RAINER MARIA RILKE
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Rainer Maria Rilke<br />
FRAGMENT VON DEN EINSAMEN' 1903<br />
Spricht nicht vielmehr die sicherste Stimme in uns davon, daß der Wind, der in dem werdenden Werke<br />
war, über seine Ränder hinaus gewirkt hat auf Blumen und Tiere, auf Niederschläge und Neigungen<br />
und auf die Geburten der Frauen? Wer weiß, ob nicht dieses Bild, diese Statue oder jenes vergangene<br />
Gedicht nur die erste und nächste unter vielen Verwandlungen war, die des Handelnden Kraft im<br />
Augenblicke ihrer Verklärung vollzog? Die Zellen entlegener Dinge haben sich vielleicht nach den<br />
entstehenden Rhythmen geordnet, der Anlaß zu neuen Arten war da, und es ist nicht unmöglich, daß<br />
wir anders geworden sind durch die Macht eines einsamen Dichters, der vor Hunderten von Jahren<br />
gelebt hat und von dem wir nichts wissen. Oder giebt es jemanden, der im Ernste meint, eines Heiligen<br />
Gebet, der unsäglich verlassene Sterbetag eines Kindes oder die Einzelhaft eines großen Verbrechers<br />
könnten so zergangen sein wie ein Ja und ein Nein oder wie der Lärm einer Türe, die zufällt?<br />
Aus: Fragment von den Einsamen, 1903<br />
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