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1 Sophie Wolfrum Antrittsvorlesung TUM 2004 Szene Stadt _ der ...

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<strong>Sophie</strong> <strong>Wolfrum</strong> <strong>Antrittsvorlesung</strong> <strong>TUM</strong> <strong>2004</strong><br />

<strong>Szene</strong> <strong>Stadt</strong> _ <strong>der</strong> Raum <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong><br />

„Wer hineingeht in das Innere dieser <strong>Stadt</strong>, weiß nie, was er als nächstes sieht<br />

o<strong>der</strong> von wem er im nächsten Augenblick gesehen wird. Kaum tritt einer auf, hat<br />

er die Bühne durch einen an<strong>der</strong>en Ausgang schon wie<strong>der</strong> verlassen. Diese kurzen<br />

Expositionen sind von einer geradezu theatralischen Obszönität und haben zugleich<br />

etwas von einer Verschwörung an sich, in die man ungefragt und unwillentlich<br />

einbezogen wird“. 1<br />

W.G. Sebald bedient sich bei <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Eigenart<br />

Venedigs einer direkten Analogie zwischen <strong>Stadt</strong> und Theater. Und Peter<br />

Brook reduziert in seiner oft zitierten Aussage Theater auf seine Essenz: „Ein<br />

Mann (Mensch) geht durch den Raum, ein an<strong>der</strong>er sieht ihm zu. das ist alles, was<br />

zu einer Theaterhandlung notwendig ist.“ Dem Verhältnis zwischen Darsteller und<br />

Zuschauer wird ein Raum geboten, seine Qualität wird durch einen Raum erzeugt.<br />

So kann man auch <strong>Stadt</strong> interpretieren.<br />

<strong>Stadt</strong> als Bühne<br />

<strong>Stadt</strong> und Theater sind beide komplexe kulturelle Artefakte. Eine Analogie zu entdecken,<br />

bedeutet nicht, alle Gemeinsamkeiten o<strong>der</strong> Strukturverwandschaften<br />

abzuhandeln. Es geht hier nicht um eine Analogie zum Theater im Sinne eines „so<br />

tun als ob“ und nicht um die <strong>Stadt</strong> als Bühnenbild, als aufgesetzter dekorativer<br />

Hintergrund banalen Alltags. 2 Thematisiert wird vielmehr eine spezielle Stilisierung<br />

des Verhaltens, die das Leben in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> bedingt.<br />

1<br />

Sebald 2001, S.60<br />

2 Es geht in diesem Text nicht um die Selbstdarstellung einer konsumistischen<br />

<strong>Szene</strong> und nicht um die seit den 70er Jahren aufgekommene und mit Recht in die<br />

Kritik geratene Inszenierung <strong>der</strong> Alltagswelt – den schönen Schein mit dem Verdacht<br />

<strong>der</strong> Verkleidung sozialer Wirklichkeit.<br />

1


Lewis Mumford 3 spricht in seinem Standardwerk über die Geschichte <strong>der</strong><br />

<strong>Stadt</strong> in diesem Sinne vom „städtischen Drama“. Der dramatische Dialog sei eine<br />

<strong>der</strong> elementarsten Ausdrucksformen städtischen Lebens – befriedend und kultivierend.<br />

Mumford geht als Historiker so weit, in diesem dramatischen Dialog „zugleich<br />

das vollendete Symbol und die letzte Rechtfertigung des Daseins <strong>der</strong><br />

<strong>Stadt</strong>“ zu sehen. 4 Richard Sennett 5 beschreibt diesen urbanen Dialog äußerst anschaulich:<br />

Spezifische Situationen ungewisser Information erfor<strong>der</strong>n ein adäquates<br />

Verhalten <strong>der</strong> Beteiligten. Typische Inszenierungsprobleme – die Begegnung einan<strong>der</strong><br />

frem<strong>der</strong> Menschen - erzeugen kodierte Verhaltensweisen, die ein geregeltes,<br />

