu mehr <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit<br />

zu leisten. Hier flossen die Erfahrungen von Herrn Ingmar<br />

Petersohn als Projektleiter des Regionalen Übergangsmanagements<br />

Mittelsachsen mit ein. Es wurden die durchaus divergierenden<br />

Erfahrungen der Forumsteilnehmerinnen und -teilnehmer<br />

erörtert, was sich vor Ort bewährt oder eben noch<br />

nicht bewährt hat, um den Einfluss des Geschlechts und des<br />

Migrationshintergrunds auf den Übergang Schule/Beruf zu<br />

reduzieren.<br />

Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Maßnahmen<br />

zur Reduzierung geschlechtsspezifischer Hürden wurde in den<br />

Expertengruppen kritisch diskutiert, welche Relevanz diesem<br />

Aspekt für das Regionale Übergangsmanagement vor Ort überhaupt<br />

beigemessen werde. So wurde mit dem nachfolgend<br />

wörtlich wiedergegebenen Zitat einer Forumsteilnehmerin auf<br />

die „verblassende“ Bedeutung des Gender-Mainstreamings<br />

hingewiesen: „Das Thema Gender ist doch quasi nicht mehr auf<br />

der Tagesordnung; es ist schon schwer, das Thema an den<br />

Mann und die Frau zu bringen. Einmal im Jahr gibt es so etwas<br />

wie einen ,Girls’ Day‘ und dann nichts mehr.“ Mit Blick auf die<br />

Eignung der zum Abbau geschlechtsbedingter Disparitäten<br />

eingesetzten Instrumente wurde diskutiert, ob es über den<br />

„Girls’ Day“ hinaus weiterer Instrumente zur Berufswahlorientierung<br />

bedürfe. Das Meinungsbild fiel tendenziell gegen die<br />

Etablierung weiterer Maßnahmen aus. Es gelte, die bestehenden<br />

Ansätze weiter zu optimieren und einzelne Maßnahmen<br />

in das allgemeine Berufsorientierungskonzept einzubinden.<br />

Daran anknüpfend wurde diskutiert, wie das zu bewerkstelligen<br />

sei. Betont wurde die Not wendigkeit einer gründlichen<br />

Vor- und Nachbereitung der Maßnahmen in der Schule. Allerdings<br />

sei es den Lehrkräften nur schwer zu verdeutlichen, wie<br />

ein Konzept zur Berufswahlorientierung konzipiert und umgesetzt<br />

werden könne. Hierzu wurden mehrere Vorschläge ge -<br />

nannt: Ausbau der Fort- und Weiterbildung sowie die Nutzung<br />

von Handreichungen und Leitfäden, die Lehrkräften zur Planung<br />

der Berufswahlorientierung zur Verfügung gestellt werden<br />

könnten. Darüber hinaus wurde die Relevanz der Arbeitsagentur<br />

als wichtiger Partner im Kontext der Berufswahlorien tierung<br />

angesprochen.<br />

Nach den Erfahrungen der Forumsteilnehmerinnen und<br />

-teilnehmer gestaltet sich die Zusammenarbeit der Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter des Regionalen Übergangsmanagements<br />

mit den Schulen in den Regionen nicht immer friktionslos. Es<br />

fehle in den Schulen an Akzeptanz, so dass die Möglichkeiten,<br />

die schulische Berufsorientierung durch das Regionale Übergangsmanagement<br />

zu beeinflussen, letztlich begrenzt seien.<br />

Dr. Tim Brüggemann, Universität Münster Ingmar Petersohn, RÜM Mittelsachsen


32 FACHFOREN<br />

Der Erfahrungsaustausch an den Stationen, die dem Einfluss<br />

des Migrationshintergrunds auf das Übergangsgeschehen<br />

gewidmet waren, ließ einmal mehr die großen Unterschiede<br />

zwischen den Herausforderungen und Problemlagen deutlich<br />

werden, die sich dem Regionalen Übergangsmanagement in<br />

den Regionen stellen oder eben auch nicht stellen. Die Repräsentanten<br />

solcher Kreise und Kommunen, in denen der Anteil<br />

von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte quantitativ<br />

bedeutungslos ist, sahen im Unterschied zu den Vertreterinnen<br />

und Vertretern solcher Regionen, in denen die Jugendlichen<br />

mit Migrationshintergrund einen Anteil von 30 Prozent und<br />

mehr an den Adressaten des Regionalen Übergangsmanagements<br />

haben, nur geringe Handlungsrelevanz, so dass das<br />

Thema in der Diskussion auf die „soziale Herkunft“ von Schülerinnen<br />

und Schülern erweitert wurde.<br />

Die Einschätzungen, welche Maßnahmen sich vor Ort bewährt<br />

haben, um Unterschiede im Übergang von der Schule in<br />

den Beruf, die aus der sozialen Herkunft und/oder dem Migrationshintergrund<br />

der Jugendlichen resultieren, abzubauen,<br />

variierten in den Kleingruppen erheblich. Als zentraler Diskussionspunkt<br />

und kontrovers eingeschätzter Gegenstand kristallisierte<br />

sich die Rolle der Schulsozialarbeit heraus. Während in<br />

einigen Regionen die Schulsozialarbeit als erfolgreicher Akteur<br />

in der Berufswahlvorbereitung der Jugendlichen und im Regionalen<br />

Übergangsmanagement wahrgenommen wird, ist dies<br />

in anderen Regionen nicht der Fall. So wurde berichtet, dass<br />

Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter die Berufsorientierung<br />

der Schülerinnen und Schüler nicht oder nur widerwillig als<br />

ihre Aufgabe annähmen. Zudem wurde erörtert, ob die Berufsorientierung<br />

angemessen in den Stellenbeschreibungen des<br />

Personals der Schulsozialarbeit verankert sei. Kritisch wurde<br />

gesehen, dass die vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen für<br />

die Jugendlichen vor Ort zuweilen dazu führen, dass die Akteure<br />

geradezu um die Jugendlichen zu konkurrieren beginnen.<br />

Positiv wurden Multiplikatorenschulungen für Migrantenorganisationen<br />

und einzelne Patenschaftskonzepte gewürdigt.<br />

Gerade weil die Erfahrungen, von denen die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter des Regionalen Übergangsmanagements<br />

berichteten, disparat waren und sich nicht zu einem einheitlichen<br />

Meinungsbild verdichten ließen, wurde jedoch zu zwei<br />

Aspekten ein gemeinsamer Tenor deutlich: Erstens wurde im<br />

relativen Konsens der Bedarf an verlässlichen Daten zur Wirksamkeit<br />

der eingesetzten Instrumente formuliert und zweitens<br />

wurde betont, dass die starke Fluktuation des Personals kontraproduktiv<br />

für eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung des<br />

Regionalen Übergangsmanagements sei.<br />

Dr. Birgit Reißig, DJI<br />

Forum 2<br />

Regionales Übergangsmanagement<br />

als bildungspolitische<br />

Koordinierungsstrategie:<br />

Kooperationen von Programmen zur<br />

Verbesserung der Übergänge von<br />

der Schule in die Berufsausbildung<br />

Impulse:<br />

• Regionale <strong>Bildung</strong>spolitik – Gestaltungsmöglichkeiten<br />

durch die Kooperation mit<br />

Landesprogrammen – Dr. Birgit Reißig,<br />

Deutsches Jugendinstitut, Halle<br />

• Produktive Widersprüche? Ergebnisse einer<br />

Schülerbefragung der einjährigen Berufsfachschule<br />

im Kontext einer Landesstrategie<br />

Carsten Welker, Regionales Übergangsmanagement<br />

Berlin<br />

• Lokale Koordinierung eines Landesprogramms<br />

Marx Harder, Regionales Übergangsmanagement<br />

Kiel<br />

• Integration von Landesprogrammen in die<br />

Arbeit des Regionalen Übergangsmanagements<br />

am Beispiel „OloV“/Initiative<br />

JUGEND STÄRKEN in Hessen – Ralph Kersten,<br />

Regionales Übergangsmanagement<br />

Offenbach<br />

Moderation: Anke Meyer,<br />

Regionales Übergangsmanagement Salzlandkreis


FACHFOREN<br />

33<br />

Zu Beginn unterstrich die Moderatorin des Forums, Anke<br />

Meyer, die Bedeutung der Kooperation des Regionalen Übergangsmanagements<br />

mit anderen Programmen für eine gelingende<br />

Gestaltung des Übergangs im regionalen Kontext.<br />

In ihrer Einführung ging Dr. Birgit Reißig auf die koordinierende<br />

Rolle von Kommunen und Landkreisen für die Um -<br />

setzung des Regionalen Übergangsmanagements ein. Da der<br />

Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf aber vor<br />

allem auch ein <strong>Bildung</strong>sthema ist, rückte die für <strong>Bildung</strong>spolitik<br />

zuständige Landesebene ebenfalls in den Blickpunkt. Frau<br />

Dr. Reißig verwies darauf, dass sich in den letzten Jahren viele<br />

Bundesländer der Ausgestaltung des Übergangs und seinen<br />

Schwierigkeiten im Rahmen ihrer <strong>Bildung</strong>spolitik verstärkt<br />

zugewendet haben. Davon zeugt eine Vielzahl von zum Teil<br />

langfristig angelegten Landesprogrammen.<br />

Obwohl regionale Koordinierung im Bereich des Übergangs<br />

von der Schule in die Ausbildung oder den Beruf zunehmend<br />

als wichtige Aufgabe erkannt werde, verdeutlichen<br />

Erfahrungen aus der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement“<br />

