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N° <strong>47</strong> Dezember 2009<br />

Euro 6,-<br />

<br />

Living<br />

Room


Einlauf<br />

von Franz Schandl<br />

INHALTSVERZEICHNIS<br />

Wohnen. – Ist das nicht ein fades<br />

Thema? Zwar tun wir es die ganze<br />

Zeit, doch denken wir darüber ernsthaft<br />

nach? Zum Wie? vielleicht, aber<br />

zum Was? und zum Warum?, da findet<br />

sich wenig. Wohnen scheint also tatsächlich<br />

eine „Hinterwirklichkeit“ (Kafka)<br />

zu sein – zwar von Bedeutung, aber<br />

ohne Herausforderung zu besonderer Betrachtung<br />

und gesonderter Begrifflichkeit.<br />

Spricht das nicht dafür, dass wir unseren<br />

unmittelbaren Lebenslagen doch<br />

etwas indifferent gegenüber stehen? Ja,<br />

die Kritik des Wohnens ist unterentwickelt,<br />

zweifellos.<br />

Diese Ausgabe der <strong>Streifzüge</strong> will nun<br />

versuchen, dieser Indifferenz etwas entgegenzusetzen.<br />

Natürlich begeben wir<br />

uns damit auf ein Feld, das wir bisher fast<br />

gar nicht beackert haben. Doch das hat<br />

auch seine Reize. So ist es immer wieder<br />

notwendig, sich thematisch nicht zu beschränken<br />

und auch diverse Alltagsbereiche,<br />

die sich einem wahrscheinlich gerade<br />

aufgrund ihrer Unmittelbarkeit nicht<br />

und nicht aufdrängen, in Theorie und<br />

Praxis entsprechend zu berücksichtigen.<br />

Selbstverständlich sind auch diese<br />

<strong>Streifzüge</strong> <strong>Streifzüge</strong> geworden. Sie können<br />

nicht alles abdecken, aber doch versuchen<br />

Akzente zu setzen. Manches war<br />

geplant, manches hat sich ganz zufällig<br />

ergeben. Andererseits gibt es zu wichtigen<br />

Fragen keine gesonderten Beiträge,<br />

etwa zur Wohnungspolitik oder zur<br />

Preisentwicklung am Wohnungsmarkt,<br />

zur Obdachlosigkeit oder zu den elendiglichen<br />

Wohn- und Lebensbedingungen<br />

in vielen Gegenden dieser Erde. Aber<br />

da kann ja noch etwas nachgereicht werden.<br />

Wie dem auch sei, wir haben uns wie<br />

immer bemüht, eine ansprechende Nummer<br />

zu gestalten. In jeder Hinsicht wollen<br />

wir uns verbreitern und verbreiten.<br />

Punkto Wohnen kann das globale Ziel<br />

doch nur und bloß und lediglich darin<br />

bestehen, den „Fluch dieser nichtswürdigen<br />

Behausungsverhältnisse“ (Karl<br />

Marx) zu überwinden. Nichts weniger ist<br />

zu wollen als das gute Leben für alle.<br />

P.S.: Mit dieser Ausgabe hat Françoise<br />

Guiguet unser Layout übernommen. Herzlichen<br />

Dank und willkommen!<br />

P.P.S.: Wir freuen uns über jedes Abo, jede<br />

Spende, jede Hilfe. Jedes Mal. Danke.<br />

Andreas Exner: Neuland statt Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

LIVING ROOM<br />

Franz Schandl: Raum für die meiste Zeit – Lose Vermutungen<br />

zur alltäglichen Praxis des Wohnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

aramis: ortsansässig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Peter Pott: Schöner Wohnen – in der Kommune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

Roger Behrens: Gentrification und urbane Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Günter Schneider: Von Mieterrevolten zum freien Markt –<br />

Stadtentwicklung und Mietrecht in Wien. Ein Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Hausprojekt: Umsonstökonomischer Ansatz – Eine Dokumentation . . . . 22<br />

Franz Schandl: Sonderbare Sonderware –<br />

Zur Politischen Ökonomie des Wohnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Birgit v. Criegern: Ausharren im Nirgendwo – Flüchtlinge<br />

in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

Nicoletta Wojtera: Hinterwirklichkeiten – Gedanken zum literarischen<br />

(Wohn-)Raum von Rainer Maria Rilke bis Botho Strauß und<br />

David Foster Wallace . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

Home Stories: Mit Beiträgen von Maria Wölflingseder, Sara Kleyhons,<br />

Franz Schandl, Severin Heilmann und Lorenz Glatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

Lothar Galow-Bergemann: You can’t get something for nothing . . . . . . . . . . 36<br />

Erich Ribolits: Bildung hat keinen Wert – Über den Verlust<br />

von Bildung, sobald dieser Wert zugeschrieben wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />

Lorenz Glatz: What we do matters – Zu Friederike Habermann:<br />

Der homo oeconomicus und das Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

Kolumnen<br />

Dead Men Working von Maria Wölflingseder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

Immaterial World von Stefan Meretz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />

Rückkopplungen von Roger Behrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />

Rubrik 2000 abwärts<br />

Julian Bierwirth (J.B.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Franz Schandl (F.S.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Dominika Meindl (D.M.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

Ricky Trang (R.T.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />

Pichl Peter (P.P.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

VORSCHAU<br />

N° 48 | April 2010: Freundschaft<br />

N° 49 | Juli 2010: Staat<br />

N° 50 | November 2010: Fremd<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ANDREAS EXNER, NEULAND STATT KRISE 3<br />

Neuland statt Krise<br />

von Andreas Exner<br />

Anleger fassen Vertrauen, Unternehmer<br />

fassen Mut: Es geht bergauf, so glaubt<br />

man. Fad, aber wahr: die Krise bleibt. –<br />

Wo bitte geht’s hier raus?<br />

Die deutschen Profianleger fassen<br />

Vertrauen in den Wirtschaftsaufschwung“,<br />

vermeldet die deutsche Ausgabe<br />

der Financial Times (FTD, 26.10.).<br />

„Deutlich mehr Anleger als zuvor erwarten<br />

bis Frühjahr 2010 steigende Aktien –<br />

und vor allem fallende Anleihekurse“, so<br />

heißt es weiter. Grundlage ist eine Umfrage<br />

von Feri Eurorating Services und FTD.<br />

„Die Serie der positiven Konjunkturnachrichten<br />

reißt nicht ab. Deshalb weichen<br />

langsam die Zweifel“, sagt einer in der<br />

FTD -Umfrage. Skeptische Stimmen sind<br />

aber nicht verstummt, sagt das Blatt.<br />

In der FTD vom 3.11. (online) dann<br />

„Star-Ökonom“ Nouriel Roubini: „Die<br />

Fed sorgt für eine neue Monsterblase.“<br />

Auf der lockeren Geldpolitik der Fed<br />

baue sich schon der nächste Spekulationscrash<br />

auf. Anleger investieren bei Minuszins<br />

mit dem schwachen Dollar in äußerst<br />

rentable Risikoanlagen. „Eines<br />

Tages wird diese Blase platzen und zum<br />

größten koordinierten Vermögenskollaps<br />

der Geschichte führen“, meint Roubini.<br />

Chamäleon<br />

In den Augen der Betrachter wechselt die<br />

Wirtschaftskrise seit ihrem vollen Ausbruch<br />

2008 so rasch ihren Charakter wie<br />

die Stimmungslage an der Börse. Waren<br />

die ersten Reaktionen auf die Turbulenzen<br />

auf den US-Häusermärkten in Europa<br />

einhellig ungerührt, so entwickelte sich<br />

nach dem Zusammenbruch der Lehman<br />

Brothers rapide Panik. Auch sonst laufen<br />

die Ausschläge von Aktienkursen und<br />

veröffentlichter Meinung weitgehend parallel.<br />

Nicht zufällig gründet sich die oben<br />

zitierte positive Einschätzung der FTD<br />

auf der Erwartung, dass die Aktienkurse<br />

steigen werden. Ob sich fundamentale<br />

wirtschaftliche Daten dagegen verbessert<br />

haben, interessiert erst im zweiten Schritt.<br />

Hauptsache, die Erwartung stimmt.<br />

Ein Blick auf die Krisendeutungen<br />

zeigt allerdings, dass der anfängliche<br />

Meinungsmonolith sich fragmentiert.<br />

Die Ausdifferenzierung begann, als Konsens<br />

wurde, dass die Krise nicht so rasch<br />

bereinigt ist. Zwar ist immer noch die<br />

Rede von „Konjunkturprogrammen“,<br />

und die Hoffnung auf den „Konjunkturaufschwung“<br />

gehört fast zum guten Ton,<br />

so als befände man sich in einem der üblichen<br />

Wellentäler kapitalistischer Prosperität.<br />

Dennoch hat auch ein Diskurs, der<br />

nicht solch einen naiven Optimismus verströmt,<br />

inzwischen seinen Platz. So meinen<br />

Experten des Centre for Global Energy<br />

Studies in London laut Handelsblatt<br />

(27.10.): „Der Ölpreis bleibt volatil, denn<br />

die wirtschaftlichen Signale sind mit<br />

großer Unsicherheit behaftet und können<br />

schnell falsch interpretiert werden.“<br />

Fachleute der japanischen Bank Nomura<br />

schätzten die Lage ähnlich ein.<br />

V, U oder W?<br />

Das war die Preisfrage dieses Sommers: V,<br />

U oder W. Oder anders gesagt: Glauben<br />

Sie an einen raschen, steilen Aufschwung<br />

(V), einen langsamen (U) oder schon an<br />

den nächsten Einbruch (W)? Ein L, das<br />

heißt eine langfristige Stagnation stand<br />

nicht zur Auswahl. Vorausgesetzt bleibt,<br />

dass der Aufschwung kommt.<br />

Die Hoffnung auf denselben stützt sich<br />

freilich auf äußerst dürftige Indizien. Im<br />

Grunde gilt die Verlangsamung des Produktionsrückgangs<br />

schon als Beleg dafür.<br />

Die Stahlbranche registrierte laut FTD<br />

(27.8.) prosperierende Signale mit dem<br />

Argument, die Nachfrageerholung könne<br />

man nicht allein auf die Wiederauffüllung<br />

von Lagern zurückführen. Das<br />

Ifo-Institut sprach dortselbst bereits von<br />

Aufschwung, weil sich das Geschäftsklima<br />

im Gewerbe verbesserte. Nur um<br />

hinzuzufügen: „Man kann noch nicht<br />

davon ausgehen, dass die Aufwärtsbewegung<br />

nachhaltig ist“ – und zwar aufgrund<br />

der steigenden Arbeitslosigkeit.<br />

Wie fadenscheinig momentan der Optimismus<br />

ist, zeigen dagegen Meldungen<br />

wie die vom Einbruch des Index für das<br />

US-Verbrauchervertrauen Ende Oktober<br />

(Der Standard, 27.10.): Fast jeder Zweite<br />

gab an, es sei derzeit schwierig, einen Job<br />

zu bekommen. Das stimmt das Kapital bedenklich,<br />

denn zwei Drittel der US-Wirtschaftsleistung<br />

entfallen auf Konsumausgaben.<br />

Auch andere Indizien deuten auf<br />

persistierende Schwierigkeiten. So nimmt<br />

derzeit die Kreditvergabe in der Euro-<br />

Zone ab, und zwar das erste Mal seit Einführung<br />

der Statistik 1992.<br />

Die Staatsschuld kommt, interessant genug,<br />

nur am Rande in Betracht. In der genannten<br />

FTD -Ausgabe finden sich zwar<br />

auch skeptische Einschätzungen, doch<br />

als Marginalie. Man zitiert die Befürchtung<br />

des US-Ökonomen Nouriel Roubini,<br />

dass der „Double Dip“ drohe – ein, wie<br />

es hieß „vorübergehender Rückfall“, sobald<br />

die Schubkraft der Konjunkturpakete<br />

nachlasse, die Arbeitslosigkeit steige und die<br />

Staaten ihre hohen Defizite wieder abbauen<br />

müssten. Der Bundeswirtschaftsminister<br />

Theodor zu Guttenberg sah im Sommer<br />

eine „diffuse konjunkturelle Hügellandschaft“<br />

vor sich. Auch Stefan Bierlmeier von<br />

der Deutschen Bank ließ Vorsicht walten:<br />

„Bislang sei der Anstieg des Ifo-Geschäftsklimas<br />

vor allem erwartungsgetrieben, in<br />

den realen Daten lasse sich der Aufschwung<br />

noch gar nicht ablesen“ (FTD, 27.8.).<br />

Schuldig<br />

Die Krise des neoliberalen Wachstumsmodells<br />

kam 2008 zum Ausbruch, als Zweifel<br />

um sich griffen, ob die ins Extrem akkumulierten<br />

Ansprüche des Kapitals auf zukünftigen<br />

Mehrwert noch lukriert werden<br />

könnten. Die Besitzer von Wertpapieren<br />

versuchten, das ihnen auf dem Papier gegebene<br />

Reichtumsversprechen als Kontobuchung<br />

einzulösen. Nachdem die akkumulierten<br />

Ansprüche die tatsächlich<br />

verfügbare Mehrwertmasse um ein Vielfaches<br />

überstiegen, begann ein allgemeiner<br />

Kampf um die Verteilung der Verluste<br />

unter den Besitzern von Kapital und<br />

Vermögen. Der Zweifel entsprang wie ein<br />

Haarriss im US-amerikanischen Immobilienmarkt,<br />

als 2007 aufgrund steigender<br />

Energiepreise und einer Erhöhung der<br />

Zinsen die finanziell am schlechtesten gestellten<br />

privaten Schuldner das Handtuch<br />

warfen. Deren Kreditschulden hatten die<br />

Banken zu einem handelbaren Gut gemacht.<br />

Diese Verbriefung der Kredite war<br />

die Basis für eine Kette von ebenso ausgedehntem<br />

wie undurchsichtigem Handel.<br />

So konnte sich der Haarriss auf dem<br />

Immobilienmarkt vertiefen und binnen<br />

Kurzem bis in die Verästelungen des globalen<br />

Bankensystems verzweigen. Nicht<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