Konflikte vermeidendes und zugleich offenes, Möglichkeiten bereithaltendes<br />

Zusammenleben gestatten.<br />

Hans Paul Bahrdt 6 entwickelt in seinen soziologischen Überlegungen zum<br />

Städtebau schon 1961 ein Verständnis von Öffentlichkeit, das von Darstellung<br />

und Repräsentation gekennzeichnet ist. Das Begriffspaar ist als Basic in die <strong>Stadt</strong>soziologie<br />

eingegangen.<br />

Darstellung bedeutet, alles das, was man kommunizieren will, so deutlich zu machen,<br />

dass es auch bei flüchtigem Kontakt zum Tragen kommt. Es genügt nicht,<br />

einfach Rücksicht zu nehmen, man muss sich ohne Missverständnisse verständlich<br />

machen, ohne sich zu kennen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite soll das verhüllt werden, was<br />

niemanden etwas angehen soll. Das bedingt eine Stilisierung von Verhalten, ein<br />

Aussenden von Zeichen, eine Geschicklichkeit an Ausdrucksformen, die sich <strong>der</strong><br />

Städter in <strong>der</strong> urbanen Öffentlichkeit erwirbt. Repräsentation bedeutet, in diesem<br />

flüchtigen Zusammenkommen auch etwas über das Individuum zu vermitteln. Etwas,<br />

das im Zusammenhang gemeinsamer Werte Anerkennung und Beachtung<br />

erzielt.<br />

3 Mumford 1979, S. 135 ff<br />

4 Mumford 1979, S.139, 140<br />

5<br />

Sennett 1986 , S. 60, 61<br />

6 Bahrdt 1961, S.39<br />

2


Damit sind nur einige <strong>der</strong> bekannteren Texte, eine kleine Auswahl aus einer<br />

Fülle von Texten zum Topos <strong>Stadt</strong> als Bühne in Erinnerung gebracht. Inszenierung,<br />

Auftritt, Drama, Darstellung: Die Worte sind aus <strong>der</strong> Sprache des Theaters<br />

entnommen. Sie meinen nicht Schauspiel im Sinne eines stellvertretenden Handelns,<br />

son<strong>der</strong>n bezeichnen die Regeln realen öffentlichen Lebens. Sie bezeichnen<br />

eine kulturelle Formung öffentlichen Verhaltens: Urbanität. Eine spezielle Stilisierung<br />

des Verhaltens ist eine Essenz von Urbanität. (In <strong>der</strong> englischen Sprache<br />

bedeutet urbane: höflich, verbindlich, weltmännisch, gewandt.)<br />

Die Frage ist heute, was öffentliches Verhalten überhaupt noch mit öffentlichem<br />

Raum zu tun hat. Seit immerhin 40 Jahren thematisiert die Profession einen<br />

Urbanismus ohne Orte. 7 Was hat Urbanität mit gebauter <strong>Stadt</strong> zu tun? Das Drama<br />

des urbanen Lebens konzentriert sich nicht allein auf die alten Zentren, die weiterhin<br />

als zeichenhafter Inbegriff von <strong>Stadt</strong> gesehen werden. Was können die<br />

neuen <strong>Stadt</strong>Landschaften in diesem Sinne leisten?<br />

Das architektonische Potenzial<br />

<strong>Stadt</strong> besteht aus einem Geflecht von Räumen und Orten und nicht lediglich aus<br />

einer Ansammlung von Gebäuden, Objekten o<strong>der</strong> Territorien. Es ist das übliche<br />

Missverständnis: <strong>Stadt</strong> sei ein Territorium mit diversen Standortqualitäten, die<br />

durch Objekte materialisiert werden. Hinzu kommt ein System von Zeichen, Hinweisen<br />

und Verweisen, die ordnen, orientieren, interpretieren und benennen. Bei<br />

dieser Denkweise kommt einem <strong>der</strong> Raum – die Vorstellung von Raum und die<br />

Produktion von Raum – zuletzt ganz abhanden.<br />

Städtebau bedeutet nicht, ein Gebiet mit Häusern anzufüllen, diese Objektfixierung<br />

ist ein Problem vieler Architekten, die dem Trugschluss unterliegen, es<br />

ginge nur um einen Sprung im Maßstab beim Entwerfen. Städtebau heißt,<br />

STÄDTISCHE RÄUME zu erzeugen. Das ‚Dazwischen‘, <strong>der</strong> Raum zwischen den<br />

architektonischen Objekten und Elementen, die Spannung, die sich zwischen den<br />

