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RAINER MARIA RILKE

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<strong>RAINER</strong> <strong>MARIA</strong> <strong>RILKE</strong><br />

Fragment von den Einsamen<br />

Aber mehr als alle Umgebung, mehr als des Alltags leise geneigte Fläche hat das Zureden jener<br />

festlichen und fernen Einstimmigkeiten, mit welchen alle Überlieferungen angefüllt sind, die klar<br />

Erwachenden irre gemacht und beschlagen.<br />

Wie wund muß die harte, fortwährende Erfahrung diese weichen Werdenden gerieben haben, wenn sie<br />

bewies daß die Einsamen nichts sind und daß man sich, wenn sie nicht rechtzeitig mit der Weisheit ihrer<br />

Wüsten angetan, unter die Leute zurückkommen, über sie fort verständigt, wie über<br />

Gräber hin. Schon wagt man kaum mehr, darüber zu weinen, daß sie fast alle zurückgekehrt sind, ihr<br />

jahrelanges Schweigen wegschenkend in den Worten eines Abends, mit einer Gebärde ihrer heilenden<br />

Hand ihre gesammelte Seele ausstreuend, die unsagbar war.<br />

Im Klang ihrer Stimme, in einem Heben und Senken des Kinns, in einem unscheinbaren Lächeln, das<br />

keiner bemerkt hat, rinnen sie hin in das Nichts, während Worte, welche sie<br />

selber nicht meinen, in die Menschen eingehen und Staaten stiften. Und sie, die Einsamen, die<br />

fortgegangen sind, weil auf der ganzen Welt keiner war, der sie begriff, sie sind jetzt die<br />

Verständlichsten, der Gemeinplatz, auf dem alle zusammenkommen. Eine Bewegung entsteht, eine<br />

Welle wächst an, die ihren Namen (ihren Namen, ach, irgendeinen sinnlosen, abgefallenen Namen) trägt,<br />

hochträgt, tief trägt, ländet. Und von dieser Welle reden sie alle. Und von dieser Welle steht in den<br />

Büchern geschrieben. Und dieser Welle leerer schmetternder Lärm lebt in den Herzen der Menschen.<br />

Aber auch von jenen anderen Einsamen, die nicht zurückgekommen sind, wissen wir nichts. Man hat sie<br />

in ihren vergessenen Gräbern gesucht; die Talismane hat man aus ihren zerfallenen Fingern genommen,<br />

die Blumen-Blätter aus ihrem offenen Munde geholt und die Balsambüchsen, die bei ihrem Herzen<br />

standen hat man erbrochen. Und das Geräusch dieses Diebstahls ist weitergegeben worden, als ob es die<br />

Legende vom Leben jener Toten wäre; denn dieses Leben, das in Wirklichkeit einsam vergangen war,<br />

sollte mit einer Zeit verknüpft werden, sollte ein Leben unter vielen scheinen, ein kleines Glied in einer<br />

wirren Kette.<br />

Denn so will es die Menge.<br />

Sie will nicht, daß es Einsame giebt; schließ dich ein und sie wird sich sammeln vor deiner Tür wie vor<br />

der Tür eines Selbstmörders. Geh in den öffentlichen Gärten die kleinen Seiten-Alleen auf und nieder<br />

und sie wird auf dich mit den Fingern weisen. Sprich nicht zu deinem Nachbar, wenn er vor seiner Tür<br />

sitzt, geh gesenkten Hauptes an ihm vorbei, weil der Abend dich still macht, und er wird dir nachsehen<br />

und wird seine Frau oder seine Mutter rufen, damit sie käme, dich mit ihm zu hassen. Und es kann sein,<br />

daß seine Kinder dir Steine nachwerfen und dich verwunden.<br />

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