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focus «Viele Leute sprechen viel zu schnell» Hören und reden zählen nicht gerade zu ihren Stärken, aber sie meistert es. So widersprüchlich es tönt, die Tessinerin <strong>Anna</strong> <strong>Bernardi</strong> ist sprachbegabt. Neben ihrer Muttersprache Italienisch spricht und schreibt sie problemlos Deutsch, dazu ein bisschen Englisch und Französisch. Ertaubt im Alter von zwei Jahren, trägt sie heute zwei Cochlea-Implantate. <strong>Anna</strong> ist eine attraktive, fröhliche junge Frau, die nach ihrem Architekturstudium in Praktika und befristeten Anstellungen Berufserfahrungen sammelte. Zuletzt arbeitete sie einige Monate lang in einem Architekturbüro in Zug. Vor kurzem erst trat sie in Lugano eine 50-<strong>Pro</strong>zent-Stelle an. Noch wartet sie auf ihre Chance, als <strong>Architektin</strong> eine Vollzeitstelle zu finden. <strong>Anna</strong>s lange Haare verdecken die zwei Cochlea-Implantate (CI). Sie war gerade erst sieben Jahre alt, als sie das erste CI erhielt. Vor drei Jahren implantierten ihr die Ärzte dann das zweite CI. Bis im Alter von zwei Jahren hörte sie gut. Ertaubt ist sie erst nach einer Meningitis (Hirnhautentzündung). Die Eltern und der Arzt bemerkten nicht sofort, dass sie erkrankt war. Als <strong>Anna</strong> endlich ins Spital kam, hing ihr Leben nur noch an einem seidenen Faden. «Die Ärzte hatten mich gerettet, doch mein Gehör war ‹verloren›.» Wie hast du denn deine schulische Ausbildung gemeistert? Mir wurden zuerst zwei Hörgeräte angepasst, mit denen ich aber nicht viel hören konnte. Erst als ich eingeschult wurde, erhielt ich ein CI. Ich habe ganz normal die Regelschule besucht, hatte aber glücklicherweise Lehrerinnen, die viel Rücksicht auf mich genommen haben. Im Gymnasium und an der Uni war ich viel mehr auf mich alleine gestellt. Es gab schwierige Zeiten, denn wenn man nicht alles hört, muss man viel nacharbeiten. Aber ich hatte gute <strong>Pro</strong>fessoren, die mich unterstützten und mich auch ermutigten. Bis Ende der Mittelschule hatte ich eine Logopädiebegleitung und eine mich speziell «begleitende Lehrerin». Auf Italienisch sagen wir: docente di sostegno. Davon habe ich sehr profitiert. Ausserdem haben mich meine Eltern immer sehr gefördert und unterstützt. « Ich hatte das Glück, dass meine Eltern beide » Lehrer sind sprache sind Italienisch und Englisch. Vor einem Jahr hat sie dort ihr Studium mit dem Master abgeschlossen. Welches waren denn für dich während des Studiums die grössten <strong>Pro</strong>bleme? Ich hatte das Glück, dass meine Eltern beide Lehrer sind. Mein Vater unter- Glücklicherweise lernte <strong>Anna</strong> leicht. So hat sie sich entschlossen, an der kleinsten Hochschule der <strong>Schweiz</strong>, in Mendrisio, Architektur zu studieren. Unterrichtsrichtet an der Sekundarschule und meine Mutter an der Primarschule. Sie und meine Lehrer haben mir immer geholfen. Im Gymnasium und an der Uni haben mich vor allem meine Kommilitonen unterstützt mit Notizen, Erklärungen und beim Lernen in der Gruppe. Eine FM-Anlage hatte ich keine. Erste Erfahrungen in der Arbeitswelt sammelte <strong>Anna</strong> dann während eines Praktikumsjahres in Basel. Da es wegen ihrer Hörprobleme nach wie vor nicht ganz einfach ist für <strong>Anna</strong>, eine Stelle zu finden, war sie froh über die Möglichkeit, für fünf Monate nach Mailand zu gehen, um in einem Architekturbüro ihre erste Stelle als <strong>Architektin</strong> anzutreten. Dann bewarb sie sich in einem Zuger Architekturbüro und lernte einen gehörlosen Architekten kennen. Dein letzter Chef, für den du gearbeitet hast, ist gehörlos. Du bist ertaubt und trägst zwei CI. Wie konntet ihr euch denn verständigen? Er trägt ein Cochlea-Implantat wie ich. Wir haben uns gut verstanden, weil man in diesem Büro nur Hochdeutsch spricht. Dennoch ist die Zusammenarbeit in einer Sprache, die für mich eine Fremdsprache ist, generell schwierig, vor allem auch, wenn man, wie ich, noch wenig Arbeitserfahrung hat. In hektischen Situationen ist es noch etwas schwieriger. dezibel 2/2012 7