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RAINER MARIA RILKE

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<strong>RAINER</strong> <strong>MARIA</strong> <strong>RILKE</strong><br />

Fragment von den Einsamen<br />

Schwer haben es die Einsamen.<br />

Die Eltern erschrecken, wenn sie an ihren Kindern die leise Neigung entdecken, allein zu sein;<br />

unheimlich scheinen ihnen jene scheuen Knaben, die schon frühe ihre eigenen Freuden haben und ihr<br />

eigenes Leid; Fremde sind sie in der Familie, Eindringlinge und feindliche Beobachter, und der Haß<br />

gegen sie wächst von Tag zu Tag und ist schon ganz groß wenn sie noch klein sind. So fangen Leben an,<br />

Schicksale beginnen so in der Tiefe der Tränen, jene chicksale, welche uns nicht überliefert sind, weil das<br />

Gespräch einer Dienstmagd oder das Knattern eines Wagens sie übertönt.<br />

Stellt euch nur vor jenes Fenster; ich fühle doch, daß dahinter in unendlicher Bangnis ein Leben<br />

aufschluchzt, das zur Einsamkeit steigt wie ein steiler Weg. Lacht nur in jenem Haus und schlagt mit den<br />

Türen; ich höre doch das Herz eines Mädchens, das Angst hat, wie eine große Glocke schlägt es in mir.<br />

Ich kann nicht hinaustreten in die Nacht, ohne von allen den jungen Menschen zu wissen, die wachen;<br />

der Klang, mit dem ihre Fenster aufgehen, zittert in mir, die vorsichtigen und bangen Gebärden ihrer<br />

Hände rühren sich in den meinen. Ich wünsche mich nicht zu ihnen hin, denn was könnte ich ihnen<br />

sagen, das mehr wäre als ihr Schmerz oder erhabener als ihr Schweigen. Ich störe sie nicht. Aber ich bin<br />

ganz davon erfüllt, daß das Leben jener Einsamen eine von den großen Kräften ist, die auf mich wirken<br />

aus der Tiefe der Nacht. Sie erreichen mich, sie verwandeln mich, und es giebtStellen in mir, die ganz<br />

hell sind und still in dem Lichte liegen, das von ihnen ausgeht.<br />

Ich glaube nicht, daß es noch eine andere Gemeinsamkeit giebt, oder eine Berührung, die näher ist.<br />

Aber ich denke, wenn diese jungen Menschen, die einsam sind, so auf mich einstrahlen und einströmen<br />

aus den fremden Fernen der Nacht, obwohl sie nichts tun als traurig am Fenster stehn, welche Gewalt<br />

müssen gewisse Einsame über mein Leben haben, die froh sind und voll innerer Handlung? Und es ist<br />

mir, als wäre es für diese Einflüsse gleichgültig, ob die Einsamen, welche sie wirken, im Leben sind oder<br />

Namen unter den Toten.<br />

Weiß man es nicht, daß des Einsamen Schicksal in anderer Richtung vergeht als die von der Zeit<br />

ergriffenen Schicksale der Menge? Es fällt nicht schwer zurück ins Vergangene, sein Geschehen ist kein<br />

Ende und keine Ermüdung folgt ihm nach; des Einsamen Tat, ja sein Lächeln sogar, sein Traum und<br />

seine geringste Gebärde stehen auf, wie Ausgeruhtes aufsteht, und gehn in die Zukunft hinein, gehn<br />

ohne Ende. Sollte man es wirklich vergessen haben, daß der Atem der Einsamen uns umgiebt, daß das<br />

Rauschen ihres Blutes wie ein nahes Meer unsere Stille erfüllt, daß ihre schweren Stunden Gestirne und<br />

Stern-Bilder sind in unseren dunkelsten Nächten.<br />

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