Anlage Jurybegründungen - RIS
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Ausgangspunkt ist die Staatliche Münzsammlung in der Residenzstraße. Drei Wochen lang<br />
errichtet die Münchner Performerin dort ein temporäres Büro. Von dort aus wird sie – zusammen<br />
mit einem Team von Musikern und Performern – in der Münzsammlung selbst sowie an<br />
verschiedenen Orten der näheren Umgebung sieben prägende Situationen und Momente<br />
der Stille schaffen: der scheinbar so vertraute und flüchtige Alltag soll mit einem Stempel des<br />
Außer- und Ungewöhnlichen versehen werden.<br />
Mit ihren auf den ersten Blick unspektakulären kleinen Szenarien hat Ruth Geiersberger, die<br />
große Meisterin der kleinen Form, schon oftmals ihr besonderes Talent unter Beweis gestellt,<br />
theatrale Momente geschickt mit sozialen Interventionen zu verknüpfen. Ihre Kunst konzentriert<br />
sich auf die Verzauberung des Banalen, das Schaffen kleiner Inseln der Ruhe inmitten<br />
der Hektik der Großstadt, das Aufblitzen des Persönlichen und Privaten in der anonymen Zufallsbegegnung.<br />
Daher befürwortet die Jury eine Förderung dieses Projekts mit 33.500 €.<br />
Fake[to]Pretend GbR/Tobias Ginsburg: „Neuland. Eine radikale Revue“<br />
Tobias Ginsburg und Fake[to]Pretend begeben sich auf die Suche nach Utopien. In einer<br />
journalistisch ausgerichteten Recherchephase suchen sie Orte, an denen das Herz links<br />
schlägt. Und finden sie: in einer autonomen Kommune, einer antiimperialistischen Altpunkband,<br />
der Ortsgruppe der MLPD in Bad Tölz. Inspiration für diese Recherche war das kontrovers<br />
diskutierte politische Essay „Der kommende Aufstand“ eines unbekannten Autors oder<br />
Autorenkollektivs namens „unsichtbares Komitee“, das eine Gesellschaft von selbstverwalteten<br />
lokalen und ökonomischen Organisationen proklamiert. Einen ganz ähnlichen utopischen<br />
Gedanken fand Ginsburg in Theodor Herzls Roman „Altneuland“ von 1902, in dem der Begründer<br />
des politischen Zionismus die Errichtung eines freien, sozialen, multiethnischen und<br />
genossenschaftlich statt staatlich organisierten Gemeinwesens in Palästina durch die „neue<br />
Gesellschaft“ fiktionalisiert. Die Existenz des Staates Israel oder wie man zu ihm steht, ist<br />
aber spätestens seit den späten Sechzigern eine Gretchenfrage der deutschen Linken.<br />
Das Filmmaterial über linke Utopien wird dem dokumentarischen Ansatz der Gruppe folgend<br />
gemeinsam mit den Schauspielern ausgewertet, es wird einem Reenactment der Figuren auf<br />
der Bühne gegenübergestellt und mit Textstellen aus Herzls Roman gebrochen bzw. gegengeschnitten,<br />
um immer wieder auch die Frage nach dem heiklen deutsch-israelischen Verhältnis<br />
aufzuwerfen. Für ihre Darstellung bedienen sich Fake[to]Pretend unterschiedlicher<br />
Theaterformen: das Brecht’sche Lehrstück, ein theatrales Tribunal, Kipphardt’sche Analogszenen<br />
oder ein Arbeiterchor bestimmen das dramatische Geschehen. Die Suche nach einer<br />
lebbaren Utopie innerhalb dieser Theorien bestimmt den Abend und soll zumindest auf der<br />
Bühne ein neues Neuland entstehen lassen. Die Jury ist überzeugt vom theatralen und gesellschaftspolitischen<br />
Potential dieses Ansatzes und empfiehlt daher eine Förderung in Höhe<br />
von 30.000 €.<br />
Hunger & Seide/Jochen Strodthoff: „Freundschaft“<br />
Mit dem einen knappen Wort „Freundschaft“ bezeichnet die Performancegruppe Hunger &<br />
Seide pointiert ihr neues Projekt, hinter dem vielschichtige Überlegungen stehen. Da unsere<br />
Gesellschaft in verschiedenste Gruppierungen parzelliert ist, die meist in keiner Beziehung<br />
zueinander stehen, existiert ein gemeinsames Ganzes nur als Denkmodell. In der Realität<br />
ist die Gesellschaft zersplittert, das Individuum verunsichert, in verschiedene Identitäten zerrissen.<br />
Zwar eröffnet sich für den Einzelnen eine Vielfalt an Wahlmöglichkeiten, aber er fühlt<br />
sich irritiert, nie aufgehoben und nirgendwo vollkommen zugehörig. Wir befinden uns – so<br />
die Formulierung von Hunger & Seide – in einem „Splitterkosmos“.