4 ANDREAS EXNER, NEULAND STATT KRISE<br />

nur die US -amerikanische Immobilienblase<br />

platzte, auch andernorts, in Spanien,<br />

England oder Irland, begannen die Häuserwerte<br />

zu fallen. Das Vertrauen der Finanzwelt<br />

wurde bis ins Mark erschüttert.<br />

Der Konsum der USA war bis 2007 das<br />

Herz der globalen Konjunktur. Aber dieses<br />

Herz war schwach, denn es hing am<br />

Tropf einer steigenden Verschuldung der<br />

privaten Haushalte. Seit die Schuldenpyramide<br />

einzubrechen begann, sackte auch<br />

das Fundament der weltweiten Nachfrage<br />

immer weiter nach unten. Der eine Prozess<br />

verstärkte den anderen, was im Ganzen<br />

einen Riesenabschwung ergab.<br />

Der Staat sprang frühzeitig als Retter<br />

des Systems ein. Anders als in der Zwischenkriegszeit<br />

existierten dafür die politischen<br />

Instrumente und eine gewisse fachliche<br />

Kompetenz. Darüber hinaus gab es<br />

zwei gute Gründe für hastige „Rettungsaktionen“:<br />

Erstens hatten die Interessen der<br />

Vermögensbesitzer ja schon der ganzen<br />

neoliberalen Periode ihren Stempel aufgedrückt,<br />

sodass auch jetzt „Krisenpakete“<br />

zur Rettung von Banken und Vermögen<br />

Vorrang hatten, auch vor den Interessen<br />

der warenproduzierenden Unternehmen.<br />

Zweitens macht die seit dem Zweiten Weltkrieg<br />

deutlich gewachsene Macht der Gewerkschaften<br />

einen ungebremsten Fall ins<br />

Bodenlose, zwangsläufiger Effekt eines<br />

Zusammenbruchs des Finanzsystems, für<br />

die politische Elite mehr als riskant.<br />

De facto haben die bisherigen Staatsaktionen<br />

die Ansprüche des fiktiven Kapitals<br />

zum großen Teil lediglich umverteilt.<br />

Nun fungiert der Staat als Sachwalter<br />

der Ansprüche auf zukünftigen Mehrwert.<br />

Auch wenn diese durch den Fall von<br />

Aktienkursen und durch Insolvenzen zum<br />

Teil vernichtet worden sind, existiert ein<br />

Großteil nach wie vor. Das ist es, was in<br />

den enorm gewachsenen Staatsschulden<br />

zum Ausdruck kommt. Das fiktive Kapital,<br />

das vor Ausbruch der Krise im luftleeren<br />

Raum der Börsen flottierte, bekommt<br />

nun Zähne, seit der Staatsapparat es unter<br />

seine unheilvollen Fittiche nimmt. Anders<br />

als ein Kapitalist kann der Staat die Abpressung<br />

von Mehrwert nämlich mit dem<br />

Backup von Polizei und Militär handfest<br />

erzwingen. Er kann große Teile der in seinen<br />

Zwinger gesperrten Leute, die mehr<br />

oder weniger auf Transferleistungen angewiesen<br />

sind, fast auf Nulldiät setzen und<br />

eine Intensivierung der Ausbeutung von<br />

Arbeitskraft tatkräftig unterstützen.<br />

Das hat er zwar der Tendenz nach auch<br />

zuvor getan, allerdings lukrierte er durch<br />

die Verschuldungsfähigkeit vieler privater<br />

Haushalte, die Autos, Häuser, Studien usf.<br />

auf Pump finanzierten, eine Befriedungsrente;<br />

und so blieben die Ansprüche auf<br />

künftigen Mehrwert, solange sie nur in den<br />

Himmel wuchsen, ein im Vergleich noch<br />

kleines Übel. Das fiktive Kapital, das sich<br />

ganz einfach „reichgerechnet“ hat, übte<br />

nur indirekt, durch die Shareholder, Druck<br />

auf die Profitabilität der Unternehmen und<br />

damit auf die Beschäftigten aus. Nun aber<br />

ist bare Zahlung, nackte Buchung in Geld<br />

erfordert, um die faulen Kredite zu bedienen<br />

und die Banken „zu retten“. Deshalb<br />

muss die Auspressung der Lohnabhängigen<br />

eine neue Dimension annehmen.<br />

Das Ausmaß der Schuldenberge ist zumindest<br />

zu erahnen, wenn man sie mit der<br />

realen Wirtschaftsleistung ins Verhältnis<br />

setzt. So betrug laut Information des US-Finanzministeriums<br />

(www.tresurydirect.gov)<br />

bis 31. August 2009 der Stand der US-<br />

Staatsschuld des Bundes und der Bundesstaaten<br />

11,8 Billionen Dollar. Zum Vergleich:<br />

Das jährliche Brutto-Inlandsprodukt der<br />

USA betrug 2008 ca. 14,3 Billionen Dollar.<br />

Laut Internationalem Währungsfonds<br />

soll die Staatsschuld der G20 auf Basis<br />

„gegenwärtiger Trends“ bis 2014 auf 118<br />

Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts angewachsen<br />

sein (Financial Times, 4.11.). Die<br />

EU-Finanzminister schließlich warnen,<br />

dass die Staatsschuld der EU bis 2014 rund<br />

100 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts<br />

ausmachen und „weiter zunehmen“ könnte.<br />

Dabei setzen sie allerdings die „langfristigen<br />

Wachstumsraten der Zeit vor der<br />

Krise“, also eine zügige wirtschaftliche Erholung<br />

voraus (Financial Times, 9.11.). Wie<br />

zu erwarten, mahnen sie „fiskalische Disziplin“,<br />

das heißt soziales Elend, ein.<br />

In gewissem Sinn ereilt die Massen<br />

des globalen Nordens nun die „Strukturanpassung“,<br />

die seine Eliten in den vergangenen<br />

zwei Jahrzehnten dem globalen<br />

Süden verordnet hatten. Wie die Staatsapparate<br />

der Dritten und der Zweiten Welt<br />

ihre Bevölkerungen durch Kürzung von<br />

Sozialleistungen, Verschärfung der Arbeitsdisziplin,<br />

Privatisierung von Infrastrukturen<br />

und von gemeinschaftlichen<br />

Gütern unter das Joch der akkumulierten<br />

Renditeansprüche der Anleger drückten<br />

und damit die Akkumulation des Kapitals<br />

per Schuldendienst befeuerten, so<br />

wendet sich nun derselbe Mechanismus<br />

gegen die Bewohner des globalen Nordens.<br />

Die Mechanismen des Kapitals erscheinen<br />

hier nur deshalb erst jetzt so ungeheuerlich,<br />

wie sie sind, weil diese bis<br />

dato nicht in voller Härte zu spüren waren.<br />

Wir profitierten alle von dieser internationalen<br />

Herrschaftsarchitektur, bis hinunter<br />

zur Sozialhilfeempfängerin.<br />

Krisenebenen<br />

Die hiesige Linke thematisiert zwar die<br />

absehbaren sozialen Folgen der Überschuldung,<br />

schweigt aber zumeist zu ihrer<br />

ökonomischen Problematik. Dass die Krise<br />

schon jetzt global enorme Opfer kostet,<br />

bleibt seltsam blass. Man hofft offenbar<br />

auf einen Aufschwung und meint, die<br />

Krise wäre vorrangig eine finanzielle Verteilungsfrage.<br />

Diese Ansicht kann durchaus<br />

damit einhergehen, einen Aufschwung frühestens<br />

erst in einigen Jahren für denkbar<br />

zu halten, wie etwa bei Joachim Bischoff.<br />

Dass der Giftkuchen der Verwertung insgesamt<br />

schrumpfen und klein bleiben dürfte,<br />

wird von den meisten ausgeblendet.<br />

Für das Kapital als eine objektivierte Beziehungsstruktur<br />

gibt es nur eine einzige<br />

Form von Krise: wenn sein Profit niedergeht.<br />

Maß der Verwertung ist die Profitrate,<br />

Ziel kapitalistischer Produktion ist ihre<br />

Maximierung, ihr Fall bedeutet Krise. Im<br />

Hirn der Kapitalagenten zeigt sich dies<br />

als eine Verschlechterung des Klimas für<br />

die Investition. Bei rückläufigen Profitraten<br />

wird sich der Drang, die Produktion<br />

auszuweiten, in Grenzen halten, Investitionsvorhaben<br />

werden eher zurückgestellt,<br />

man trifft Vorbereitungen für Schlimmeres.<br />

Die ökonomische Krise macht sich<br />

bemerkbar als wachsender Druck, die Unternehmen<br />

zu restrukturieren, die Kosten<br />

zu senken, die Ausbeutung der Arbeit zu<br />

verschärfen und die Konkurrenzfähigkeit<br />

zu verbessern. Sofern solche Gegenmaßnahmen<br />

den Fall der Profitrate aufhalten,<br />

sie stabilisieren oder gar erhöhen, ist für<br />

die Augen des Kapitals von einer ökonomischen<br />

Krise nichts zu sehen.<br />

Während die Profitrate den Anreiz zur Investition<br />

regelt, bestimmt die Profitmasse,<br />

vermittelt über das Bankensystem und seine<br />

kreditären Hebeleffekte, den Umfang<br />

der möglichen Akkumulation des Kapitals.<br />

Sofern ein Fall der Profitrate dazu<br />

führt, dass auch die Erweiterung des Kapitalstocks<br />

leidet und die Profitrate stärker<br />

fällt als die Rate der Akkumulation (Neukapital<br />

im Vergleich zum Kapitalstock),<br />

so schrumpft die Masse des Profits, sein<br />

Gesamtvolumen bezogen auf das gesellschaftliche<br />

Gesamtkapital.<br />

Eine Abnahme der Akkumulation freilich<br />

bedeutet strikt ökonomisch noch keine<br />

Krise. Jene muss, anders als ein Fall<br />

der Profitrate, den Akteuren überhaupt<br />

nicht als eine Krise ins Bewusstsein treten.<br />

Nehmen wir als Beispiel die neoliberale<br />

Periode. Ihren ganzen Verlauf über<br />

blieb die Akkumulationsrate vergleichsweise<br />

gering. Der Freisetzungseffekt der<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ANDREAS EXNER, NEULAND STATT KRISE 5<br />

Rationalisierung überstieg den Beschäftigungseffekt<br />

der Akkumulation des Kapitals,<br />

was zumindest im globalen Norden<br />

im Kontext einer Internationalisierung<br />

des Kapitals strukturelle Arbeitslosigkeit<br />

zur Folge hatte. Und doch geht der Neoliberalismus<br />

in die Geschichte der industrialisierten<br />

Länder nicht als eine Phase der<br />

Krise, sondern einer beängstigenden Stabilität<br />

und Kohärenz trotz wachsenden<br />

Elends und einer Zuspitzung von sozialen<br />

Widersprüchen ein.<br />

Nehmen wir umgekehrt das Beispiel<br />

der Krise des Fordismus am Ende der<br />

1960er Jahre. Die Krise seines Akkumulationsregimes<br />

und der entsprechenden<br />

politischen Vermittlung entsprang keineswegs<br />

allein ökonomischen Mechanismen.<br />

Nicht nur waren diese durch soziale<br />

Faktoren wesentlich mitbedingt, etwa indem<br />

Arbeitskämpfe die fordistische Manier<br />

von Produktivitätsfortschritt begrenzten<br />

und zugleich die Lohnkosten<br />

in die Höhe trieben. Vielmehr erodierte<br />

überhaupt der gesellschaftliche Konsens<br />

darüber, was als gut und erstrebenswert<br />

und was als zwangsläufig angesehen<br />

wurde. Ab dem Punkt, an dem die für<br />

den Fordismus wesentliche Kommandoloyalität<br />

aufgesprengt wurde, traten alle<br />

Akteure in einen umfassenden Suchprozess<br />

ein – auf der einen Seite nach neuen<br />

Formen der Prozessierbarkeit von Herrschaft,<br />

auf der anderen Seite nach Befreiung<br />

davon. Als vorläufiges Resultat<br />

etablierte sich aus der Verquickung der<br />

rebellischen Motive mit einem vermögenszentrierten<br />

Pfad der Akkumulation<br />

ein neuer, temporär stabiler Konsens, mit<br />

Gewaltmitteln abgestützt, den wir den<br />

Neoliberalismus nennen.<br />

Eine Krise, die nicht erfahren wird, ist<br />

keine. Zwar kann kein Kapitalist den Fall<br />

der Profitrate ignorieren. Ob aber gesellschaftliche<br />

Ordnungsvorstellungen, die<br />

historisch bestimmten Lebensperspektiven<br />

der Menschen und das Gefühl der<br />

Zwangsläufigkeit sozialer Entwicklungen<br />

sich fortschreiben oder nicht, hängt<br />

nicht allein, vielleicht nicht einmal wesentlich<br />

von ökonomischen Krisenbedingungen<br />

ab, sondern eben von der<br />

Vorstellung, der Perspektive und dem<br />

Gefühl. Der Zusammenhang zwischen<br />

der ökonomischen Krise und dem Krisenbewusstsein<br />

der breiten Masse ist vermittelt.<br />

Die eine bedingt das andere nicht<br />

von Natur aus, ja es kann sich umgekehrt<br />

ein Krisenbewusstsein der Masse als Ausdruck<br />

des Gefühls der Unhaltbarkeit<br />

herrschender Zustände zur Krise des Kapitals<br />

auswachsen.<br />

Worauf es ankommt<br />

Ökonomisch sind die Perspektiven des<br />

Kapitals gemischt. Wie in jeder Krise werden<br />

Kapitalien vernichtet, die überlebenden<br />

finden verbesserte Bedingungen vor<br />

aufgrund der Verbilligung von Kapital<br />

und Arbeit. Dass sich daraus ein neuer<br />

Schub der Akkumulation ergibt, ist damit<br />

keinesfalls schon sicher; denn ein halbwegs<br />

stabiles Akkumulationsregime braucht<br />

nicht nur ein breites Feld von Möglichkeiten<br />

rentabler Investition, sondern ebenso<br />

ein abgestimmtes Netz von Institutionen,<br />

Normen und Aushandlungsprozeduren.<br />

Nicht zuletzt liegen Investitionsfelder<br />

nicht einfach da, sondern müssen politisch<br />

konstituiert und, wie Geschichte und<br />

Gegenwart zeigen, gegen sozialen Widerstand<br />

durchgesetzt werden.<br />

Selbst nach einem neuen Aufschwung,<br />

der zum Mindesten eine großangelegte<br />

Kapitalvernichtung oder langfristige Abschreibung<br />

der Verluste auf Kosten der<br />

Lohnabhängigen voraussetzt, wird sich<br />

angesichts von Ressourcenverknappungen<br />

kein neues Akkumulationsregime etablieren.<br />

Dabei lauern gravierende Gefahren<br />

im Abbau der Staatsschuld als einem Versuch,<br />

die notwendige Kapitalvernichtung<br />

irgendwie kontrolliert zu bewerkstelligen.<br />

Wird sie auf Kosten der Lohnabhängigen<br />

und Erwerbslosen zu rasch zurückgeschraubt,<br />

so trifft sie das Wachstum; wird<br />

sie weiter mit neuen Krediten unterfüttert,<br />

so kann dies Zweifel an Zahlungsfähigkeit<br />

und Bonität der staatlichen Gläubiger<br />

nähren und die Kreditaufnahme<br />

verteuern, Inflationstendenzen inklusive.<br />

Der Effekt der jüngsten staatlichen<br />

Ausgabenprogramme wird nur von kurzer<br />

Dauer sein, und die steigende Arbeitslosigkeit<br />

und weitere Ausfälle bei Konsumkrediten<br />

werden den Abschwung verstärken.<br />

Der relativ gute Zustand der chinesischen<br />

Wirtschaft als neue Hoffnung ist auf einer<br />

Vergrößerung des Überhangs an Produktionsmitteln<br />

gebaut. China bürgt also<br />

ebensowenig wie die konzertierten „Abwrackprämien“<br />

für einen bruchlosen<br />

Aufschwung.<br />

Dass der US-Dollar noch lange Weltgeld<br />

bleibt, ist ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich.<br />

Eher stellt sich die Frage, ob<br />

eine Flucht aus dem Dollar einsetzt oder<br />

ein langsamer Niedergang erfolgt. Mit<br />

dem weiteren Abstieg der USA als Wirtschafts-<br />

und mittelfristig auch als Militärmacht<br />

ist eine grundlegende Verschiebung<br />

in den internationalen Beziehungen<br />

eingeleitet. Aufgrund der wechselseitigen<br />

Abhängigkeit Chinas und der USA ist<br />

eine Weitergabe des Feuers der Akkumulation<br />

an Südostasien schwer vorstellbar.<br />

Das wahrscheinlichste Szenario ist ein<br />

Teufelskreis der Instabilität.<br />

Ein für gesellschaftliche Intervention<br />

brauchbarer Krisenbegriff darf sich freilich<br />

nicht auf die Ökonomie verkürzen.<br />

Die Stabilität der kapitalistischen Ordnung<br />

wird nicht allein vom Rückgang<br />

der Akkumulation, den die Ressourcenverknappung<br />

noch verschärfen wird, in<br />

Frage gestellt. Die Verschiebung der Beziehungen<br />

zwischen kapitalistischer und<br />

nicht-kapitalistischer Produktion könnte<br />

Stabilität bei einer adäquaten Mischung<br />

aus Zwang und Konsens auf niedrigerem<br />

Lebensstandard bei verschärfter Ausbeutung<br />

durchaus wiederherstellen. Schon<br />

bisher war „solidarische Ökonomie“ nicht<br />

nur Moment der kapitalistischen Produktionsweise<br />

selbst, sondern mehr noch Teil<br />

der Überlebensstrategien der verarmten<br />

Massen. Sofern solidarische Produktionsweisen<br />

nicht das Herz von Unterdrückung<br />

und Exklusion, die Verwertung,<br />

angreifen und überwinden, bleiben sie ein<br />

„Schockabsorber“, der die soziale Unordnung<br />

selbstorganisiert verarbeitet und den<br />

Kapitalismus damit stabilisiert. In jedem<br />

Fall wird schon auf kurze Sicht das Elend<br />

zunehmen, selbst wenn sich die Profitraten<br />

erholen würden.<br />

Die ökonomistische Krisenanalyse war<br />

immer schon verkürzt. Sie konnte die Limitierung,<br />

ja Borniertheit sozialdemokratischer<br />

Konzepte beweisen und ein besseres<br />

Verständnis der Krisenpotenziale<br />

ermöglichen. Spätestens jetzt, wo die Krise<br />

längst in den Köpfen der um ihren Besitzstand<br />

besorgten Eliten tobt und die sich<br />

seit vielen Jahren vertiefende soziale Krise<br />

ein neues Barbarisierungsniveau erreicht,<br />

muss sich der strategische Fokus jedoch<br />

verschieben. Es geht nunmehr weniger darum<br />

zu zeigen, dass das sozialdemokratische<br />

Wirtschaftswunderideal definitiv für<br />

den Müll ist, als vielmehr um die Kritik<br />

der kollektiven Vorstellungen von „gutem<br />

Leben“, die sich an Verwertung und Lohnarbeit<br />

ketten und damit alles nur noch<br />

schlimmer machen. Es geht darum, den<br />

Konsens, dass ein Leben ohne Kauf und<br />

Verkauf nicht denkbar sei, mit der Aussicht<br />

auf wohnlicheres Neuland zu verlassen.<br />

Während viele ihr Heil in der individuellen<br />

und nationalen Konkurrenzfähigkeit<br />

suchen, muss der Gedanke der Kooperation<br />

umfassend Wurzeln schlagen und sich<br />

als Struktur des Zusammenlebens realisieren<br />

– in einer Solidarischen Ökonomie,<br />

die vom „Schockabsorber“ zu einer dauerhaften<br />

Lebensperspektive wird.<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


6 FRANZ SCHANDL, PRAXIS DES WOHNENS<br />

Raum für die meiste Zeit<br />

LOSE VERMUTUNGEN ZUR ALLTÄGLICHEN PRAXIS DES WOHNENS<br />

von Franz Schandl<br />

LIVING ROOM<br />

Wenn wir wohnen – was tun wir, was<br />

geschieht uns? So ungefähr lauten unsere<br />

Ausgangsfragen, von denen aus wir<br />

unsere Überlegungen entwickeln möchten.<br />

Wohnen könnte man vorerst einmal<br />

umschreiben als das regelmäßige<br />

Dasein in einer Behausung, die Realisierung<br />

exklusiver Verfügung von Räumlichkeiten.<br />

Es geht um ein (in doppeltem<br />

Wortsinn) festes Zuhause in einem überschaubaren<br />

und abgeschlossenen Bereich.<br />

Der Bezug zur Wohnung ist geprägt von<br />

einer sich stetig durchsetzenden Hingezogenheit,<br />

die mehr als episodischen Charakter<br />

hat, sie ist permanenter Natur. Im<br />

Wohnen drückt sich aus ein mächtiges Wo,<br />

welches das Wohin immer an das Woher<br />

verweisen will. Wohnen hat was von Zurückkommen<br />

und Zusichkommen.<br />

Tür und Tor sind Scheidepunkte der<br />

Welt in ein Innen und ein Außen. Und<br />

diese Grenze will jeder und jede wahrgenommen<br />

sehen. Durch die Wohnung setze<br />

ich anderen eine Schranke, die nicht<br />

verletzt werden soll. Eine Wohnung ist so<br />

betrachtet der Prototyp des nichtöffentlichen<br />

Raumes. Die Möglichkeit des Versperrens,<br />

des unbegründeten Abschließens<br />

und Abschottens hat gewährleistet zu sein.<br />

Das bürgerliche Wohnen baut auf einem<br />

sehr strikten Gegensatz von Exklusion und<br />

Inklusion. Der Wohnraum selbst ist nach<br />

innen weniger porös als der Staat, die Eigner<br />

verfügen rigoros, nach außen zu freilich<br />

soll jener absolut durchlässig sein. Alle<br />

sollen raus dürfen, aber nur wenige rein.<br />

Existenzielle Verortung<br />

Die Zeit, in der wir leben, die ist uns vorgegeben.<br />

Der Ort, an dem wir leben, da<br />

sind wir relativ autonom. Die Wohnung<br />

als Immobilie ist in ihrem empirischen Sosein<br />

die Konkretion eines aktuell unversetzbaren<br />

Sitzes. Sie verortet die unmittelbare<br />

Existenz oder noch genauer: die<br />

Koordinaten räumlichen Existierens. So<br />

könnte man die Wohnung definieren als<br />

physische Behausung mit metaphysischem<br />

Gehalt. Nicht nur wir sitzen in der Wohnung,<br />

die Wohnung sitzt auch in uns, weil<br />

wir ihr Teil geworden sind. Ähnlich der<br />

Nahrung und der Kleidung verkörpert die<br />

Wohnung wohl die erste Kategorie der<br />

Lebensmittel.<br />

Existenzielle Bedürfnisse sind hier zugegen:<br />

Schlafen, Essen, Vögeln, Kleiden,<br />

Waschen, Pflege, Erziehung oder Spiel,<br />

aber auch sehr lästige Pflichten wie Putzen<br />

oder Bügeln, Aufräumen oder Verstauen.<br />

Die notwendige Ausdifferenzierung<br />

der Genannten kann aber bloß<br />

angedeutet werden; insbesondere auch das<br />

ausufernde Fernsehen oder das Internet-<br />

Surfen müssten als Gelegenheiten, die a<br />

priori nicht existenziell sind, wohl aber<br />

so erscheinen, in die Analyse der Struktur<br />

des Wohnens noch einbezogen werden.<br />

Die Wohnung ist ein Ort, der die Regelmäßigkeit<br />

des Alltags ordnet, primär<br />

den Reproduktionsbereich. Berufsleben<br />

und öffentliches Leben finden anderswo<br />

statt, wenngleich in den letzten Jahren Ersteres<br />

immer mehr in den privaten Raum<br />

zurückgedrängt wird, Heimarbeit zusehends<br />

obligat werden möchte, um Kosten<br />

auszulagern.<br />

In der Wohnung hat alles seinen Platz,<br />

was in der Unmittelbarkeit der Reproduktion<br />

vonnöten ist: Kochstellen, Ruhestätten,<br />

Esstische, Rückzugsorte, Waschgelegenheiten,<br />

Aborte, Aufbewahrungsräume.<br />

In den bürgerlichen Haushalten sind diese<br />

zu erkennen als Küche, Schlafzimmer,<br />

Wohnzimmer, Kinderzimmer, WC, Badezimmer,<br />

Speisekammer. Alles fein separiert<br />

und arbeitsteilig angelegt.<br />

Im Wohnen drücken sich ganz wichtige<br />

Aspekte profaner Begehrlichkeiten aus. Die<br />

Wohnung garantiert an sich Widersprüchliches:<br />

Sie gewährleistet das Vereinzeln<br />

ebenso wie das Verrudeln mit bestimmten<br />

Leuten. Die Frage, wer da zusammen<br />

wohnt, ist eine Frage nach der Typologie<br />

der Bewohner. (Vgl. ausführlich Hartmut<br />

Häußermann/Walter Siebel, Soziologie<br />

des Wohnens, Weinheim und München,<br />

2. Aufl. 2000, S. 322ff.) Wir unterscheiden<br />

etwa in Großfamilien, Kleinfamilien<br />

(mit und ohne Patchwork), Kernfamilien,<br />

Alleinerziehende mit Kind(ern), Wohngemeinschaften,<br />

Singlehaushalte, Heime,<br />

Klöster, Kinderdörfer, Haftanstalten<br />

etc. Vorherrschend ist wohl immer noch<br />

die neuzeitliche Kleinfamilie, das heterosexuelle<br />

Paar und seine ein bis zwei Kinder.<br />

Anzumerken bleibt aber, dass der allen<br />

geläufige Zentralbegriff der Familie erst<br />

im 18. Jahrhundert seinen Eingang in die<br />

Umgangssprache gefunden hat.<br />

Abgewandter Lebensmittelpunkt<br />

Das Wohnen ist einem nahe, nicht fern.<br />

So nahe, dass man sich kaum distanzieren<br />

kann. Eben weil Personen und Gegenstände<br />

des Alltäglichen in und um die<br />

Wohnung anzutreffen sind und dies alles<br />

als emotionale Einhegung wahrgenommen<br />

wird. Schon das Kind greift mangels Alternative<br />

eifrig danach, ohne es auch nur<br />

begreifen zu können. Einhegung ist in ihrem<br />

ersten Erleben eine unwidersprochene<br />

Vorgabe für jeden Menschen.<br />

Die Wohnung bildet einen sinnlichen<br />

Lebensmittelpunkt, d.h., sie ist ein Platz,<br />

der (von Ausnahmen abgesehen) täglich<br />

angesteuert wird, die permanente Anlaufstelle,<br />

der Ort des Niederlegens und<br />

des Aufstehens. Zentral sind das Private<br />

und das Intime, das der übrigen Welt Entzogene.<br />

Wohnen erfährt sich als sinnliche<br />

Hingabe nach innen, eins will dabei nach<br />

außen unsichtbar und unhörbar, unberührbar<br />

und unriechbar bleiben. Natürlich<br />

ist dieser Abschluss einmal rigider, einmal<br />

offener, aber Abschluss bleibt Abschluss.<br />

Am allerwichtigsten ist ja auch nicht, dass<br />

die Wohnung geschlossen ist, sondern dass<br />

sie schließbar ist.<br />

Die häusliche Intimität ist gezeichnet<br />

durch das Geborgene wie das Verborgene.<br />

Intimität ist drinnen, nicht draußen.<br />

Wohnung kann verstanden werden als die<br />

der Öffentlichkeit abgewandte Seite. Hier<br />

will man seine Eigenheiten entfalten, ohne<br />

auf Äußerlichkeiten Rücksicht nehmen zu<br />

müssen. Die Wohnung gilt als nichtbeobachtetes<br />

Kontinuum, als Ort diverser Geheimnisse<br />

des Lebens, als Heimstätte für<br />

das vermeintlich Individuelle, wenngleich<br />

bei näherer Sichtung dieses so individuell<br />

wiederum nicht ist.<br />

Diese Abgeschiedenheit entfaltet eine<br />

eigene Ordnung, wo etwa der Rhythmus,<br />

die Gerüche oder die Lichtverhältnisse<br />

charakteristische Potenzen entfalten.<br />

Die darin Lebenden begreifen alles als unmittelbar,<br />

weil es für sie das Unmittelbare<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


