Anlage Jurybegründungen - RIS
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<strong>Anlage</strong><br />
<strong>Jurybegründungen</strong><br />
Einzelprojektförderung für freie Theatergruppen<br />
Die Bairishe Geisha/Judith Huber: „Pornokabarett“<br />
Wieder einmal erfindet sich die Bayerische Geisha neu: Inspiriert durch ein Arbeitsstipendium der<br />
Landeshauptstadt München zum Thema Schamanismus begeben sich Judith Huber und Eva Löbau<br />
diesmal auf Erkundungsreise in die unheimliche Wirklichkeit der Striptease-(Un-)Kultur. Ort<br />
des Geschehens ist das kuriose „Cabaret Eve“ in der Nähe des Hauptbahnhofs, wo seit Jahrzehnten<br />
im immer gleichen Ambiente weibliche Körper einem vorwiegend männlichen Publikum zur<br />
Schau gestellt werden.<br />
Den verborgenen Ritualen und Codes, aber auch der komischen Dimension des Ausziehens und<br />
Begaffens, der Maskerade der Weiblichkeit wollen die beiden Bairishen Geishas aus einem ethnologischen<br />
Blickwinkel auf die Spur kommen: sie erzählen dem Publikum die Geschichte des Cabarets,<br />
seiner Akteurinnen und ihrer männlichen Zuschauer in Liedern, Sketchen und Choreographien.<br />
Die Jury ist gespannt auf die Auseinandersetzung des Künstlerinnen-Duos mit dem Münchner<br />
Rotlichtmilieu und spricht sich für eine Förderung in Höhe 40.000 € für dieses verheißungsvolle<br />
Projekt aus.<br />
Holger Dreissig: „23. Stunde : Verwaltungsperformance : Tapetentür“<br />
Seit 1992 hat Holger Dreissig mit seinen Verwaltungsperformances und mit der JEANSGRUPPE<br />
die Münchner Theater- und Performancelandschaft bereichert. Bei der Performance handelt es<br />
sich um einen 24-teiligen Zyklus von der 1. Stunde bis zur 24. Stunde. Es sind die Alternativen, die<br />
Möglichkeiten neben den Möglichkeiten, die Umwege des Erzählens, die Dreissig als collagiert bespieltes<br />
„Bühnengemälde“ immer wieder gekonnt und überraschend umsetzt. Die Wurzeln seiner<br />
Theaterprojekte finden sich in der Bildenden Kunst. „Verwaltungsperformance“ beschäftigt sich mit<br />
Formzwängen, in die unser Leben gepresst ist (gesellschaftliche Regeln, kultureller Kontext, Logik,<br />
Sprachgebrauch, Tabus, Mode etc.) und begibt sich auf die Suche nach allem, was sich der Verwaltung<br />
entzieht (z. B. unmittelbare Körperlichkeit, Wahn, Tod, Traum, Schmutz und ekstatische<br />
Zustände).<br />
Bei dem aktuellen Projektantrag für die 23. Stunde ist „Tapetentür“ das Thema. Verwaltungsperformance<br />
ist wieder Science Fiction, utopisch, dystopisch. Hier knüpft die 23. Stunde an die Zeitreise<br />
an. Das Vorbereitetsein auf den Ernstfall will Holger Dreissig mit dem Rüstzeug des Geistigen in<br />
seinem Theater umsetzen. Auf seine Art will Dreissig nicht die Zeit anhalten, sondern in der Zeit<br />
reisen, Zukunft erfinden. Die „Tapetentür“, die keine Tür sein will, sondern sich als Teil der Wand<br />
verkleidet, ist Bild für das Rätsel dahinter. Die Zuschauer sind, mit weißen Schutzanzügen uniformiert,<br />
in Methylblaunebel gehüllt und erwarten das „visionäre Vehikel“, das aus dem Nebel auftaucht.<br />
Mit acht Darstellern und Darstellerinnen will Holger Dreissig die “Tapetentür“ 10 Tage ins i-<br />
camp bringen. Die Jury möchte mit Holger Dreissig hinter die „Tapetentür“ schauen und empfiehlt,<br />
dem Antrag zuzustimmen und das Projekt mit 45.000 € zu fördern<br />
Ruth Geiersberger: Projekt: „Sososososo – Andachtsübungen“<br />
Angeregt durch einen – mit Hilfe eines Arbeitsstipendiums der Landeshauptstadt München ermöglichten<br />
– Aufenthalt in Japan und einer Begegnung mit der Autorin Yoko Ogawa wird Ruth Geiersberger<br />
das Münchner Publikum auf behutsame und zugleich raffinierte Weise zu Andachtsübungen<br />
im öffentlichen Raum entführen und verführen.