die Notwendigkeit einer verstärkten Abstimmung<br />

und Kooperation zwischen der kommunalen und der<br />

Landesebene sowie zwischen den unterschiedlichen beteiligten<br />

Landesressorts. Dies gelte insbesondere auch für die Einbezie -<br />

hung der zuständigen Regionaldirektion der Bundesagentur<br />

für Arbeit, die in der Regel für die Agenturen für Arbeit vor Ort<br />

organisatorisch zuständig ist. Das „Regionale Übergangsmanagement“<br />

sollte bei der Entwicklung regional angepasster<br />

Umsetzungsstrategien die Chance und die Initiative ergreifen<br />

und seine Beobachtungen und Erfahrungen mit der Umsetzung<br />

von Landesvorgaben in der Region regelmäßig und aktiv<br />

an die zuständigen Stellen der Landesebene rückkoppeln.<br />

Die Verfahren und Inhalte der Kooperation zwischen Land und<br />

„Regionalem Übergangsmanagement“ sollten „verbindlich –<br />

beispielsweise in Form von Kooperationsvereinbarungen – geregelt<br />

werden“, präzisierte Frau Dr. Reißig. An einigen Standorten<br />

des „Regionalen Übergangsmanagements“ seien solche<br />

Vereinbarungen zwischen Land und Kommunen oder Land<br />

und der zuständigen Regionaldirektion der Bundesagentur für<br />

Arbeit geschlossen worden.<br />

Trotz vieler Herausforderungen habe sich gezeigt, dass<br />

sowohl die Landespolitik regionale Initiativen für das Übergangsmanagement<br />

inhaltlich bereichern könne als auch<br />

umgekehrt „Regionales Übergangsmanagement“ wichtige<br />

Impulse für die Landespolitik liefere.<br />

Carsten Welker berichtete aus der Praxis und stellte das<br />

„Regionale Übergangsmanagement Berlin“ in den Kontext der<br />

Landesstrategie „Übergänge mit System“. Er machte die Einbettung<br />

anhand einer Befragung von Schülerinnen und Schülern<br />

der Berufsvorbereitung deutlich. Im ersten Schritt sei im Projekt<br />

ein Leitsystem entwickelt worden, mit dem die Vielfalt der<br />

Angebotslandschaft im Übergang Schule/Beruf in Berlin strukturiert<br />

und in einer Übersicht dargestellt werden konnte.<br />

Darauf aufbauend, ging es in einem zweiten Schritt um eine<br />

Umstrukturierung des Übergangssystems auf Länderebene.<br />

Carsten Welker, RÜM Berlin<br />

Auf der Grundlage einer Befragung von ca. 300 Schülerinnen<br />

und Schülern wurden differenzierte Kenntnisse darüber<br />

gewonnen, wie viele von ihnen aktuell in der einjährigen<br />

Berufsfachschule sind und warum sie sich für diese Schulform<br />

entschieden haben. Hier zeigte sich, dass im Wesentlichen<br />

Motive wie Verbesserung des Schulabschlusses oder Erlangen<br />

des nächsthöheren Schulabschlusses im Vordergrund stehen<br />

und nicht die Vorbereitung auf die berufliche Ausbildung, die<br />

aber gemäß Schulverordnung in der Berufsfachschule eigentlich<br />

oberste Priorität hat.<br />

Marx Harder, RÜM Kiel<br />

Vor dem Hintergrund der anstehenden Neuausrichtung<br />

des Übergangssystems sowie der Ergebnisse der Befragung<br />

wurde dann seitens der Stadt die Frage gestellt, wie beide<br />

Aspekte miteinander verzahnt werden könnten. Im Projekt<br />

„Regionales Übergangsmanagement Berlin“ sind deshalb in<br />

den institutionen- und ressortübergreifend zusammengesetzten<br />

Schnittstellenkonferenzen Qualitätsstandards für die schulische<br />

Berufsvorbereitung entwickelt worden. Qualitätskriterien<br />

wurden diskutiert und konkretisiert und fließen in die zukünftige<br />

Umgestaltung der Maßnahmen im Übergangsbereich ein.<br />

Resümierend betonte Herr Welker, dass – ungeachtet der<br />

Relevanz der Einigung auf ein politisches Metaziel – sowohl die


34 FACHFOREN<br />

regionalen Ausgangsbedingungen als auch die Motivationslagen<br />

der sich im Übergangsbereich befindenden Jugendlichen<br />

Beachtung finden müssen.<br />

Auf Fragen zum Migrationsaspekt bei der beschriebenen<br />

Schülerbefragung erläuterte Herr Welker, der Anteil von Befragten<br />

mit Migrationshintergrund habe ca. 60 Prozent betragen,<br />

was auch als repräsentativ anzusehen sei. Die meisten der<br />

befragten Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund<br />

hatten einen Hauptschulabschluss. Der Frage, warum Jugendliche<br />

mit Migrationshintergrund nach der allgemeinbildenden<br />

Schule häufig einen schulischen <strong>Bildung</strong>sweg einschlagen, sei<br />

in dieser Befragung nicht nachgegangen worden. Dies – so<br />

eine Forumsteilnehmerin – würde sich aber durchaus lohnen,<br />

gerade weil Eltern aus den Einwanderungsländern das duale<br />

Ausbildungssystem oft nicht oder nur schlecht kennen: „Für<br />

diese Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder aus dem ,Arbeiterstatus‘<br />

herauskommen. Man muss den Eltern erklären, dass<br />

die duale Ausbildung eine wichtige, anerkannte Qualifikation<br />

bedeutet.“<br />

Nach Herrn Welker berichtete Marx Harder, wie „Regionales<br />

Übergangsmanagement Kiel“ auf Grundlage und in Kooperation<br />

mit einem landesweiten Programm erfolgreich arbeiten kann.<br />

Das 2007 begonnene landesweite Handlungskonzept „Schule<br />

und Arbeitswelt“ verfolgte zunächst das Ziel, die hohen Quoten<br />

von Schulabsolventinnen und -absolventen ohne Abschluss<br />

und von arbeitslosen Jugendlichen durch entsprechende Förderungen<br />

in den <strong>Bildung</strong>seinrichtungen nachhaltig zu senken.<br />

Dieses Konzept werde durch ein umfangreiches Personalqualifizierungsprogramm<br />

flankiert. Von Beginn an wurden den<br />

koordinierenden regionalen <strong>Bildung</strong>strägern auch regionale<br />

Steuerungsgremien an die Seite gestellt, zusammengesetzt<br />

aus den maßgeblichen Akteuren am Übergang Schule/Beruf<br />

(Schulämter, Agenturen für Arbeit, Jobcenter, beteiligte Schulen<br />

und <strong>Bildung</strong>sträger, Jugend- und Sozialämter und zunehmend<br />

auch die Kommunen selbst). Unter Leitung des „Regionalen<br />

Übergangsmanagements“ habe das Kieler Gremium sein Aufgabenspektrum<br />

über die regionale Steuerung beziehungsweise<br />

Umsetzung des Handlungskonzepts hinaus erweitert.<br />

Das Land Schleswig-Holstein verfolge das Ziel, landesweit<br />

die regionale Verantwortung für den Übergang von der Schule<br />

in den Beruf zu unterstützen und zu fördern. Da dies genau<br />

den Zielen des „Regionalen Übergangsmanagements Kiel“ entspricht,<br />

habe sich eine Kooperation zur Nutzung der Synergien<br />

fast selbstverständlich ergeben.<br />

Frau Meyer beschrieb diese Kooperation auch als ein gutes<br />

Beispiel für die Verzahnung von „Regionalem Übergangsmanagement“<br />

und Landesprogramm: „Im dargestellten Fall hat das<br />

Landesprogramm schon vor dem Start des ,Regionalen Übergangsmanagements’<br />

begonnen, das ,Regionale Übergangsmanagement’<br />

ist in die Kooperation eingestiegen.“ Somit konnte<br />

auch die an Herrn Harder herangetragene Frage – wie die Verzahnung<br />

der 15 regionalen Steuerungsgremien und die Rückkopplung<br />

an das Land erfolgen – beantwortet werden: „Die<br />

Steuerungsgremien waren bereits eingerichtet, auf diese greift<br />

das ,Regionale Übergangsmanagement’ zurück. Die Rückkopplung<br />

erfolgt durch Kooperationspartnerschaften.“<br />

Ralph Kersten schloss die Reihe der Erfahrungsberichte<br />

und schilderte die konkrete Zusammenarbeit des „Regionalen<br />

Übergangsmanagements Offenbach“ mit Landes- und Bundesprojekten.<br />

Diese finde auf verschiedenen Ebenen statt: Bereits<br />

bei der Beantragung von Förderprojekten werde auf mögliche<br />

Überschneidungen und Abstimmungen der unterschiedlichen<br />

Arbeitsbereiche geachtet, so dass auf Dauer aus „Puzzleteilen<br />

ein Gesamtes“ wird. Dabei sei ein gleichberechtigtes ergänzendes<br />

Miteinander anzustreben: gemeinsame Steuerungsrunden,<br />

frühzeitige Absprachen, Veranstaltungen gemeinsam planen<br />

und umsetzen. Letztlich sei es – und dem schlossen sich alle<br />

Forumsteilnehmerinnen und -teilnehmer an – zur Vermeidung<br />

von Doppelstrukturen und für den Aufbau einer kohärenten<br />

Förderstruktur für die Jugendlichen im kommunalen Kontext<br />

unerlässlich, die Kooperation zwischen den Projekten zu<br />

fördern und zu fordern.<br />

Wichtiges Element für eine erfolgreiche Kooperation der<br />

relevanten Akteure ist die durch das Land Schleswig-Holstein<br />

begründete landesweite Entwicklungspartnerschaft zwischen<br />

den beiden beteiligten Ministerien (Ministerium für <strong>Bildung</strong><br />

und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und Ministerium für<br />

Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein),<br />

der Regionaldirektion Nord der Bundesagentur für Arbeit und<br />

den Städten und Kreisen.<br />

Ralph Kersten, RÜM Offenbach


FACHFOREN<br />

35<br />

Laima Rui, <strong>Bildung</strong>sbeauftragte<br />

Zur Einstimmung in das Thema dieses Forums führte Anette<br />

Noll-Wagner aus, es sei ein großes Ziel der Integrationsbemühung,<br />

die Ausbildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung von<br />

Migrantinnen und Migranten zu erhöhen, deren Partizi pation<br />

am Ausbildungsmarkt noch immer zu niedrig sei. Außerdem<br />

würden Migrantinnen und Migranten weniger an Weiterbildungsmaßnahmen<br />

teilnehmen, und die Arbeitslosenquote sei<br />

im Vergleich zu der der Mehrheitsgesellschaft immer noch zu<br />

hoch. Um diese Situation zu verändern, sollten daher neue<br />

Wege beschritten werden. Migrantinnen und Migranten müssten<br />

verstärkt als Akteurinnen und Akteure in die Netzwerkarbeit<br />

eingebunden werden. Anhand der zwei bundesweiten Begleitprojekte<br />

(„Mit MigrantInnen für MigrantInnen“ und „biz –<br />

<strong>Bildung</strong> ist Zukunft“) wurden in dem Forum beispielhaft zwei<br />

mögliche Wege dargestellt.<br />

Forum 3<br />

Beteiligung an beruflicher<br />

<strong>Bildung</strong> erhöhen: interkulturelle<br />

Netzwerke zur Erschließung der<br />

Potenziale von (jungen) Menschen<br />

mit Migrationsgeschichte<br />

Impulse:<br />

• Die Bedeutung von interkulturellen Netzwerken<br />

für die erfolgreiche berufliche Integration von<br />

Menschen mit Migrationsgeschichte – Dipl.-Ing.<br />

Cemalettin Özer, MOZAIK gemeinnützige<br />

Gesellschaft für interkulturelle <strong>Bildung</strong>s- und<br />

Beratungsangebote mbH<br />

• Erfahrungsbericht einer <strong>Bildung</strong>sbeauftragten<br />

des Netzwerkes in Saarbrücken – Laima Rui,<br />

<strong>Bildung</strong>sbeauftragte, Ortsverband Saarland der<br />

Litauischen Gemeinschaft in Deutschland<br />

• Das interkulturelle Netzwerk „biz – <strong>Bildung</strong> ist<br />

Zukunft“, türkisches Mediennetzwerk für Ausbildung<br />

– Dr. Andreas Goldberg, Geschäftsführer<br />

der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und<br />

Integrationsforschung<br />

• Praxiserfahrungen eines Netzwerkpartners des<br />

interkulturellen Netzwerkes „biz – <strong>Bildung</strong> ist<br />

Zukunft“, türkisches Mediennetzwerk für Ausbildung<br />

– Tamer Ergün, Geschäftsführer der METROPOL FM<br />

GmbH & Co. KG<br />

Moderation: Anette Noll-Wagner,<br />

Internationaler Bund (IB) – freier Träger der Jugend-,<br />

Sozial- und <strong>Bildung</strong>sarbeit e. V.<br />

Anhand des Projektes „Mit MigrantInnen für MigrantInnen“<br />

stellte der Projektleiter Cemalettin Özer in seinem Referat dar,<br />

wie die Einbindung von Migrantenorganisationen in die jeweiligen<br />

regionalen Netzwerke gelingen könne.<br />

Zunächst stellte er klar, es dürfe in der Arbeit mit Migrantinnen<br />

und Migranten nicht von den Migranten ausgegangen<br />

werden. „Es handelt sich schließlich nicht um eine homogene<br />

Gruppe. Daher kann auch nicht nur ein Konzept existieren und<br />

angewendet werden. Vielmehr müssen für unterschiedliche<br />

Migrantengruppen (zum Beispiel Akademiker, Ältere, Jugendliche)<br />

unterschiedliche differenzierte Konzepte entwickelt<br />

werden, um die Gruppe besser zu erreichen“, so Herr Özer.<br />

Das Ziel des im Rahmen des Programms „Perspektive<br />

Berufsabschluss“ von der MOZAIK gGmbH als Pilotierung um -<br />

gesetzten Konzepts des Intercultural Mainstreamings sei es,<br />

Gleichheit zu erreichen. „Um diese Gleichheit herzustellen,<br />

müssen neue Lösungen geschaffen werden“, betonte Herr<br />

Özer. Die MOZAIK gGmbH berate im Rahmen des Begleitprojektes<br />

die Netzwerkkoordinatorinnen und -koordinatoren<br />

von zehn Projektstandorten darin, wie sie die Einbindung von<br />

Migrantenorganisationen umsetzen könnten. Zur Vorbereitung<br />

und zum Einstieg habe es sowohl Schulungen auf der Personalebene,<br />

Entwicklung von migrationssensiblen Angeboten<br />

als auch Kooperationen mit Migrantenorganisationen und<br />

Öffentlichkeitsarbeit gegeben. Vor der Zusammenarbeit mit<br />

den Migrantenorganisationen wurden Kriterien für deren Eignung<br />

zur Kooperation entwickelt. So ist es wichtig, dass die<br />

Migrantenorganisationen Interesse an den Themen <strong>Bildung</strong>,<br />

Ausbildung, Übergangsmanagement, Elternarbeit etc. haben.<br />

Vor allem sollten sie integrativ und interkulturell offen sein.<br />

Es gebe schließlich auch nationalistische und fundamentalistische<br />

Organisationen, genau wie bei deutschen Vereinen<br />

auch. Weiterhin solle darauf geachtet werden, dass viele Herkunftsländer<br />

vertreten sind. Wichtig sei vor allem zu prüfen,<br />

ob die potenziellen Kooperationsorganisationen verfassungsrechtlich<br />

problematisch sein könnten.


36 FACHFOREN<br />

Hierzu hätten zumeist die Integrationsbeauftragten in<br />

der Stadt hilfreiche Informationen. Das Begleitprojekt „Mit<br />

MigrantInnen für MigrantInnen“ ist 2009 ins Leben gerufen<br />

worden und unterstützt insgesamt zehn Projekte in acht<br />

Regionen. So sei es gelungen, in enger Abstimmung mit den<br />

Projektleiterinnen und Projektleitern und den Akteuren der<br />

Regionen insgesamt 63 ehrenamtliche so genannte <strong>Bildung</strong>sbeauftragte<br />

aus Migrantenorganisationen zu gewinnen, auf<br />

diese Aufgabe vorzubereiten und zu schulen. Sie nehmen eine<br />

Brückenfunktion ein und dienen als Multiplikatoren der jeweiligen<br />

Migrantenorganisationen.<br />

Die Ausführungen von Herrn Özer wurden durch den<br />

Praxisbericht der <strong>Bildung</strong>sbeauftragten aus Saarbrücken, Frau<br />

Laima Rui, veranschaulicht. Frau Rui ist Vorsitzende des Ortsverbandes<br />

Saarland der Litauischen Gemeinschaft in Deutschland<br />

e.V. Sie habe schnell bemerkt, dass das Thema der Schulund<br />

Berufsbildung die Mitglieder des Vereins sehr interessiere<br />

und viele Fragen unbeantwortet blieben. Zunächst aber musste<br />

sie auch selbst ihre Kenntnisse in diesen Bereichen erweitern.<br />

Diese Möglichkeit habe sie als <strong>Bildung</strong>sbeauftragte im Regionalverband<br />

Saarbrücken durch das Projekt „Mit MigrantInnen<br />

für MigrantInnen“ erhalten. Der nächste wichtige Schritt müsse<br />

nun eine nachhaltige partnerschaftliche Vernetzung von<br />

Migrantenorganisationen und <strong>Bildung</strong>sinstitutionen sein.<br />

Aktuell beteiligten sich 15 Migrantenorganisationen und 18<br />

<strong>Bildung</strong>sbeauftragte an diesem Projekt. Es fänden bisher Elternveranstaltungen,<br />

Dialogveranstaltungen sowie interkulturelle<br />

Schulungen für die Netzwerkpartner und <strong>Bildung</strong>sbeauftragten<br />

statt. Durch die Projektarbeit seien Kontakte zu wichtigen<br />

Netzwerkakteuren entstanden. Sie selbst habe bisher 36 Einzelund<br />

Gruppenberatungen mit insgesamt 181 Personen durchgeführt,<br />

freute sich Frau Rui: „Der Beratungsbedarf war sehr<br />

vielfältig. Von Sprachkursen, Schulsystem, Ausbildungen, Jobsuche<br />

bis hin zu Bewerbungen, Weiterbildung, Anerkennung<br />

und Begleitung zu Institutionen. “ Sehr positiv sei das gegenseitige<br />

Kennenlernen. Manche Behördenvertreterinnen und<br />

-vertreter hätten erstmals die Möglichkeit bekommen, mit<br />

Migrantenorganisationen in Kontakt zu treten. Obwohl viele<br />

Hemmschwellen abgebaut werden konnten, gebe es auch<br />

noch einige Hürden. So sei es hin und wieder schwierig, Schulen<br />

beziehungsweise <strong>Bildung</strong>seinrichtungen die kultursensible<br />

Elternarbeit mit Migrantinnen und Migranten als Unterstützung<br />

näherzubringen – und nicht als Einmischung in interne<br />

Angelegenheiten. Frau Rui wünschte sich, dass das entstandene<br />

Netzwerk professionell begleitet und so der weitere Austausch<br />

zwischen <strong>Bildung</strong>sbeauftragten und <strong>Bildung</strong>sakteuren fortgeführt<br />

werden könnte. Vor allem seien aber auch eine weitergehende<br />

Professionalisierung der Migrantenorganisationen<br />

als Interessenvertretungen sowie die finanzielle Absicherung<br />

wichtiger Aufgaben wünschenswert. „In dem Begleitprojekt<br />

wurde mit den <strong>Bildung</strong>sbeauftragten eine Aufwandsentschädigung<br />

von 50 Euro im Monat vereinbart. Das war sehr effektiv.<br />

Damit können sie ihre Telefonkosten, Fahrtgeld etc. bezahlen.<br />

Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass das immer noch<br />

Ehrenämtler sind“, so Herr Özer.