FRANZ SCHANDL, PRAXIS DES WOHNENS 7<br />

ist. Aber auch dieses Begreifen ist (gleich<br />

dem Kind) ein Betätigen, mehr Können<br />

als Kennen, mehr Kennen als Erkennen.<br />

Wohnen ist fixierter Bestandteil des<br />

Lebens, ohne dass dieses in jenem aufgeht.<br />

Die Wohnung ist der Raum für die<br />

meiste Zeit, wenngleich der Großteil dieser<br />

Zeit wohl Schlafenszeit ist. Das eigene<br />

Bett erscheint so als hohes Gut und ist<br />

wohl der privateste Platz menschlicher<br />

Wesen. Zweifellos, dort finden wichtige<br />

Dinge statt, vor allem was Geborgenheit<br />

und Verborgenheit betrifft. Wenn die<br />

Wohnung eine Zelle ist, dann ist das Bett<br />

der Zellkern. Was aber auch heißt: Der<br />

Raum für die meiste Zeit ist nicht der<br />

Raum für die meiste Tätigkeit.<br />

Die Tür<br />

Fenster und Tür sind Stellen der Öffnung<br />

(aber nicht der Offenheit) wie der Schließung<br />

(aber nicht der Geschlossenheit).<br />

Ob diese Möglichkeiten realisiert oder<br />

sistiert werden, soll ganz den Inhabern<br />

überlassen sein. Tür und Fenster sind so<br />

fest verankerte, aber bewegliche Teile des<br />

unbeweglichen Ganzen. Eine Phänomenologie<br />

zentraler Wohnungsbestandteile<br />

und deren Entzifferung wäre sicher eine<br />

reizvolle Aufgabe. Eminent erscheint insbesondere<br />

die Disproportion einiger Objekte,<br />

was das Innere und Äußere betrifft.<br />

Fenster: etwas, wo es leichter ist, rauszuschauen<br />

als reinzuschauen; Tür: etwas,<br />

wo es leichter ist, rauszugehen als reinzukommen;<br />

Bett: etwas, wo es leichter ist,<br />

reinzuhüpfen als aufzustehen. Versuchen<br />

wir trotzdem, einige Gedanken anhand<br />

der Tür zu präzisieren.<br />

„Die Tür!“, schreit Gaston Bachelard,<br />

„sie ist ein ganzer Kosmos des Halboffenen...“<br />

(Poetik des Raumes, Frankfurt am<br />

Main 1987, S. 221) Ihre Dialektik besteht<br />

tatsächlich darin, dass sie offen nach innen<br />

und außen, aber auch geschlossen nach innen<br />

und außen sein kann. Von drinnen<br />

nach draußen lässt sie einen ins Freie laufen.<br />

Von außen nach innen lässt sie uns in<br />

die Geborgenheit flüchten. Draußen ist<br />

immer, zumindest in letzter Konsequenz,<br />

das Unbestimmte, es kann alles Mögliche<br />

passieren. Drinnen hingegen soll das Bestimmte<br />

sein, wenn es geht, gar das Selbstbestimmte,<br />

es hat nichts zu passieren.<br />

Den Gesetzen der formalen Logik<br />

folgend haben Innen und Außen hohe<br />

Eindeutigkeit. Das Eine kann nicht das<br />

Andere sein. Hier macht sich eine antagonistische<br />

Differenz geltend, die an Vehemenz<br />

nicht zu wünschen übrig lässt. In<br />

etwa: Alle, die drinnen sind, dürfen rausgehen,<br />

aber nicht alle, die draußen sind,<br />

dürfen reingehen, abgesehen davon, dass<br />

sie ob des Platzmangels sowieso nicht<br />

reingehen dürften. Drinnen und Draußen<br />

können nicht einfach umdefiniert<br />

werden, vor allem dann nicht, wenn wir<br />

Innen als das Umschlossene erkennen und<br />

Außen als das Umschließende.<br />

In einem metaphysischen Anfall hat Gerhard<br />

Ruiss das in seinen Mani-Matter-Übersetzungen<br />

treffend und glänzend besungen:<br />

es is oft a viaeggaz loch in der waund<br />

und in dem loch drinnen aum seitlichn raund<br />

a viaeggaz brettl zum draan darau, dafia<br />

kauns das aufduan und zuaduan; ma nennt<br />

des a dia<br />

a dia hod noamal, ob glaa oda groos<br />

a schnoin drau zum druggn und meisdns a schloos<br />

waunst de dia aufmochsd, kaunsd aus und<br />

kaunsd ei<br />

waun d dia auwa zua is, daun loss besser sei<br />

es gibt nua zwa oatn: offn und zua<br />

is offn is offn, is zua daun is zua<br />

is offn kaunsd eine und aussa dazua<br />

nua waun zua is is zua und is zua daun is zua<br />

(Gerhard Ruiss/Herbert Prenn/<br />

Manni Matter, Gö, Wien 1994)<br />

Der häusliche Kosmos wird komplizierter,<br />

je genauer wir ihn anschauen und<br />

uns jenseits sinnlicher Gewissheiten postieren.<br />

Das Innen ist das Geschlossene, das<br />

Außen ist das Offene, das Außen kann<br />

verschlossen bleiben, aber nie geschlossen<br />

werden. Das Innen kann geöffnet werden,<br />

aber nie das Offene sein. Betrachten<br />

wir das Wohnen vom Standpunkt<br />

des Erlebens, dann gilt: Das Draußen ist<br />

weiträumiger – und macht uns deswegen<br />

kleiner; das Drinnen ist kleinräumiger,<br />

aber macht uns daher größer.<br />

Eigenheim als Eigenheit<br />

Die Wohnung möchte jedenfalls die Eigenheiten<br />

der Wohnenden erlauben und fördern.<br />

Denken wir bloß an die Möbel, die<br />

zentralen Gegenstände der Einrichtung.<br />

Gar nicht wenige Eigentümlichkeiten sind<br />

allerdings mehr die Folge des schnöden<br />

Mammons bzw. umgekehrt die eines eklatanten<br />

Geldmangels. Werfen wir einen<br />

Blick in unsere Wohnung, wo sich einiges<br />

eingerichtet hat, was wir so nicht eingerichtet<br />

hätten, etwa die Küche, die mein<br />

Großvater im Jahre 1974 meinen Eltern<br />

spendierte. Unser Wunsch wäre die nie gewesen,<br />

doch die Geldbörse sagte 1996 nur:<br />

Nehmt sie, seid froh, dass ihr sie habt. Und<br />

so nahmen wir sie, da wir keine neue kaufen<br />

konnten, in Kauf. Dieses Relikt aus vergangenen<br />

Tagen erfüllt zwar einige Notwendigkeiten,<br />

ist aber jenseits praktischer<br />

Kompatibilität, von der Ästhetik ganz zu<br />

schweigen. Mit unserem Geschmack hat<br />

diese Küche absolut nichts zu tun. Diese<br />

Einrichtung sagt nichts über unsere Ausrichtung,<br />

wohl aber über unsere finanzielle<br />

Lage in einer bestimmten Situation.<br />

Geschmack ist natürlich auch keine<br />

Geldfrage. Selbst ausfinanzierte Eigenheiten<br />

in Eigenheimen stellen sich oft als<br />

Multiplikationen der Konvention heraus,<br />

an denen nichts Eigenes zu erkennen<br />

ist. Man kann, aber muss da gar nicht<br />

an IKEA denken. Trotzdem erscheint das<br />

Häusliche als das einem unbedingt Zurechenbare.<br />

Ein Winkel kann noch so daneben,<br />

ein Zimmer noch so verunglückt sein,<br />

es sind doch eigene. „Hier bin ich“, schreit<br />

dann eine Identität, die mehr aus Referenzen<br />

denn Reflexionen besteht. Die Angst,<br />

nichts Eigenes zu sein, ohne Eigentum zu<br />

haben, sitzt tief, und sie ist der bürgerlichen<br />

Konstitution, die Freiheit nur über<br />

Rechtstitel zulässt, entsprechend.<br />

Demobilisierung und Etappe<br />

Die Wohnung dient als Ruhe- und Fluchtpunkt<br />

vor der andauernden Mobilisierung<br />

und den Zwängen. Jene will sich behaupten<br />

als der abgedichtete Raum gegen die<br />

Außenwelt, als Schutz und Aufgehobenheit,<br />

als Innenraum des menschlichen<br />

Lebens, sowohl verstanden als innerster<br />

als auch als innigster. Daheimsein meint<br />

Schonzeit, weil sie der unmittelbaren Konkurrenz<br />

entzogen ist. Wohnen ist verbunden<br />

mit Rasten und Ruhen. Doch dieses<br />

Schonen ist nicht Selbstzweck, sondern<br />

komplementär zu einer äußeren Zweckentsprechung<br />

der Verwertung.<br />

Die Demobilisierung ist der Mobilisierung<br />

vor- und nachgeordnet, sie gleicht der<br />

Etappe im Krieg. Die Regeneration dient<br />

vornehmlich dem Fit-Machen für Job und<br />

Schule, Geschäft und Markt. Der von Konkurrenz<br />

und Kampf weitgehend geschützte<br />

Raum erfüllt also gerade wegen dieser<br />

Schonung seinen Zweck für jene. Die Begriffe<br />

„Freizeit“ und „Erholung“ drücken<br />

das vorzüglich aus.<br />

Freizeit und Erholung sind wiederum<br />

unterbrochen, ja oft dominiert durch unvermeidbare<br />

Haushaltstätigkeiten. Das<br />

Reaktive als das zu Reaktivierende, die<br />

Reproduktion als das zu Reproduzierende<br />

beherrschen den Alltag, geben ihm<br />

Struktur durch die Notwendigkeit der<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


8 FRANZ SCHANDL, PRAXIS DES WOHNENS<br />

LIVING ROOM<br />

Verrichtungen. Diese sind nach wie vor<br />

geschlechts- und generationsspezifisch<br />

strukturiert. Auch Draußen und Drinnen<br />

sind männlich und weiblich codiert. Wobei<br />

dies heute weniger eine Konsequenz<br />

patriarchaler Zuschreibung ist als eine Folge<br />

traditioneller Trägheiten. Nach wie vor<br />

leisten Frauen den meisten Reproduktionsdienst,<br />

Männer noch immer weniger.<br />

Gewohnheit und Gewöhnung<br />

„In seinen Honigwaben speichert der<br />

Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum<br />

da“, schrieb Gaston Bachelard in seiner<br />

„Poetik des Raumes“ 1957. (S. 35) „Für<br />

solche Untersuchungen sind die Träumereien<br />

nützlicher als die Träume.“ (Ebenda)<br />

Zweifellos, da wird auf einen ganz wichtigen<br />

Aspekt verwiesen. Unsere Träumereien<br />

mögen so gar nicht stimmen, aber<br />

sie erscheinen uns stimmig. Sie sind positive<br />

Projektionen, d.h. spezifisch angereicherte<br />

Partikel des Vergangenen, die nun<br />

als geschönte und harmonisierte Sequenzen<br />

uns laben. Das, was man haben will,<br />

verlegt man in die Vergangenheit und tut<br />

so, als ob man es je schon gehabt hätte. Es<br />

ist keine aufgespürte Erinnerung, sondern<br />

eine gespürte Innerung, die sich als beständige<br />

Äußerung gewisser Sentimentalitäten<br />

zu erkennen gibt. Diese sind jedoch allzu<br />

oft auch das Grab von Praxis und Perspektive,<br />

eben weil man sich einer nostalgischen<br />

Utopie hingibt.<br />

Die Wohnung jedenfalls ist unser Bewahrungsort,<br />

ein Gehäuse, das als entrückter<br />

Raum einen bedächtigen Kreislauf<br />

ermöglichen soll. Dieser Raum muss<br />

nicht immer aufs Neue erkundet werden,<br />

wir sind durch Gewohnheit kundig.<br />

Gewohnheit hängt ganz eng mit Wohnen<br />

zusammen, die Sprache verrät das auch.<br />

Wohnung ist das, wo ich schon öfter, ja regelmäßig<br />

gewesen bin. Sie ist Anziehungspunkt,<br />

der Ort, der mich abseits bestimmter<br />

Anlässe stets attrahiert. Das bedeutet<br />

aber nicht, dass man dort, wo man einst<br />

seinen Sitz hatte, sesshaft bleiben muss.<br />

Wohnung ist keineswegs an eine originäre<br />

Herkunft geknüpft, sie kann sich von dieser<br />

gänzlich entfernen. Auch muss es nicht<br />

nur einen Wohnort geben, wenngleich es<br />

nicht viele davon geben kann, sondern<br />

maximal einige wenige, um überhaupt<br />

eine Ansässigkeit und Vertrautheit begründen<br />

zu können, die jenseits eines formalen<br />

Besitztitels sich geltend machen.<br />

Das Zuhause könnte man mit Marcel<br />

Proust wohl beschreiben als „die regelmäßig<br />

wiederkehrenden Abweichungen, die<br />

innerhalb der bestehenden Einförmigkeit<br />

eine zweite Art von Ordnung etablieren“.<br />

(Marcel Proust, In Swanns Welt. Auf der<br />

Suche nach der verlorenen Zeit. Erster<br />

Teil, Frankfurt am Main 1981, S. 148-<br />

149) Und an anderer Stelle sagt er: „Ja, die<br />

Gewohnheit! Sie ist eine geschickte, wenn<br />

auch langsame Umzugskünstlerin, die<br />

zunächst einmal unseren Geist wochenlang<br />

in einem Provisorium schmachten lässt; aber<br />

man ist doch froh über ihr Vorhandensein,<br />

denn ohne sie und aus eigener Kraft wäre<br />

man außerstande, ein Heim bewohnbar zu<br />

machen.“ (Ebenda, S. 16)<br />

Ohne Gewohnheit wäre es uns unmöglich,<br />

sich an das Leben zu gewöhnen.<br />

Diese Selbstvergewisserung ist eine der<br />

Grundlagen unserer vermeintlichen Sicherheit.<br />

Zu untersuchen wäre, was an der<br />

Gewohnheit historischen Charakter hat,<br />

aber auch, was darüber hinausreicht oder<br />

hinausreichen könnte. Gewohnheit sagt<br />

aber nicht, dass es immer so gewesen ist,<br />

sondern bloß, dass das Durchgesetzte sich<br />

Raum und Zeit verschafft hat und nun<br />

meint, Gültigkeit als Ewigkeit suggerieren<br />

zu können. Durch Tradition und Brauch<br />

versucht sich die Gewohnheit als Ontologie<br />

zu verfestigen. Die Vergangenheit sagt<br />

der Gegenwart, dass sie Zukunft sein will.<br />

Eins ist dieser Wohnraum jedenfalls<br />

nicht: der Raum der gesellschaftlichen<br />

Transformation. Wohnen hat sogar<br />

eine eminent affirmative Seite, man hat<br />

sich eingerichtet und man möchte einen<br />

Kreislauf aufrechterhalten. Der Identifizierung<br />

ist schwer zu entgehen: Wenn ich<br />

mich andauernd hineinlege in mein Bett,<br />

dann identifiziere ich mich früher oder<br />

später damit. Egal, ob es mir passte, hat es<br />

mir zu passen, bis es mir passt. Das gilt für<br />

die Couch genauso wie für den Schrank,<br />

ja für die gesamte Räumlichkeit. Denn in<br />

einer gewissen Hinsicht müssen sie mir<br />

entsprechen, sonst hätte ich sie nicht, so<br />

der Zirkelschluss. Und die Außensicht<br />

widerspricht dieser Innensicht gar nicht.<br />

Eine zu große Portion an Häuslichkeit<br />

neigt indes zu Biederkeit und Stupidität,<br />

sie verwandelt das Heim in eine Konservendose<br />

ewig gleichen Geschmacks. Diese<br />

Beständigkeit wirkt abgestanden, es riecht<br />

muffig. Und doch würden wir die Langeweile,<br />

die sich aus den Kontinuitäten des<br />

Eigenheims ergibt, durchaus zweischneidig<br />

betrachten. Einerseits als Fadesse und<br />

Tristesse des Alltags, andererseits aber<br />

auch als Voraussetzung, überhaupt Gedanken<br />

jenseits der Funktionalität fassen<br />

und schöpfen zu können. Selbst das Dämmern<br />

ist mitnichten eine bloß zu verachtende<br />

Größe. Auch es kennt zwei Richtungen<br />

und ist nicht nur Oblomowerei.<br />

Die Gewohnheit ist also weniger eine<br />

Folge der Gestaltung als der Gewöhnung.<br />

Das hat schon was von einer resignativen<br />

Anpassung an die Verhältnisse. Der konkrete<br />

Fall oder besser noch: Zufall erscheint<br />

als Vorgegebenheit, eben weil jene sich täglich<br />

reproduziert und ihre Veränderungen<br />

bedächtig, wenn auch inzwischen immer<br />

weniger langsam vor sich gehen. Die temporalen<br />

Disparitäten betreffend die Gewohnheit<br />

wären aber auch schon wieder<br />

ein eigenes Thema. Die Gewohnheit, so<br />

sehr sie uns als Sicherheit dienlich ist, wird<br />

zusehends selbst zu einer antiquierten Größe,<br />

wenngleich die Wohnung noch zu den<br />

Einheiten größerer Resistenz zu zählen ist<br />

als etwa das Auto, der Computer oder gar<br />

das Handy. Die Grundtendenz ist wohl diese:<br />

Wir können uns an nichts mehr richtig<br />

gewöhnen, sind aber gewöhnt, uns an alles<br />

zu gewöhnen. Das postmoderne Subjekt ist<br />

ein in Raum und Zeit zerrissenes.<br />

Wonne und Behagen<br />

Letztlich möchte die Wohnung gar der Ort<br />

des unbedingten Behagens sein, mehr als<br />

eine Unterkunft. Wohnen und Wonne haben<br />

ja die gleichen etymologischen Wurzeln.<br />

Das Verhältnis zur Wohnung ist emotional,<br />

nicht pragmatisch. Die Wohnung<br />

ist auch ein mentales Gehäuse, eine dritte<br />

Haut. Dort, wo Wohnen gelingt, sprechen<br />

wir von einer wohltemperierten und<br />

harmonischen Fügung der Sinne im Sinne<br />

des Behagens oder einfach der Gemütlichkeit.<br />

Doch geht das? Ohne Schummeln –<br />

um hier ein freundlicheres Wort als das des<br />

Verdrängens zu gebrauchen – wohl kaum.<br />

„Wie es mit dem Privatleben heute bestellt<br />

ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich<br />

kann man überhaupt nicht mehr wohnen.<br />

Die traditionellen Wohnungen, in denen<br />

wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches<br />

angenommen: jeder Zug des<br />

Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis,<br />

jede Spur der Geborgenheit mit<br />

der muffigen Interessengemeinschaft der<br />

Familie bezahlt. (Theodor W. Adorno,<br />

Minima Moralia, Gesammelte Schriften<br />

4:42) Indes, wir sind nicht jenseits, und so<br />

sind der wahre Zug und die richtige Spur<br />

nur als Teil des Falschen zu haben. Man<br />

sollte jene genießen, ohne sie zu idealisieren.<br />

„Das beste Verhalten all dem gegenüber<br />

scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes:<br />

das Privatleben führen, solange<br />

die Gesellschaftsordnung und die eigenen<br />

Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es<br />

nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich<br />

substantiell und individuell angemessen.“<br />

(4:43) Geradewegs so.<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ARAMIS, ORTSANSÄSSIG? 9<br />