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Ausgangspunkt ist die Staatliche Münzsammlung in der Residenzstraße. Drei Wochen lang<br />
errichtet die Münchner Performerin dort ein temporäres Büro. Von dort aus wird sie – zusammen<br />
mit einem Team von Musikern und Performern – in der Münzsammlung selbst sowie an<br />
verschiedenen Orten der näheren Umgebung sieben prägende Situationen und Momente<br />
der Stille schaffen: der scheinbar so vertraute und flüchtige Alltag soll mit einem Stempel des<br />
Außer- und Ungewöhnlichen versehen werden.<br />
Mit ihren auf den ersten Blick unspektakulären kleinen Szenarien hat Ruth Geiersberger, die<br />
große Meisterin der kleinen Form, schon oftmals ihr besonderes Talent unter Beweis gestellt,<br />
theatrale Momente geschickt mit sozialen Interventionen zu verknüpfen. Ihre Kunst konzentriert<br />
sich auf die Verzauberung des Banalen, das Schaffen kleiner Inseln der Ruhe inmitten<br />
der Hektik der Großstadt, das Aufblitzen des Persönlichen und Privaten in der anonymen Zufallsbegegnung.<br />
Daher befürwortet die Jury eine Förderung dieses Projekts mit 33.500 €.<br />
Fake[to]Pretend GbR/Tobias Ginsburg: „Neuland. Eine radikale Revue“<br />
Tobias Ginsburg und Fake[to]Pretend begeben sich auf die Suche nach Utopien. In einer<br />
journalistisch ausgerichteten Recherchephase suchen sie Orte, an denen das Herz links<br />
schlägt. Und finden sie: in einer autonomen Kommune, einer antiimperialistischen Altpunkband,<br />
der Ortsgruppe der MLPD in Bad Tölz. Inspiration für diese Recherche war das kontrovers<br />
diskutierte politische Essay „Der kommende Aufstand“ eines unbekannten Autors oder<br />
Autorenkollektivs namens „unsichtbares Komitee“, das eine Gesellschaft von selbstverwalteten<br />
lokalen und ökonomischen Organisationen proklamiert. Einen ganz ähnlichen utopischen<br />
Gedanken fand Ginsburg in Theodor Herzls Roman „Altneuland“ von 1902, in dem der Begründer<br />
des politischen Zionismus die Errichtung eines freien, sozialen, multiethnischen und<br />
genossenschaftlich statt staatlich organisierten Gemeinwesens in Palästina durch die „neue<br />
Gesellschaft“ fiktionalisiert. Die Existenz des Staates Israel oder wie man zu ihm steht, ist<br />
aber spätestens seit den späten Sechzigern eine Gretchenfrage der deutschen Linken.<br />
Das Filmmaterial über linke Utopien wird dem dokumentarischen Ansatz der Gruppe folgend<br />
gemeinsam mit den Schauspielern ausgewertet, es wird einem Reenactment der Figuren auf<br />
der Bühne gegenübergestellt und mit Textstellen aus Herzls Roman gebrochen bzw. gegengeschnitten,<br />
um immer wieder auch die Frage nach dem heiklen deutsch-israelischen Verhältnis<br />
aufzuwerfen. Für ihre Darstellung bedienen sich Fake[to]Pretend unterschiedlicher<br />
Theaterformen: das Brecht’sche Lehrstück, ein theatrales Tribunal, Kipphardt’sche Analogszenen<br />
oder ein Arbeiterchor bestimmen das dramatische Geschehen. Die Suche nach einer<br />
lebbaren Utopie innerhalb dieser Theorien bestimmt den Abend und soll zumindest auf der<br />
Bühne ein neues Neuland entstehen lassen. Die Jury ist überzeugt vom theatralen und gesellschaftspolitischen<br />
Potential dieses Ansatzes und empfiehlt daher eine Förderung in Höhe<br />
von 30.000 €.<br />
Hunger & Seide/Jochen Strodthoff: „Freundschaft“<br />
Mit dem einen knappen Wort „Freundschaft“ bezeichnet die Performancegruppe Hunger &<br />
Seide pointiert ihr neues Projekt, hinter dem vielschichtige Überlegungen stehen. Da unsere<br />
Gesellschaft in verschiedenste Gruppierungen parzelliert ist, die meist in keiner Beziehung<br />
zueinander stehen, existiert ein gemeinsames Ganzes nur als Denkmodell. In der Realität<br />
ist die Gesellschaft zersplittert, das Individuum verunsichert, in verschiedene Identitäten zerrissen.<br />
Zwar eröffnet sich für den Einzelnen eine Vielfalt an Wahlmöglichkeiten, aber er fühlt<br />
sich irritiert, nie aufgehoben und nirgendwo vollkommen zugehörig. Wir befinden uns – so<br />
die Formulierung von Hunger & Seide – in einem „Splitterkosmos“.
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Demgegenüber geht die Theatergruppe auf den Mikrokosmos zurück, setzt an der Wurzel<br />
der Gesellschaft an, der Beziehung der Menschen zueinander und sucht nach einem Modell<br />
des Miteinanders: das ist für sie die Freundschaft. Freundschaft untersteht keiner Gesetzesregel,<br />
unterliegt aber Ritualen, die sie bindet und zusammenhält. So werden drei real existierende<br />
Freundschaften befragt, in den Mittelpunkt des neuen Projektes gestellt und als Gegensatz<br />
zu „Freundschaften“ in sozialen Netzwerken positioniert.<br />
Der Topos Freundschaft ist ein seit der griechisch römischen Antike tradierter Topos, aber<br />
aktuell für uns heute und ganz besonders signifikant für die Forschungsarbeit der<br />
Performancegruppe Hunger & Seide. Ihr letztes hoch brisantes Projekt „Prepper“, das die<br />
Performer im Januar 2013 in der Muffathalle zeigten, beschäftigte sich mit dem Gegenteil:<br />
dem Egoismus der Einzelnen, die sich bis aufs Messer bekämpfen, gerade in einer<br />
Katastrophe, in der das Gegenteil gefordert wäre – Solidarität, Zueinanderhalten,<br />
Freundschaft. So ist dieses zukünftige Projekt im Sinn eines künstlerisch gesellschaftlichen<br />
„Kosmos“ der Gruppe eine konsequent logische Folge innerhalb der spannenden,<br />
überzeugenden Theaterarbeit von Hunger & Seide. Die Jury befürwortet daher eine<br />
Förderung in Höhe von 43.000 €.<br />
Berkan Karpat: „11 koranische Installationen zum Thema Lobpreisung (Dhikr) in aller<br />
Weisheit“<br />
Berkan Karpat inszeniert seit 1998 in München und mittlerweile weltweit großformatigopulente<br />