FACHFOREN<br />

37<br />

Tamer Ergün stellte vor, wie sich diese Berichterstattung<br />

und Informationsverbreitung anhört. Das Format des Radiosenders<br />

teile sich auf in Nachrichten, Service und Spezialsendungen.<br />

Ganz wichtig bei der Arbeit sei die Berücksichtigung<br />

des Sprach- und Informationsniveaus der Deutschtürkinnen<br />

und -türken in der Redaktionsarbeit. METROPOL FM verstehe<br />

sich vor allem als Sprachrohr zum Erreichen der Haushalte, also<br />

der Eltern beziehungsweise der Familien. Die Informationen<br />

werden in deutscher und die Unterhaltung wird in türkischer<br />

Sprache gesendet. Themen rund um duale Ausbildung und<br />

Nachqualifizierung könnten in die Sendung integriert werden.<br />

Tamer Ergün, METROPOL FM<br />

Die sich anschließende rege Diskussion zeigte, dass die in<br />

diesem Forum vorgestellten Wege zur partnerschaftlichen Einbeziehung<br />

der Migrantenorganisationen durch den Einsatz<br />

von <strong>Bildung</strong>sbeauftragten mit Migrationshintergrund und zur<br />

Verbesserung der Informationsverbreitung durch die Nutzung<br />

türkischer Medien auf großes Interesse stießen. Beiden Handlungsfeldern<br />

wurde eine gute begleitende Unterstützung sowohl<br />

für das „Regionale Übergangsmanagement“ als auch für die<br />

„Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung“ bestätigt.<br />

Das zweite Begleitprojekt „biz – <strong>Bildung</strong> ist Zukunft“ wurde<br />

von Dr. Andreas Goldberg vorgestellt. „biz – <strong>Bildung</strong> ist Zukunft“<br />

ist eine Plattform für türkische Medien und wird von der Stiftung<br />

Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in<br />

Essen durchgeführt. Herr Dr. Goldberg erläuterte einführend,<br />

die Idee zum Projekt sei aus der Erkenntnis heraus entstanden,<br />

dass es eine Vielzahl von türkischsprachigen Medien in Deutschland<br />

gebe. Diese seien eine ideale, aber noch zu wenig genutzte<br />

Möglichkeit, wichtige Informationen zu den Themen Schulund<br />

Berufsausbildung und berufliche Qualifizierung zu verbreiten.<br />

Zusammenfassend stellte Herr Dr. Goldberg kurz dar,<br />

dass sieben überregionale Tageszeitungen, über 40 Regionalzeitungen/Periodika,<br />

13 Fernsehsender – speziell für Türkinnen<br />

und Türken in Europa –, ein Radiosender und zahlreiche<br />

Internetseiten existieren. Diese Medien hätten eine hohe<br />

Bedeutung für die türkischen Migrantinnen und Migranten in<br />

Deutschland.<br />

„Die erste Zielsetzung des Projektes war es, eine systemati<br />

sche Expertise zu schaffen, die differenziert darlegt, wie<br />

das Thema duale Ausbildung und Nachqualifizierung in den<br />

türki schen Medien bisher verankert ist“, so Herr Dr. Goldberg.<br />

Die zweite Zielsetzung des Projektes sei die Vernetzung aller<br />

Akteure, die in den Themenbereichen arbeiten. Ein Zwischenergebnis<br />

der Studie habe gezeigt, dass über die Themen der<br />

Schul- und Berufsausbildung sehr wenig berichtet werde. „Es<br />

war wichtig, die türkischen Medien in ein Netzwerk einzubinden.<br />

Das Netzwerk ,biz‘ besteht momentan aus zehn verschiedenen<br />

türkischsprachigen Medien, die sich dazu bereit erklärt haben,<br />

ihre Berichterstattung und Information über die Themen duale<br />

Ausbildung und Nachqualifizierung zu intensivieren“, so Herr<br />

Dr. Goldberg.


38 FACHFOREN<br />

Zur Einführung in das Thema des Forums stellte Christoph<br />

Eckhardt den künftigen Fachkräftebedarf im Kontext der demografischen<br />

Entwicklung in Deutschland heraus. Er betonte,<br />

dass es zur Deckung des Fachkräftebedarfs nicht die eine Strategie<br />

gebe, sondern dass ein Bündel von möglichen Maßnahmen<br />

ergriffen werden müsse. Der Bedarf sei so groß, dass es gelte,<br />

alle Potenziale zu erschließen.<br />

Ursula Krings, f-bb<br />

Forum 4<br />

Fachkräftebedarf von Unternehmen<br />

sichern: mit Nachqualifizierung<br />

Personalentwicklung An- und<br />

Ungelernter betreiben<br />

Impulse:<br />

• Einführung in das Thema, Daten und Fakten<br />

Ursula Krings, Forschungsinstitut betriebliche<br />

<strong>Bildung</strong> (f-bb)<br />

• Nachqualifizierung im Unternehmen<br />

Christiane Alter, bfz Augsburg,<br />

Projekt „NaNo – Nachqualifizierung Nordbayern“<br />

Daniela Auerbacher, bfz Kempten,<br />

Projekt „Perspektive Südbayern“<br />

• Nachqualifizierung in der Altenpflege<br />

Dr. Martina Hörmann, INBAS,<br />

Projekt „Servicestelle Nachqualifizierung Altenpflege<br />

Niedersachsen und Rheinland-Pfalz“<br />

Solveigh Schneider, Mitglied der Geschäftsführung<br />

der Diakonie Pfalz, Vorsitzende der Pflegegesellschaft<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Moderation: Christoph Eckhardt, qualiNETZ Beratung<br />

und Forschung GmbH<br />

Ursula Krings präzisierte die Bedarfsfrage und stellte den<br />

Zusammenhang zwischen der demografischen Entwicklung<br />

und den Anforderungen der Wirtschaft her. Sie verwies auf<br />

Studien, die den wachsenden Fachkräftebedarf bis zum Jahr<br />

2020 prognostizieren. Anhand der Alterspyramide bis zum Jahr<br />

2030 verdeutlichte sie, dass die Zahl der Erwerbstätigen rückläufig<br />

und der Fachkräftebedarf in Deutschland nicht durch die<br />

künftigen Generationen zu decken ist. Befragungen zeigten,<br />

dass die Unternehmen sich mit dem Thema auseinandersetzen<br />

und bereits neue Wege bei der Personalentwicklung beschreiten.<br />

Eine bisher zu wenig genutzte Möglichkeit sei es, An- und<br />

Ungelernte so zu qualifizieren, dass sie als Fachkräfte eingesetzt<br />

werden könnten. In Deutschland gibt es aktuell rund zwei<br />

Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren ohne<br />

Berufsabschluss. Trotz vielfältiger Initiativen ist die Situation<br />

seit 1996 stabil geblieben: Der Anteil der Bevölkerung in dieser<br />

Altersgruppe ohne Berufsabschluss liegt seit 1996 kontinuierlich<br />

bei rund 15 Prozent.<br />

Es gab bisher kaum Angebote und Förderstrukturen, den<br />

Berufsabschluss im Erwachsenenalter nachzuholen, so Frau<br />

Krings. Die Förderinitiative „Abschlussorientierte modulare<br />

Nachqualifizierung“ biete die Möglichkeit, regionale Netzwerke<br />

unter Einbindung aller relevanten Akteure zu schaffen.<br />

Wichtigstes Ziel der Projekte sei es, Nachqualifizierungs- und<br />

Beratungsangebote in Kooperation mit <strong>Bildung</strong>sdienstleistern<br />

und Unternehmen zu entwickeln und Förderangebote strukturell<br />

zu verankern.<br />

Zum Abschluss ihres Vortrags ging Frau Krings auf die im<br />

Rahmen der Förderinitiative bereits erreichten Erfolge und<br />

Ergebnisse ein. Unter anderem wurden im Laufe der Projektzeit<br />

etwa 1.000 Nachqualifizierungs- und Beratungsangebote<br />

entwickelt – sowohl in Branchen mit guten Beschäftigungschancen<br />

wie Metall, Verkehr, Lager, Logistik als auch in Wachstumsbereichen<br />

wie den Dienstleistungsberufen.<br />

In Diskussionsbeiträgen wurden zwei wichtige Merkmale<br />

der Nachqualifizierung nochmals hervorgehoben: Der Qualifizierungsprozess<br />

kann aufgrund der Modularisierung unterbrochen<br />

und zu einem späteren Zeitpunkt zum Abschluss geführt<br />

werden, und die Abschlussorientierung muss immer im Mittelpunkt<br />

stehen. Zur nachhaltigen Eingliederung in Erwerbstätigkeit<br />

und für eine langfristige Perspektive am Arbeitsmarkt sei<br />

der Berufsabschluss unerlässlich.


FACHFOREN<br />

39<br />

Zum Thema Nachqualifizierung in Unternehmen wurden<br />

zwei bayerische Projekte, die bereits Nachqualifizierungsmaßnahmen<br />

in Kooperation mit Betrieben etabliert haben, vorgestellt:<br />

Daniela Auerbach vom Projekt „Perspektive Südbayern“<br />

und Christiane Alter, Leiterin des Projektes „NaNo“ (Nachqualifizierung<br />

Nordbayern), erläuterten ihre Konzepte.<br />

Bei der Akquise für Nachqualifizierung in Unternehmen<br />

konnte „NaNo“ auf starke Partner, wie den Arbeitgeberservice<br />

der regionalen Agenturen für Arbeit, bauen. Die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter des Projektes kooperierten eng mit<br />