grundsätzlich gehe ich davon aus, dass<br />

land niemandem oder allen gehört.<br />

die geeignetsten menschen mögen es<br />

anvertraut bekommen und das für viele<br />

beste daraus machen. in meiner jugend<br />

gab es besetzungen von orten, häusern,<br />

die von ihren eigentümern nicht genützt,<br />

meist als spekulationsobjekte verwendet<br />

wurden. ich habe mich, abgesehen<br />

von solidaritätsaktionen mit den<br />

„landlosen“, hauslosen, anders verhalten<br />

– suchte nach grundstücken und häusern,<br />

die jahrzehntelang verlassen, dem<br />

verfall preisgegeben waren und schloss<br />

mit den eigentümern verträge in form<br />

von naturalpacht: freies wohnen und gestalten<br />

für eine gewisse zeit, nach ablauf<br />

derer ich grund und häuser in restauriertem<br />

zustand zurückgebe. burg linth,<br />

schloss lind mit kapelle, wirtschaftsgebäuden,<br />

obstgarten, wäldchen, weiden,<br />

teich und alten bäumen ist mein viertes<br />

projekt dieser art. dass alles unter ensembleschutz<br />

des bundesdenkmalamtes<br />

steht, kommt mir sehr entgegen, hindert<br />

es doch den eigentümer, dieses oder jenes<br />

gebäude einfach verschwinden zu lassen.<br />

durch diesen zugang wird arbeiten und<br />

leben zur einheit. das einfühlen in historische<br />

bauten und anlagen zur „bildung“:<br />

indem ich am bilden bin, bildet sich meine<br />

persönlichkeit heraus.<br />

bei den orten meines lebens handelt<br />

es sich also immer um „temporäre“<br />

heimaten. wer lebt, übe sich bei zeiten<br />

im abschiednehmen: der tod ist uns<br />

allen gewiss. un-heimlicher aber als<br />

abschied und tod ist mir stets ein „totes<br />

leben“, ein in gewohnheit, wohlstand,<br />

abgesichert-sein versandendes<br />

existieren erschienen. dem un-heimlichen<br />

dieser wohlstandsgesellschaften,<br />

von denen diese meine inseln umzingelt<br />

sind, deren kultur zersetzendes,<br />

fressendes technisches überformen immer<br />

größere teile der welt zur ortlosigkeit<br />

verdammt, gilt mein kampf: ich<br />

verteidige, solange es geht, oasen einer<br />

anderen kultur gegen die herrschende<br />

zivilisation, deren bewohner<br />

immer barbarischer und ferngelenkter<br />

werden. zu sehen wie sich dieser totalitäre<br />

formierungsprozess von menschen,<br />

orten und ganzen landschaften immer<br />

schneller bahn bricht, ist das un-heimlichste<br />

für mich.<br />

ortsansässig?<br />

von aramis<br />

die möglichkeiten historischer „substanz“<br />

liegen für mich im er-innern. im<br />

gegensatz zu einer bildungsvorstellung,<br />

die nur mehr aus-, fort-, weiterbildung<br />

kennt und deren durch „lebenslanges<br />

lernen“ getriebene schüler immer mehr<br />

vom kopf und den wuchernden virtuellen<br />

anschlusswelten bestimmt werden,<br />

betrachte ich die arbeit mit dem ganzen<br />

körper als grundvoraussetzung von<br />

bildung. das leben und arbeiten in und<br />

mit historischen substanzen formt über<br />

die jahre persönlichkeiten, die sich gegen<br />

die abziehbilder des stets wechselnden<br />

zeitgeistes abheben: das ziel, „ein<br />

mensch“ zu werden, wird so nicht verloren.<br />

musealisierung ist natürlich eine<br />

form von aus-dem-verkehr-ziehen. objekte,<br />

die in museen gesammelt sind,<br />

verlieren ihre politische brisanz. für<br />

mich gilt: politik ist nicht die frage, wer<br />

zu wählen sei, sondern wie zu leben sei.<br />

das „andere heimatmuseum“ (des Autors<br />

aktuelles Projekt: www.schosslind.at – Anmerkung<br />

der Redaktion) nimmt deswegen<br />

auch zu gesellschaftlichen vorgängen<br />

ausdrücklich stellung. gesellschaftskritische,<br />

d.h. die unterscheidungsfähigkeit<br />

zwischen guten und schlechten<br />

bzw. sinnvollen und unsinnigen veränderungen<br />

schulende interventionen mit<br />

den mitteln von gegenwartskunst sind<br />

politische eingriffe, zwischenrufe, widerstandsformen,<br />

halten alternativen in<br />

bewusstsein, versuchen „heimat“ zu ermöglichen.<br />

sind selbst eine art von heimat.<br />

„wohnen, dämmern, lügen“, heißt<br />

ein band eines zeitgenössischen dichters<br />

nicht ohne grund. mein ganzes selbstständiges<br />

leben habe ich so etwas wie<br />

ein „wohnzimmer“ nicht eingerichtet.<br />

ich lebe mit meiner familie, den freunden<br />

und gästen in gehäusen, die in zimmer,<br />

säle, kabinette, galerien gegliedert<br />

sind und wo dies und jenes möglich ist<br />

und geschieht. die weihnachtsbäume<br />

wandern durchs haus und versammeln<br />

um sich die feiernden in verschiedenster<br />

umgebung. im sommer wohnt unsereins<br />

so viel als möglich draußen. da ist<br />

alles weit. im winter zieht man sich auf<br />

wenige räume zurück. lebt um die kachelöfen<br />

und herde herum. aber immer<br />

„wohnt“ man arbeitend am land: ob heu<br />

machend oder den schafen zutragend. ob<br />

holz schneidend und hackend oder im<br />

garten pflanzend, jätend, laub rechend.<br />

ob am gemäuer restaurierend, am hölzernen<br />

bundwerk, an den dächern: immer<br />

ist es ein leben auf der bau-stelle.<br />

immer ist für „gymnastik“ gesorgt, für<br />

ein „sportliches“ leben. bis der tod uns<br />

das werkzeug aus der hand windet und<br />

alles erneut zur disposition stellt.<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


10 PETER POTT, SCHÖNER WOHNEN<br />

Schöner Wohnen – in der Kommune<br />

von Peter Pott<br />

LIVING ROOM<br />

Wer seine Individualität mit der eines<br />

anderen Individuums belastet,<br />

schränkt die eigene nicht ein. Er schränkt<br />

sie ein, wenn er sie als Arbeitskraft verkauft,<br />

mit der Institution der Ehe belastet,<br />

sie in ein Eigenheim zwängt. Ohne<br />

Einschränkung assoziiert sich die individuelle<br />

Lebensäußerung des einen − ein<br />

unwiederholbares Lächeln, ein unwiederholbarer<br />

Tanzschritt, eine einmalige<br />

Wortwahl z.B. – den Lebensäußerungen<br />

des anderen Individuums und erweitert<br />

und bestärkt dessen Ausdrucksvermögen.<br />

An die Stelle herrischer Abmachungen,<br />

die die individuellen Lebensäußerungen<br />

als abgemacht ausmachen, den<br />

tastenden Tanzschritt als Bemühen, den<br />

Standardtanz zu tanzen, den Singsang<br />

der Sprache als Zuspruch zum Abgesprochenen,<br />

das sinnende Lächeln als Zustimmung<br />

zum Vorbestimmten tritt eine<br />

Assoziation von Individuen, die einander<br />

zugetan sind und den Staat und seinen<br />

Befehl zur Treue überflüssig macht,<br />

doch nicht die Sache, die sie vereint, ein<br />

Haus z.B., das ihnen auch Unterkunft<br />

bietet – und nicht nur Unterschlupf: ein<br />

Haus, das schwer enttäuscht wäre, wenn<br />

seine Bewohner sich weigerten, ihr miteinander<br />

belastetes Leben auf es zu übertragen<br />

und Kräfte in ihm anzusprechen,<br />

die seinen „beengten und beengenden<br />

gesellschaftlichen Zustand über sich hinaus<br />

treiben zu einem menschenwürdigen<br />

hin“ (Adorno: Noten).<br />

Haus und Zuhause<br />

Es gehört zu „meinem Glück“, bekennt<br />

Nietzsche, „kein Hausbesitzer zu sein“.<br />

Man muss heute hinzufügen, meint Adorno:<br />

„Es gehört zur Moral, nicht bei sich<br />

selber zu Hause zu sein“ (Adorno: Minima,<br />

S. 41). Vorausgesetzt: „Das Haus ist<br />

vergangen“ (ebd.) – und lässt sich nicht<br />

wieder beleben. Adorno sieht da keine<br />

Chance. „Die Möglichkeit des Wohnens<br />

wird vernichtet von der der sozialistischen<br />

Gesellschaft, die, als versäumte,<br />

der bürgerlichen zum schleichenden Unheil<br />

gerät. Kein Einzelner vermag etwas<br />

dagegen“ (ebd.). Natürlich nicht. Zwei,<br />

drei, vier Menschen, die im Gespräch, im<br />

Tanz oder weiß wo sich als „Fahrzeug“<br />

zu „schöner bewegtem Sein“ erfahren<br />

haben und für dieses „Fahrzeug“ eine<br />

Bleibe suchen, vermögen durchaus etwas<br />

dagegen. Sie können, was ein Einzelner<br />

nicht kann. Sie können ein Haus besetzen,<br />

in dem man auch wohnen kann. Sie<br />

müssen es, wenn ihr „Fahrzeug“, das sie<br />

sind, Bestand haben soll – und nicht in<br />

seine Einzelteile zerfallen, die dann nur<br />

irgendwo Unterschlupf finden können.<br />

Die Frage der Unterkunft kann nicht<br />

nur die Frage sein, wie ihr mit Sachverstand<br />

beizukommen ist. Die Frage muss<br />

immer auch sein, was zu tun und zu lassen<br />

ist, damit sie sich als menschenwürdig<br />

erweist. „Bei allen Gedanken muss man<br />

also die Menschen suchen, zu denen hin<br />

und von denen her sie gehen, dann erst<br />

versteht man ihre Wirksamkeit“, so Bertolt<br />

Brecht (Me-ti, S. 18). Bei Marx heißt<br />

das: „Das menschliche Wesen der Natur<br />

ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen;<br />

denn erst hier ist sie für ihn da als<br />

Band mit dem Menschen, als Dasein seiner<br />

für den andren und des andren für<br />

ihn, wie als Lebenselement der menschlichen<br />

Wirklichkeit, erst hier ist sie da<br />

als Grundlage seines eignen menschlichen<br />

Daseins. Erst hier ist sein natürliches<br />

Dasein sein menschliches Dasein und<br />

die Natur für ihn zum Menschen geworden.<br />

Also die Gesellschaft ist die vollendete<br />

Wesenseinheit des Menschen mit der<br />

Natur, die wahre Resurrektion der Natur,<br />

der durchgeführte Naturalismus des Menschen<br />

und der durchgeführte Humanismus<br />

der Natur“ (Ernst Bloch, S. 537f.).<br />

„Also die Gesellschaft“ − die Bewohner<br />

des Hauses, und zwar alle, Männer,<br />

Frauen, Kinder, gleichgültig, über welchen<br />

Sachverstand sie verfügen – ist die<br />

Grundlage des menschlichen Daseins des<br />

Hauses, das auf dieser Grundlage nicht als<br />

Wertobjekt da ist, sondern als gegenständliches<br />

Band, das den einen mit dem anderen<br />

„in seinem individuellsten Dasein“<br />

(ebd. S. 535) verbindet und das „Lebenselement<br />

der menschlichen Wirklichkeit“<br />

ist. Dazu müssen sie das Haus allerdings<br />

auch haben, wie sie auch andere Dinge haben<br />

müssen, die, wie die Dinge liegen, nur<br />

als Wertobjekte zu haben sind. Geld macht<br />

es möglich.<br />

Geld macht das Unmögliche möglich.<br />

Es „zwingt das sich Widersprechende<br />

zum Kuss“, verwandelt „den Blödsinn<br />

in Verstand, den Verstand in Blödsinn“<br />

(ebd.). Es kann Misstrauen mit Vertrauen,<br />

Treue mit Untreue, Hass mit Liebe<br />

verwechseln. Es kann niemand ermächtigen,<br />

sich mit einer „Lebensäußrung als<br />

liebender Mensch … zum geliebten Menschen“<br />

zu machen (MEW EB, S. 566f.).<br />

Geld macht nicht glücklich! Doch wo es<br />

regiert, ist ohne Geld nichts zu machen.<br />

Man muss es haben.<br />

Eigentum haben<br />

Man muss „Eigentum haben“, wie Adorno<br />

schreibt, „wenn man nicht in jene Abhängigkeit<br />

und Not geraten will, die dem<br />

blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses<br />

zugute kommt“ (Adorno: Minima,<br />

S. 42). Und dafür muss man in der Regel<br />

zur Arbeit gehen – und mit seinen „Humanressourcen“<br />

einen Produktionsapparat<br />

beliefern, der einem nicht gehört. Was<br />

man nicht muss? Man muss sein privat erworbenes<br />

Eigentum nicht unbedingt privat<br />

verzehren. Man kann es auch kommunistisch<br />

genießen. Um aber nicht da<br />

zu enden, wohin die Reise im Zuge des<br />

kapitalistisch bestimmten technischen<br />

Fortschritts ohnehin führt −, nicht in jener<br />

Nacht, in der alle Katzen grau sind,<br />

jedes menschliche Individuum als „Humankapital“<br />

erscheint, das völlig uneigensinnig<br />

jede seiner Aktivitäten auf die<br />

Dynamik des kapitalistischen Verwertungsprozesses<br />

ausrichtet −, ist mit dem<br />

negativen auch „das positive Wesen des<br />

Privateigentums“ zu erfassen – und eine<br />

Kommune zu bilden, die die in der Konkurrenz<br />

dumm und einseitig verteidigte<br />

und im Arbeitsprozess zerriebene bürgerliche<br />

Bildung vielseitig und produktiv<br />

nutzt.<br />

Wenn Weib und Kind und natürlich<br />

auch der Mann innerhalb der Kommune<br />

aus dem „Verhältnis der exklusiven Ehe<br />

mit dem Privateigentümer“ heraustreten,<br />

so verabschieden sie sich doch nicht von<br />

ihren individuellen Differenzen – und<br />

damit auch nicht von deren gesellschaftlicher<br />

Natur, der ein differenziertes gesellschaftliches<br />

Verhältnis nur lieb und teuer<br />

ist. Statt sich den Spielraum zu einer individuellen<br />

und somit gesellschaftlichen<br />

Bestimmung ihres Lebens und Daseins<br />

weiter einengen zu lassen, ist der Ausbau<br />

des Spielraums ihr ausdrückliches − nein:<br />

nicht ihr Programm, nicht „ein Zustand,<br />

der hergestellt werden soll“. Es geht nicht<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


PETER POTT, SCHÖNER WOHNEN 11<br />

um den Ausbau einer Räumlichkeit, der<br />

Subjekte voraussetzt, die den ausgebauten<br />

Raum schon in ihrem „Kopf gebaut“<br />

haben, bevor sie ihn materialisieren. Der<br />

Ausbau oder besser gesagt: die Ausweitung<br />

des gesellschaftlichen Spielraums<br />

der Individuen, die die positive Aufhebung<br />

des Privateigentums beinhaltet, beinhaltet<br />

logischerweise auch die positive<br />

Aufhebung der Privatperson: die bewusste<br />

und willentliche Rückkehr des bürgerlichen<br />

Subjekts „in sein menschliches,<br />

d.h. gesellschaftliches Dasein“, in dem die<br />

Individuen ohne Angst verschieden sein<br />

können, ihre furchtlos geäußerten Einfälle<br />

sich zu einer Vorstellung von der<br />

Wirklichkeit vermitteln, die die alte aufhebt.<br />

Und das nicht nur im Spiel, sondern<br />

mit der Kraft, die Fakten schafft − und<br />

Arbeit heißt, mit der die Gemeinschaft<br />

sich als Produktionsapparat setzt, mit dem<br />

sie sowohl ihr sachliches wie auch ihr lebendiges<br />

Vermögen, die Qualität und<br />

Quantität der ihr zur Verfügung stehenden<br />

Produkte und ebenso ihre Produktivkraft<br />

vermehrt. Fragt sich allerdings, ob<br />

das eine möglich ist, wenn das andere nötig<br />

ist: ob „das wirkliche Leben, das den<br />

jetzigen Zustand aufhebt“ (Marx), sich so<br />

zu organisieren vermag, dass es den herrschenden<br />

Zuständen auch tatsächlich<br />

trotzen kann, wenn doch die Trotzigen<br />

nicht umhinkönnen, sich den Anmaßungen<br />

der herrschenden Klasse zu beugen.<br />

Richtiges Leben<br />

Adornos Feststellung, dass es „kein richtiges<br />

Leben im falschen“ gibt, ist wenig<br />

ermutigend. Sie trifft nur bedingt zu.<br />

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass<br />

das Leben nie das richtige ist, es das richtige<br />

immer noch vor sich hat – und dieses<br />

Vorhaben im falschen Leben auch<br />

lebt. Es gibt im falschen Leben ein richtiges,<br />

das das falsche aufhebt: „die wirkliche<br />

Bewegung“, die Marx und Engels<br />

kommunistisch nennen, „welche den jetzigen<br />

Zustand aufhebt“ (MEW 3, S. 35).<br />

Diese Bewegung gibt es unter jeder Bedingung.<br />

Es gibt nicht immer und überall,<br />

gibt nirgends, gab nie Bedingungen,<br />

unter denen das richtige Leben sich<br />

ohne Einschränkung auch zu realisieren<br />

vermochte. Stets unterlag es staatlichen<br />

Beschränkungen, wenn auch lange<br />

nicht in der umfassenden Weise des modernen<br />

bürgerlich-kapitalistischen Staates.<br />

Es gibt auch in diesem falschen Leben<br />

ein richtiges, das dem falschen trotzt<br />

– und bei allem Trotz sich beugt. So tief<br />

inzwischen, dass Zweifel erlaubt sind,<br />

ob es je wieder aus seinem Tiefsinn auftaucht,<br />

um über den oberflächlichen Erfahrungsaustausch<br />

menschlicher Individuen<br />

wieder richtig in Form zu kommen,<br />

die abgetauchte wirkliche Bewegung sich<br />

auf eine Gesellschaft zubewegt, die vermeidet,<br />

„die Gesellschaft ... als Abstraktion<br />

dem Individuum gegenüber zu fixieren“<br />

(MEW EB, S. 539). Der Zweifel<br />

bleibt, auch wenn nicht zu zweifeln ist,<br />

dass genügend Spielraum ist, sich der routinierten<br />

Verbeugung vor der Herrschaft<br />

des Interesses zu entziehen – und sich auf<br />

eine liebenswürdigere Lebens- und Arbeitsweise<br />

zu besinnen als die, der die Individuen<br />

notgedrungen nachgehen müssen.<br />

Dass die Masse diesen Spielraum<br />

dann doch nicht nur verspielt, beweist<br />

schon die Masse „Schwarzarbeit“, in der<br />

mit mehr Liebe als sonst und guten Bekannten<br />

ein Haus gebaut oder sonst eine<br />

Arbeit gemeistert wird, die dem offiziellen<br />

Arbeitsmarkt im wahrsten Sinne des<br />

Wortes abhanden kommt. Sie beweist allerdings<br />

auch, dass Individuen, die sich<br />

zusammentun und mit schwarzer Arbeit<br />

der weißen trotzen und weitergehen<br />

als die Polizei erlaubt, doch in der<br />

Regel nicht weit genug gehen, um dem<br />

richtigen Leben im falschen eine wirkliche<br />

Chance zu geben, die verlangt, dass<br />

die schwarz miteinander verbundenen<br />

Produzenten ihr Produkt nicht auf den<br />

Markt tragen, sondern es auch gemeinsam<br />

genießen, das miteinander gebaute<br />

Haus auch miteinander bewohnen und<br />

so gewohnheitsmäßig mit mehr Liebe<br />

zur Sache kommen, mehr Leben im Haus<br />

sich abspielt. Es läge nahe.<br />

„Der Kommunismus ist wirklich die<br />

geringste Forderung, / Das Allernächstliegende,<br />

Mittlere, Vernünftige“, heißt<br />

es in dem Anfang der 1930er Jahre geschriebenen<br />

Gedicht „Der Kommunismus<br />

ist das Mittlere“ von Bertolt Brecht.<br />

Er bietet „die praktikablen Erkenntnisse“,<br />

so erläutert Walter Benjamin brieflich<br />

Brechts Gedicht Werner Kraft, „die<br />

unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen<br />

abzustellen, ja überhaupt<br />

die unbescheidene Perspektive auf totale<br />

Systeme aufzugeben, und den Versuch<br />

zumindest zu unternehmen, den Lebenstag<br />

der Menschheit ebenso locker aufzubauen,<br />

wie ein gutausgeschlafener, vernünftiger<br />

Mensch seinen Tag antritt“<br />

(zitiert nach Erdmut Wizisla, S. 272).<br />

Schwarzarbeit, die so weit nicht geht,<br />

dass die in ihr unvermeidlichen menschlichen<br />

Begegnungen sich auch als „das<br />

energische Prinzip der nächsten Zukunft“<br />

(Marx) organisieren, hat kaum<br />

eine Chance, „die unfruchtbare Prätension<br />

auf Menschheitslösungen abzustellen“.<br />

Die Produzenten bleiben dem<br />

Tiefsinn verhaftet, der sie an „die unbescheidene<br />

Perspektive auf totale Systeme“<br />

kettet. Von der Erfahrung ihrer produktiven<br />

Energie berauscht und praktisch<br />

mit Auge und Ohr, mit allen fünf Sinnen<br />

darauf eingestellt, mehr mit- und füreinander<br />

zu tun, erleben sie mit dem Rückzug<br />

ins „Privatleben“ die kollektive Erfahrung<br />

des Rausches als private Potenz,<br />

mit der sie die gesellschaftliche Macht,<br />

die ihnen noch zu eigen ist, als belanglos<br />

abtun und lieber ihr Leben lassen, als das<br />

„Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige“<br />

zu tun.<br />

Welche Macht sie noch haben? Sie haben<br />

ein mehr oder weniger ausgekochtes<br />

Leben, das trotz eindringlicher Verformungen<br />

die „revolutionäre Energie“ besitzt,<br />

die versteinerten Verhältnisse immer<br />

wieder zum Tanzen zu zwingen, um in<br />

dem „Ausnahmezustand, in dem wir leben“,<br />

die individuelle Energie als gesellschaftliche<br />

Macht zu erleben, mit der sich<br />

auch „schwarz“ arbeiten lässt. Wenn sie<br />

die Chance nicht nutzen bzw. sie nicht<br />

weitgehend genug nutzen, zwar mit mehr<br />

Liebe als sonst und guten Bekannten ein<br />

Haus sich bauen, doch dieses Haus nicht<br />

nutzen, um es mit den ihm „schwarz“ verbundenen<br />

Produzenten auch zu bewohnen<br />

und mit ihnen gewohnheitsmäßig<br />

mit Liebe zur Sache zu kommen, dann...<br />

Dann sollten sie nicht nur die Herrschenden<br />

anklagen und darüber klagen, dass<br />

„die Möglichkeit des Wohnens ... von<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


