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SALON<br />
Literaturen<br />
Religion<br />
Gegen den<br />
Werterelativismus<br />
Ronald Dworkin<br />
formuliert ein atheistisches<br />
Glaubensbekenntnis<br />
Faust, der Tragödie erster Teil. Zwei<br />
Frischverliebte im Garten: „Nun<br />
sag, wie hast du’s mit der Religion?“,<br />
will Gretchen von ihrem Verehrer wissen.<br />
Faust antwortet etwas zögerlich. Mit einem<br />
Schöpfer, der ihn zur Messe und in<br />
den Beichtstuhl zitiere, könne er wenig<br />
anfangen. Statt in der Kirche mache er<br />
Transzendenzerfahrungen lieber in der<br />
freien Natur oder beim wissenschaftlichen<br />
Studium.<br />
Kurz vor seinem Tod im Jahr 2013<br />
hat sich Ronald Dworkin, der liberale<br />
Star unter den amerikanischen Rechtsphilosophen,<br />
an eine aktualisierte Antwort<br />
auf die Gretchen-Frage gewagt.<br />
Folgt man seinem Begriffsverständnis,<br />
hätte Faust sich sehr wohl als religiösen<br />
Menschen bezeichnen dürfen. Dworkin,<br />
zu Lebzeiten als streitlustiger Intellektueller<br />
berüchtigt, gibt sich in seinem posthum<br />
erschienenen Buch „Religion ohne<br />
Gott“ als Schlichter zwischen Gottesfürchtigen<br />
und Atheisten, zu denen er<br />
sich selbst zählt. Demnach teilen die<br />
meisten Menschen, ob nun konfessionsfrei<br />
oder nicht, denselben „ursprünglich<br />
religiösen Impuls“: Es herrsche in der Regel<br />
Einigkeit darüber, dass Grausamkeit<br />
verwerflich und der Grand Canyon von<br />
überwältigender Schönheit sei. Könnte<br />
man angesichts dieser fundamentalen<br />
Übereinstimmung nicht einen Moment<br />
die Vorstellung eines höchsten Wesens<br />
mit Rauschebart, wie es einst von Michelangelo<br />
an die Decke der Sixtina gemalt<br />
wurde, beiseitelassen und sich vertragen?<br />
Wahrscheinlich werden sich Al-<br />
Qaida-Terroristen und militante Evangelikale<br />
in den USA von diesem Appell<br />
nicht beeindrucken lassen. Anderen mag<br />
die seit der Aufklärung proklamierte<br />
Überzeugung, dass moralische Grundsätze<br />
unabhängig von einem personalen<br />
Gott gelten, wenig originell erscheinen.<br />
Dennoch lohnt es sich, Dworkins Ausführungen<br />
im Detail zu folgen. Statt<br />
einer Sonntagspredigt für das säkularisierte<br />
Bewusstsein liefert er eine konsequent<br />
<strong>durch</strong>dachte Illustration jener<br />
Position, die unter Philosophen „Wertrealismus“<br />
genannt wird. So ist die Würde<br />
des Menschen für Dworkin nicht nur eine<br />
humanistische Behelfskonstruktion; die<br />
Schönheit des Universums ist nicht auf<br />
irgendeinen Mechanismus der menschlichen<br />
Psyche zurückzuführen. In beiden<br />
Fällen – umfassend hat er dies in<br />
seinem moralphilosophischen opus magnum<br />
„Gerechtigkeit für Igel“ (2012)<br />
erläutert – handelt es sich um „objektive<br />
Werte“, aus denen sich moralische<br />
Grundsätze ergeben, die ebenso wahr<br />
sind wie die Axiome der Mathematik. So<br />
geht es in diesem atheistischen Glaubensbekenntnis<br />
nicht nur darum, moderne<br />
Gotteskrieger zu entwaffnen. Ebenso<br />
entschieden widerspricht Dworkin dem<br />
postmodernen Relativismus, demzufolge<br />