Vertreterinnen und Vertretern von Unternehmensverbänden,<br />

Branchenverbänden und der Wirtschaftsförderung und gingen<br />

gemeinsam mit den genannten Partnern auf Unternehmen zu.<br />

Die Kontaktaufnahme zu Betrieben erfolgte bei dem Projekt<br />

„Perspektive Südbayern“ eher über persönliche Ansprache. Das<br />

Vorhaben suchte gezielt den Kontakt zu kleinen und mittelständischen<br />

Unternehmen. Erst das unmittelbare Eingehen auf<br />

den individuellen Bedarf eines Unternehmens und die an der<br />

betrieblichen Praxis orientierte Organisation von Nachqualifizierung<br />

ermögliche die erfolgreiche Umsetzung von Nachqualifizierungsmaßnahmen,<br />

so Frau Auerbacher. Die Entwicklung<br />

einer Qualifizierungsmaßnahme erfolge stets in Kooperation<br />

mit dem Meister sowie der zuständigen Stelle. Die Modulentwicklungen<br />

waren Ergebnisse eines kooperativen und abgestimmten<br />

Arbeitsprozesses.<br />

Zur Frage, ob eine erfolgreiche Nachqualifizierung zu<br />

höherer Eingruppierung führe, erläuterte Frau Alter, nach den<br />

Erfahrungen des Projektes würden in den meisten Fällen zwar<br />

nicht gleich höhere Löhne gezahlt, bei der Neubesetzung von<br />

Fachkraftstellen werde die Nachqualifizierung aber beachtet<br />

und berücksichtigt.<br />

Der Bedarf an Fachkräften ist in der Altenpflege heute<br />

schon höher als in anderen Branchen. Als Expertinnen für<br />

das Thema Nachqualifizierung in der Altenpflege standen<br />

Dr. Martina Hörmann und Solveigh Schneider Rede und Antwort.<br />

Die Nachqualifizierung in der Pflege sieht Frau Schneider<br />

als eine Möglichkeit unter vielen, auf den wachsenden Fachkräftebedarf<br />

zu reagieren. Mit der Nachqualifizierung bestehe<br />

die Chance, etwas für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in<br />

der Pflege zu tun und auch für die Menschen, die ihnen anvertraut<br />

sind. Nachqualifizierung in der Pflege zu etablieren, entspreche<br />

durchaus dem Bedarf der Pflegeeinrichtungen. Auch<br />

sei die Bereitschaft, sich an Nachqualifizierung zu beteiligen,<br />

höher als in anderen Branchen. In der Pflege werden insgesamt<br />

sehr viele Maßnahmen initiiert, die zu einer besseren Personalsituation<br />

in den Einrichtungen führen sollen: Förderung der<br />

Erstausbildung, Imagekampagnen zur Gewinnung junger Leute<br />

für diesen Beruf, Nachqualifizierung, Rekrutierung von Fachkräften<br />

aus dem Ausland, Maßnahmen zur Förderung eines<br />

längeren Verbleibs in der Pflegeeinrichtung etc. Nachqualifizierung<br />

allein könne das Problem der Personalknappheit<br />

natürlich nicht lösen, sei aber ein wichtiger Bestandteil einer<br />

weitergehenden Strategie, um dem Fachkräftebedarf in der<br />

Altenpflege zu begegnen. Das Ausbildungssystem in der Pflege<br />

sieht bislang keine Nachqualifizierung vor. Daher sei es notwendig,<br />

neue Strukturen zu schaffen und die erforderlichen<br />

Qualifizierungsinstrumente bereitzustellen. Die Komplexität<br />

der Ausbildungsregelungen betone die Wertigkeit des Berufes,<br />

an der sich die Nachqualifizierung orientieren müsse.<br />

Die Pflegeeinrichtungen sind in dem von Frau Dr. Hörmann<br />

vertretenen Projekt bei der Gestaltung der modularen Nachqualifizierung<br />

von Anfang an beteiligt. Auch das der Qualifizierung<br />

vorausgehende Verfahren zur Kompetenzbilanzierung<br />

wurde in Expertenarbeitskreisen mit Pflegeeinrichtungen und<br />

einer Altenpflegeschule entwickelt. Durch die enge Kooperation<br />

mit den Unternehmen konnte die anfängliche Skepsis der<br />

Fachleute gegenüber dem Konzept der Nachqualifizierung<br />

weitestgehend ausgeräumt werden.<br />

Auch die zweijährigen Berufe böten gute Chancen der<br />

Aufstiegsqualifizierung durch abschlussbezogene Anschlussqualifizierung.<br />

So könne bei der Qualifizierung zum Fachlageristen<br />

der Abschluss zum dreijährigen Beruf „Fachkraft für<br />

Lagerlogistik“ angeschlossen werden.<br />

Zu den Finanzierungsmöglichkeiten von Nachqualifizierung<br />

wurden verschiedene Möglichkeiten beschrieben. Genutzt<br />

wurden Mittel des Europäischen Sozialfonds, Landesmittel, das<br />

Programm „WeGebAU“ der Bundesagentur für Arbeit oder die<br />

<strong>Bildung</strong>sprämie des Bundes und die Kofinanzierung durch die<br />

beteiligten Unternehmen.<br />

Christiane Alter, bfz Augsburg


40 FACHFOREN<br />

Daniela Auersbach, bfz Kempten, im Gespräch mit Christiane Alter,<br />

bfz Augsburg, und Christoph Eckhardt, qualiNETZ<br />

Diskussion im Forum<br />

Zu den Darstellungen von Frau Dr. Hörmann und Frau<br />

Schneider gab es viele Fragen und Ergänzungen aus dem Publikum.<br />

Eher skeptisch beurteilten die Referentinnen die Tendenz,<br />

ausländische Pflegekräfte nach Deutschland zu holen. So gebe<br />

es hohe Hürden bei der Anerkennung der Abschlüsse, außerdem<br />

müssten Pflegekräfte in der individuellen Betreuung<br />

Pflegebedürftiger der deutschen Sprache mächtig sein. Auch<br />

sei es ethisch nicht vertretbar, Pflegekräfte aus Ländern ab -<br />

zuwerben, in denen die Anzahl von alten und pflegebedürftigen<br />

Menschen ebenfalls rapide ansteige.<br />

Durch die Vorarbeit der „Pflegeprojekte“ im Programm<br />

„Perspektive Berufsabschluss“ konnten bereits einige Hürden<br />

genommen werden, was anderen, die sich auch in diesem<br />

Handlungsfeld engagieren wollen, den Einstieg erleichtert, so<br />

Frau Dr. Hörmann. Äußerst wichtig bei dem Bestreben, Nachqualifizierung<br />

zu etablieren, sei es, die jeweiligen Gegebenheiten<br />

in den Bundesländern zu beachten und frühzeitig den<br />

Kontakt zu den zuständigen Stellen zu suchen.<br />

Die Finanzierung der Nachqualifizierung in der Pflege ist<br />

länderspezifisch unterschiedlich gestaltet. In Rheinland-Pfalz<br />

wird, da die Ausbildung zur Altenpflegerin und zum Altenpfleger<br />

nach Schulrecht geregelt ist, der schulische Teil der<br />

Nachqualifizierung komplett vom <strong>Bildung</strong>sministerium finanziert.<br />

In Niedersachsen erhalten die Teilnehmenden eine Vergütung<br />

am Lernort Betrieb, müssen aber Schulgeld bezahlen.<br />

Dieses beträgt insgesamt 140 Euro monatlich, davon bekommen<br />

sie 100 Euro vom Land erstattet. Die Unternehmen erhalten<br />

einen Arbeitsentgeltzuschuss. Die Vorbereitung auf die Externenprüfung<br />

findet beim <strong>Bildung</strong>sträger statt und kann über<br />

<strong>Bildung</strong>sgutscheine finanziert werden.