12 PETER POTT, SCHÖNER WOHNEN<br />

LIVING ROOM<br />

der der sozialistischen Gesellschaft“ vernichtet<br />

wird, „die, als versäumte, der bürgerlichen<br />

zum schleichenden Unheil gerät“.<br />

Wie Adorno klagt (Minima, S. 41).<br />

Sie sollten stattdessen das Versäumte nach<br />

Maßgabe des Möglichen unversäumt<br />

nachholen.<br />

JedeR Einzelne<br />

„Kein Einzelner vermag etwas dagegen.“<br />

Wendet Adorno ein. Kein Einzelner aber<br />

ist so vereinzelt und bar aller Mittel, um<br />

sich und seine Mittel nicht einem Verein<br />

von „Bekannten, Erreichbaren, viele<br />

Kennenlernenden und Erreichenden in<br />

der Masse der Unbekannten“ anvertrauen<br />

zu können (Brecht) und damit eine<br />

Wohnung zu beziehen, in der anders als<br />

in den „traditionellen Wohnungen, in<br />

denen wir groß geworden sind“, nicht<br />

„jede Spur der Geborgenheit mit der<br />

muffigen Interessengemeinschaft der Familie“<br />

zu bezahlen ist (Adorno: Minima,<br />

S. 40), sondern mehrere Familien eine<br />

Wohngemeinschaft bilden, die ihr vereintes<br />

Privatvermögen nicht nur vereint<br />

verzehren, sondern auch als Mittel zu ihrer<br />

Produktion nutzen. Aber wer will das<br />

schon? Adorno nicht. Er ist überzeugt:<br />

„Das beste Verhalten all dem gegenüber<br />

scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes:<br />

das Privatleben führen, solange<br />

die Gesellschaftsordnung und die<br />

eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden,<br />

aber es nicht so zu belasten, als wäre<br />

es noch gesellschaftlich substantiell und<br />

individuell angemessen. ... Die Kunst bestünde<br />

darin, in Evidenz zu halten und<br />

auszudrücken, dass das Privateigentum<br />

einem nicht mehr gehört...; dass man<br />

aber dennoch Eigentum haben muss,<br />

wenn man nicht in jene Abhängigkeit<br />

und Not geraten will, die dem blinden<br />

Fortschritt des Besitzverhältnisses zugute<br />

kommt. Aber...“, so muss Adorno eingestehen:<br />

Die Verteidigung des Privateigentums<br />

ist „schon in dem Augenblick,<br />

in dem man sie ausspricht, eine Ideologie<br />

für die, welche mit schlechtem Gewissen<br />

das Ihre behalten wollen“ (S. 41f.).<br />

Adorno entschuldigt sich: „Es gibt<br />

kein richtiges Leben im falschen“ (ebd.).<br />

Stimmt. Es gibt in den herrschenden Verhältnissen<br />

für das menschliche Miteinander<br />

keine richtige, keine glückliche Lösung.<br />

Es gibt aber eine bessere als die, die<br />

Adorno vorschlägt. Deren Kunst bestünde<br />

darin, mit dem privaten Eigentum,<br />

das man haben muss, „wenn man nicht in<br />

jene Abhängigkeit und Not geraten will,<br />

die dem blinden Fortschritt des Besitzverhältnisses<br />

zugute kommt“, ein Privatleben<br />

zu führen, das sich nicht nur moralisch<br />

für unangemessen hält und nur<br />

theoretisch für ein anderes Leben spricht.<br />

Es bleibt dabei: Nicht genug, dass man<br />

„die Welt nur verschieden interpretiert,<br />

es kömmt darauf an, sie zu verändern“<br />

(MEW 3, S. 7), wenn nicht im Ganzen,<br />

dann doch im Kleinen.<br />

Auch wenn die Gesellschaftsordnung<br />

nur ein privat geführtes Leben duldet, so<br />

muss man doch keineswegs so geduldig wie<br />

Adorno auch die aufs Privatleben eingeschworenen<br />

Bedürfnisse dulden – und Verhältnisse<br />

ertragen, die unerträglich sind.<br />

Zumal die eigenen Bedürfnisse gar nicht so<br />

geduldig sind – und ungeduldig darauf bestehen,<br />

dass mehr Leben ins Haus kommt,<br />

als die bürgerliche Hausordnung vorsieht:<br />

die Aufregung, die von draußen kommt,<br />

die schon mit der Geburt eines und aufregender<br />

noch mit der mehrerer Kinder<br />

ins Haus kommt, und die dann auch noch<br />

zahllose fremde Kinder mitbringen.<br />

Frischer Wind<br />

Der frische Wind, der mit Kindern ins<br />

Haus kommt und seine Behaglichkeit<br />

tilgt, wird freilich nur bleiben und den<br />

Muff vertreiben, wenn der Hausherr seine<br />

Beherrschung verliert – und ihm die<br />

fremden Kinder so lieb sind wie die eigenen<br />

und diese ihm durch ihre Zuneigung<br />

zu den fremden noch lieber werden.<br />

Womit er auch das Verhältnis zu<br />

seiner Frau aufs Spiel setzt, die als Mutter<br />

ihren Mutterstolz hat, der sie zwingt,<br />

sich unsterblich in das Leben zu verlieben,<br />

das sie ohne viel Bedenken zur Welt<br />

gebracht hat. Nicht auszuschließen, dass<br />

der Mutter Bedenken kommen, das eigene<br />

Leben in dem ihrer Kinder zu suchen,<br />

statt mit einem eigenen in das der Kinder<br />

zu treten. Denkbar, dass die Gattin die<br />

Unbeherrschtheit des Gatten, die ihm die<br />

Vater- und ihr die Mutterrolle verleidet,<br />

nicht länger entsetzt − und sie ermuntert,<br />

für das sich auflösende und mit fremden<br />

Lebensweisen sympathisierende Familienleben<br />

ein Unterkommen zu suchen,<br />

in dem es mit anderen Familien unterkommt,<br />

die es satt haben, „mit schlechtem<br />

Gewissen das Ihre zu behalten“.<br />

Dass man „Eigentum haben muss,<br />

wenn man nicht ... in Abhängigkeit und<br />

Not geraten will“, ist keine Frage. Die<br />

Frage ist, ob man es für sich allein haben<br />

muss. Man muss es nicht! Wenn man<br />

das Privateigentum auch nicht allgemein<br />

aufheben kann, so kann man doch sein<br />

Eigentum, ohne in Not und Abhängigkeit<br />

zu geraten, mit dem Eigentum anderer<br />

zusammentun – und zugeben, dass<br />

das zusammengetane Eigentum nicht nur<br />

nicht „einer lieblosen Nichtachtung für<br />

die Dinge“ Vorschub leistet, „die notwendig<br />

auch gegen die Menschen sich<br />

kehrt“, wie Adorno befürchtet (ebd.),<br />

sondern eher einer liebevolleren Beachtung<br />

der Dinge und notwendigerweise<br />

auch der Menschen dient.<br />

Statt die Dinge, die man geerbt, durch<br />

Arbeit oder sonst eine Beschäftigung in<br />

seinen privaten Besitz gebracht hat, im<br />

Privatbesitz zu belassen, sie nur als Mittel<br />

zur Sicherung und Erweiterung der<br />

privaten Existenz wertzuschätzen, lassen<br />

sie sich bei gutem Willen auch als gesellschaftlich<br />

produziertes und so zu produzierendes<br />

Eigentum genießen – und<br />

das nicht nur theoretisch, sondern auch<br />

praktisch. Das „ist wirklich die geringste<br />

Forderung“. Sie fordert nicht, den zweiten<br />

Schritt vor dem ersten zu tun – und<br />

mit der wertlosen schwarzen Arbeit keiner<br />

wertvollen Lohnarbeit mehr nachzugehen.<br />

Das kann sich kein Arbeiter leisten.<br />

Er bleibt, so reichhaltig auch die Eigenproduktion<br />

ist, auf die Mittel angewiesen,<br />

die das Kapital der Kapitalisten bilden, so<br />

dass er notgedrungen aus dem Haus heraus<br />

und zur Arbeit gehen bzw. surfen muss,<br />

um das „Spiel seiner eignen körperlichen<br />

und geistigen Kräfte“ (MEW 23, S. 193)<br />

in einer Anordnung zu genießen, mit der<br />

nicht zu spielen ist. Anders als dort, wo er<br />

mit „Bekannten, Erreichbaren“ zu Hause<br />

ist. Da kann der Arbeiter das Spiel seiner<br />

körperlichen und geistigen Kräfte auch in<br />

eigener Anordnung genießen – und das<br />

durchaus auch zu produktiven Zwecken:<br />

in der Erzeugung von Lebensmitteln, die<br />

ihn nicht von der Lohnarbeit befreit, aber<br />

eine Menge davon erspart, die um so größer<br />

ist, desto größer die Zahl der „Bekannten,<br />

Erreichbaren“ ist, die ihr privates<br />

Hab und Gut zusammentun, ohne es<br />

lediglich verzehren zu wollen.<br />

Literatur<br />

Theodor W. Adorno: Minima Moralia,<br />

Frankfurt/M. 1984.<br />

Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur,<br />

Frankfurt/M. 1989.<br />

Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung I−III,<br />

Frankfurt/M. 1968.<br />

Bertolt Brecht: Me-ti, Buch der Wendungen,<br />

Frankfurt/M. 1971.<br />

Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW),<br />

Berlin 1981.<br />

Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht,<br />

Frankfurt/M. 2004.<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION 13<br />

Gentrification und urbane Bewegung<br />

von Roger Behrens<br />

„My lifestyle determines my deathstyle.“<br />

Metallica, „Frantic“<br />

Die einstige Hoffnung der funktionalistischen<br />

Planung, die moderne<br />

Stadt sei in ihrer Raumgestalt fertig,<br />

und hätte zumindest soviel Dauer und<br />

Bestand, dass in ihr die Menschen noch<br />

im neuen Jahrtausend leben könnten, hat<br />

sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: Seit<br />

den achtziger Jahren zeichnet sich immer<br />

deutlicher ein Prozess der massiven<br />

Umgestaltung der Metropolen und<br />

ihrer Grundstruktur ab, in dem sich die<br />

allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen<br />

der politischen Ökonomie manifestieren:<br />

Die fordistische Stadt (eine Stadt<br />

der Inklusion) wird von der postfordistischen<br />

Stadt (eine Stadt der Exklusion)<br />

abgelöst. Welche Veränderungen das sozial<br />

und architektonisch nach sich zieht,<br />

zeigt sich an den paradox scheinenden<br />

Diagnosen der ‚Endless Cities‘ einerseits,<br />

der ‚Shrinking Cities‘ andererseits. Tatsächlich<br />

sind die bis in die siebziger Jahre<br />

hinein in Beton gegossenen Riesenstädte<br />

keineswegs statisch, stabil, „steinern“;<br />

vielmehr sind sie höchst veränderbar,<br />

dynamisch, von Krisen und Katastrophen<br />

gekennzeichnet, die sich im Einsturz,<br />

Abbruch, Leerstand, Zerfall und<br />

Verwüstung äußern.<br />

Mitten in den Metropolen Shanghai,<br />

Dubai oder Berlin gibt es Brachen, Neuland<br />

als Baufläche, auf der ganze urbane<br />

Zonen neu entstehen. In Hamburg<br />

wird im Zentrum mit der „Hafen City“<br />

ein neuer Stadtteil gebaut – ein in diesem<br />

Ausmaß und dieser Lage weltweit einzigartiges<br />

Bauvorhaben. Das hat Auswirkungen<br />

auf die umliegenden Stadtteile:<br />

vor allem das Schanzenviertel, St. Pauli<br />

und, im Zuge des Hafen City-Projekts,<br />

Wilhelmsburg.<br />

In diesen Vierteln gibt es ohnehin<br />

Wandlungsprozesse, die zunächst auf der<br />

Erscheinungsebene auffällig geworden<br />

sind: Andere Leute, andere Läden etc.<br />

Es manifestieren sich Veränderungen, die<br />

nur zu offensichtlich scheinen. „Gegner“ dieser<br />

Prozesse – Stadtteilaktivisten, Hausbesetzer<br />

und Wohnprojektler, Autonome<br />

und sonstige Engagierte sprechen von<br />

Gentrifizierung. Mittlerweile ist dieser der<br />

kritischen Stadtsoziologie entnommene<br />

Begriff kaum mehr als ein Schlagwort,<br />

mit dem in seiner allgemeinsten Definition<br />

beklagt wird, dass vorgeblich alteingesessene,<br />

„ursprüngliche“ Bewohner<br />

durch steigende Mieten von beruflich<br />

und finanziell gut situierten „Reichen“<br />

verdrängt werden. Damit einher geht<br />

eine Verwandlung des gewohnten und<br />

liebgewonnenen Straßenbildes und damit<br />

ein Verschwinden des das jeweilige<br />

Viertel – angeblich – bestimmenden<br />

Lebensgefühls: die eine „Viertelkultur“,<br />

bei der suggeriert wird, dass sie „authentisch“<br />

sei, werde zerstört und ersetzt durch<br />

eine neue „Kommerzkultur“, die „hier“<br />

gar nicht hingehöre: Modeläden, Bars,<br />

Restaurants der Neuen Küche (Fingerfood<br />

etc.) und ein damit identifiziertes<br />

Publikum prägen fortan die Szenerien.<br />

Die in der Regel nur durch vage Informationen<br />

bestätigte Meinung, dass<br />

sich die meisten der bisherigen Bewohner<br />

diesen Kommerz beziehungsweise<br />

die Verteuerungen nicht mehr leisten<br />

können, ist nur ein Aspekt der gentrifizierungskritischen<br />

„Bewegungen“. Tatsächlich<br />

konzentriert sich darauf gar<br />

nicht die Hauptkritik der Gentrifzierungsgegner;<br />

gerade die bei diesen beliebte<br />

Parole „Reclaim the Streets“ zeigt<br />

an, dass es primär um das Leben auf der<br />

Straße geht, um den dort präsenten und repräsentierten<br />

Lifestyle. Es geht nicht um<br />

Haushalts- und Wohnformen, radikale<br />

Kritik an Immobilieneigentum; weder<br />

um sozialreformerische Forderungen<br />

nach infrastrukturellen Verbesserung der<br />

Versorgung, noch um stadtkritische Utopien.<br />

Verteidigt werden die eigene Position<br />

innerhalb des „öffentlichen Raums“,<br />

und damit das postmoderne Derivat der<br />

„Privatsphäre“, die längst in diese „Öffentlichkeit“<br />

aufgelöst wurde.<br />

Diese Verschiebung des „Privaten“ ins<br />

„Öffentliche“ kündigte sich ebenfalls in<br />

den achtziger Jahren an, allgemein durch<br />

den Neokonservatismus der Ära Reagan-<br />

Thatcher-Kohl, in der Linken in Bezug<br />

auf das Stadtleben durch das Ende der<br />

Hausbesetzerbewegung und die Konzentration<br />

auf kulturelle Freiräume (in<br />

Hamburg zum Beispiel: Kemal-Altun-<br />

Platz, Rote Flora, Park Fiction). Mit der<br />

Abspaltung des „Politischen“ durch die<br />

Etablierung einer Poplinken und eines<br />

vermeintlich hedonistischen Lebensstils<br />

wurde diese Verschiebung schließlich besiegelt:<br />

in der urbanen Selbststilisierung<br />

durch Mode, adaptierte Rollen und Stereotypen<br />

und andere Formierungen eines<br />

repräsentativen Geschmacks.<br />

Eine Kritik des Kapitals, das seit der<br />

Neuzeit in Produktions- wie Reproduktionsverhältnissen<br />

in den Städten seinen<br />

vielfältigen Ausdruck gefunden hat,<br />

kommt in den Auseinandersetzungen<br />

um die Gentrifizierung zumeist nur als<br />

abstrakte quantitative Größe vor: „Alles<br />

wird teurer“, das Leben wird kommerzialisiert<br />

beziehungsweise die Stadt<br />

wird ökonomisiert. Diese Kritik bleibt insofern<br />

abstrakt und bloß quantitativ, weil<br />

sie eine viertelspezifische – also scheinbar<br />

nur hier wirkende – Erhöhung der Lebenshaltungskosten<br />

unterstellt, die an<br />

steigenden Mietpreisen und einem mit<br />

„Luxus“ assoziierten Konsumangebot<br />

(etwa Boutiquen, Cafés mit extravaganten<br />

Sortimenten) festgemacht wird; dadurch,<br />

so die These, werden die bisher<br />

ansässigen Bewohner „verdrängt“, das<br />

heißt gezwungen wegzuziehen. Faktisch<br />

zielt diese Kritik nicht auf das Kapital,<br />

sondern auf ein bestimmtes Publikum,<br />

das mit der Kommerzialisierung identifiziert<br />

wird.<br />

Fassadenkritik<br />

Es ist dies zudem ein Publikum, das in<br />

seiner Haltung und Mode vom eigenen<br />

kulturlinken pseudohedonistischen<br />

Lebensstil gar nicht so weit entfernt<br />

scheint, gleichzeitig aber diesen Lebensstil<br />

(waren)ästhetisch überformt und damit<br />

„verrät“. Eine weitere Teilnahme an<br />

diesem Lifestyle ist – wie es die Poplinke<br />

bereits vorlebte – einem permanenten<br />

Legitimationszwang unterworfen, der<br />

jetzt aber nicht mehr an als „politisch“<br />

verstandene kulturelle Einverständnisse<br />

gebunden ist, sondern an spektakuläre<br />

Inszenierungen der Simulation eines<br />

gelungenen, (ökonomisch) erfolgreichen<br />

und somit auch kulturell wertvollen Lebens,<br />

das man führt oder vielmehr führen<br />

möchte.<br />

Diese Kritik bleibt oberflächlich und<br />

buchstäblich an den Fassaden hängen:<br />

Gentrifizierung als soziales Verhältnis<br />

wird weder in der ökonomischen noch<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