multimediale Installationen im genau bestimmten urbanen Kontext. Er nennt seine<br />
Arbeiten „szenische Topografien“ als poetische Überlagerung der kartografischen Skizzierung<br />
von Wirklichkeit und Fiktion. Bei seinen Projekten entstehen unterschiedlichste audiovisuelle<br />
Perspektiven und Projektionen. Erleben und Teilnehmen, Beobachten und Reflektieren<br />
machen die Performance jeweils zu einem Erlebnis, das die determinierende Theatersituation<br />
von Bühne und Zuschauerraum weit hinter sich lässt. Berkan Karpat, 1965 in Istanbul<br />
geboren, lebt seit seinem zweiten Lebensjahr in München. In seinen Werken verbindet er –<br />
das ist kennzeichnend für seine Arbeiten – den östlichen Kulturhintergrund mit westlichen<br />
Rationalismen. In diesem Sinn bewegen sich seine künstlerischen Performances und Installationen<br />
zwischen Mystik und Wissenschaft, Poesie und Historie. Für das Projekt „Die Weitung<br />
– 11 koranische Installationen“ will Karpat den Koran als Manifest der Ästhetik, wie er<br />
jahrhundertelang verstanden wurde, wieder aufleben lassen. Reflektiert wird über die veränderte<br />
Rezeption der Schrift. In Zusammenarbeit mit den Rifai-Derwischhorden wird eine<br />
neue darstellende Form für die Vortragskunst erarbeitet. Zentrales Element für die Installation<br />
ist Wasser, das als Reflexionsmedium für die Rezitative dient. Eine aufwendige Klanginstallation<br />
überträgt die Töne bis zu einer Distanz von 7 Kilometern und versetzt Stahlplatten,<br />
die Teil der Installation sind, in Schwingungen. Die den Installationen zugrunde liegenden<br />
Themen sind: Lobpreisung (Dhikr) in aller Weisheit – 1.0 Dhikr im Wasser – 1.8 Haben wir<br />
nicht die Brust geweitet – 1.11 Bringt mir die schönste Blume.<br />
Die Jury erwartet eine starke poetisch-theatrale Installation und empfiehlt, das Projekt mit<br />
50.000 € zu fördern.<br />
Stefan Kastner: „Germania 2 – Paradiso“<br />
In Stefan Kastners letztem Projekt „Germania 1 – Dinkelhofen“ ging es um die bayerische<br />
Heimat und die ganze Welt, um den Müttergesangsverein und Adorno, um Kaiserin Theodora<br />
und Langhans, um Cohn-Bendit und das Irrenhaus, um den weltkulturwahnsinnigen Bürgermeister<br />
von Dinkelhofen, um Byzanz, Göttinnen und Tanzlehrer. Musik, Schauspiel und
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Choreographie verband der Autor, Regisseur und Darsteller Stefan Kastner zu einem bezaubernden<br />
surreal-poetischen Geflecht. Die Kritikerin Sabine Leucht schrieb in der SZ, „Vernetzungskunst“<br />
sei das „Alleinstellungsmerkmal“ Kastners. Die Grundlage für diese Kunst ist die<br />
Ausbildung Stefan Kastners zu einem professionellen Opernsänger, einem Beruf, den er<br />
auch heute noch ausübt.<br />
Konsequent entwickelt er in seinem neuen Projekt „Germania 2 – Paradiso“ das Paradies<br />
des Opernbetriebs weiter - mit Leidenschaft und Liebe geleitet von Direktor Bachmaier.<br />
Bachmeier ist zugleich Besitzer des Tabledance-Clubs „Paradiso“, in dem die „ausrangierten<br />
Damen“ des musiktheatralen Fachs untergebracht und von der Mutter des Intendanten - „einer<br />
Bekanntheit der Münchner Maximilianstraße“ - umsorgt werden. Opernarien aus „Aida“,<br />
Tenorgesänge wie Donizettis schmelzendes „Una furtiva lagrima“ durchziehen Opernhaus<br />
und Stadt – „Oper für alle“ – ; und inmitten der Intendantenträume Bachmaiers von einer<br />
neuen Oper sitzen Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann in der Fußgängerzone –<br />
mit sehnsuchtsvollem Blick nach Süden – Italien, Italien, Italien. Aber noch sind sie in<br />
Deutschland....<br />
Mit großer Neugier und Spannung erwartet die Jury das humorvoll-musiktheatrale Kompositum,<br />
das paradiesisch-verwickelte Vernetzungskunstwerk von Stefan Kastner mit einem herausragenden<br />
musikalisch-schauspielerischen Ensemble. Die Jury empfiehlt eine Förderung<br />
in Höhe von 43.000 €.<br />
Bülent Kullukcu: „Die Robotermärchen“<br />
Das Kollektiv um Anton Kaun, Dominik Obalski und Bülent Kullukcu hat bereits bei drei interdisziplinären<br />
Theaterinstallationen zusammengearbeitet. Dabei haben die Künstler, die in<br />
den Bereichen Musik, Bildende und Videokunst und Regie zu Hause sind, tatsächlich eine<br />
ganz eigene Theatersprache kreiert, die fast gänzlich ohne Darsteller auskommt. Vordergründig<br />
kindliche Modelllandschaften und Plastikfiguren dienen als Austragungsorte von<br />
Krieg und Gewalt. Sie werden mit der Handkamera gefilmt und groß projiziert. Denn das ist<br />
ihr Thema: Wie die Gewalt in die Welt kommt. Ursachen und Gründe hierfür sehen sie - wie<br />
ihre Vorbilder Karl Kraus oder Elias Canetti - im immer wiederkehrenden Übel des Nationalismus.<br />
In ihrer neuen Arbeit „Robotermärchen“ nach Stanislaw Lem erforschen sie, wie „solche<br />
nationalen Tendenzen entstehen und sich mit größter Radikalität und Zustimmung behaupten<br />
können.“ Die Menschen in einer von Kaun-Kullukcu-Obalski imaginierten Zukunft kommen<br />
ohne Kontakte zueinander aus, lernen und existieren nur noch mittels Nanochips, die<br />
man mit der Luft einatmet, und ähneln eher Robotern als Menschen. In Lems „Robotermärchen“<br />
leben die Roboter, die Menschen allerdings kommen nur noch als hässliche Bleichlinge<br />
vor. Die Technisierung ist beinahe vollendet. Die Theaterabende des Kollektivs sind Ausflüge<br />
in ein Multimedialabor, in dem künstliche Stimmen, Projektionen, Industrie- und Kriegslärm<br />
sowie Musik live gespielt, gefilmt und gesampelt werden. Das Publikum sieht den Herstellern<br />
bei der Verfertigung ihres multimedialen Science-Fiction-Theaters zu. Die Jury empfiehlt<br />
für dieses im besten Sinne moderne Theaterprojekt eine Förderung von 28.000 €.<br />