Körpern <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> aufbaut, ist das eigentliche ‚Material‘ des Städtebaus.<br />

7 Webber1964<br />

3


In <strong>der</strong> japanischen Kultur entspricht <strong>der</strong> Begriff von Ma dieser Sicht auf das Dazwischen.<br />

8 So wie <strong>der</strong> Abstand zwischen Tönen Teil <strong>der</strong> Musik ist, ist <strong>der</strong> Raum<br />

zwischen <strong>der</strong> Materie, aus <strong>der</strong> Gebäude bestehen und aus <strong>der</strong> die <strong>Stadt</strong> geformt<br />

ist, ein eigenes Material.<br />

„Dabei ist die Grundhypothese, dass Architektur nicht das ist, was Raum anfüllt,<br />

son<strong>der</strong>n das, was Raum erzeugt.“ 9 Architektonischer Raum ist demnach<br />

nicht primär Objekt o<strong>der</strong> Körper o<strong>der</strong> Leere (dann wäre Ma falsch verstanden)<br />

son<strong>der</strong>n räumlich gestaltete SITUATION. Dieser Raum des Handelns ist nicht nur<br />

soziales Konstrukt son<strong>der</strong>n realer physischer Raum, in dem Geschichte abgelagert<br />

wird und Geschichte produziert wird: er ist Ort des kollektiven Gedächtnisses, Ort<br />

des Vermögens, sich als Kollektiv zu erinnern. 10<br />

Ort + Ereignis<br />

Ort im umfassenden Sinn: Der Begriff des Ortes unterscheidet sich von einem<br />

abstrakten Raumbegriff. Er wurde zwar von dem Ethnologen Marc Augé nicht erfunden<br />

– aber seit seinem Buch „Orte – Nicht-Orte“ ist er in <strong>der</strong> Urbanistik zum<br />

Gemeinplatz geworden. 11 Er ist nicht unumstritten. Immer wie<strong>der</strong> wird eine Theorie<br />

<strong>der</strong> Ereignisse propagiert und gegen die des Ortes ausgespielt, die Idee von<br />

Orten aus diesem Gegensatz heraus als konservativ gar als reaktionär verurteilt. 12<br />

In <strong>der</strong> Tat tendieren die tradierten Images von Orten entwe<strong>der</strong> zu Klischees o<strong>der</strong><br />

gehen in <strong>der</strong> Flut an<strong>der</strong>er Bil<strong>der</strong> unter. Medialität und Mobilität weisen den etablierten,<br />

einstmals gültigen Raumkonfigurationen einen verän<strong>der</strong>ten Stellenwert im<br />

gesellschaftlichen Bewusstsein zu. Wir können nicht so tun, als hätte <strong>der</strong> genius<br />

loci heute noch dieselbe Bedeutung, wie in <strong>der</strong> Darstellung von Norberg-Schulz,<br />

8 Nitschke 1993, S.48-61<br />

Frampton 1987, S.8-31<br />

9 Baudrillard 1999, S.11<br />

10 Halbwachs 1985<br />

11<br />

Augé 1994<br />

12 Solá-Morales 1996<br />

4


die auch aus einer Polemik gegen den funktionalistischen Städtebau <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

zu verstehen war.<br />

Gerade deshalb aber (weil sich auf <strong>der</strong> einen Seite alles zu verflüchtigen<br />

scheint) werden die performative Funktion von stilisiertem Verhalten in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong><br />

und die Rolle von städtischen Räumen als Bühnen des Alltags umso wichtiger. Die<br />

Aufgabe von Architektur als physischem Anhalt erhält wie<strong>der</strong> zunehmendes Gewicht:<br />

Als vorbereitetes Feld, auf dem das (öffentliche) Handeln bemerkenswert<br />

wird und wo Ereignisse und gespeicherte Zeit sich ablagern, wie Bachelard es poetisch<br />

formulierte: „In seinen tausend Honigwaben speichert <strong>der</strong> Raum verdichtete<br />