14 ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION<br />

LIVING ROOM<br />

demografischen Struktur der Stadt analysiert;<br />

eine gesellschaftskritische Klassenanalyse<br />

fehlt ebenso wie eine Kritik der<br />

politischen Ökonomie der Stadt. Stattdessen<br />

konzentriert sich die gegenwärtige<br />

Gentrifizierungskritik auf die Verteidigung<br />

eines linkskulturellen, alternativen<br />

Status Quo, das heißt auf die Verteidigung<br />

vermeintlicher urbaner Freiräume.<br />

Sie sind Gegenstand der Auseinandersetzungen,<br />

weil man in ihnen selber wohnt<br />

oder einen repräsentativen Teil der Lebenszeit<br />

verbringt; es sind mithin genau<br />

deshalb Freiräume, weil man hier präsent<br />

ist und einen bestimmten „alternativen“<br />

Lifestyle etabliert hat. Kraft der Illusion,<br />

dass man sich mit seinem eigenen Lebensstil<br />

stets außerhalb der kapitalistischen<br />

Verwertungslogik glaubte, ergo dass das<br />

durch den eigenen Lebensstil definierte<br />

Viertel von einer nicht aggressiv-kapitalistischen<br />

Ökonomie gekennzeichnet sei<br />

(sondern durch fairen Tausch, Plattenläden<br />

mit den Soundtracks der Freiräume,<br />

günstige Second Hand-Läden, gemütliche<br />

Flohmärkte etc.), hat sich die paradoxe<br />

Ideologie verdichtet, dass einerseits<br />

die Gentrifizierung nur das eigene Viertel<br />

betrifft und nachgerade als persönlicher<br />

Angriff auf die „eigenen Freiräume“<br />

deklariert wird, dass andererseits sich erst<br />

mit der Gentrifizierung eine Ökonomisierung<br />

des Stadtteils vollzieht, die in<br />

anderen, nicht von der Gentrifizierung<br />

betroffenen Stadtteilen schon längst abgeschlossen<br />

scheint.<br />

Aufwertung<br />

„Mit Gentrification wird die bauliche<br />

Aufwertung eines Quartiers mit nachfolgenden<br />

sozialen Veränderungen bezeichnet,<br />

die in der Verdrängung einer<br />

statusniedrigen sozialen Schicht durch<br />

eine höhere resultieren. Zu beobachten<br />

waren solche Prozesse in Deutschland<br />

zum ersten Mal in den späten siebziger<br />

Jahren, als Studenten und Künstler (‚Pioniere‘)<br />

sich in leerstehenden Wohnungen<br />

und Gewerbegebäuden in Quartieren<br />

aus der Zeit der Industrialisierung<br />

einrichteten, durch ihre baulichen, kulturellen<br />

und ökonomischen Aktivitäten<br />

das Milieu und das Image der verfallenden<br />

Nachbarschaft veränderten und so<br />

einen neuen Investitionszyklus auslösten,<br />

an dessen Ende dann das Quartier überwiegend<br />

in den Händen von überdurchschnittlich<br />

gut verdienenden, jungen<br />

Haushalten lag – überwiegend Haushalte<br />

von Alleinstehenden, in hochwertigen<br />

Dienstleistungstätigkeiten beschäftigt.<br />

In den USA wurden sie als young urban<br />

professionals charakterisiert, und die Abkürzung<br />

Yuppies ist auch in Deutschland<br />

zum gängigen Begriff in der Beschreibung<br />

dieses ungeplanten Wandels von<br />

innerstädtischen Altbaugebieten geworden.“<br />

(Hartmut Häußermann, Dieter<br />

Läpple, Walter Siebel, Stadtpolitik, Ffm.<br />

2008, S. 242f.)<br />

Der aus der US-amerikanischen New<br />

Urban Sociology der achtziger Jahre<br />

kommende Begriff „Gentrification“ ist<br />

kritisch gemeint und bedeutet zunächst,<br />

der üblichen stadtsoziologischen Definition<br />

nach, die „Aufwertung innerstädtischer<br />

oder innenstadtnaher Viertel“.<br />

Damit sind die drei wesentlichen<br />

Aspekte der Gentrification angedeutet:<br />

Erstens: Gentrification findet in Großstädten,<br />

Metropolen, urbanen Ballungszonen<br />

statt, nicht in Dörfern oder ländlichen<br />

Regionen; zweitens: Gentrification<br />

betrifft Viertel in der Nähe der Zentren,<br />

nicht Randgebiete, Trabantenstädte etc.;<br />

drittens: Gentrification ist eine ökonomische<br />

Aufwertung, die in einer sichtbaren<br />

und erlebbaren Erhöhung der Lebensqualität<br />

in einem Viertel ihren Ausdruck<br />

findet – und das setzt voraus, dass es<br />

überhaupt signifikant etwas aufzuwerten<br />

gibt (in Hamburg dürften innenstadtnahe<br />

Viertel wie Pöseldorf, Eppendorf oder<br />

Rotherbaum kaum gentrifiziert werden),<br />

dass es aber auch einen Bedarf an<br />

Aufwertung gibt, der eine lebensstilistische<br />

Identifikation mit dem eigenen Alltag,<br />

der über die Parameter „Wohnen“<br />

und „Arbeiten“ hinausgeht, voraussetzt<br />

(die städtischen Bau- und Planungsmaßnahmen<br />

in Hamburger Vierteln wie<br />

Hammerbrock, Hamm, Dulsberg, Stellingen<br />

etc. werden eben nicht als Gentrification<br />

registriert).<br />

Aufwertung ist auch in diesem Kontext<br />

nicht anders denn als ökonomischer<br />

Begriff zu verstehen, mit dem allerdings<br />

angezeigt ist, inwieweit eine abstrakte<br />

kapitalistische Verwertungslogik sich<br />

im Alltagsleben konkretisiert, nämlich<br />

in Hinblick auf die Herausbildung städtischen<br />

Lebens in den letzten zwei Jahrhunderten.<br />

Menschen verorten sich sozial<br />

nicht mehr in ihrer Klasse, sondern<br />

in einem an die urbane Umgebung gekoppelten<br />

Lebensstil. Diese Identifikation<br />

vollzieht sich durch permanente Repräsentation<br />

des Lebensstils, wodurch<br />

sich letztendlich überhaupt erst ein bestimmter<br />

Charakter eines Viertels ergibt.<br />

Dafür brauchen die Menschen vor allem<br />

Zeit, in der sie sich nicht mit vorgegebenen<br />

Angeboten der Reproduktion ihrer<br />

Arbeitskraft beschäftigen (Einkaufen,<br />

Kino, Fernsehen, Sport etc.), sondern<br />

ihre leibliche Anwesenheit in ihrer Wohnumgebung<br />

zur (Selbst-) Beschäftigung<br />

machen – gewissermaßen anfangen, sich<br />

selbst in ihrer urbanen Existenz zu konsumieren.<br />

Sich selbst in dieser Weise auszustellen<br />

und seinen Lebensstil repräsentieren<br />

zu wollen, muss jedoch auch als<br />

Bedürfnis erzeugt werden.<br />

Konsumistisches Selbstverständnis<br />

Erst mit der vollständigen Durchsetzung<br />

der kapitalistischen Warenproduktion in<br />

allen Lebensbereichen, die sich seit den<br />

fünfziger Jahren in der Formierung einer<br />

Popkultur vollzog, in der der Konsum<br />

und ein konsumistisches Selbstverhältnis<br />

zum Lebensmittelpunkt der<br />

Menschen ideologisiert werden, wird<br />

auch das Wohnen – sei’s in den Städten,<br />

sei’s in den Neubausiedlungen oder<br />

nostalgischen Dörfern – neu in seiner<br />

gesellschaftlichen Bedeutung konfiguriert:<br />

Immobilien, Häuser, Eigenheime<br />

werden zu Orten, an denen der<br />

Mensch nicht nur Zeit verbringt, sondern<br />

die dort verbrachte Lebenszeit wird<br />

zum Ausdruck der Persönlichkeit. Dieser<br />

Prozess ging mit einer Veränderung<br />

der Wohnorte selbst einher und aus der<br />

Rückkopplung zwischen dem privaten<br />

Wohnraum und seiner Lage verallgemeinerte<br />

und individualisierte sich zugleich<br />

eine Ideologie der Lebensweise, bei der<br />

die Gestaltung des architektonischen<br />

Raumes mit Lebensqualität verbunden<br />

wurde. Vorbilder gab es dafür nicht nur<br />

etwa in den handwerklich-vorkapitalistischen<br />

Lebensweisen (eine Linie, die<br />

sich von der mittelalterlichen Stadt über<br />

Fourier, Morris u.a. bis Le Corbusier<br />

nachzeichnen lässt) oder in der lebensreformerischen<br />

und sozialistisch inspirierten<br />

Gartenstadtbewegung um Neunzehnhundert,<br />

sondern auch – und das ist<br />

ein Bild, das bis heute propagiert wird<br />

– in den inszenierten Wohnformen des<br />

prosperierenden Adels, der mit den allgemeinen<br />

positiven Vorstellungen vom<br />

Großbürgertum konvergiert: Das Häuschen<br />

im Grünen, eine barocke Möblierung<br />

der guten Stube, überhaupt die<br />

Idee des Wohnzimmers (statt Diele), die<br />

Ausstaffierung der Wohnung mit Tinnef<br />

und Kitsch, schließlich eine bizarre<br />

Idee von „Design“ gehören dazu. Bis in<br />

die siebziger Jahre äußerte sich dies, finanziert<br />

durch Bausparverträge und mit<br />

staatlichen Subventionen unterstützt, in<br />

einer Stadtflucht, in deren Zuge riesige<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION 15<br />

Adorno wohnt trotzdem<br />

Der Mensch im Kapitalismus ist<br />

nicht bei sich zu Hause. Er ist<br />

den gesellschaftlichen Verhältnissen,<br />

die er doch selbst macht, ausgeliefert.<br />

Was inhaltlich nicht nur das Motiv<br />

Marxens war, sondern auch bei Adorno<br />

im Mittelpunkt stand, wollte Letzterer<br />

auch sprachlich zum Ausdruck<br />

bringen. Da das Ich nicht bei sich zu<br />

Hause ist, sollte auch das Reflexivpronomen<br />

sich möglichst weit vom zugehörigen<br />

Subjekt entfernt stehen. Eine<br />

Sprachmacke – aber eine mit Sinn.<br />

Überhaupt spielte das Wohnen bei<br />

Adorno eine besondere Rolle. So lässt<br />

sich in gewisser Weise sagen, dass er<br />

Zeit seines Lebens – und nicht nur<br />

während der Zeit in den Vereinigten<br />

Staaten – im Exil lebte. Denn es sich<br />

einfach häuslich einzurichten im Kapitalismus,<br />

das kam für ihn nicht in<br />

Frage. Stets umgetrieben von dem<br />

Gefühl, der Faschismus könne zurückkehren,<br />

hatten er und seine Frau<br />

Gretel die Wohnung in Frankfurt<br />

niemals wirklich eingerichtet.<br />

In den Minima Moralia formulierte<br />

er das grundsätzliche Problem kritischer<br />

Intelligenz, am Widerspruch<br />

Areale, ganze Dörfer und Kleinstädte<br />

baulich erschlossen wurden.<br />

Mit dem Ende des „goldenen Zeitalters“<br />

der Wohlstandsgesellschaft sind die<br />

Städte selbst ungeheuren Transformationen<br />

unterworfen: Die rücksichtslose<br />

Kommodifizierung des Wohnens heißt<br />

nun nicht mehr, einfach aus der Vermietung<br />

eines Schutz- und Ruheraums Profit<br />

zu schlagen, sondern den Wohnraum<br />

als Ware sich über die „urbane Lebensqualität“<br />

gleichsam selbst rechtfertigen<br />

zu lassen: das heißt nicht nur, bereitwillig<br />

in einem als „chic“ geltenden Stadtteil<br />

überproportional mehr Miete zu zahlen,<br />

sondern auch die endgültige Bestätigung<br />

des Fetischcharakters dieser Ware, nämlich<br />

dass Wohnraum, Strom, Wasser etc.<br />

natürlich, d.h. selbstverständlich bezahlt werden<br />

müssen.<br />

Transformation der Städte<br />

Auch diese Transformation der Städte<br />

wird nach wie vor von einer Idee des<br />

Wohnens begleitet, die sich an der wie<br />

2000 Zeichen<br />

von Anspruch und Wirklichkeit<br />

nicht zu vergehen, am Beispiel des<br />

Wohnens. Egal welche Wohnform,<br />

egal welchen Typus von Architektur<br />

die Einzelnen auch wählen mögen:<br />

überall sei es im Grunde unmöglich,<br />

schadlos zu wohnen.<br />

Wer in seinen eigenen vier Wänden<br />

wohne, der mache sich schuldig,<br />

solange anderen das Wohnen versagt<br />

bliebe. Doch ohne Wohnung steige<br />

nur die Abhängigkeit von den gesellschaftlichen<br />

Bedingungen. Und<br />

wer wollte schon an der „lieblosen<br />

Nichtachtung der Dinge“ teilhaben,<br />

die doch dem Kapitalismus immer<br />

schon innewohnt? Wobei auch das,<br />

kaum ausgesprochen, schon zur Ideologie<br />

wird für jene, „welche mit<br />

schlechtem Gewissen das Ihre behalten<br />

wollen.“<br />

In genau diesem Sinne gibt es<br />

„kein richtiges Leben im falschen“.<br />

Nicht, dass wir nun eine Ausrede<br />

hätten, nichts zu tun. Wir müssen nur<br />

um die Beschränktheit unseres Handelns<br />

wissen und es stets aufs Neue<br />

auf seine praktischen Folgen für unser<br />

Leben und das Streben nach Emanzipation<br />

befragen.<br />

J.B.<br />

abwärts<br />

auch immer idealisierten Vorstellung der<br />

Lebensweise des Adels orientiert. Deshalb<br />

verwundert es nicht, dass bei einigen<br />

dieser städtischen Veränderungen in<br />

den achtziger Jahren nun von „Gentrification“<br />

gesprochen wird: der Begriff<br />

leitet sich vom englischen ‚Gentry‘ her,<br />

womit ehedem der niedere Adel vom<br />

höheren Adel (‚Peers‘, ‚Nobility‘) unterschieden<br />

wurde; die Gentry waren indes<br />

den einfachen Bürgern sozial und rechtlich<br />

übergeordnet. Einer der Protofälle<br />

der Gentrifizierung war in den achtziger<br />

Jahren in Manhattan (New York),<br />

insbesondere in Soho zu beobachten: In<br />

den von Zerfall und Armut betroffenen<br />

und von „sozial Schwachen“ bewohnten<br />

Viertel zog nun ein neuer „niederer<br />

Adel“, nämlich jugendliche und<br />

jung-erwachsene deklassierte Bürger<br />

und Kleinbürger, die ihre Lebensweise<br />

zwar vom Establishment abgrenzten,<br />

aber dennoch aufwerteten, indem sie<br />

ihre Lebensweise als bewussten Lebensstil<br />

erhöhten; sie – Studenten, Künstler,<br />

erfolglose Kleinunternehmer, gut ausgebildete<br />

Teilzeit-Jobber, die ersten professionellen<br />

Computer-Nerds etc. – eroberten<br />

Stadteile wie Soho als Bühne,<br />

für die Häuser, Straßen und alle anderen<br />

Bewohner nur eine – letzthin austauschbare<br />

– Kulisse darstellten: so konnten sie<br />

gerade in diesen Problemgebieten ein<br />

innerhalb der allgemeinen etablierten<br />

Maßstäbe nicht sonderlich erfolgreiches,<br />

kohärentes Lebensmodell als homogene,<br />

schließlich an diesem Ort auch hegemoniale<br />

Subkultur inszenieren; dies war<br />

schnell ökonomisch attraktiv, weil diese<br />

Subkultur einen riesigen neuen Arbeitsund<br />

Absatzmarkt bot, über den sich dieser<br />

„neue niedere Adel“ scheinbar autark<br />

und alternativ, schließlich finanziell erfolgreich<br />

versorgen konnte: Was Anfang<br />

der achtziger Jahre in den USA als Yuppisierung<br />

(Yuppie = young urban professionals)<br />

begann, endete mit dem Zerplatzen<br />

der New Economy-Blase um 2000.<br />

Was sich in diesem Zeitraum in den<br />

Metropolen an Gentrification vollzog,<br />

war zwar räumlich auf einzelne Stadtteile<br />

beschränkt, fand aber seine Parallele<br />

in einer neuen Form des konsumistischen<br />

Individualismus, mit der sich ein<br />

Sozialcharakter des „autonomen Konformisten“<br />

konstituierte, der sich vorrangig<br />

über verschiedene Selbst-Ästhetisierungsstrategien<br />

definiert. Zu<br />

diesen Strategien gehört nach wie vor<br />

die „bewusste“ Entscheidung für einen<br />

Wohnort, der mit einem Lebensstil<br />

beziehungsweise mit Lebensqualität<br />

identifiziert wird. Diese Identifikation<br />

ist allerdings heute keine produktive<br />

und kreative mehr (wonach ein bestimmtes<br />

Image eines Viertels erst im<br />

Alltag hergestellt wird), sondern funktioniert<br />

reproduktiv und rezeptiv als reiner<br />

Schematismus (wonach ein erwartetes,<br />

vorgegebenes Image eines Viertels<br />

adaptiert beziehungsweise konsumiert<br />

wird).<br />

Für die gegenwärtig in den Städten zu<br />

beobachtenden Transformationsprozesse,<br />

vor allem dort, wo auch heute wieder<br />

von Gentrifizierung gesprochen wird, hat<br />

dies aberwitzig erscheinende Konsequenzen:<br />

Gerade in den Stadtteilen Schanzenviertel,<br />

St. Pauli, Altona, Karolinenviertel<br />

und auch Wilhelmsburg sind es Gentrifizierungsgegner,<br />

die eine erste Gentrifizierungswelle<br />

vor zehn oder fünfzehn<br />

Jahren selbst in Gang gesetzt haben. Insgesamt<br />

wird deutlich, dass die Idee kultureller<br />

Aufwertung mit ihrem eigentlichen<br />

ökonomischen Zweck nicht kompatibel<br />

ist und eine Gentrifizierungskritik,<br />

die nur den eigenen Freiraum, Lifestyle<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