ORPHEUS GbR/Martina Veh: „STYX orfeo's past now“<br />
Hinter der Produktionsfirma "Orpheus GbR", die das Projekt "STYX orfeo´s past now" herausbringen<br />
möchte, stehen die Namen Martina Veh, Christopher Robson und Alexander<br />
Strauch, drei Künstler, die in der freien Münchner Musik- und Theaterszene nicht vorgestellt<br />
werden müssen. Neu an diesem Projekt ist von den Machern aber die Behandlung der verschiedenen<br />
Zeit – Raum – Ebenen, die in die „alte“ Geschichte von Orpheus und Eurydice
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eingezogen werden: ein alter Orpheus, der als Museumswärter in einer Asservatenkammer<br />
unserer kulturellen Wurzeln auf seine bevorstehende Verrentung wartet; Ausstellungsstücke,<br />
deren letzte Aufgabe es ist, von der zu Ende gehenden Zeit eines verdämmernden<br />
Humanismus zu künden und die es immer noch nicht geschafft haben, die ihnen gemäße<br />
Plätze in ihrer Ausstellung zu finden; eine Frau namens „Eurydice“, deren pure Anwesenheit<br />
die Hörwelt von Orpheus (= die Musik Monteverdis) mit Klängen Neuer Musik überschneidet<br />
und somit die Erinnerung eines alten Mannes zum Verschwinden zu bringen droht. Damit<br />
wird gleichzeitig der Museumsraum als Gefäß für Vergangenes ad absurdum geführt.<br />
Das Projekt soll eine permanente Raum-, Vergangenheit-, Gegenwart-, Zukunft-, Privatheit-<br />
Öffentlichkeit-, Hör- und Sehgewohnheiten durcheinanderwirbelnde Grenzüberschreitung<br />
werden. Die künstlerischen Verfahren geben sich die Künstler/innen selbst in die Hand (z. B.<br />
über die Instrumentierung). Geichzeitig soll – ähnlich einem physikalischen Feldversuch –<br />
mit musiktheatralischem Handwerkszeug über das Verhältnis von privaten Erinnerungsfähigkeiten<br />
in Abhängigkeit von weltweit öffentlichen Kommunikationsherausforderungen geforscht<br />
werden. Die Jury empfiehlt daher eine Förderung von 42.000 €.<br />
Helga Pogatschar: „Leben + Tod von Nora Gomringer“<br />
Die Komponistin Helga Pogatschar will ein surreales Vexierspiel-Musiktheater schaffen, für<br />
das die bekannte Schriftstellerin Nora-Eugenie Gomringer ihre eigene Vita bis hin zu ihrem<br />
Tod schreibt. Drei Frauen (Gesang / Tanz / Schauspiel) auf der Bühne in verschiedenen Lebensabschnitten<br />
zeichnen das Leben der "Nora Gomringer" nach, denken es gleichzeitig<br />
vorweg und setzen diesem vorgegebenen Lebensentwurf ihren eigenen Widerstand entgegen.<br />
Dabei setzt Helga Pogatschar mit ihrer Komposition ganz auf die Formen "Kunstlied"<br />
und "Kammermusik", die von futuristischen und dokumentarischen Soundlandschaften ergänzt<br />
werden. Das ist nach Meinung der Jury eine förderungswürdige, weil konsequente<br />
Weiterentwicklung des kompositorischen Schaffens von Helga Pogatschar, die mit ihren<br />
Streichquartetten in MYSTERY und ABTEILUNG 13 eindrücklich unter Beweis gestellt hat,<br />
wie viel künstlerisches Potential gerade in den kleinen musikalischen Formen für die große<br />
Form Musiktheater zu entdecken ist.<br />
Ein Projekt, das nicht nur ein inhaltliches Vexierspiel zu werden verspricht, sondern auch absolute<br />
Musik und Formen des Musiktheaters in andere, in neue Beziehungen bringen und so<br />
der gängigen ästhetischen Praxis des zeitgenössischen Musiktheaters einen wichtigen Impuls<br />
geben kann. Die Jury empfiehlt daher eine Förderung in Höhe von 48.000 €.<br />
Sommertag GbR/Waltraud Lehner: „Sommertag“<br />
Der Komponist Nikolaus Brass, die Regisseurin Waltraud Lehner und die Kostümbildnerin<br />
Katherina Kopp haben sich zu einem Dreierteam zusammengeschlossen, um in dem Musiktheaterprojekt<br />
„Sommertag" Sprache, Musik und Bilderwelten in integraler Weise zu verbinden.<br />
Grundlage für „Sommertag" ist das gleichnamige Stück von Jon Fosse, dessen karge,<br />
aber rhythmisch reiche Sprache idealen Raum zur Musikalisierung bietet. Das Geschehen<br />
entwickelt sich gleichsam aus der „Musik" des Textes an der Schnittstelle zwischen Musiktheater<br />
und Klanginstallation. Alle Akteure greifen über die Hervorbringung von Musik hinaus<br />
in den szenischen Ablauf ein und agieren interaktiv miteinander und mit dem Zuschauer, der<br />
auf diese Weise Teil des Prozesses wird. In einem „integralen" Raum, in dem Zuschauerraum<br />
und Bühne nicht getrennt sind, geht es um Lebenszeit, um eine theatrale Umsetzung<br />
in Echtzeit.
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Dieses Konzept ist so spannend und überzeugend, dass gleich zwei Festivals außerhalb<br />
Münchens zugesagt haben, Folgeaufführungen zu realisieren. Die Zusammenarbeit mit<br />
renommierten Musiker/innen spricht dafür, dass eine Umsetzung des Projektes auf einem<br />
sehr hohem Niveau zu erwarten ist. Daher befürwortet die Jury die Förderung des Projekts<br />
„Sommertag" mit einem Betrag von 55.000 €.<br />
Testset GbR/Gesche Piening: „Kunst von glücklichen Künstlern"<br />
Testset, das sind die Schauspielerin und Regisseurin Gesche Piening und der Medienkünstler<br />
und Designer Ralph Drechsel. Mit ihrem einigermaßen provokanten Projekt „Kunst von<br />
glücklichen Künstlern“ möchten sie den Standortvorteil der Stadt München dadurch signifikant<br />
erhöhen, dass ihre Gruppe Testset der Stadt ihre kreativen Ressourcen zur Verfügung<br />
stellt, und zwar durch saubere, man könnte auch sagen, faire Kunst. Dabei folgen sie dem<br />
Denkansatz, dass – analog zur artgerechten Hühnerhaltung – ein glücklicher, weil von ökonomischen<br />
Zwängen befreiter Künstler, mehr oder bessere Eier legt, in diesem Fall die bessere<br />
Kunst erzeugt. Dafür benötigt er wiederum Zeit, die ihm die Stadt in Form einer Förderung<br />
schenkt.<br />