Zeit.“ 13 Dann erscheint einem <strong>der</strong> so konstruierte Gegensatz zwischen Ort und<br />

Ereignis künstlich, unhistorisch und auch willkürlich.<br />

Der Trend zu inszenierten Alltagswelten, Milieus und Ensembles ist Zeuge<br />

für das überwältigende Bedürfnis nach Orten. Doch hinterlassen die so erzeugten<br />

<strong>Szene</strong>rien einen schalen Nachgeschmack, weil Symbole ohne realen Hintergrund<br />

nur oberflächliche Sinnenreize auslösen. Sie sind sentimental im negativen Sinne.<br />

“Ich spüre die Absicht und bin verstimmt.“ Orte dagegen bringen im Laufe ihrer<br />

Geschichte erst Symbole hervor, entwickeln ihre Sprache in <strong>der</strong> Zeit. Der Ort ist<br />

wie die Region ein "rhetorisches" Territorium, ein Raum, in dem man Codes teilt<br />

und in dem es erlaubt ist, sich über Andeutungen und stumme Übereinkünfte zu<br />

verständigen. 14<br />

Solche Orte zu manifestieren ist eine Aufgabe, die Städtebau zu erfüllen<br />

hat. Rafael Moneo: „Der Ort ist immer erwartungsvolle Realität. Er wartet auf das<br />

Ereignis des Bauens, durch das seine sonst verborgenen Eigenschaften manifest<br />

werden.“ 15 Es wäre ein Fehler, dabei in eine konservierende Haltung o<strong>der</strong> gar in<br />

eine historisierende Formensprache zu verfallen. Konservierung um jeden Preis "...<br />

ist nicht das gleiche wie Gedächtnis, es ist Gedächtnis ohne Schmerz. Nostalgie<br />

13 Bachelard 1992, S. 35<br />

14 Dainotto 2000<br />

Augé 2000<br />

15 Moneo 1993<br />

5


ist nicht die Wie<strong>der</strong>kehr einer vergangenen Erinnerung, es ist die Rückkehr <strong>der</strong><br />

Erinnerung in die Vergangenheit. Nostalgie ist déjàvu ohne das Unheimliche." 16<br />

Es ist ein großes Missverständnis des Diskurses im Städtebau <strong>der</strong> letzen<br />

Dekade, dass sich Apologeten des Flüchtigen und Apologeten <strong>der</strong> Erinnerung unversöhnlich<br />

gegenüberstehen.<br />

Atmosphäre und Situation<br />

Ästhetische Wahrnehmung ist sinnliche (sensitive) Wahrnehmung. 17 Sie überschreitet<br />

die Grenzen diskursiv erkennenden Bewusstseins. Das Resultat könnte<br />

man eine an<strong>der</strong>e Form von Bewusstsein nennen. Ästhetische Wahrnehmung<br />

macht bewusst, wie die Welt und die Dinge in ihrer Beson<strong>der</strong>heit, in ihrer Vielfalt<br />

und Fülle, in ihrer Unvergleichlichkeit in <strong>der</strong> Gegenwart erscheinen.<br />

Die Atmosphäre städtischer Räume ist diskursiv schwer zu erfassen. Sie ist<br />

originärer Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung. Nach Martin Seel 18 ist die<br />

Wahrnehmung des atmosphärischen Erscheinens <strong>der</strong> Dinge nur eine von mehreren<br />

Formen ästhetischer Wahrnehmung, trifft aber gerade für Architektur interessante<br />

Zusammenhänge: Atmosphäre assoziiert Vergangenheit und Zukunft, bringt<br />

biographisches und historisches Wissen ins Spiel, Gefühle und Facetten einer Lebenssituation<br />

werden wachgerufen. Seel nennt das korresponsives ästhetisches<br />

Bewusstsein. Atmosphäre muss nicht notwendigerweise in bewusster Reflexion<br />

wahrgenommen werden. Gerade das Evozieren von Gefühlen geschieht oft unbewusst<br />

o<strong>der</strong> am Rande des Bewusstseins. Schon Walter Benjamin beurteilte die<br />