FACHFOREN<br />

41<br />

Im Forum 5 wurden die vielfältigen Facetten der Kompetenzfeststellung<br />

auf dem Weg zum Berufsabschluss aus Sicht der<br />

zuständigen Stellen, aus dem Blickwinkel der regionalen Projekte<br />

und aus der Perspektive von zwei Teilnehmerinnen an<br />

solchen Feststellungsverfahren dargestellt. Darüber hinaus<br />

war auch die Abgrenzung zur Bewertung beruflicher Qualifikationen<br />

nach dem für Anfang nächsten Jahres erwarteten<br />

Anerkennungsgesetz ein zentrales Thema der Forumsdiskussion.<br />

Dr. Beate Kramer, ZWH<br />

Forum 5<br />

Erwachsene auf dem Weg zum<br />

Berufsabschluss: berufliche<br />

Kompetenzen feststellen,<br />

dokumentieren, anerkennen<br />

Impulse:<br />

• Bedeutung der Kompetenzfeststellung für die<br />

Zulassung zur Externenprüfung<br />

Dr. Beate Kramer, Zentralstelle für die Weiterbildung<br />

im Handwerk e. V. (ZWH)<br />

• Bewertung der Qualifikation von Menschen<br />

mit Migrationshintergrund im Rahmen des<br />

„Anerkennungsgesetzes“<br />

Sabine Schröder, Entwicklungsgesellschaft für<br />

Berufliche <strong>Bildung</strong> (EBB)<br />

• Kompetenzerfassung in der Praxis<br />

Andreas Vogler, Ausbilder, GFBM e. V., mit den<br />

Nachqualifikantinnen Saiyora Ruzmetova und<br />

Neslihan-Sema Koyuncu<br />

• Individuelle Qualifizierungswege ermöglichen,<br />

Kompetenzfeststellung in der Nachqualifizierung<br />

Dominique Dauser, Forschungsinstitut betriebliche<br />

<strong>Bildung</strong> (f-bb)<br />

In ihrem Referat zur Bedeutung der Kompetenzfeststellung<br />

für die Zulassung zur Externenprüfung skizzierte Dr. Beate<br />

Kramer eingangs die Rechtsgrundlagen der Externenprüfung.<br />

Sie stellte dann kurz das Begleitprojekt der ZWH zur abschlussbezogenen<br />

Nachqualifizierung vor, in dem das Vorgehen der<br />

zuständigen Stellen bei der Zulassung zur Externenprüfung<br />

analysiert und die Ergebnisse in einem Bericht zusammengefasst<br />

wurden. Darauf aufbauend wurden Empfehlungen<br />

für Kammern erarbeitet mit dem Ziel, mehr Transparenz im<br />

Zu lassungsprozess zu erreichen. In Handreichungen für die<br />

Projektpraxis wurde ergänzend dargestellt, welches Vorgehen<br />

bei abschlussbezogener Nachqualifizierung aus Sicht der<br />

zuständigen Stellen hilfreich sei und was den Zulassungsprozess<br />

erleichtern könne. Des Weiteren wurde eine Studie zum<br />

Verfahren der Kompetenzfeststellung in der beruflichen Nachqualifizierung<br />

erstellt.<br />

Frau Dr. Kramer erklärte, dass im Zulassungsprozess<br />

immer zunächst die Erfassung vorhandener Kompetenzen<br />

anhand der vorgelegten Nachweise erfolge. Diese könnten<br />

vielfältig sein. Zentral seien qualifizierte Arbeitszeugnisse, aber<br />

auch Arbeitsverträge oder Arbeitsbescheinigungen, und auch<br />

andere Nachweise könnten relevant sein. Bewertungskriterien<br />

sind die Inhalte und die Dauer der Berufstätigkeit. „Inhalte“<br />

bedeutet, es müssen die Schwerpunkte der bisherigen Berufstätigkeit<br />

abgedeckt sein; die Dauer der Berufstätigkeit muss<br />

dem Eineinhalbfachen der Ausbildungszeit im gewählten<br />

Beruf entsprechen. Wenn die vorhandenen Nachweise nicht<br />

ausreichen beziehungsweise nicht aussagefähig sind oder<br />

wenn keine Nachweise vorliegen, muss die berufliche Handlungsfähigkeit<br />

auf andere Weise glaubhaft gemacht werden.<br />

In diesen Fällen können auch Zertifikate von beruflichen Qualifizierungen<br />

herangezogen werden oder andere Verfahren zum<br />

Tragen kommen, wie Fachgespräche oder Arbeitsproben.<br />

Insgesamt, so resümierte Frau Dr. Kramer, liege das Problem<br />

aus Sicht der zuständigen Stellen weniger in der Zulassung zur<br />

Externenprüfung als vielmehr in der Vorbereitung auf die<br />

Prüfung.<br />

Die Bewertung der Qualifikationen von Menschen mit<br />

Migrationshintergrund im Rahmen des „Anerkennungsgesetzes“<br />

war Thema des Impulsreferats von Sabine Schröder.<br />

Ausgangsfrage war, wie Potenziale von Migrantinnen und<br />

Migranten künftig besser erkannt, bewertet, gewürdigt und<br />

für den Arbeitsmarkt erschlossen werden könnten. Nach dem<br />

„Gesetz über die Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen“<br />

(BQFG) besteht ein individueller Rechtsan-<br />

Moderation: Joachim Dellbrück, GFBM e. V.


42 FACHFOREN<br />

spruch auf ein Verfahren bei der zuständigen Stelle zur Bewertung<br />

von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen. Dabei<br />

geht es um einen Vergleich der ausländischen Berufsqualifikation<br />

mit bundesrechtlich geregelten Berufen. Berücksichtigt<br />

werden hierbei sowohl die „reglementierten“ (zum Beispiel<br />

Krankenpfleger, Erzieher) als auch die „nicht reglementierten“<br />

Berufe (zum Beispiel duale Ausbildungsberufe).<br />

Die Verfahren zur Bewertung der ausländischen Berufsqualifikation<br />

im Hinblick auf den deutschen Referenzberuf<br />

erfolgt anhand der vorgelegten Abschlusszeugnisse oder weiterer<br />

Zeugnisse. Die Feststellung der Gleichwertigkeit ist gegeben,<br />

wenn keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich Inhalt und<br />

Ausbildungsdauer zur deutschen Berufsqualifikation vorliegen.<br />

Frau Schröder erklärte, dass in den Fällen, in denen keine Unterlagen<br />

vorgelegt werden könnten oder diese zu wenig aussagefähig<br />

seien, zur Beurteilung und Bescheinigung der beruflichen<br />

Gleichwertigkeit auch geeignete Verfahren wie Arbeitsproben,<br />

Fachgespräche, Begutachtungen und Prüfungen Anwendung<br />

finden könnten. Bei Abweichungen sehe das Gesetz Möglichkeiten<br />

zur Anpassungsqualifizierung vor. Für die Durchführung<br />

des Verfahrens wären, so Frau Schröder, Prozessstandards<br />

wünschenswert.<br />

In der sich anschließenden Diskussion wurde die Frage<br />

gestellt, ob die Feststellung der Gleichwertigkeit bedeute, dass<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ausländischen Abschlüssen<br />

im Unternehmen auch in gleiche tarifliche Gehaltsstrukturen<br />

wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit deutschen<br />

Berufsabschlüssen eingebunden würden. Frau Schröder er -<br />

läuterte, dass die Tarifeinordnung bekanntermaßen an den<br />

Berufsabschluss gebunden sei, es aber noch keine definitiven<br />

Aussagen zur tariflichen Behandlung bei Gleichwertigkeit von<br />

Berufsabschlüssen gebe.<br />

Diskutiert wurde auch, ob die Feststellung der Gleichwertigkeit<br />

mit einem deutschen Ausbildungsberuf, zum Beispiel<br />

Bäckergeselle, die Aufstiegsfortbildung, zum Beispiel zum<br />

Bäckermeister, ermögliche. Frau Schröder bestätigte, dass bei<br />

Fortbildungsordnungen diese Zielgruppe im Rahmen der<br />

weiteren Zulassungsmöglichkeiten berücksichtigt werde und<br />

dass die Berücksichtigung ausländischer <strong>Bildung</strong>sabschlüsse<br />

für die Zulassung zur Meisterprüfung in der Handwerksordnung<br />

bereits explizit geregelt sei (§ 49 Abs. 4 HwO).<br />

Eine Nachfrage bezog sich auf die im Impulsreferat dargestellte<br />

Unterscheidung von Anpassungsqualifizierung und<br />

Nachqualifizierung. Anpassungsqualifizierung, so Frau Schröder,<br />

diene dazu, das im Bescheid festgestellte Delta zwischen<br />

der ausländischen Berufsqualifikation und dem deutschen<br />

Referenzberuf auszugleichen. Nachqualifizierung dagegen<br />

käme dann zum Zuge, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin<br />

nach einem ablehnenden Bescheid die Möglichkeit<br />

ergreifen möchte, eine Zulassung zur Externenprüfung zu<br />

erreichen.<br />

Aus der Praxis der Kompetenzfeststellung berichtete<br />

Andreas Vogler. Unterstützt wurde er von Saiyora Ruzmetova<br />

und Neslihan-Sema Koyuncu, zwei Teilnehmerinnen von<br />

Nachqualifizierungsmaßnahmen, die bereits Kompetenzfeststellungsverfahren<br />

durchlaufen haben. Am Beispiel der<br />

Nachqualifizierung im Bereich Bürokommunikation stellte<br />

Herr Vogler dar, wie Qualitätsstandards bei der Feststellung<br />

von Kompetenzen in den verschiedenen Phasen der modularen


FACHFOREN<br />

43<br />

Nach qualifizierung zu realisieren sind. Im Berliner Nach -<br />

quali fizierungsnetzwerk SANQ wurden Qualitätskriterien zur<br />

Kompetenz bilanzierung und Feststellung des Nachqualifizierungsbedarfs<br />

entwickelt und festgelegt sowie Verfahrensstandards<br />

zur <strong>Dokumentation</strong> des Kompetenzerwerbs im<br />

Nachqualifizierungsprozess definiert und mit den Kammern<br />

abgestimmt. Ein wesentliches Instrument zur <strong>Dokumentation</strong><br />

der erworbenen Kompetenzen ist in diesem Prozess der Qualifizierungspass.<br />

In der anschließenden Diskussion wurde die Frage gestellt,<br />

inwieweit die im Netzwerk SANQ entwickelten Konzepte und<br />

Instrumente der Kompetenzfeststellung und -dokumentation<br />

von nicht in das Projekt eingebundenen <strong>Bildung</strong>strägern<br />

genutzt werden könnten. Herr Vogler erklärte, alle <strong>Bildung</strong>sträger<br />

könnten sich an dem Netzwerk beteiligen und von den<br />

Entwicklungen profitieren, wenn sie bereit seien, sich an den<br />

vereinbarten Qualitätsstandards zu orientieren. Derzeit würden<br />

etwa 30 <strong>Bildung</strong>sträger im Netzwerk mitwirken. Unter bildungspolitischen<br />

und wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei es jedoch<br />

wünschenswert, so Herr Vogler, dass sich alle relevanten<br />

Berliner <strong>Bildung</strong>sträger anschließen und kooperieren würden.<br />

Dies würde den Vorteil bieten, dass <strong>Bildung</strong>sanbieter Module<br />

„trägerversetzt“ anbieten könnten. Hiervon würden diejenigen,<br />

die Nachqualifizierung anstreben, wie auch die <strong>Bildung</strong>sdienstleister<br />

profitieren. Nach Ansicht von Herrn Vogler würden Standards<br />

in diesem Bereich das Nachfrageverhalten stärken.<br />

Diskutiert wurde auch die Bedeutung des Portfoliotableaus<br />

bei der Beantragung der Förderung von Nachqualifizierungsmodulen.<br />

Herr Vogler erklärte, das Portfoliotableau werde bei<br />

der Beantragung von Mitteln eingereicht und sei eine akzeptierte<br />

Grundlage für die Entscheidung im Jobcenter oder in der<br />

Arbeitsagentur. Erfahrungsgemäß beschleunige ein solches<br />

Vorgehen das Verfahren.<br />

Dominique Dauser gab in ihrem Impulsreferat einen Überblick<br />

über die im Bereich der Nachqualifizierung favorisierten<br />

Konzeptansätze individueller Qualifizierung und der Kompetenzfeststellung.<br />

Die Heterogenität der Zielgruppen erfordere<br />

einen großen, am Zielgruppenbedarf orientierten Beratungsaufwand.<br />

Dies sei eine große Herausforderung für die im Rahmen<br />

des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ geförderten<br />

regionalen Nachqualifizierungsprojekte. Auch die Ausrichtungen<br />

und Funktionen der Kompetenzfeststellung müssten<br />

die Interessen unterschiedlicher Zielgruppen berücksichtigen.<br />

Frau Dauser erläuterte die Bedeutung von Kompetenzfeststellungsverfahren<br />

aus individueller Sicht (An-/Ungelernte,<br />

Betriebe) sowie aus institutioneller Sicht (zuständige Stellen,<br />

<strong>Bildung</strong>sdienstleister usw.). Danach ging Frau Dauser auf die<br />

Funktion der Kompetenzfeststellung ein und stellte die wesentlichen<br />

Anforderungen an die eingesetzten Verfahren heraus.<br />

Auch sie verwies – wie ihr Vorredner – auf die Bedeutung von<br />

Qualifizierungspässen für die <strong>Dokumentation</strong> von im Nachqualifizierungsprozess<br />

erworbenen Kompetenzen.<br />

In der anschließenden Diskussion wurde nochmals hervorgehoben,<br />

dass die Erstberatung zur Kompetenzbilanzierung<br />

von der Qualifizierungsplanung getrennt werden sollte, um<br />

eine unabhängige Beratung für die Teilnehmenden sicher -<br />

zustellen. An Frau Dauser wurde die Frage gerichtet, welche<br />

Verfahren zur Kompetenzbilanzierung besonders zu empfehlen<br />

seien. Sie erklärte, da es bisher keine wissenschaftlich ge -<br />

sicherten Erkenntnisse zu den jeweiligen Verfahren in der Nachqualifizierung<br />

gebe, erscheine es als umso sinnvoller, sich in<br />

regionalen Netzwerken auf Standards für geeignete Verfahren<br />

zu verständigen.<br />

Sabine Schröder, EBB Joachim Dellbrück, GFBM e. V.