In 15 Testsets wollen sie diese Hypothese unter Beweis stellen und der Stadt eine Rendite in<br />
Form von Kunstgenuss bzw. gehobener Freizeitgestaltung auszahlen. Rendite wird in der<br />
Regel von einer Firma erwirtschaftet, also verpacken sie ihr Projekt in eine Firmengründung,<br />
die vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden soll, zum Beispiel in Form einer öffentlichen<br />
Bilanzierung, einer Pressekonferenz im World-Wide-Web, einem Investorenstammtisch, einem<br />
Geschäftsbericht, einer offiziellen Labeleröffnung oder einem Hörbuch. Der Projektantrag<br />
spielt intelligent mit den Stereotypen von Marketing und Verkauf, experimentiert mit der<br />
Selbstreflexion von Künstlern, stellt sie in den ihnen sonst fremden Zusammenhang mit<br />
Mehrwerterzeugung und behauptet: „Unser Ziel ist die absolute Bereicherung“. Die Jury ist<br />
neugierig auf die dramaturgische und performative Umsetzung dieses Experiments und befürwortet<br />
eine Förderung mit 30.000 €.<br />
Theater FischundPlastik/Eos Schopohl: „Wellen - eine Suche nach dem verlorenen<br />
Ich“<br />
Eos Schopohl und ihr Theater FischundPlastik erkunden seit vielen Jahren fremde Spielorte.<br />
Ihr Thema ist die kulturelle Identität von Menschen. In zahlreichen Projekten hat Eos<br />
Schopohl mit einem bewährten Team seit 1993 transnationale Projekte mit internationalen<br />
Darstellern auf die Bühne gestellt und dabei einen klugen Umgang mit literarischen und dramatischen<br />
Texten bewiesen. In ihrem neuen Projekt wird sie mit zwölf Schauspielern verschiedener<br />
Sprachen und Nationen die literarischen Figuren aus Virgina Woolfs „Wellen“ mit<br />
den Schicksalen und Identitäten von Menschen aus den Kolonien verknüpfen, die Großbritannien<br />
vor dem Zusammenbruch des britischen Empires beherrschte. Damit sollen die<br />
Spätfolgen der Kolonisation aufgezeigt werden: Viele Menschen fliehen aus diesen Gebieten,<br />
in denen heute Krieg oder Armut herrscht, in die erste Welt. Sie erleiden einen Bruch in<br />
ihrer Biografie, da sie ihren gesellschaftlichen Status verlieren und nicht mehr als Individuen<br />
wahrgenommen werden. In einer Art Überblendungstechnik legt Eos Schopohl die tatsächlichen<br />
Biografien der Darsteller über die der Romanfiguren, spiegelt das Vertraute im Fremden<br />
und betont die Schnittmengen der verschiedenen Charaktere. Mit der leerstehenden<br />
Kantine der Bayernkaserne hat die Regisseurin einen Spielort gewählt, der die gesellschaftliche<br />
Brisanz des Themas zum Tragen bringt, sind dort doch Asylbewerber untergebracht. Die<br />
Jury ist gespannt auf eine intelligente und auch literarisch anspruchsvolle Auseinanderset-
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zung mit dem hochaktuellen Thema Fremdsein und Migration und befürwortet eine Förderung<br />
in Höhe von 50.000 €.<br />
Jörg Witte: „Fast ein bisschen Frühling“<br />
In "Fast ein bisschen Frühling" (eine wahre Geschichte nach dem gleichnamigen Roman von<br />
Alex Capus) wird die Geschichte von zwei Männern - Kurt Sandweg und Waldemar Velte -<br />
erzählt, die sich zu Beginn des Dritten Reiches auf den Weg nach Indien machen, um ein<br />
besseres Leben zu finden. Da sie mittellos sind, begehen sie kurz nach Beginn ihrer Reise<br />
ihren ersten Bankraub und erschießen zwei Bankangestellte. Ab jetzt sind sie auf der Flucht.<br />
In Basel verliebt sich Waldemar in die Schallplattenverkäuferin Dorly, die von den beiden lebensfrohen<br />
Männern bezaubert ist. Die Beiden versuchen, in Basel das notwendige Geld<br />
durch weitere Banküberfälle zu erbeuten. Sieben Menschen verlieren ihr Leben. Am Ende erschießen<br />
die beiden Männer sich selbst. So weit eine normale "Bonnie and Clyde" – Geschichte.<br />
Das Besondere dieses Abends entsteht jedoch durch die Festlegung der Perspektive,<br />
aus der die Geschichte erzählt wird: Dorlys Sehnsucht nach Glück, das nie geborene<br />
Kind von Dorly, Waldemar als Baby-Puppe und gleichzeitig eine permanente "Was wäre gewesen,<br />
wenn ..." Variante. Die Geschichte wird vor den Augen der Zuschauer verhandelt. Es<br />
gibt kein Gericht, keinen Richter, die Form ist trotzdem die der Verhandlung, der Verhandlung<br />
der Figuren und der Beteiligten untereinander.<br />
Konsequent wird dadurch die weitere Besetzung entwickelt: Dorly wird gespielt von einer<br />
Performerin, die sich selbst zum Geschehen verhalten kann. Die beiden Männer sind Puppen,<br />
die sich beschweren, Falsches von sich erzählen können und versuchen, sich in ein<br />
besseres Licht zu stellen. Der Puppenspieler, der sie führt, kann aus- und einsteigen, die<br />
Puppen teilhaben lassen an der Geschichte, sie vorantreiben oder anhalten und natürlich<br />
sich auch selbst äußern. Alle - auch die Musikerin - spielen mit-, aber auch gegeneinander;<br />
sie versuchen die Zuschauer, die einer Verhandlung beiwohnen, auf ihre Seite zu bringen,<br />
sie nach ihrer Meinung zu befragen, sie zu ihren Komplizen zu machen.<br />
Die vorgesehene Besetzungsstruktur lässt außergewöhnliche Möglichkeiten vielschichtiger<br />
Figureninteraktionen zu, die direkt zu der eigentlichen Frage dieser Produktion führt: was<br />
dürfen, was müssen, was können wir riskieren, um in unserer Gesellschaft individuelles<br />
Glück zumindest partiell zu verwirklichen. Die Jury empfiehlt eine Förderung von 27.000 €.<br />
Debütförderung<br />
CADAM/Dominik Müller: „Germania - Next Topmodel (AT)“<br />
Auf der Grundlage der Fernsehserie „Germany’s Next Top Model (GNTM)“ von Heidi Klum<br />
wollen sich Dominik Müller und Anna Wieczorek als künstlerische Projektleiter mit der Geschichte<br />
des deutschen Frauenbilds auseinandersetzen – von „Germania“ bis zum weiblichen<br />