Rezeption von Architektur in diesem Sinne: Sie findet in beiläufigem Bemerken<br />

und viel weniger in gespanntem Aufmerken statt. 19<br />

16 Abbas 1997, S. 83 „In any case, preservation is not the same as memory: it is<br />

a memory without pain. ...<br />

Nostalgia is not the return of past memory: it is the return of memory to the<br />

past. Nostalgia is déjàvu without the uncanny.“<br />

17 Seel 2000, Teil I - Eine rabiate Geschichte <strong>der</strong> neueren Ästhetik. S.15-43<br />

18<br />

Seel 2000, S.152 ff<br />

19 Benjamin 1963<br />

6


Atmosphäre kann man in einem gewissen Umfang erzeugen. Das ist Gegenstand<br />

eines jeden architektonischen Entwurfes. In <strong>der</strong> Dimension städtebaulicher<br />

Phänomene baut sich Atmosphäre meist über lange Prozesse auf. Dennoch<br />

verbietet es sich, auf die Zufälle <strong>der</strong> Geschichte zu vertrauen, son<strong>der</strong>n atmosphärische<br />

Qualität ist ein Thema städtebaulichen Entwerfens. Atmosphäre wirkt zurück,<br />

sie erzeugt eine Stimmung, beeinflusst Verhalten. Man kommt zur Ruhe in<br />

einer kontemplativen Situation. In Stuttgart nimmt man den Weg über die Aussichtspunkte<br />

<strong>der</strong> Höhenlagen rund um die City, in Frankfurt über die Promenaden<br />

entlang des Mains, um plötzlich einem Gefühl von Weite und Ferne in <strong>der</strong> sonst<br />

engen <strong>Stadt</strong> ausgesetzt zu sein.<br />

Dies alles zeigt: Die Atmosphäre städtischer Räume erzeugt bestimmte Situationen.<br />

Sie prägt das Lebensgefühl in einer <strong>Stadt</strong>. Wie<strong>der</strong> sind wir bei dem<br />

Eingangsthema über den Zusammenhang von urbanem Verhalten und städtischen<br />

Räumen angelangt.<br />

Szenischer Raum<br />

Distanz – genauer das Prinzip <strong>der</strong> Isolierung - ist per Definition Bestandteil je<strong>der</strong><br />

Ästhetik. Ein ästhetischer Ansatz erfor<strong>der</strong>t die Isolierung des Betrachters von den<br />

vielen funktionalen und sonstigen Bedeutungen, die <strong>der</strong> Gegenstand des ästhetischen<br />

Interesses noch hat. Bei einem Bild zum Beispiel fällt uns das leicht, wir<br />

gehen schon räumlich auf Distanz und wir können auch von praktischen Belangen<br />

leicht abstrahieren. Bei <strong>der</strong> ästhetischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Architektur<br />

würden wir ihr nicht gerecht werden, wenn wir in Bildbetrachtung verfallen und<br />

zum Beispiel die fotografische o<strong>der</strong> graphische Qualität eines Gebäudes, o<strong>der</strong><br />

eines städtischen Umfeldes mit seiner architektonischen gleichsetzen. (Das ist ein<br />

Problem heute, beson<strong>der</strong>s ein Problem <strong>der</strong> Architekturrezeption.)<br />

Architektur unterscheidet sich in einem grundsätzlich: wir selbst sind Bestandteil<br />

<strong>der</strong> ästhetischen Realität. Wir sind mit unserem Körper Teil des Raumes,<br />

den wir erfahren. Die Situation, in <strong>der</strong> wir uns befinden, wird Bestandteil je<strong>der</strong><br />

auch noch so distanzierten Betrachtung. Architektur zeichnet sich dadurch aus,<br />

dass sie nicht nur mit den Augen, son<strong>der</strong>n mit allen Sinnen, mit dem ganzen Körper<br />

und nur in <strong>der</strong> Bewegung vollständig wahrgenommen werden kann. Deswegen<br />

7


sind wir als Betrachter gleichzeitig Akteur. Dagobert Frey entfaltete in seinen<br />

Prolegomena zu einer Kunstphilosophie die Auffassung über das Wesen <strong>der</strong> Architektur:<br />

In <strong>der</strong> Architektur sind wir „Mitspieler“, während wir in den Bildkünsten<br />