44 GeSpRäcHSRunDe<br />

Gesprächsrunde<br />

Das Programm „Perspektive Berufsabschluss“:<br />

Rückblick und Ausblick, Ergebnisse und Handlungsempfehlungen<br />

Von links: Simone Flach, Dr. Birgit Reißig, Dr. Malgorzata Mielczarek, Cemalettin Özer, Marion Kranz, Ursula Krings im Gespräch mit der Moderatorin<br />

Judith Schulte-Loh<br />

Teilnehmende:<br />

• Simone Flach, <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />

• Dr. Birgit Reißig, Deutsches Jugendinstitut München, Außenstelle Halle<br />

• Ursula Krings, Forschungsinstitut Berufliche <strong>Bildung</strong>, Nürnberg<br />

• Dr. Malgorzata Mielczarek, Regionales Übergangsmanagement Kiel (RÜM Kiel)<br />

• Marion Kranz, Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung in Suhl/BTZ Rohr<br />

• Cemalettin Özer, Begleitprojekt „Mit MigrantInnen für MigrantInnen“,<br />

MOZAIK gGmbH, Bielefeld<br />

Moderation: Judith Schulte-Loh, WDR


gesprächsrunde<br />

45<br />

Simone Flach eröffnete die Gesprächsrunde mit einer positiven<br />

Bilanz: „Es kann festgestellt werden, dass die Projekte es geschafft<br />

haben, in weiten Teilen einen Überblick, eine Transparenz<br />

in den Regionen zu schaffen.“ In beiden Förderinitiativen<br />

„Regionales Übergangsmanagement“ und „Abschlussorientierte<br />

modulare Nachqualifizierung“ seien bereits in der ersten<br />

Förderrunde gute, beispielhafte und zum Teil auch nachhaltige<br />

Ergebnisse erzielt worden. In der regionalen Förderlandschaft<br />

seien diese zum Beispiel durch die Bestandsaufnahmen zu<br />

Angeboten und Maßnahmen, ergänzt durch Schüler- beziehungsweise<br />

Betriebsbefragungen, erreicht worden. In den Projekten<br />

seien wichtige Datengrundlagen für die regionalen<br />

Abstimmungen der Akteure des Übergangsmanagements und<br />

der beruflichen <strong>Bildung</strong> geschaffen und Klärungsprozesse<br />

angestoßen worden. Für die Verbesserung des Übergangs<br />

Jugendlicher von der Schule in Ausbildung sei entscheidend,<br />

dass Kommunen verantwortlich zeichnen. Auch die<br />

Chancen der Nachqualifizierung als Teil unternehmerischer<br />

Personalentwicklung und Instrument zur Stärkung des Fachkräftenachwuchses<br />

seien erkannt worden. Entscheidende<br />

Impulse hierzu seien vom Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />

ausgegangen.<br />

Aktuell gehe es im Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />

auch darum, Erfahrungen, Ergebnisse, entwickelte Instrumente<br />

und Materialien in die seit letztem Herbst laufende zweite Förderrunde<br />

zu transferieren. Durch Transferworkshops, „Patenschaften“<br />

und bilaterale Beratung zwischen „neuen“ und „alten“<br />

Projekten werde Erfahrungswissen zu entwickelten Produkten<br />

und Methodiken des Regionalen Übergangsmanagements<br />

zielgerichtet vermittelt. Im Programmbereich Nachqualifizierung<br />

wurden die Projekte aus beiden Förderrunden regional<br />

beziehungsweise branchenspezifisch geclustert, um den Transferprozess<br />

sicherzustellen. Auch dort erfolgt ein intensiver<br />

Ergebnisaustausch. So werden Synergien genutzt, wodurch die<br />

Entwicklungen in der zweiten Förderrunde vorangetrieben<br />

werden sollen.<br />

Frau Flach ging auch auf die Begleitprojekte der Zentralstelle<br />

für die Weiterbildung im Handwerk (ZWH), des Zentrums für<br />

Türkeistudien und Integration (ZfTI) und der MOZAIK gGmbH<br />

ein. Durch das Projekt der ZWH sei das Verfahren zur Zulassung<br />

zur Externenprüfung kammerbezirksübergreifend vereinheitlicht<br />

und verschlankt worden. Denn die Vorschläge aus<br />

dem Begleitprojekt wurden vom Zentralverband des Handwerks<br />

aufgenommen und mündeten in eine Handlungsempfehlung<br />

für bundesweit alle Handwerkskammern ein.<br />

Die vom <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />

ins Leben gerufene und finanzierte Gründung des Mediennetzwerkes<br />

„biz – <strong>Bildung</strong> ist Zukunft“ durch das ZfTI sei ein<br />

wichtiger Schritt, die türkischsprachige Community besser<br />

über bestehende Ausbildungsmöglichkeiten und -zugänge,<br />

insbesondere die duale Ausbildung in Deutschland, zu informieren.<br />

Neue Wege zu mehr Chancengerechtigkeit für<br />

Migrantinnen und Migranten werden so erschlossen. Das<br />

Begleitprojekt der MOZAIK gGmbH verfolgt das Konzept, <strong>Bildung</strong>sbeauftragte<br />

aus Migrantenorganisationen als Multiplikatorinnen<br />

und Multiplikatoren zu gewinnen und zu schulen.<br />

Sie fungieren in ihren Regionen als erste Ansprechpartnerinnen<br />

und -partner für alle Fragen rund um Ausbildungschancen<br />

und -bedingungen in Deutschland. Dieser Ansatz<br />

zielt auf eine partnerschaftliche und gleichberechtigte Kooperation<br />

der regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarktakteure<br />

mit den Migrantenorganisationen.<br />

Handlungsempfehlungen für das Regionale<br />

Übergangsmanagement<br />

Dr. Birgit Reißig ging auf die Fragen ein, wie die strukturelle<br />

Nachhaltigkeit der Projektergebnisse nach Ablauf der ersten<br />

Förderrunde im März 2012 gelingen könne und welche Veränderungen<br />

die Projekte im Regionalen Übergangsmanagement<br />

bewirken konnten. Bei aller Unterschiedlichkeit der Rahmenbedingungen<br />

der einzelnen Projekte gab es aus Sicht der wissenschaftlichen<br />

Begleitung der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement“<br />

drei zentrale Aufgabengebiete:<br />

• Schaffung von Transparenz in den Angeboten, deren<br />

Akzeptanz bei den Jugendlichen sowie die Benennung<br />

von „Stolpersteinen“ beim Übergang<br />

• Entwicklung von nachhaltigen Strukturen und<br />

Verfahren durch die Zusammenarbeit der regionalen<br />

Akteure<br />

• die Bereitschaft, Entscheidungen und Veränderungen<br />

herbeizuführen, die das Regionale Übergangsmanagement<br />

verbessern<br />

Dr. Malgorzata Mielczarek berichtete aus der Praxis des<br />

RÜM in Kiel. Durch gezielte Ansprache sei es möglich geworden,<br />

alle allgemeinbildenden Schulen vor Ort in die Partnerschaft<br />

des RÜM Kiel zu integrieren. Im Mittelpunkt stand die Frage,<br />

wie die einzelnen Schulen gestärkt werden und wie sie aus ihren<br />

Stärken ein eigenes Profil entwickeln können: „Zu sagen, wir<br />

machen etwas gemeinsam, das ist ein Schlüsselwort. Und wir<br />

machen es so, dass du als Schule einen Nutzen davon hast.“ So<br />

sei es gelungen, das Netzwerkangebot des RÜM Kiel als Stärkung<br />

für die Schule zu verstehen und anzunehmen. Auf der Basis der<br />

Analyse von Befragungen zum Verbleib der Schülerinnen und<br />

Schüler nach dem Schulabgang wurden Instrumente geschaffen,<br />

wie der Entwicklungstag für Schülerinnen und Schüler, Fortbildungen<br />

für Lehrkräfte oder Standards für das Berufsorientierungscurriculum,<br />

die zu einem festen Grundgerüst im RÜM<br />

Kiel geworden sind.