moralische Maßstäbe <strong>durch</strong> jeweilige<br />
kulturelle Faktoren bedingt werden.<br />
Für einen Wertrealisten hingegen gibt es<br />
unanfechtbare Kriterien, nach denen sich<br />
ethische und politische Grundkonflikte<br />
eindeutig lösen lassen. So vertritt Dworkin<br />
bei der Abtreibung oder mit Blick auf<br />
die Schweizer Debatte um den Bau von<br />
Minaretten eine radikal liberale Position.<br />
Nur über die Prinzipien, auf die er<br />
seine Weltoffenheit stützt, lässt sich nicht<br />
diskutieren.<br />
Ein wenig konturlos fällt die säkularisierte<br />
Unsterblichkeitshoffnung im<br />
Schlusskapitel dennoch aus. Ein Leben,<br />
in dessen irdischem Verlauf Gutes<br />
zustande gebracht wird, kommt laut<br />
Dworkin einem Kunstwerk mit unvergänglichem<br />
Wert gleich. In diesem Zusammenhang<br />
verweist er auf einen<br />
Bewunderer Woody Allens, der dem<br />
Meister einst versicherte, dieser werde<br />
in seinen Werken ewig weiterleben. Allen<br />
fand diesen Gedanken nicht sonderlich<br />
tröstlich: Er würde das ewige Leben<br />
am liebsten in seinem New Yorker Apartment<br />
verbringen. Marianna Lieder<br />
Ronald Dworkin<br />
„Religion ohne Gott“<br />
Aus dem Amerikanischen von Eva Engels<br />
Suhrkamp, Berlin 2014. 145 S., 19,95 €<br />
Jugendbuch<br />
Wenn die Mutter<br />
verschwindet<br />
Tamara Bach erzählt eine<br />
Geschichte ohne Happy End,<br />
aber nicht ohne Hoffnung<br />
Der Tag, an dem Mareikes Mutter<br />
verschwindet, ist ein ganz normaler<br />
Donnerstag. Doch er setzt<br />
eine existenzielle Zäsur im Leben der<br />
17‐jährigen Gymnasiastin. Kein Unfall,<br />
kein Verbrechen, keine Krankheit, auch<br />
kein Suizid: Die Mutter hat sie, ihre beiden<br />
älteren Geschwister und ihren Vater<br />
verlassen. Es findet sich kein Abschiedsbrief,<br />
keine Erklärung. Und die, die etwas<br />
über die Hintergründe wissen müssten,<br />
der Vater, die studierende Schwester,<br />
der große Bruder, sie schweigen.<br />
So versetzt Tamara Bach die Heldin<br />
und Ich-Erzählerin ihres neuen Jugendromans<br />
„Marienbilder“ in einen Zustand<br />
völliger Verlassenheit, den sie im Verlauf<br />
des Buches auch nicht wird überwinden<br />
können. Im Gegenteil wachsen Beklemmung<br />
und Verlorenheit von Tag zu Tag.<br />
Der Vater verstummt fast völlig, die Geschwister<br />
versuchen pragmatisch klarzukommen,<br />
in Schule und Nachbarschaft<br />
gibt es Getuschel. Mareike wird schwanger,<br />
hat eine Fehlgeburt, niemand außer<br />
der Ärztin weiß davon.<br />
Gegen das äußere Schweigen setzt<br />
die preisgekrönte Autorin das innere<br />
Erzählen. Mareikes Gedankenexperimente,<br />
Entwürfe einer Geschichte der<br />
Frauen ihrer Familie und schließlich<br />
drei imaginierte Bahnfahrten als versuchte<br />
Rettung bilden den sprachmächtigen<br />
Kern dieses ungewöhnlichen Buches.<br />
Die Sehnsucht nach der haltenden Mutter<br />
auf den Marienbildern bleibt unerfüllt,<br />
doch die Kraft von Mareikes Sprache<br />
und Erfindungsreichtum lässt die<br />
Leser für sie hoffen. Britta Sebens<br />
Tamara Bach<br />
„Marienbilder“<br />
Carlsen, Hamburg 2014. 134 S., 13,90 €<br />
128<br />
<strong>Cicero</strong> – 7. 2014