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RAINER MARIA RILKE

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<strong>RAINER</strong> <strong>MARIA</strong> <strong>RILKE</strong><br />

Fragment von den Einsamen<br />

Wenn es einmal irgendwo einen Schaffenden gegeben hat (und ich rede von den Schaffenden, weil sie zu<br />

den Einsamsten gehören) der in Tagen unsäglicher Sammlung die Welt eines Werkes schuf, kann es sein,<br />

daß dieses Lebens Fortschritt und Ferne uns verloren gegangen ist, weil die Zeit seines Werkes Gestalt<br />

zerschlagen hat, weil wir es nicht besitzen? Spricht nicht vielmehr die sicherste Stimme in uns davon,<br />

daß der Wind, der in dem werdenden Werke war, über seine Ränder hinaus gewirkt hat auf Blumen und<br />

Tiere, auf Niederschläge und Neigungen und auf die Geburten der Frauen? Wer weiß, ob nicht dieses<br />

Bild, diese Statue oder jenes vergangene Gedicht nur die erste und nächste unter vielen Verwandlungen<br />

war, die des Handelnden Kraft im Augenblicke ihrer Verklärung vollzog? Die Zellen entlegener Dinge<br />

haben sich vielleicht nach den entstehenden Rhythmen geordnet, der Anlaß zu neuen Arten war da, und<br />

es ist nicht unmöglich, daß wir anders geworden sind durch die Macht eines einsamen Dichters, der vor<br />

Hunderten von Jahren gelebt hat und von dem wir nichts wissen.<br />

Oder giebt es jemanden, der im Ernste meint, eines Heiligen Gebet, der unsäglich verlassene Sterbetag<br />

eines Kindes oder die Einzelhaft eines großen Verbrechers könnten so zergangen sein wie ein Ja und ein<br />

Nein oder wie der Lärm einer Türe, die zufällt?<br />

Ich glaube, daß alles, was wirklich geschieht, ohne Todesfurcht ist; ich glaube, daß die Willen<br />

langvergangener Menschen, daß die Bewegung, mit der sie ihre Hand in einem gewissen<br />

bedeutungsvollen Augenblick öffneten, daß das Lächeln, mit welchem sie an irgend einem fernen<br />

Fenster standen, - ich glaube, daß alle diese Erlebnisse von Einsamen in fortwährenden<br />

Verwandlungen unter uns leben. Sie sind da, vielleicht etwas abgerückt von uns nach der Seite der Dinge<br />

hin, aber sie sind da, gleich wie die Dinge da sind, und wie sie - ein Teil unseres Lebens.<br />

Rainer Maria Rilke<br />

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