46 GeSpRäcHSRunDe<br />

Cemalettin Özer Ursula Krings Marion Kranz Simone Flach<br />

Stärkung der Chancengerechtigkeit durch die<br />

partnerschaftliche Einbeziehung der Migrantenorganisationen<br />

und die Kooperation mit Migrantenorganisationen zukünftig<br />

verbindlich gestaltet würde, wäre das ein richtiger Schritt zu<br />

mehr Chancengerechtigkeit für Migrantinnen und Migranten.<br />

Auf die Frage, was das Regionale Übergangsmanagement<br />

mit Blick auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />

„gebracht“ habe, betonte Cemalettin Özer, „Perspektive Berufsabschluss“<br />

sei das erste Programm, in dem die Beteiligung von<br />

Migrantinnen und Migranten beziehungsweise von Migrantenorganisationen<br />

in den Netzwerken bereits in der Richtlinie festgelegt<br />

worden sei. MOZAIK gGmbH arbeitet im Begleitprojekt<br />

„Mit MigrantInnen für MigrantInnen“ an acht Referenzstandorten<br />

mit jeweils fünf Projekten aus dem „Regionalen Übergangsmanagement“<br />

und der „Abschlussorientierten modularen<br />

Nachqualifizierung“ intensiv an der aktiven und nachhaltigen<br />

Einbindung der Migrantenorganisationen in die regionalen<br />

Netzwerke. Gemeinsam mit den Projektleiterinnen und -leitern<br />

und, wo immer möglich, auch mit den Integrationsbeauftragten<br />

wurden zu Beginn der Konzeptumsetzung diese Fragen<br />

diskutiert: Wie und wo erreicht man Migrantinnen und Migranten?<br />

Wer ist in den Organisationen verantwortlich, und wer<br />

ist als Kooperationspartner besonders geeignet? Das waren die<br />

ersten und wichtigsten Schritte zur Entwicklung regionaler<br />

interkultureller Netzwerke. Das Konzept wird im Rahmen des<br />

Begleitprojektes auch in Leipzig, Saarbrücken, Darmstadt, Bielefeld<br />

und Schwerin umgesetzt. In Kiel konnte mit den Akteuren<br />

eine Interessengemeinschaft gegründet werden, die eigene<br />

Themen in die Arbeit des RÜM einbringt, zum Beispiel das Thema<br />

Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte.<br />

In Marburg wurde ein Konzept zur interkulturellen Elternarbeit<br />

mit den Vertretungen der Migrantenorganisationen entwickelt<br />

und umgesetzt.<br />

Angeregt durch diesen kooperativen Prozess, wurde von<br />

einem türkischen Frauenverein in eigener Regie ein Elternabend<br />

zur Berufsorientierung organisiert, dessen Zuspruch<br />

alle Erwartungen übertraf – ein positives Beispiel unter vielen.<br />

Herr Özer regte an, Mittel, die kommunal häufig zweckgebunden<br />

für kulturelle Dinge zur Verfügung stehen, auch für<br />

gezielte Integrationsförderung durch <strong>Bildung</strong>sförderung zu<br />

erschließen. Wenn der im Programm des <strong>Bundesministerium</strong>s<br />

für <strong>Bildung</strong> und Forschung vertretene Ansatz Schule machen<br />

Besonderheiten der Nachqualifizierung<br />

Die strukturelle regionale Verankerung von Nachqualifizierung<br />

als Regelangebot sei, so Ursula Krings, eine besondere<br />

Herausforderung für die Projekte. Im Gegensatz zur Ausbildung<br />

nach dem Schulabschluss, die seit vielen Jahrzehnten<br />

eine Selbstverständlichkeit sei, müsse die Nachqualifizierung<br />

als eine Möglichkeit des Erwerbs eines Berufsabschlusses für<br />

Erwachsene erst intensiv bei den notwendigen Akteuren am<br />

Arbeitsmarkt erklärt und beraten werden. Zum Aufbau der<br />

erforderlichen Netzwerke brauche es neben den Akteuren der<br />

Arbeitsförderung unbedingt die Beteiligung der Wirtschaft,<br />

der Unternehmen der Region sowie der zuständigen Stellen,<br />

die für die Abnahme der Externenprüfung verantwortlich sind.<br />

Darüber hinaus müssten die <strong>Bildung</strong>sträger, die gute und bedarfsgerechte<br />

Angebote vorhalten, und natürlich die vorhandenen<br />

Beratungsstellen eingebunden werden.<br />

Aus Sicht der Projektpraxis berichtete Frau Kranz über<br />

die guten Voraussetzungen für den Aufbau von Nachqualifizierungsstrukturen<br />

im Handwerkskammerbereich Südthüringen.<br />

Sie ging aber auch auf Problematiken ein. In Thüringen sei der<br />

Fachkräftebedarf in allen Branchen bereits virulent. Insbesondere<br />

das Handwerk, die Industrie, aber auch die Pflegebranche<br />

seien davon betroffen. Diese Entwicklung befördere die Projektumsetzung.<br />

Als Ergebnisse kann Frau Kranz auf ein von den<br />

zuständigen Stellen in Thüringen anerkanntes Konzept zur<br />

Kompetenzfeststellung, auf verbindliche Qualitätsstandards<br />

und auf für Thüringen einheitliche, modularisierte Nachqualifizierungskonzepte<br />

verweisen. Instrumente wie der „Weiterbildungscheck“<br />

können von Personen genutzt werden, deren<br />

berufliche Handlungsfähigkeit den erfolgreichen Abschluss<br />

der Externenprüfung erwarten lässt. Problematischer sei die<br />

Situation bei an- und ungelernten Langzeitarbeitslosen. Die<br />

bisherigen Instrumente der Bundesagentur für Arbeit sehen<br />

eher kurzfristige Anpassungsmaßnahmen vor. Aus Sicht von<br />

Frau Kranz sollten die Partner in den regionalen Netzwerken –<br />

und hierzu gehören notwendigerweise immer auch die regio-


GeSpRäcHSRunDe<br />

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Im Bereich des Regionalen Übergangsmanagements,<br />

das die Aufgabe hat, nachhaltige Strukturverbesserungen zu<br />

schaffen, seien durch die Projekte wichtige Planungsgrundlagen<br />

und organisatorische Voraussetzungen für kooperative<br />

Netzwerkarbeit geschaffen worden. Zur nachhaltigen Implementierung<br />

des Regionalen Übergangsmanagements und für<br />

Veränderungen in den kommunalen Strukturen reiche nach Ansicht<br />

mancher Projekte die geförderte Projektlaufzeit nicht aus.<br />

Dr. Birgit Reißig<br />

Dr. Malgorzata Mielczarek<br />

Fazit<br />

nalen Agenturen für Arbeit und die Jobcenter – gemeinsam<br />

Finanzierungsstrategien entwickeln, die auch diesem Personenkreis<br />

den Erwerb eines Berufsabschlusses ermöglichen. „Denn<br />

nur mit einem erfolgreichen Berufsabschluss ist die Nachhaltigkeit<br />

der Integration in den Arbeitsmarkt auch gegeben“, so<br />

Frau Kranz.<br />

Eine weitere Besonderheit der Nachqualifizierung sei die<br />

Individualisierung der Lerninhalte, damit dem Stand der beruflichen<br />

Handlungskompetenz und dem Lernverhalten jedes<br />

Einzelnen zielführend entsprochen werden kann. Durch das<br />

Thüringer Netzwerk sei ein Konzept für individuelle Qualifizierungspläne<br />

entwickelt worden, das sich genau auf die beruflichen<br />

Handlungskompetenzen bezieht, die noch erforderlich<br />

sind zum erfolgreichen Bestehen der Externenprüfung.<br />

Der Qualifizierungsplan bilde auch die Basis für die<br />

Ab sprachen mit den regionalen Agenturen für Arbeit oder<br />

den Jobcentern zur Erstellung eines passgenauen Finanzierungsplans.<br />

Der Ansatz im Thüringer Netzwerk ziele darauf<br />

ab, Nachzuqualifizierende ohne Arbeit möglichst frühzeitig<br />

bei der Aufnahme einer Beschäftigung zu unterstützen und<br />

die Nachqualifizierung begleitend im Betrieb fortzusetzen.<br />

Das habe den Vorteil, dass das Unternehmen, das den Nachzuqualifizierenden<br />

beschäftigt, selbst ein Interesse am erfolgreichen<br />

Abschluss habe, und es sichere gleichzeitig die Nachhaltigkeit<br />

der Qualifizierung. Herr Özer ergänzte, dass die<br />

Herausforderungen der Individualisierung der Nachqualifizierung<br />

bei Menschen mit Migrationsgeschichte noch weiter<br />

steigen werden.<br />

Weitere Aspekte<br />

Bei der Einbeziehung des Plenums in die Gesprächsrunde<br />

wurde noch einmal deutlich, dass es für die Zielgruppe der<br />

an- und ungelernten Beschäftigten keine allgemein verbindlichen<br />

Standardangebote geben kann, da die individuellen<br />

Voraussetzungen sehr unterschiedlich sind. Bedarfsgenau<br />

abgestimmte Finanzierungsmodelle und kreative individuelle<br />

Förderansätze seien erforderlich.<br />

Frau Flach gab abschließend einen Ausblick zur Verstetigung<br />

und nachhaltigen Sicherung der Programmergebnisse. Auch<br />

wenn vor Ort teilweise eine längere Projektförderung durch<br />

das <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung gewünscht<br />

würde, so sei eine Förderdauer von vier bzw. drei Jahren hinreichend<br />

lang, zumal von Anfang an auf eine nachhaltige Umsetzung<br />

des Programms Wert gelegt wurde. Ziel der Förderung des<br />

Programms „Perspektive Berufsabschluss“ sei es, Strukturentwicklungen<br />

anzustoßen und strukturelle Grundlagen zu schaffen,<br />

auf denen nachhaltig weitergearbeitet werden könne.<br />

Wie wichtig es der Bundesregierung sei, in der <strong>Bildung</strong><br />

mehr Chancengerechtigkeit zu erzielen, zeige sich auch in der<br />

geplan ten weiteren Aufstockung des Etats des <strong>Bundesministerium</strong>s<br />

für <strong>Bildung</strong> und Forschung im kommenden Jahr. Mit den<br />

Mitteln des BMBF und des ESF sei es den Projekten gelungen,<br />

vorhandene Strukturen auszubauen, Netzwerkkooperationen<br />

zu festigen beziehungsweise zu initiieren, wo vorher noch<br />

keine vorhanden waren. Zu einer effektiven Umsetzung des<br />

Programms gehöre auch, Synergien durch Kooperationen mit<br />

anderen Programmen zu nutzen. Auch der Zusammenschluss<br />

von Projekten im Programm „Perspektive Berufsabschluss“ zu<br />

Landesnetzwerken – zum Beispiel in Hessen, Sachsen, Sachsen-<br />

Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Berlin<br />

und Thüringen – sei ein richtiger und überaus erfreulicher<br />

Weg, nachhaltige Strukturen in den Regionen auch nach Auslaufen<br />

der Projektförderung dauerhaft zu etablieren.<br />

Frau Flach bedankte sich zum Abschluss ganz herzlich<br />

bei den Projekten und den Programmakteuren für die bisher<br />

ge leistete Arbeit. Die erreichten Ergebnisse belegten, dass<br />

die Fördermittel des <strong>Bundesministerium</strong>s für <strong>Bildung</strong> und<br />

Forschung sehr sinnvoll investiert seien. Denn im Programm<br />

„Perspektive Berufsabschluss“ arbeitete man gemeinsam<br />

intensiv daran, die Chancengerechtigkeit in Deutschland<br />

weiter zu verbessern.


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