„Zuschauer“ bleiben. 20<br />

„Ein Mann (Mensch) geht durch den Raum, ein an<strong>der</strong>er sieht ihm zu. das ist<br />

alles, was zu einer Theaterhandlung notwendig ist.“ Mit diesem bekannten Satz<br />

Peter Brooks hat <strong>der</strong> Gedankengang begonnen. Aber im Unterschied zum Theater<br />

sind bei <strong>der</strong> Architektur Zuschauer und Darsteller <strong>der</strong>selbe Mensch. Man sieht sich<br />

selbst durch den Raum gehen, <strong>der</strong> Raum macht einen auf bestimmte Weise gehen:<br />

er beför<strong>der</strong>t, verlangsamt, saugt, beruhigt o<strong>der</strong> dehnt etc. Man wird sich<br />

seines im Raum Seins bewusst. In städtischen Räumen, die wir als Gesellschaft<br />

erzeugen, wird das natürlich komplizierter. Entscheidend an Architektur (ob Haus<br />

o<strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> o<strong>der</strong> Landschaft) ist, wie sie uns agieren lässt, was sie mit uns macht,<br />

wie sie sich in Situationen entfaltet.<br />

Auf keinen Fall bedeutet das zu dirigieren, wie man sich zu verhalten habe.<br />

Vielmehr besteht die Herausfor<strong>der</strong>ung an den architektonischen Entwurf, <strong>der</strong><br />

<strong>Stadt</strong> offene Räume bereitzustellen für ein beiläufig bemerktes frei entfaltetes<br />

Handeln. Die Aufgabe des Städtebaus ist es, eine offene szenische Kapazität zu<br />

erzeugen (in Anlehnung an den Begriff einer offenen semantischen Kapazität).<br />

Städtische Räume dürfen nicht festgelegt auf nur einen bestimmten Gebrauch<br />

sein, sie müssen verschieden interpretierbar sein, in verschiedenen Zeiten von<br />

verschiedenen Menschen genutzt werden.<br />

Für solche Räume gibt es viele Beispiele, seit einiger Zeit rücken diejenigen<br />

ins Zentrum <strong>der</strong> professionellen Aufmerksamkeit, die gerade <strong>der</strong> „Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong><br />

<strong>Stadt</strong>planer“ zu verdanken sind: Niemandslän<strong>der</strong>, urban voids: 21 „Niemandslän<strong>der</strong><br />

... sind attraktiv, weil sie niemanden und nichts repräsentieren, keine Macht, keinen<br />

Besitz – es sind Orte entmachteter Symbole. Die Entmachtung besteht aber<br />

nicht in ihrer Negation, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Austauschbarkeit <strong>der</strong> Symbole, in <strong>der</strong> Mög-<br />

20<br />

Frey 1946, S. 93 ff<br />

21 urban void _ Seminar und Entwurf an <strong>der</strong> TU München WS 2003/04<br />

8


lichkeit, diese Orte – wenn auch nur vorübergehend – zu prägen.“ 22 Aber in diesen<br />

an-architektonischen Betrachtungen geht es meist um die offene semantische<br />

Kapazität dieser Räume, während es hier um die szenische Kapazität geht, die <strong>der</strong><br />

Architektur <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> bedarf.<br />

„Szenischer Raum, ohne den Gebäude nur Konstruktion wären und die <strong>Stadt</strong> nur<br />

eine Agglomeration.“ 23<br />

Der Raum <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong><br />

Das gesellschaftliche Spiel von Darstellung und Repräsentation, von dem eingangs<br />

im urbanen Verständnis von <strong>Stadt</strong> als Bühne die Rede war, fällt mit dem Verständnis<br />

von Architektur als szenischem Raum zusammen. Wenn man die Architektur<br />

<strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> als Gefüge szenischer Räume begreift, dann ist es möglich, <strong>der</strong><br />

speziellen Stilisierung urbanen Verhaltens Raum zu geben.<br />

Das Verständnis von Raum als szenischem Raum liegt jenseits von heutigen<br />

Gräben im urbanistischen Diskurs. Jenseits von Positionen, die sich auf Fragen<br />

architektonischen Stils kaprizieren. Und jenseits von Positionen, die eine Kultur<br />