16 ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION<br />

LIVING ROOM<br />

oder einen sonstigen subkulturellen Status<br />

Quo verteidigt, ins Leere läuft. Aufwertung<br />

im Sinne der Gentrifizierung<br />

braucht Akteure, braucht Menschen, die<br />

sich für diese Formen der „kulturellen“<br />

Aufwertung interessieren, insofern es<br />

ihnen wichtig ist, Wohnen mit bestimmen<br />

Werten und Qualitäten zu verbinden,<br />

also die Lebensqualität selbst einem<br />

Wertmaßstab zu unterwerfen, der sich<br />

in der Inszenierung des (eigenen) urbanen<br />

Lifestyles widerspiegelt. Das Viertel,<br />

um das es dabei geht, reduziert sich auf<br />

eine überschaubare Bühne mit Darstellern,<br />

Publikum und einer diffusen Menge<br />

von Statisten und Komparsen (in der<br />

Regel sind das die „ursprünglichen“ Bewohner,<br />

auf die sich berufen wird und<br />

„für die man das alles macht“, die aber selbst<br />

keine aktive Rolle in diesem Schauspiel<br />

abbekommen). Die Bühne, auf der unterschiedliche<br />

Bekenntnisse zur Viertelidentität<br />

aufgeführt werden, wird zeitlich<br />

und räumlich immer weiter eingeengt.<br />

Beispiel Hamburg<br />

In den achtziger Jahren waren die meisten<br />

Hamburger Viertel von einer – wenn<br />

auch zum Teil absurden – links-alternativen<br />

Alltagskultur geprägt: Barmbek,<br />

Harburg, Eimsbüttel, Winterhude, selbst<br />

Horn, Hamm, Rahlstedt, Billstedt etc.<br />

hatten ihre Szenen, dazugehörige Kneipen<br />

und es gab regelmäßig links-alternative<br />

Stadtteilfeste oder andere Veranstaltungen.<br />

Die Auseinandersetzung mit<br />

dem Stadtraum war noch nicht identitär<br />

auf den (eigenen) Lebensstil bezogen,<br />

sondern vielmehr die Verlängerung einer<br />

allgemeinen gesellschaftskritischen Politik,<br />

die einerseits noch stark bestimmt<br />

war von den klassischen Themen der Arbeiterbewegung<br />

(auch wenn es die Arbeiterbewegung<br />

selbst nicht mehr gab)<br />

und gewerkschaftlichen Kampagnen<br />

(35-Stunden-Woche, § 116 [der so genannte<br />

Streikparagraf], „Mach’ meinen<br />

Kumpel nicht an!“ etc.); andererseits von<br />

den Neuen Sozialen Bewegungen und<br />

ihren Themen (Feminismus, Häuserkampf,<br />

Ökologie etc.).<br />

Das Schanzenviertel, um einen Blick zurück<br />

zu werfen, war von einer heterogenen<br />

links-alternativen (Sub-) Kultur geprägt,<br />

zu der „urige“ Studentenkneipen<br />

(‚Frank & Frei‘, ‚Golem‘ etc.) ebenso gehörten<br />

wie „kommerzielle“ Szenetreffs<br />

(das so genannte Bermuda-Dreieck, bestehend<br />

aus dem ‚Pickenpack‘, ‚Stairways‘<br />

und ‚Zartbitter‘) und „unkommerzielle“<br />

Szenetreffs (‚Kir‘, ‚Café Tuc Tuc‘, ‚Sub-<br />

otnik‘, ‚Marktstube‘ etc.). Damals gab<br />

es in der Schanze und St. Pauli noch soviel<br />

Leerstand, dass immer wieder Besetzungen<br />

stattfanden; die Hafenstraße ist<br />

zwar nicht das einzige Überbleibsel dieser<br />

Zeit, gleichwohl lässt sich aber gerade<br />

an den Auseinandersetzungen um diese<br />

Häuser nachvollziehen, wie sukzessive<br />

das Thema „Stadt“ zum eigenständigen<br />

linkspolitischen Gegenstand wurde und<br />

langsam, in den neunziger Jahren, in die<br />

links-hedonistische Selbstbeschäftigung<br />

abrutschte.<br />

Flair und Atmosphäre<br />

Damit etablierte sich in den achtziger Jahren<br />

ein neuer Typus sozialer urbaner Bewegung,<br />

in der sich Leute formierten,<br />

denen es um „kulturelle Identität“ mit<br />

„ihrem Viertel“ ging. Für sie stand nicht<br />

mehr wie für die klassischen sozialen urbanen<br />

Bewegungen der Kampf um eine<br />

bessere Versorgung (Schulen, Nahverkehr,<br />

Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte etc.)<br />

auf der Agenda, aber auch nicht die – basis-<br />

und sozialdemokratische, an den Staat<br />

gerichtete – Forderung nach mehr Mitbestimmung<br />

in Stadtentwicklungsangelegenheiten,<br />

sondern eine Kulturalisierung<br />

des Lebensalltags und Alltagslebens.<br />

Schon Ende der achtziger Jahre ist in<br />

diesem Zusammenhang von einer „Dethematisierung<br />

des Sozialen“ die Rede.<br />

Vor allem wurde die Stadt nicht mehr als<br />

Manifestation von sozialen Klassenstrukturen<br />

thematisiert; Armut war nicht mehr<br />

Indikator für Lebensbedingungen in einem<br />

Viertel, sondern verwandelte sich in<br />

eine ästhetische Erscheinung von „Flair“<br />

oder „Atmosphäre“. Ohne sich auf einen<br />

sozialen Klassenkampf beziehungsweise<br />

die politische Verteidigung von Klasseninteressen<br />

einzulassen, gelang es so einem<br />

sozial instabilen Teil der Mittelklasse<br />

(Studenten, Künstler, Kulturarbeiter) die<br />

kollektive Erfahrung von Deprivilegierung<br />

in ein individuelles Erlebnis der Privilegierung<br />

umzulenken. Damit wurden<br />

im Verlauf der neunziger Jahre aus den<br />

sozial-politischen „Bewegungen“ (denen<br />

es um Armut, Arbeitslosigkeit, Mieterinteressen<br />

etc. ging) letztendlich die heute<br />

aktiven individuell-kulturellen „Bewegungen“<br />

(denen es um Lebensstandard, gutes<br />

oder exotisches Essen, Multikulturalismus<br />

im Sinne von „Lebendigkeit“ und<br />

„Vielfalt“ sowie hohe Mobilität & Flexibilität<br />

geht). Begleitet wird dies von<br />

einem Prozess der sozialen Segregation<br />

(Entmischung), dessen Konsequenzen<br />

sich in den vergangenen zehn Jahren<br />

abzeichnen: Deutlich treten wieder<br />

soziale Unterschiede hervor, deren Demarkationslinien<br />

nunmehr mitten durch<br />

die Viertel verlaufen. Endgültig scheint<br />

die fordistische Standardisierung der Lebensweisen<br />

aufgebrochen; nicht mehr<br />

geht es um die „Verteilung des kollektiven<br />

Konsums“, sondern um die Realisierung<br />

individualistischer Interessen.<br />

Als Kollektiv formiert sich diese „Bewegung“<br />

nur noch als ‚angry middleclass‘, die<br />

sich neuerdings als „Prekariat“ stilisiert.<br />

Ihr politisches Programm ist ein konfuses,<br />

plakatives Gemenge aus Meinungen,<br />

Populismus und Propaganda, wobei sowohl<br />

alte Themen wie „Mietpreise“ und<br />

„Yuppisierung“ vertreten sind, als auch<br />

neue Themen wie „Schutz“, „Sicherheit“,<br />

oder reaktionäre Abbiegungen in<br />

die Drogen- und Asylpolitik.<br />

In verschiedenen Stufen sowohl arrivierter<br />

als auch marginalisierter Viertel-Bewohner<br />

stellt sich mittlerweile das<br />

Leben in der Schanze als disparates demografisches<br />

Gemenge dar: drastisch ausgedrückt<br />

leben hier Modernisierungsverlierer<br />

und Postmodernisierungsgewinner<br />

zusammen, und dies nur unter der Regie<br />

einer Art Burgfrieden, mit dem diverse<br />

Widerstände, Anomalien, Unruhen<br />

und Delinquenzen verdeckt werden.<br />

Anders gesagt: Gentrification vollzieht<br />

sich gegenwärtig als ein Mehrfrontengefecht,<br />

wobei die Hauptkampflinien, die<br />

immer noch dem schematischen Muster<br />

„‚Wir‘ versus ‚die anderen‘“ organisiert<br />

sind, mehrfach mitten durch das Viertel<br />

verlaufen; gleichwohl können diese<br />

Konflikte durch die Gentrifizierung<br />

selbst strategisch als Elemente einer „Erlebniswelt“<br />

abgefedert werden, von der<br />

die „linke Szene“ (oder was sich als solche<br />

geriert) mittlerweile ein integraler<br />

Bestandteil ist. Die groteske Wendung<br />

besteht darin, dass schließlich die Gentrifizierung<br />

selbst als „weicher Standortfaktor“<br />

erscheint…<br />

Krise der Stadt<br />

„Die größte revolutionäre Idee über den<br />

Urbanismus ist selbst weder urbanistisch<br />

noch technologisch oder ästhetisch. Es ist<br />

die Entscheidung, den Raum nach den<br />

Bedürfnissen der Macht der Arbeiterräte,<br />

der anti-staatlichen Diktatur des Proletariats,<br />

des vollstreckbaren Dialogs vollständig<br />

wiederaufzubauen. Und die Macht<br />

der Räte, die nur wirklich sein kann,<br />

wenn sie die Totalität der bestehenden<br />

Bedingungen verändert, wird sich, wenn<br />

sie anerkannt werden will und sich selbst<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION 17<br />

in ihrer Welt wieder anerkennen will, keine<br />

geringere Aufgabe stellen können“,<br />

schreibt Guy Debord (Die Gesellschaft<br />

des Spektakels, Abs. 179).<br />

In der Krise der Städte manifestiert<br />

sich die Krise der kapitalistischen Gesellschaft.<br />

Ihren konkreten Ausdruck findet<br />

die Krise in den Wirklichkeiten der urbanen<br />

Lebensweise; und dies nicht einfach<br />

nur in einer Veränderung der kulturellen<br />

Ansprüche der Stadtbewohner an<br />

„ihre“ Stadt, „ihr“ Viertel, „ihre“ Siedlung,<br />

„ihre“ Straße oder schließlich „ihr“<br />

Haus und „ihre Wohnung“, sondern<br />

überhaupt in einer Kulturalisierung der<br />

subjektiven Selbstverortung (die gleichwohl<br />

in die Selbstautorisierung und Authentifizierung<br />

der eigenen Viertel-Identität<br />

unmittelbar zurückschlägt).<br />

Im Zuge dieser Dynamik zwischen urbanisiertem<br />

Individualismus und individualisiertem<br />

Urbanismus wird „das Soziale“ zum<br />

Teil in „das Kulturelle“ übersetzt, zum<br />

Teil auch vom „Kulturellen“ überlagert.<br />

Trotz der sich eklatant und brutal vermehrenden<br />

sozialen Miseren in den letzten<br />

Jahrzehnten (Arbeitslosigkeit, Hartz<br />

IV, Zusammenbruch des Sozialsystems,<br />

i.e. Renten- und Krankenversicherung,<br />

rapide steigende Lebenshaltungskosten,<br />

Verschuldung und Privatinsolvenzen,<br />

Obdachlosigkeit etc.), scheint sich das<br />

Augenmerk in Bezug auf die Sicherung<br />

der eigenen Situation selbst in den so genannten<br />

Problemvierteln immer mehr<br />

auf periphere und temporäre „kulturelle“<br />

Angebote zu beziehen. Das ist Ideologie,<br />

die allerdings gerade durch die<br />

Selbstinszenierungen einer so genannten<br />

Kulturlinken gewissermaßen „vorgelebt“<br />

wird: Unter der Parole, dass das Private<br />

das Politische ist, wurde im Verlauf<br />

der neunziger Jahre das Politische privatisiert.<br />

Heute meint selbst in den Resten<br />

einer ‚politischen Linken‘ „Politik“ nicht<br />

mehr eine Gesamtheit gesellschaftlicher<br />

Aktivitäten; statt dessen wird „Politik“<br />

von gesellschaftlichen Themenfeldern<br />

abgetrennt und rückt in den Nahbereich<br />

des Lebensumfeldes und privater Interessen,<br />

oder wird gänzlich aus dem eigenen<br />

Handlungsbereich ausgelagert.<br />

Gerade in der Zeit, in der soziale Probleme<br />

im urbanen Raum massiv und für<br />

alle sichtbar in Erscheinung treten, konzentriert<br />

man sich in der Beschäftigung<br />

mit dem urbanen Raum als (eigenes) Lebensumfeld<br />

vorrangig, wenn nicht ausschließlich<br />

mit isolierten kulturellen Phänomenen.<br />

Auffällig zudem, in welchem<br />

Maße die heute sich Engagierenden ohne<br />

Beziehungen zueinander operieren und<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Auseinandersetzungen auch auf einzelne<br />

Stadtteile oder sogar Straßenzüge isoliert<br />

bleiben. Selbst die Kritik der Gentrifizierung<br />

orientiert sich nicht mehr am ganzen<br />

Viertel oder gar an einer Kontextualisierung<br />

der betreffenden Vierteln mit<br />

anderen Vierteln oder der Gesamtstadt,<br />

sondern konzentriert sich auf einige wenige,<br />

repräsentative, eher symbolisch als<br />

für die urbane Struktur bedeutsame Gebäude<br />

und Bauvorhaben.<br />

So war im Schanzenviertel das Wasserturm-Hotel<br />

(Schanzenpark) das einzige<br />

Bauprojekt, an dem sich Widerstand<br />

entzündete; nahezu alle übrigen Baumaßnahmen,<br />

Sanierungen wie Neubau,<br />

konnten ohne jedweden faktischen Protest<br />

durchgeführt werden, das betrifft<br />

sowohl den riesigen Messe-Komplex als<br />

auch die Neubauten im Schulterblatt,<br />

die mit ihren Fassenden mittlerweile den<br />

architektonischen Charakter der Straße<br />

vollkommen verändert haben. Themen<br />

wie Umweltschutz, Infrastruktur-Angebote<br />

(Kindergärten, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten<br />

etc.), Mieten scheinen<br />

sich in den Partikularismus einer individualisierten<br />

Interessenverteidigung verschoben<br />

zu haben; an ihnen entzünden<br />

sich nur noch punktuelle (zeitliche wie<br />

räumliche) Defensivkonflikte. Was darüber<br />

hinaus im städtischen Bereich noch<br />

an explizit oder implizit urbanen Bewegungen<br />

übrig geblieben ist, oder vielleicht<br />

auch deklariert, sich als Bewegung<br />

neu zu formieren (man denke an<br />

den Euromayday und die dem einhergehende<br />

Prekarisierungsdebatte) unterliegt<br />

einem Zustand der Starre, wenn<br />

nicht Paralyse.<br />

Radikalität als Ritual<br />

Entscheidend für die Gentrification genannten<br />

Prozesse ist nicht nur eine „Aufwertung“<br />

des betreffenden Viertels durch<br />

neue Bewohnergruppen, die bereit sind<br />

höhere Mieten zu zahlen und die ihre<br />

Identifikation mit dem Viertel mit neuen<br />

Codes permanent demonstrieren, die<br />

eben durch solche – sei’s auch unbewussten<br />

Strategien „einkommensschwache“<br />

Bewohner verdrängen; entscheidend<br />

ist auch der politisch-ökonomische<br />

Eingriff in das Viertelleben, nämlich die<br />

Übernahme von staatlichen und marktwirtschaftlichen<br />

Funktionen und Posten.<br />

Es werden Läden und Kneipen eröffnet,<br />

Waren verkauft, und zum Teil die Verfolgung<br />

und sogar Bestrafung von Regelverstößen<br />

in Eigenregie in die Hand<br />

genommen (Diebstahl unter Freunden,<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


18 ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION<br />

LIVING ROOM<br />

inakzeptables Verhalten bei Partys, sexuelle<br />

Übergriffe etc.). „Linke“ verhalten<br />

sich hierbei in Bezug auf die Gentrification<br />

nicht anders als Yuppies. Das Ganze<br />

erinnert an die amerikanische Siedlerbewegung,<br />

an mafiotische Dorfstrukturen,<br />

an autarke Zonen, wie es sie in einigen<br />

der brasilianischen Favelas oder in Christiania<br />

in Kopenhagen gibt; tatsächlich<br />

tendierten das Schanzenviertel oder das<br />

Karoviertel im Zuge der Gentrifizierungsprozesse<br />

in den neunziger Jahren<br />

zur politisch-ökonomischen Abschottung<br />

und – scheinbaren – Selbstversorgung<br />

sowie -verwaltung. (In St. Pauli<br />

war das deshalb anders, weil es erst<br />

Ende der Neunziger langsam gelang, in<br />

der von der Sex- und Unterhaltungsbranche<br />

dominierten Ökonomie Fuß zu fassen<br />

– man wohnte hier und hatte seine<br />

zwei, drei Kneipen, die man sich aber<br />

mit einem Publikum teilte, das in diesem<br />

Viertel sich nur vergnügen, nicht wohnen<br />

wollte.)<br />

Die als legitim verteidigte Präsenz<br />

im Viertel, mit der sich die Gentrifizierer<br />

der endachtziger und neunziger Jahre<br />

mit den „alteingesessenen“ Bewohnern<br />

gemein machen wollten („Das ist<br />

unser Viertel“), erforderte einen Pragmatismus,<br />

der einerseits eine soziale, politische<br />

und ökonomische Sicherung der<br />

eigenen Position bedeutete (Hafenstraße,<br />

Rote Flora…), der andererseits aber zulasten<br />

der politischen Radikalität ging:<br />

Eine grundsätzliche antikapitalistische<br />

Praxis war mit der kulturellen, sich mit<br />

dem Viertel ständig identifizierenden<br />

Praxis nicht auf Dauer vereinbar. Von der<br />

politischen Radikalität bleiben Rituale<br />

und Mythen übrig.<br />

Zur selben Zeit – im Zuge der Etablierung<br />

des Postfordismus – zog sich der<br />

Staat immer weiter aus der Stadtpolitik<br />

zurück; zu den Forderungen eines autonomen<br />

Viertellebens passend, war tatsächlich<br />

in den neunziger Jahren die Polizei<br />

im Alltag kaum noch präsent. Dafür<br />

kehrte sie aber mit der zweiten Gentrifizierungswelle<br />

umso hemmungsloser zurück<br />

und prägt durch Patrouillen das<br />

Straßenbild wie nie zuvor.<br />

Überhaupt finden sich in der jetzigen<br />

Gentrifizierung im Vergleich zu<br />

den neunziger Jahren drastische Unterschiede.<br />

Die mit dem bestimmten, „angesagten“<br />

Vierteln verbundene Idee<br />

des urbanen Lebensstils ist mittlerweile<br />

vollständig kulturalisiert; die ehedem<br />

noch erkennbare Klassenstruktur ist im<br />

Zuge dessen gänzlich nivelliert worden.<br />

Auch hierbei fällt noch einmal ins Ge-<br />

wicht, dass es zum Beispiel keine kollektive<br />

Praxis in Bezug auf Mieterinteressen<br />

gibt. War die Gentrifizierung in den<br />

neunziger Jahren noch offensiv an der<br />

Idee neuer und alternativer Lebensformen<br />

orientiert (Hausgemeinschaft, WG,<br />

Singledasein als bewusste Entscheidung<br />

gegen die Familie etc.), so ist das Wohnen,<br />

wie die gesellschaftliche Ideologie<br />

es auch allenthalben propagiert, wieder<br />

auf den potenziellen Kleinfamilienhaushalt<br />

ausgerichtet.<br />

Die WG als alternative Lebensform<br />

wird zur reinen Zweckform, ist nicht der<br />

Antizipationsversuch einer gesellschaftlichen<br />

Utopie, sondern Übergangslösung.<br />

Zugleich wird die Architektur der WGs<br />

als großzügig geschnittene Altbauwohnung<br />

mit Holzfußboden, weitläufigem<br />

Flur, hohen Decken, Stuck und geräumiger<br />

Küche zur Privatutopie; man muss als<br />

Student mit der konkreten Wohnsituation<br />

in der WG im Schanzenviertel nicht<br />

zufrieden sein, um doch die Räume, in<br />

denen man lebt, zum Teil der kulturellen<br />

Identität zu machen und sogar zum<br />

Schlüssel eines Lebensstils, der sich identifikatorisch<br />

eben auf den Satz „Ich wohne<br />

in meinem Viertel“ zusammenziehen<br />

lässt. WG- oder Single-Haushalte existieren<br />

nicht mehr als eigenständige Form<br />

(der Junggeselle, der Yuppie etc.), sondern<br />

als Übergang, als Derivat einer noch zu<br />

gründenden Familie. Ebenso werden<br />

Einzelpersonen, die mit (ihren) Kindern<br />

zusammenleben, als alleinerziehende<br />

Mütter oder Väter geführt. In jedem<br />

Fall heißt das Ziel nicht Kommune, sondern<br />

Familie, und sei es wenigstens eine<br />

Patchwork-Familie.<br />

Auch die Gentrifizierung der achtziger<br />

und neunziger Jahre war schon von<br />

der postfordistischen Stadt bestimmt:<br />

Während für die fordistische Stadt<br />

noch eine klare Trennung von Arbeiten,<br />

Wohnen und Freizeit signifikant<br />

war, überlagern sich in der postfordistischen<br />

Stadt diese Bereiche – gerade in<br />

den von der Gentrifizierung betroffenen<br />

Stadtteilen, wie es sich anschaulich<br />

an der Situation des Schanzenviertels<br />

während der Hochzeit der New Economy<br />

nachvollziehen lässt. Mit der gegenwärtigen<br />

Stufe der Gentrifizierung<br />

bricht diese (ideale) Einheit von Wohnen,<br />

Arbeiten und Freizeit wieder auseinander;<br />

mehr noch: Freizeit tritt in<br />

den Vordergrund, Wohnen und Arbeiten<br />

werden scheinbar zu Funktionen eines<br />

vollkommen auf Unterhaltung ausgerichteten<br />

Lebens. Dadurch wird die<br />

Gentrifizierung aber nicht nur aus-<br />

schließlich von den neuen Bewohnergruppen<br />

vorangetrieben, sondern vor<br />

allem von spaßorientierten Besuchergruppen,<br />

die durch ihr regelmäßiges<br />

Auftreten im Stadtteil aber ebenso wie<br />

die Bewohner eine kulturelle Identität<br />

mit „ihrem Viertel“ behaupten können.<br />

Auch dadurch kommt es zu Vertreibungen,<br />

allerdings nicht aus sozialen oder<br />

ökonomischen Gründen, sondern aus<br />

kulturellen.<br />

***<br />

Wir gehen davon aus, dass der Begriff<br />

Gentrification nur Ausgangspunkt einer<br />

kritischen Theorie sein kann, die sich auf<br />

den Zusammenhang von Kapitalismus<br />

und urbanen Veränderungen richtet, und<br />

die zugleich notwendige Grundlage einer<br />

erst noch zu situierenden radikalen Praxis<br />

ist. „Stadt“ ist keineswegs eine vorgegebene<br />

Raumordnung, in der sich das<br />

Profitmotiv realisiert, sondern eine Matrix,<br />

die durch die Logik kapitalistischer<br />

Wertvergesellschaftung überhaupt erzeugt<br />

wird.<br />

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<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


