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RAINER MARIA RILKE

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<strong>RAINER</strong> <strong>MARIA</strong> <strong>RILKE</strong><br />

Fragment von den Einsamen<br />

Ihr großen Ereignisse, ihr Schlachten und Friedensschlüsse, ihr Fügungen und Zufälle<br />

und ihr, Begegnungen, Gesten und entfernte Gestalten, ihr seid vergangen wie die Gastmähler, die vor<br />

Geladenen vergehn, wie die Feste, zu denen Unfestliche sich zusammenfinden, wie die Abendandachten<br />

der Gottgewohnten.<br />

Vor vielen habt ihr euch vollzogen, wie das Spiel auf der Schaubühne, das zu einer gewissen Stunde<br />

enden muß und nichts sein. Vor ihnen allen, vor Hunderten von Neugierigen, habt ihr getanzt, den<br />

nackten Bauchtanz und die Schleiertänze des Schicksals und wie die Zauberer, die man auf den Märkten<br />

sieht, so wart ihr voll heimlicher Taschen und Überraschungen.<br />

Hättet ihr wenigstens Schlangen gehabt, Giftschlangen, in der Furcht eurer Flöten; Schlangen mit einem<br />

großen Gift, davon ein Tropfen genug ist um Geschlechter zu töten bis ins siebente Glied, - aber es<br />

hüpfte soviel harmloses Getier zu euerem Takte. Kartenschläger wart ihr, die das bißchen Gestern, das<br />

sie unredlich erschlichen hatten, umdrehten, es von hinten lasen wie ein armsäliges, einsilbiges Wort und<br />

beteuerten: so hieße die Zukunft.<br />

Man möchte euch, ihr gewesenen Schatten und Schicksale, unter die Dirnen zählen, und nichteinmal<br />

unter die größten; denn ihr seid alt geworden wie die Lustmädchen, denen ihr Leib ein geringes<br />

Gewerbe ist und ein billiges Trinkglas; ihr hattet ein langes Leben unter der Schminke und da schon alle<br />

euch genossen hatten, ihr Abgestandenen, und ihr immer noch lebtet, so wartetet ihr, daß die Knaben<br />

heranwüchsen, und begegnetet ihnen in der Dämmerung, bis sie Lust zu euch hatten, die Hülflosen.<br />

Wie eine Seuche wurdet ihr, ihr großen öffentlichen Ereignisse, weitergegeben von Blut zu Blut und<br />

verdorben habt ihr die Säfte der Männer und das Dunkel der Gebärmutter habt ihr mit bangen Bildern<br />

erfüllt. Ihr, die ihr schon vergangen wart, da ihr geschaht, ihr über und übervergangenen Vorgänge, ihr<br />

Historienbilder des Herzens, hängt euch nichtmehr an<br />

jene, die leben; denn ihr seid Lügen und Leblose, Leichname seid ihr voll Gift, Schwere und Fäulnis. Ihr<br />

Gemeinsamkeiten aus gestern und vorgestern, es war nicht mehr Wirklichkeit in euch als in allen den<br />

Gemeinsamkeiten von heute, die Mißverständnisse sind, Ermattungen und Meineide. Welcher Knabe,<br />

der sich vor seinen Eltern zurückzog und zuschloß, welches<br />

Mädchen, das auf den Gartenwegen lachend seine Freundinnen kommen hörte, hat nicht einen<br />

Herzschlag lang gewußt, daß es keine gemeinsamen Erlebnisse giebt und daß man nur Trennungen<br />

teilen kann und Abschiede.<br />

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