Topmodel heute. Das Projekt macht sich auf die performative Suche nach Posen und<br />
Bewegungen, die typisch sind für deutsche Frauenbilder, untersucht ihre leitmotivische Funktion<br />
seit dem 19. Jahrhundert, bis zu heutigen Model- und Sexposen in Werbung, Film, Fernsehen<br />
und Printmedien. (Die neuerlich begonnene „Sexismus“- Debatte qualifiziert das Projekt<br />
geradezu als top-aktuell.) Gezeigt werden Film- und Fernsehbeispiele, historische und<br />
aktuelle Quellen in Form von Textpassagen, Videoausschnitten, Musikeinspielungen und verschiedenen<br />
O-Tonfolgen. Im Mittelpunkt soll ein Performer stehen, der sich mit diesen Rollenbildern<br />
im Kontext und den ihnen zugeordneten Bewegungen und Posen auseinandersetzt<br />
und mit seinem Performerkörper in einen multimedialen Dialog tritt. Die Projektleiter/innen<br />
wollen zudem ein wissenschaftlich-theoretisches Begleitprogramm in Diskussionen mit<br />
Gendertheoretiker/innen, Theater- und Medienwissenchaftler/innen erstellen. Die ästhetische
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Umsetzung ihrer Ideen ist allerdings noch offen, sie befinden sich auf der Suche nach einem<br />
speziellen Performer, „einer Art von Körperlichkeit auf der Bühne, wie es sie in München<br />
bislang selten zu sehen gab“. Die Jury befürwortet – nach einem Pilotprojekt im Bereich Tanz<br />
– die Vergabe einer Debütförderung im Bereich Theater an CADAM in Höhe von 12.000 €.<br />
Arbeits- und Fortbildungsstipendiien<br />
Emre Akal und Tunay Önder: Forschungsprojekt „Wörterayntoff“<br />
Tunay Önder, gebürtige Münchnerin mit türkisch-tscherkessischem Migrationshintergrund, ist<br />
freischaffende Soziologin und Ethnologin. Sie studierte in Istanbul und Heidelberg und arbeitet<br />
seit 2009 als Bloggerin, Regieassistentin und Projektleiterin für zahlreiche Dokumentarprojekte<br />
in der Freien Szene und an den Münchner Kammerspielen, wie zum Beispiel „Gleis<br />
11“ von Christine Umpfenbach. Sie leitete dort auch die Redaktion für den Stadtatlas „südliches<br />
Bahnhofsviertel München“. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf dem Thema Migration.<br />
Emre Akal ist gebürtiger Münchner mit türkisch-griechischem, albanisch-georgischem,<br />
sefardischem Hintergrund. Er ist Autor zahlreicher Theaterstücke, Schauspieler und Regisseur.<br />
Als Autor und Regisseur der Performance „Die Schafspelzratten. Eine migrantische Live-Studie“<br />
im Import-Export erhielt er im Jahr 2012 eine Debütförderung der Landeshaupstadt<br />
München im Bereich Theater.<br />
Beide Künstler stellen als Dokumentaristen gemeinsam den Antrag auf ein Stipendium für<br />
eine Recherche zu neuen zweisprachigen Wortzusammensetzungen und -neuschöpfungen,<br />
die sie in einem Wortatlas zusammenführen und präsentieren wollen, den sie mit Witz “Wörterayntoff“<br />
nennen, was so viel bedeutet wie „Wörtereintopf“. Schon in dieser Sprachneuschöpfung<br />
lässt sich der Reichtum erkennen, der in der Vielfalt und Originalität gegenwärtiger<br />
Sprach- und Sprechwelten in Deutschland vorhanden ist. Sie wollen auf die Suche gehen,<br />
recherchieren, Wörter sammeln für ihren „Wörterayntoff“ wie „schutudgart“ – Stuttgart<br />
oder „doycland“ – Deutschland und andere mehr, um ihn später als wundersame Originalitäts-<br />
und Qualitätsschöpfung in Form einer Installation und multimedialen Inszenierung vorzustellen.<br />
Über die originäre Idee dieser neuen Art von Sprachforschung, die den Zusammenstoß<br />
verschiedener Kulturen nicht negativ als Clash zeigt, sondern mit Humor und Esprit<br />
die positiven Seiten eines interkulturellen Miteinanders darstellt, hat sich die Jury gefreut und<br />
empfiehlt die Vergabe eines Arbeitsstipendiums in Höhe von 4.000 €.<br />
Institut für Glücksfindung/Stefanie Fleckenstein: Veröffentlichung der<br />
„Forschungsberichte“<br />
Das Kollektiv '“Institut für Glücksfindung“, das basierend auf einer Idee von Peter Kroher im<br />
Jahr 2010 von Michael Bischoff und Florian von Hoermann initiiert wurde, bewegt sich auf<br />
dem Grat der darstellenden und bildenden Kunst. Seither bereicherte das Institut die Münchner<br />
Theaterszene mit Interventionen und Performances. Das Institut forscht interdisziplinär<br />
auf der Suche nach einem Arbeits- und Darstellungsstil. Bei dem 2010 geförderten Projekt<br />
#EINS und der Wiederaufnahme und Erweiterung mit #ANDERTHALB wurde der Zuschauer<br />
in einer kaleidoskopischen Raum- und Charakterencollage auf der teils erschütternde, teils<br />
versöhnliche Glückssuche mitgenommen. Philosophisches Denken und individuelles Empfinden<br />
setzen die Kontraste, aus denen die Collage entsteht, die ein facettenreiches Gebilde<br />
aufbaut. Bei dem gefördertem Projekt #SIEBEN.SIEBEN ging das Kollektiv im Rahmen einer<br />
Feldforschung auf die Suche nach „Widerständen“ im Stadtraum. Bei dem Antrag auf ein Arbeitsstipendium<br />
sollen die bisherigen Projekte des „Instituts für Glücksfindung“ in einer Publikation<br />
zusammengefasst, hinterfragt und präsentiert werden. Das Thema ist das Ausloten
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der Spannweite von Archiv und Performance. Der Bericht soll aus Essays und Interviews<br />
zusammengesetzt werden, d. h. aus Material, das auf der Forschungsreise des Instituts<br />
gesammelt wurde. Das „Institut für Glücksfindung“ nutzt bewusst mit seiner<br />
Namensgestaltung eine Anleihe aus der Wissenschaft. Es geht aber hier um künstlerischassoziative<br />
Forschung. Die Jury ist von der kollektiven Kraft des Instituts überzeugt und sieht<br />
die gewählte Form der künstlerischen Dokumentation als ein, für das Arbeitsstipendium<br />
geeignetes Format an.<br />