<strong>der</strong> Ereignisse gegen ein Konzept von Orten ausspielen. Man bleibt so nicht den<br />

Klischees von städtischen Bil<strong>der</strong>n verhaftet, denn die aktuelle räumliche Situation<br />

ist das Entscheidende und nicht <strong>der</strong> tradierte Ausdruck vertrauter Bedeutungen. 24<br />

Ein Raumbegriff, <strong>der</strong> räumliche Gestalt und konkrete räumliche Erfahrung zusammenbringt,<br />

setzt bei <strong>der</strong> Architektur an, und ist gleichzeitig in <strong>der</strong> Lage, eine Fülle<br />

von an<strong>der</strong>en Faktoren und Disziplinen zu integrieren. Das Konzept von szenischem<br />

Raum liefert ein Instrument, die europäische <strong>Stadt</strong>, die heutige <strong>Stadt</strong>Land-<br />

22 Hubeli 1999, S.25<br />

23 Baudrillard 1999<br />

24 Siehe die politisch-emotionale Hochhausdiskussion München <strong>2004</strong>: das Problem,<br />

eine Bilddiskussion zu führen, eine über Veduten. Kann man dem „Bildcharakter“<br />

Münchens überhaupt entgehen und ein differenzierteres Verständnis entwickeln?<br />

Ist das klischeehafte <strong>Stadt</strong>bild eine Voraussetzung des Erfolges <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong><br />

(zumindest des touristischen)? Wo ist das Bild nicht Klischee son<strong>der</strong>n Zeichen<br />

eines differenzierten Raumgefüges. Was unterscheidet den architektonischen<br />

Bildbegriff vom umgangssprachlichen?<br />

9


schaft - die merkwürdige zeitgenössische Kulturlandschaft - architektonisch zu<br />

bearbeiten. Damit ist auch ein entschiedenes Plädoyer für den städtebaulichen<br />

Entwurf – für bewusst gestaltete Räume – verbunden.<br />

Das Formen und Erzeugen von Räumen ist die Kernkompetenz <strong>der</strong> Architektur<br />

25 im interdisziplinären Arbeitsfeld <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>-, Regional- und Landschaftsplanung.<br />

Städtischer Raum - ob Gebäude o<strong>der</strong> Freiraum in allen Maßstabsebenen –<br />

kann immer auch als architektonischer Raum (in dem oben entwickelten entfalteten<br />

Verständnis von Architektur) begriffen werden. Diese Haltung nicht auf klassische<br />

Strukturen <strong>der</strong> Europäischen <strong>Stadt</strong> zu beschränken, son<strong>der</strong>n auf die urbanen<br />

Räume anzuwenden, in denen Entwicklung quasi naturwüchsig passiert, ist<br />

eine neue Herausfor<strong>der</strong>ung. Wir sollten angesichts dieser neuen Aufgaben nicht<br />

unser ganzes professionelles Repertoire in Frage stellen, son<strong>der</strong>n uns auf das Besinnen,<br />

wozu Architektur in <strong>der</strong> Lage ist. 26<br />

Landschaft wird in diesem Zusammenhang neu thematisiert, neue ästhetische<br />

Haltungen zur <strong>Stadt</strong> bilden sich heraus. Die Qualitäten und Potenziale <strong>der</strong><br />

<strong>Stadt</strong>Landschaften zu erkennen und mit ihnen zu arbeiten, ohne Tristesse und<br />

Mängel zu glorifizieren, son<strong>der</strong>n räumliche, architektonische Strategien zu ihrer<br />

Qualifizierung zu entwickeln, ist eine Zukunftsaufgabe. Sie ist mit <strong>der</strong> Zuversicht<br />

verbunden, dass wir es nicht nur mit einer Fehlsteuerung zu tun haben, son<strong>der</strong>n<br />

dass auch neue Chancen, Erscheinungsweisen und Formen von <strong>Stadt</strong> auftauchen,<br />

an die man anknüpfen kann, dass es Voraussetzungen für neue Typologien von<br />

öffentlichen Räumen gibt. Wir sind in <strong>der</strong> Urbanistik auf <strong>der</strong> Suche nach neuen<br />