Christina Ruf: Recherche „Performance-Reihe ABCC11“<br />
Seit fast zwanzig Jahren entwirft Christina Ruf theatrale Projekte, die sich im Dialog mit dem<br />
Privaten und dem Öffentlichen unseres städtischen Zusammenlebens befassen. Forschungsobjekt<br />
sind akustisch-visuelle, real-virtuelle Räume. Sie werden Bühne und Kulisse.<br />
In der Vorbereitung der Performance-Reihe „ABCC11“ will Christina Ruf sich mit gemeinschaftlichen<br />
Wohnformen beschäftigen. Sie sucht sich dazu zwei prototypische Architekturexperimente<br />
aus - die „Unité d' Habitation“ in Marseille und das Dominikanerkloster „La Tourette“<br />
bei Lyon von Le Corbusier. Christina Ruf will teilhaben am alltäglichen Leben an den<br />
beiden Orten - heute und jetzt. Sie will Interviews führen und diese dokumentieren. Die<br />
Künstlerin will die ursprünglichen architektonischen Utopien reflektieren und den Bezug zum<br />
heutigen Lebensalltag der beiden Häuser bringen. Ihr Vorhaben befasst sich mit der<br />
„Dis/Harmonie“ der ursprünglich utopisch gedachten, gemeinschaftlichen Wohnformen. Die<br />
Jury spricht sich dafür aus, diese künstlerisch-soziologische Recherche von Christina Ruf mit<br />
einem Arbeitsstipendium zu fördern.<br />
Optionsförderung für freie Tanzgruppen<br />
Micha Purucker<br />
Micha Purucker greift mit seinen künstlerischen Vorhaben aktiv in den kulturellen Definitionsprozess<br />
ein, wenn er in seinem neuen Projekt "un.lock(pilot)/"after dark(grossform)" die Einordnung<br />
von Tanz als einem blossen, weiteren Zeichensystem in den Kunstkanon in Frage<br />
stellt und die Einzigartigkeit der Kommunikation von und mit Körpern in den Fokus rückt. Dieser<br />
künstlerische Ansatz setzt sich in "topologie(pilot)"/"archival beach(grossform)" fort:<br />
Tanz(geschichte) wird hier nicht verwaltend, technisch-wissenschaftlich dem allgemeinen<br />
kulturellen Überbau untergeordnet, sondern es geht darum, das Spezifikum von "Erlebbarkeit"<br />
in je einer Zeit im Wortsinn herauszuarbeiten. Konsequenterweise wird Micha Purucker<br />
als Verstetigung der Einzelvorhaben und seines künstlerischen Grundansatzes mit dem permanenten,<br />
explizit nichtmusealen Projekt "c.a.b.a.n.e" eine Plattform für zukunftsorientierte<br />
Fragestellungen in den (Stadt-)Raum stellen. Die Jury ist der Überzeugung, dass Micha Purucker<br />
mit den beschriebenen Projekten wesentliche Schritte zur Fortentwicklung und Einordnung<br />
der Tanzkunst einleiten wird und spricht sich deshalb ein weiteres Mal für die Gewährung<br />
einer Optionsförderung in Höhe von 65.000 € aus.<br />
Anna Konjetzky<br />
Mit ihren präzise gearbeiteten Produktionen, die an der Schnittstelle zu und in Auseinandersetzung<br />
mit anderen Künsten, vornehmlich der Bildenden Kunst und der Musik entstehen,<br />
erforscht die Choreographin Anna Konjetzky die Wechselwirkungen von Körper und Raum<br />
und deren Wahrnehmung. Mit immer wieder neuen Raumanordnungen und Zuschauerkonstellationen<br />
belebt sie seit Jahren nicht nur die Münchner Tanzszene. In den nächsten Jahren<br />
wird Anna Konjetzky dieses Grundthema erweitern, auch in der Anzahl der beteiligten
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Tänzer. Ihre vielseitigen und detaillierten Pläne für 2013 bis 2015 sehen internationale Residenzen,<br />
Gastspiele und Kooperationen vor. International bedeutet bei der Künstlerin vor allem<br />
eine interkulturelle Forschungsreise und Arbeitsweise, die eine Auseinandersetzung mit<br />
Körper-und Kunstkonzepten beinhaltet. Aus diesem Grund wird Anna Konjetzky 2013 zunächst<br />
ein Projekt mit 6 europäischen und 6 vietnamesischen Tänzern realisieren, das sowohl<br />
in München als auch in Hanoi, in Kooperation mit Hanoi National Opera and Ballet, erarbeitet<br />
und gezeigt werden soll. Ausgehend von Momenten mit „spezieller Intensität, Spannung<br />
und Atmosphäre“, wie man sie erlebt, kurz vor oder nach einem Ereignis, soll in On the<br />
edge ein Chor von 12 Tänzern auf einer Schräge frontal zum Publikum mittels einer abstrakten<br />
Komposition aus kleinen Kommunikationsgesten und Bewegungen ein Flirren, auch von<br />
Assoziationen, entstehen lassen. Die von den Tänzern erzeugten Töne, wie z. B. Atmen, und<br />
der vorhandene Raumklang werden in einer Soundinstallation verstärkt. Mit dem ebenfalls<br />
für 2013 geplanten Projekt Cadavre Exquis werden Fragen der Identität im Informationszeitalter<br />
aufgegriffen und in Anlehnung an das surrealistische, kollektive Zeichenverfahren des<br />
„Cadavre Exquis“ in enger Zusammenarbeit mit einem Komponisten im Klangdom, visuell<br />
und akustisch in durchaus zeitgenössischer technischer Umsetzung, mit einer Tänzerin realisiert.<br />
2014 wird die Choreografin bei der Festivalinitiative global city local city mit einem Beitrag<br />
vertreten sein. Zudem ist mit zeitgleichzeitgleich ein Projekt geplant, das hinterfragt, inwieweit<br />
der Zuschauer heute noch für eine Live-Tanz-Veranstaltung notwendig ist, und das in<br />
Anlehnung an die beim Fußball üblichen Phantomspiele den herkömmlichen Bühnenraum<br />
erweitern wird. Mit zwei weiteren Projekten wird das Jahr 2015 bestritten: ein Musik-Tanztheater<br />
für 14 Tänzer und 6 Musiker in Zusammenarbeit mit der Komponistin Laura Konjetzky<br />
greift die historische „Tanzwut“ auf und verrückt die Perspektive von Zuschauern und Tänzern.<br />
Daneben ist ein Tanztheaterstück für Kinder in Kooperation mit dem Theater Marburg<br />
geplant. Die Jury vertraut der Energie und professionellen Konsequenz der Künstlerin und<br />
spricht sich daher für eine Optionsförderung in Höhe von 60 000 € aus.<br />
Einzelprojektförderung für freie Tanzgruppen<br />
Sebastian Blasius: „Erasing Café M“<br />
Der Choreograph, Regisseur und Theaterwissenschaftler Sebastian Blasius wird in diesem<br />
Jahr die prominente Inszenierung "Café Müller" von Pina Bausch rekonstruieren, um in der<br />
Konfrontation mit dem Vergangenen dem gegenwärtigen Verständnis neue Blickwinkel aufzuzeigen<br />
und es aus den archivarischen und musealen Prozessen zu entrücken. Sebastian<br />
Blasius hat bereits in seinen früheren Produktionen ein innovatives und detailgenaues Arbeitsresultat<br />
geschaffen, das den Zuschauer durch den spezifischen Umgang mit Text-,<br />
Raum- und Klangbearbeitung in ein besonderes Rezeptionserlebnis stellt. Auf diese Weise<br />
bricht Sebastian Blasius Wahrnehmungsprozesse auf: Bei diesem Vorhaben zielt die Begegnung<br />
mit dem Fremden, im Diskurs um das schon Bekannte, auf die Erweiterung des eigenen<br />
Selbstverständnisses, was der Komplexität unserer Zeit als eine Art Antwortvorschlag<br />
entgegengestellt wird. Nachdem Sebastian Blasius im Jahre 2012 für sein Projekt "Woyzeck<br />
überschreiben" eine Debütförderung erhalten hatte und mit dem Ergebnis dieser Arbeit eine<br />
deutliche Spur eigensinnigen Zugangs zu historischen Stoffen und deren "Reenactment" in<br />
München hinterließ, empfiehlt die Jury, sein diesjähriges Projekt "Erasing Café M" mit einem<br />
Betrag in Höhe von 25.000 € zu fördern.<br />
Stefan Dreher: „Dancing Days“<br />
Der Tänzer und Choreograf Stefan Dreher hat in den vergangenen Jahren mit einer Reihe<br />
von Arbeiten hoher künstlerischer Substanz die Münchner Tanzszene bereichert. Zuletzt
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setzte er sich in dem vom Kulturreferat geförderten Projekt „Tanzschrift“ produktiv mit dem<br />
komplexen Problem der Tanznotation auseinander, was zu verschiedenen Arbeiten an teilweise<br />
ungewöhnlichen Aufführungsorten führte. Mit „Dancing Days“ schlägt Stefan Dreher<br />
nun das Projekt eines 24-stündigen Tanzmarathons vor, der – anknüpfend an die amerikanische<br />
Tradition solcher Veranstaltungen seit den 20er Jahren – das Spektakuläre und Exzessive<br />
dieses Formats befragt und in Verbindung mit Bezug auf minimal music und livestream<br />
ein choreografisches Konzept dafür entwickelt. Stefan Drehers Arbeit zeichnet sich durch<br />
große Sensibilität, Musikalität, künstlerische Relevanz und Experimentierfreude aus. Die Jury<br />
empfiehlt daher eine Förderung des Projekts „Dancing Days“ mit einem Betrag in Höhe von<br />
40.000 €.<br />
Stephan Herwig: „Editorial bareback“<br />
Als Tänzer (u. a. für Micha Purucker und Sabine Glenz) hat Stephan Herwig die Münchener<br />
freie Tanzszene seit langem mitgeprägt; als Choreograf emanzipiert er sich in den letzten<br />
Jahren zusehends. Seine Themenwahl war, nicht nur für einen noch jungen Künstler, immer<br />
ungewöhnlich und ambitioniert. Auch in der Realisierung orientierte er sich nie an stilistischen<br />
Klischees. Stephan Herwig verfügt über ein auffallend gutes Gespür sowohl für den<br />
Raum (und seine durch Licht variablen Dimensionen) als auch bei der Auswahl seiner Tänzer.<br />
Das Gesamtbild behält er, obwohl er in seinen Produktionen selbst tanzt, immer im<br />
Auge. Zwischen „Alien“ (2007) und „In This Very Moment“ (2012) bildete sich sein Stil heraus.<br />
Stephan Herwig wurde der Raum-Atmosphäriker. Man erwartet von ihm keine thematische<br />
Psychologie, keine Konkretion, was schon Stücktitel wie „Calabi Yau“ (2009) oder „Somewhere“<br />
(2010) unterstreichen. Mit dem aktuellen Projektantrag „Editorial bareback“ verlässt<br />
er diesen Weg. Zum ersten Mal will er sich einem konkreten kulturpolitischen Thema<br />
zuwenden. Gibt es eine schwule Ästhetik? Einen schwulen Blick? Es ist lange her, dass<br />
schwule Ikonen – Derek Jarman, Rainer Werner Fassbinder, Andy Warhol u. a. – die Kunst<br />
geprägt haben. Die Zeiten haben sich geändert, und die einst erkämpfte Freizügigkeit bedroht<br />
ein politischer und gesellschaftlicher Rollback.<br />
Die Jury hält diese Thematik für sehr aktuell und unterstützt es gerne, dass sich Stephan<br />
Herwig auf für ihn neues künstlerisches und methodisches Terrain begeben möchte. Aus diesem<br />
Grund empfiehlt die Jury die Aufnahme von Stephan Herwigs „Editorial bareback“ zur<br />
Förderung in Höhe von 40.000 €.<br />
Richard Siegal: „Bewegung und Klang“<br />
Im Mittelpunkt der Arbeit des Tänzers und Choreographen Richard Siegal steht seit langem<br />
die interdisziplinäre Erprobung neuer Formen des zeitgenössischen Tanzes. 2005 gründete<br />
er die Plattform The Bakery (Berlin und Paris) und realisierte seither Projekte auch mittels<br />
der von ihm entwickelten if/then-Methode, die Choreografien an logische Gleichungen aus<br />
Naturwissenschaft und Informatik anbindet. Vielfach ausgezeichnet – u. a. mit dem deutschen<br />
Theaterpreis Der Faust 2010 in der Sparte Darstellerische Leistung Tanz – hat Siegal<br />
in den letzten Jahren, auch durch die Optionsförderung des Kulturreferats 2010-2012, eine<br />
Reihe international aufsehenerregender Produktionen in München realisieren können, so<br />
©oPirates (2010), CivicMimic (2011) und zuletzt Black Swan beim Festival für zeitgenössischen<br />
Tanz Dance2012. Für sein neues Projekt Bewegung und Klang knüpft Richard Siegal<br />
an frühere Arbeiten mit Musikern an und plant eine Zusammenarbeit mit dem renommierten<br />
Asasello Quartett. Dabei interagieren und kooperieren Musik und Choreographie und entwickeln<br />
gemeinsam einen Dialog, der die herkömmlichen Rezeptionsweisen von Tanz und Musik<br />
aufzubrechen und zu erweitern verspricht. Die Jury empfiehlt eine Förderung des Projektes<br />
„Bewegung und Klang“ mit einem Beitrag in Höhe von 40.000 €.