Interventionsstrategien und neuen Gestaltungsmitteln, die mit dieser <strong>Stadt</strong> umgehen<br />

können.<br />

25<br />

Wobei in diesem grundsätzlichen Zusammenhang zwischen den architektonischen<br />

Disziplinen Landschaftsarchitektur, Hochbau und Städtebau kein Unterschied<br />

zu sehen ist.<br />

26 Die Urbanistik neigt dazu, bei je<strong>der</strong> neuen Entwicklung, in <strong>der</strong> Theorie radikal<br />

neu beginnen zu wollen, während die planerische Praxis zäh an alten Methoden<br />

festhängt, in diesem Zusammenhang an einer Spaltung zwischen Architektur und<br />

Planung.<br />

10


Literatur<br />

Abbas, Ackbar Hongkong – Culture and the Politics of Dissappearance.<br />

Minnesota 1997<br />

Augé, Marc<br />

Orte und Nicht-Orte <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>. In: Bott, Hubig, Pesch,<br />

Schrö<strong>der</strong> (Hg.): <strong>Stadt</strong> und Kommunikation im digitalen Zeitalter.<br />

Frankfurt New York 2000<br />

Augé, Marc<br />

Orte und Nicht-Orte, Vorüberlegungen zu einer Ethnologie<br />

<strong>der</strong> Einsamkeit. Frankfurt/M 1994<br />

Bachelard, Gaston Poetik des Raumes, Frankfurt/M 1992<br />

Bahrdt, Hans Paul Die mo<strong>der</strong>ne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum<br />

Städtebau. Reinbek bei Hamburg 1961<br />

Baudrillard, Jean Architektur: Wahrheit o<strong>der</strong> Radikalität. Graz-Wien 1999<br />

Benjamin, Walter Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.<br />

Frankfurt/M 1963<br />

Dainotto, Roberto Maria Die Rhetorik des Regionalismus. In Lampugnani<br />

(Hg.), Die Architektur, die Tradition und <strong>der</strong> Ort – Regionalismen<br />

in <strong>der</strong> europäischen <strong>Stadt</strong>. Stuttgart München 2000<br />

Frampton, Kenneth The Work of Tadao Ando. In: Tadao Ando. GA Architect 8.<br />

Tokyo 1987, S. 8 – 31<br />

Frey, Dagobert Wesensbestimmung <strong>der</strong> Architektur. (1926) In: Kunstwissenschaftliche<br />

Grundfragen. Prolegomena zu einer Kunstphilosophie.<br />

Darmstadt 1992<br />

Halbwachs, Maurice Das kollektive Gedächtnis. FFM 1985<br />

Hubeli, Ernst Öffentlichkeit und öffentlicher Raum. Werk Bauen Wohnen<br />

12/1999<br />

Moneo, Raffael Die Einsamkeit <strong>der</strong> Gebäude. In: Bauen für die <strong>Stadt</strong>. Stuttgart<br />

1993<br />

Mumford, Lewis Die <strong>Stadt</strong>. Geschichte und Ausblick, II Bd. München 1979<br />

Nitschke, Günther Ma – Place, Space, Void. In: <strong>der</strong>s., From Shinto to Ando.<br />

Studies in Architectural Anthropology in Japan. London Berlin<br />

1993<br />

Sebald, W.G. Schwindel. Gefühle. Prosa. Frankfurt/M 2001<br />

Seel, Martin Ästhetik des Erscheinens. München. Wien 2000<br />

Sennett, Richard Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei <strong>der</strong><br />

Intimität. FFM 1986<br />

Solá-Morales, Ignasi de Differences, Topographies of Contemporary Architecture.<br />

Cambridge 1996 _ zitiert nach: Differenz und Intensität<br />

- die poetische Kraft <strong>der</strong> Architektur. Tagungsheft<br />

<strong>der</strong> Hamburgischen AK, Sept. 2000<br />

Webber, Melvin M. The urban place and the nonplace urban realm. In: Webber,<br />

Dyckman, Foley, Guttenberg, Wheaton, Bauer, Wurster –<br />

Explorations into urban structure. London Bombay Karachi<br />

1964<br />

11

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