MARIA WÖLFLINGSEDER, WOHNUNG(SLOS)–ARBEIT(SLOS) 19<br />

Wohnung(slos)–Arbeit(slos)<br />

Dead Men Working<br />

von Maria Wölflingseder<br />

Ein aufgeregtes „Wo wohnen?“ war<br />

einer der ersten Zweiwortsätze, die<br />

meine Zwillingsneffen sprechen konnten.<br />

Sie fragten nach der Behausung eines<br />

großen Vogels, den sie gerade bestaunten.<br />

Wo und wie wohnen, ist in der<br />

Menschheitsgeschichte eine unausweichliche<br />

Frage. Den Menschen ist die Form<br />

des Wohnens nicht angeboren. Weder die<br />

architektonischen noch die sozialen Komponenten<br />

sind naturgegeben.<br />

Wohnen bedeutet Schutz und Geborgenheit<br />

vor Kälte, Hitze und anderen Witterungseinflüssen.<br />

Das Haus, die Wohnung<br />

sind im Lauf der Geschichte zur so genannten<br />

Privatsphäre geworden – im Gegensatz<br />

zur Sphäre der Öffentlichkeit. Vor Letzterer<br />

kann man sich in seine „eigenen vier<br />

Wände“ zurückziehen. Diese bieten somit<br />

auch Schutz vor den verschiedenen Sinneseindrücken<br />

„draußen“: vor dem Verkehr,<br />

vor Hektik und Geschäftigkeit, vor Menschenansammlungen<br />

aller Art. Also Schutz<br />

vor Lärm, ungesundem künstlichen Licht,<br />

Abgasen oder kommerzieller Werbung optischer<br />

und akustischer Art. Das Schutzbedürfnis<br />

meiner Neffen, die zu früh das<br />

Licht der Welt erblickten – sie wogen<br />

nur 1200 Gramm und 1400 Gramm – ist<br />

wahrscheinlich ein besonderes.<br />

Es stellt sich aber nicht nur die Frage<br />

„Wo und wie wohnen?“, sondern auch<br />

„Wo und wie arbeiten?“ In unseren Breiten<br />

ist der Arbeitsplatz (sic!) für die meisten<br />

außerhalb der eigenen vier Wände: in<br />

einem Gebäude, im Freien oder unterwegs.<br />

Selten kann man sich aussuchen, wie<br />

und wo man arbeitet – auch nicht, wenn<br />

das aus technischen und organisatorischen<br />

Gründen leicht möglich wäre. Der Ort des<br />

Arbeitens ist seit der Nachkriegszeit immer<br />

mehr nach „draußen“ verlagert worden,<br />

mitunter weit entfernt vom Wohnort.<br />

Handwerk, Kleingewerbe und Landwirtschaft,<br />

wo noch räumlich nahe beieinander<br />

gewohnt und gearbeitet wurde, haben<br />

stark abgenommen. Daher der gängige<br />

Satz, mit dem nach der Dauer jemandes<br />

Arbeitslosigkeit gefragt wird: „Wie lange<br />

bist Du schon zu Hause?“ Und als Arbeitslosigkeit<br />

noch kein Massenphänomen war,<br />

getraute sich mancher nicht, den Jobverlust<br />

seiner Familien mitzuteilen. Er wahrte<br />

den Schein von Arbeit, indem er die Wohnung<br />

morgens wie üblich verließ.<br />

Mit dem Zwang, sich aufgrund fehlender<br />

Lohnarbeit „selbständig“ zu machen,<br />

Stichwort „Ich-AGs“, wurde Arbeit mitunter<br />

wieder in die Wohnung verlagert,<br />

weil sich viele kein Büro leisten können<br />

oder keines brauchen – ein Laptop als „Arbeitsplatz“<br />

reicht ja heutzutage oftmals.<br />

Die schon seit über einem Jahr leidenschaftlich<br />

diskutierte Frage, ob es nicht<br />

höchst an der Zeit wäre, dass die angeblich<br />

viel zu privilegierten Lehrerinnen und<br />

Lehrer wie alle anderen Lohnabhängigen<br />

auch 40 Stunden in der Schule anwesend<br />

zu sein hätten, zeigt, wie sehr es bei der<br />

„Arbeit“ nicht bloß um die möglichst effiziente,<br />

Zeit und (menschliche) Energie<br />

schonende, angenehm gestaltete Verrichtung<br />

bestimmter Tätigkeiten geht, sondern<br />

fast immer auch um sinnleeren Zwang. Arbeit<br />

bedeutet nicht zuletzt, irgendwo anwesend<br />

zu sein. Was und wie rationell dort<br />

etwas gearbeitet wird, steht oft auf einem<br />

anderen Blatt. Wo kämen wir denn da hin,<br />

wenn eine Berufsgruppe mit nicht gerade<br />

nervenschonender Tätigkeit wie die Lehrerschaft<br />

nachmittags Zeit mit ihren eigenen<br />

Kindern verbringen und abends in<br />

Ruhe Hefte korrigieren darf? Solch ein<br />

Privileg ist vielen ein Dorn im Auge.<br />

Ein weiterer Zwang ist jener zum täglichen<br />

stundenlangen Pendeln zum Arbeitsplatz<br />

mit verheerenden Auswirkungen –<br />

von Umweltverschmutzung bis zu Stress<br />

und Unfalltod; denn selbst bei schlechtesten<br />

Witterungsverhältnissen muss via Autofahrt<br />

Leib und Leben riskiert werden.<br />

Besonders widersinnig mutet auch folgender<br />

Umstand an: Die Wohnkosten sind<br />

heute so hoch, dass meist einer der (Ehe-)<br />

Partner nur dafür arbeitet. Benutzt kann<br />

die Behausung jedoch nur in der kargen<br />

Freizeit werden und dient so vor allem<br />

als teures Lager von Hab und Gut und als<br />

Schlafplatz. Wer hingegen keinen Job hat,<br />

kann sich Wohnen oft kaum mehr leisten.<br />

Erstrebenswert ist es weder, „auf der<br />

Straße zu stehen“ (also obdachlos zu sein)<br />

noch „zu Hause zu sein“ (also arbeitslos zu<br />

sein)! Busy – ein Wort mit vielfältiger Bedeutung<br />

– ist das Ideal: belebt, besetzt, fleißig,<br />

geschäftig, ausgelastet, arbeitsreich, eifrig,<br />

belegt, verkehrsreich, rege, tätig, emsig,<br />

betriebsam, geschäftsträchtig, rührig,<br />

ziemlich hektisch, aufdringlich, zudringlich.<br />

Das charakterisiert das Arbeits- bzw.<br />

Lebensethos trefflich. Zur Ruhe kommen<br />

ist höchstens aus Kostengründen angesagt,<br />

damit das Humankapital nicht krank wird<br />

und ausfällt. Das vollwertige Subjekt hat<br />

zeitlich und örtlich möglichst flexibel und<br />

immer in Bewegung zu sein. Job- und<br />

wohnungslose Nicht-Subjekte haben sich<br />

möglichst unauffällig zu verhalten. Sie sollen<br />

weder das Stadtbild verunzieren noch<br />

gar auf kritische Gedanken kommen. Sofern<br />

sie noch ein Zuhause haben, sollen sie<br />

dort brav Bewerbungen schreiben oder als<br />

Jobersatz Kurse besuchen.<br />

Nicht nur Arbeitslose können sich oft<br />

keine Wohnung mehr leisten, sondern<br />

auch Arbeitende. Bis vor 30 Jahren waren<br />

es eher Faktoren wie Scheidung, psychische<br />

Probleme und Alkoholismus,<br />

die Menschen obdachlos werden ließen.<br />

Seit damals ist die Zahl der Delogierten<br />

nicht nur extrem angestiegen, sondern<br />

auch die Gründe dafür haben sich<br />

geändert. Die Kosten fürs Wohnen sind<br />

(vor allem in Wien) nebst den generellen<br />

Lebenshaltungskosten rasant gestiegen,<br />

während das Einkommen stagniert.<br />

Working poor ohne Wohnung werden in<br />

der Soziologie nicht Obdachlose, sondern<br />

Wohnungslose genannt, um sie von den<br />

„klassischen Sandlern“ zu unterscheiden.<br />

Folgende Zahlen verdeutlichen die<br />

Entwicklung: Die Zahl der Sozialhilfeempfänger<br />

in Wien stieg seit 2000 von<br />

46.000 auf 100.000. Zwei Drittel davon<br />

sind Menschen mit Job oder solche mit<br />

sehr geringem Arbeitslosengeld.<br />

Walter S., ein (Bühnen-)Maler aus Hamburg,<br />

der mit über 90 Jahren noch fröhlich<br />

durch die Welt reiste, frühmorgens schon<br />

eine Runde im Mittelmeer schwamm und<br />

abends noch immer mit nacktem Oberkörper<br />

und kurzer Hose durchs Dorf spazierte,<br />

war einer der heitersten und freudestrahlendsten<br />

Menschen, denen ich je begegnet<br />

bin. Daraufhin angesprochen, antwortete<br />

er, der in seinem Leben viel mitgemacht<br />

hatte, lakonisch: „Ich bin schon glücklich,<br />

wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Wenn<br />

mir nichts weh tut, wenn ich etwas zu essen<br />

und ein sauberes Bett habe.“ – Unfassbar,<br />

dass diese fundamentalen Lebensbedingungen<br />

heute selbst in den reichsten Ländern<br />

der Erde immer mehr Menschen (wieder)<br />

strittig gemacht werden. Noch unfassbarer:<br />

Es wird hingenommen.<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


20 GÜNTER SCHNEIDER, MIETRECHT IN WIEN<br />

Von Mieterrevolten zum freien Markt<br />

STADTENTWICKLUNG UND MIETRECHT IN WIEN. EIN ABRISS<br />

von Günter Schneider<br />

LIVING ROOM<br />

Am 7.11.1911 versammeln sich etwa<br />

2000 Demonstrant/inn/en vor dem<br />

Haus Herthergasse 26 in Meidling, um<br />

gegen ungerechtfertigte Kündigungen zu<br />

protestieren. „Die Menge warf Steine gegen<br />

das Haus, und einige Fensterscheiben<br />

wurden durch Steinwürfe zertrümmert“,<br />

schreibt die Arbeiterzeitung. Die Sicherheitswache<br />

löst die Versammlung gewaltsam<br />

auf. Aber auch an den nächsten zwei<br />

Tagen kommen jeweils an die 1200 Personen,<br />

um ihren Unmut über die Willkür<br />

der Hausherren kundzutun. Solche<br />

Mieterrevolten und auch Mieterstreiks<br />

waren um 1910 in Wien und Budapest,<br />

den Hauptstädten der österreichisch-ungarischen<br />

Monarchie, an der Tagesordnung.<br />

Das damals für Mietwohnungen<br />

gültige Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch<br />

(ABGB) sicherte den Hausherren<br />

Vertragsfreiheit zu. So konnten innerhalb<br />

kurzer Zeit Kündigungen und Mietzinserhöhungen<br />

ohne Begründung ausgesprochen<br />

werden.<br />

Mieterschutz und Rotes Wien<br />

Im Jänner 1917 erließ das österreichische<br />

Gesamtministerium die erste Mieterschutzverordnung,<br />

sozusagen eine Vorläuferin<br />

des Mietengesetzes. Grund dafür<br />

war die Angst, dass in den schlechter<br />

werdenden Zeiten des 1. Weltkriegs die<br />

Mieterproteste noch stärker werden. Es<br />

sollte damit im Hinterland Ruhe geschaffen<br />

werden. Weitere Verordnungen folgten<br />

im Jänner und Oktober 1918. Alle<br />

enthielten neben dem Verbot einer nicht<br />

gerechtfertigten Erhöhung des Mietzinses<br />

Bestimmungen, die das freie Kündigungsrecht<br />

des Vermieters auf wichtige<br />

Gründe einschränkten. Erst im Jahr 1922<br />

wurden diese Verordnungen vom Mietengesetz<br />

abgelöst, das von da an über die<br />

Zeit der Ersten Republik, des Austrofaschismus<br />

und des Nationalsozialismus hinaus<br />

bis 1981 gültig war.<br />

Das Mietengesetz regelte den Markt<br />

mehr oder weniger restriktiv. Auf der anderen<br />

Seite stellte die öffentliche Hand<br />

billigen Wohnraum durch den sozialen<br />

Wohnbau zur Verfügung (Gemeindebau<br />

im Roten Wien). Für das private Kapital<br />

war es dadurch alles in allem wenig luk-<br />

rativ, in den Wohnungsbau zu investieren.<br />

Trotz der Aufhebung der Mietzinsobergrenzen<br />

(Friedenskronenzins) durch<br />

die ÖVP-Alleinregierung ab Jänner 1968<br />

kam es zu keinem drastischen Anstieg der<br />

Wohnungspreise in Österreich. Erst Mitte<br />

der 80er Jahre wurde der Immobiliensektor<br />

für die Anleger interessant – ausgelöst<br />

durch weitere Lockerungen in der<br />

Mietengesetzgebung, vor allem durch das<br />

Mietrechtsgesetz (MRG) von 1982 und die<br />

Freigabe der Kategorie A aus den damals<br />

gültigen Mietzinsobergrenzen ab 1986.<br />

Die strengen Regelungen des Mietengesetzes<br />

waren auch maßgeblich daran beteiligt,<br />

dass die Wiener Stadtstruktur bis<br />

Anfang der 1980er Jahre mehr oder weniger<br />

stabil geblieben ist. Sie bremsten Polarisierungs-<br />

und Entflechtungstendenzen<br />

Die Betriebskostenverrechner<br />

Das Körberlgeld, das sich manche<br />

Hausverwaltungen durch extensives<br />

Verrechnen der Betriebskosten<br />

von den Mietern holen, ist obligat geworden,<br />

zumindest in Österreich. Besonders<br />

beliebt ist das Einrechnen von<br />

Posten, die durch das Mietrecht nicht<br />

gedeckt sind. Viele Mieter nehmen diverse<br />

Vorschreibungen einfach hin und<br />

zahlen brav. Entweder wollen sie es gar<br />

nicht wissen oder sie trauen sich nicht<br />

aufzumucken. „Zu wenig Betroffene<br />

finden zu den Schlichtungsstellen der<br />

Stadt Wien, schlicht weil sie ihre Möglichkeiten<br />

nicht kennen oder aus unbegründeter<br />

Angst vor ihrer Hausverwaltung“,<br />

behauptet der grüne Stadtrat<br />

David Ellensohn. Die Angst, die Ellensohn<br />

für unbegründet hält, ist jedoch<br />

durchaus begründet. Hausverwaltungen<br />

sind nicht gerade zimperlich,<br />

wenn es darum geht, sich durchzusetzen.<br />

Und die berechtigte Furcht wird<br />

durch die elende Feigheit noch potenziert.<br />

Darauf kann man bauen.<br />

Bauen kann man auch auf eine Gesetzeslage,<br />

die nicht einmal Sanktionen,<br />

geschweige denn Strafen für notorisches<br />

der Bevölkerung und städtischen Funktionen<br />

und verhinderten die Bildung regelrechter<br />

Slums. Diese positive Wirkung erkannte<br />

der leider viel zu früh verstorbene<br />

Stadtplaner Willi Kainrath 1982 in der Österreichischen<br />

Zeitschrift für Politikwissenschaft<br />

(82/4) ausdrücklich und sah sie im Angesicht<br />

des neu in Kraft getretenen Mietrechtsgesetzes<br />

zu Recht als gefährdet an.<br />

Der Abriss...<br />

In den letzten 25 Jahren blieb denn auch<br />

mit der Liberalisierung des Mietrechts im<br />

Wohnungssektor kein Stein auf dem anderen,<br />

sowohl den Wohnungsmarkt als<br />

auch die Stadtentwicklung betreffend.<br />

Die Mietpreise haben sich vervielfacht,<br />

der Wohnungsaufwand beträgt heute<br />

2000 Zeichen<br />

Verrechnen vorsieht. Was auch heißt:<br />

Jene, die korrekt abrechnen, erleiden einen<br />

Konkurrenznachteil gegenüber jenen,<br />

die sich hochrechnen. Dumm, wer<br />

sich nicht verrechnet.<br />

Absurd auch, dass die „irrtümlich“<br />

zu viel eingehobenen Beträge nur an<br />

jene zurückgezahlt werden müssen,<br />

die sich einem Antrag an die Schlichtungsstelle<br />

angeschlossen haben bzw.<br />

nach einem entsprechenden Bescheid<br />

das Geld auch schriftlich retour fordern.<br />

Beispiel: Hat sich eine Hausverwaltung<br />

um 2.000 Euro zu ihren<br />

Gunsten verrechnet, so ergibt das bei<br />

zwei klagenden Mietern von 20 Hausparteien<br />

gerade mal eine Rückzahlung<br />

von 200 Euro, 1.800 Euro dürfen<br />

sich die Verrechner, obwohl im Unrecht,<br />

behalten. Stellen wir uns bloß<br />

vor, dieser Hausbesitzer verfügt über<br />

mehr als 50 Häuser. Da können dann<br />

satte Zusätze bis zu 100.000 Euro<br />

pro Jahr auf wundersame Weise lukriert<br />

werden. Während einzelne Mieter<br />

sich zu Recht fragen, ob der Aufwand<br />

der Anfechtung lohnt, lohnt sich<br />

das Verrechnen für die Vermieter auf<br />

jeden Fall. Das bisserl Rückzahlung ...<br />

F.S.<br />

abwärts<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


GÜNTER SCHNEIDER, MIETRECHT IN WIEN 21<br />

oft mehr als die Hälfte des Familieneinkommens.<br />

Die Stadt hat sich durch soziale<br />

Entflechtung und Bildung von Ausländergettos<br />

gravierend verändert.<br />

Die Mietengesetzgebung, die gerade<br />

in Wien durch seinen großen Althausbestand<br />

von etwa noch 35.000 Gründerzeithäusern<br />

– „Neu“bauten ab 1945 sind von<br />

den meisten Bestimmungen ausgenommen<br />

– von größter Bedeutung ist, fußt auf<br />

drei tragenden Säulen: dem Kündigungsschutz,<br />

den Mietzinsregelungen und der<br />

Erhaltungspflicht der Häuser durch die<br />

Hauseigentümer. Dazu kommt noch ein<br />

Rechtsinstrumentarium, das den Mieter/<br />

innen auch die Möglichkeit der Durchsetzung<br />

ihrer Rechte gibt.<br />

Nur im Zusammenwirken aller dieser<br />

Punkte ist Mieterschutz gewährleistet, soweit<br />

dieses überhaupt durch Gesetze bzw.<br />

Gerichte möglich ist. Gibt es keinen Kündigungsschutz,<br />

sind Mietzinsbegrenzungen<br />

sinnlos, denn die Mieter/innen sind<br />

bei einem etwaigen Gang zum Gericht der<br />

Gefahr der Kündigung ausgesetzt. Gibt es<br />

keine Mietzinsbegrenzungen, ist der Kündigungsschutz<br />

unnötig, da sich die Wohnungssuchenden<br />

die Wohnungen nicht<br />

leisten können. Gibt es schließlich keine<br />

Erhaltungspflicht, sind beide anderen Bestimmungen<br />

überflüssig, denn die Häuser<br />

brechen über den Köpfen der Mieter/<br />

innen zusammen, was ja in der Realität<br />

auch tatsächlich manchmal passiert. Und<br />

wird das Rechtsinstrumentarium unbrauchbar,<br />

nützt das ganze Mietrecht<br />

nichts, denn es ist nicht durchsetzbar.<br />

Erster großer Einschnitt im Prozess der<br />

Liberalisierung und marktgerechten Zurichtung<br />

des Mietrechts war 1986 die Herausnahme<br />

der Kategorie-A-Wohnungen<br />

aus der Mietzinsbegrenzung. Der darauffolgenden<br />

Entwicklung, dass binnen weniger<br />

Jahre fast nur mehr teure A-Wohnungen<br />

am Markt zu finden waren, sollte mit<br />

der Einführung des Richtwert-Mietzinses<br />

ab 1994 begegnet werden. Dieser Zins,<br />

ein Mittelding zwischen Kategorie- und<br />

Marktmiete, bewirkte, dass bis heute das<br />

Mietenniveau in Wien auf Werte bis 12,44<br />

Euro pro Quadratmeter Kaltmiete (Hauptmietzins<br />

+ Betriebskosten + Steuer) gestiegen<br />

ist. Sogar bei den durch die Stadt Wien<br />

geförderten Sanierungen sind oft Mietpreise<br />

über 10 Euro pro Quadratmeter üblich.<br />

Der Gemeindewohnungsbau wurde bereits<br />

vor Jahren eingestellt. Auch das Steuerungsinstrument<br />

der weit niedrigeren Mieten für<br />

die Gemeindewohnungen wurde von der<br />

Stadtverwaltung dadurch aus der Hand gegeben,<br />

dass jene bei Wiedervermietung an<br />

den privaten Sektor angeglichen wurden.<br />

Die Kündigungsbestimmungen wurden<br />

zwar nicht aufgehoben oder reduziert,<br />

sind aber nur für Mieter/innen mit<br />

einem unbefristeten Mietvertrag wirksam.<br />

Mit dem ab März 1994 in Kraft getretenen<br />

3. Wohnrechtsänderungsgesetz<br />

wurde jedoch der befristete Mietvertrag<br />

eingeführt. Mit einer Mindestdauer<br />

von drei Jahren kann ein Mietvertrag<br />

mittlerweile beliebig oft verlängert werden.<br />

Damit werden die Mieter/innen natürlich<br />

genötigt, sich unauffällig zu verhalten.<br />

Streben sie z.B. eine gerichtliche<br />

Überprüfung des Mietzinses an, ist eine<br />

Verlängerung des Mietvertrages praktisch<br />

ausgeschlossen. Einer Studie nach wurden<br />

im Jahr 2002 nahezu 40 Prozent aller neuen<br />

Mietverträge befristet abgeschlossen.<br />

Viele, vor allem Zuwanderer/innen, sind<br />

daher gezwungen, Nomaden gleich, alle<br />

paar Jahre umzuziehen. Erst in den letzten<br />

Jahren hat sich diese Situation durch<br />

den Zugang von Ausländer/innen zu Gemeindewohnungen<br />

etwas entspannt.<br />

Auch Verfahren wegen notwendiger<br />

Erhaltungsarbeiten (etwa Reparatur von<br />

Fenstern) sind bei befristeten Mietverträgen<br />

sinnlos. Die Vermieterseite kann durch<br />

den gesetzlich vorgesehenen Instanzenzug<br />

das Verfahren in den meisten Fällen hinauszögern,<br />

bis der Vertrag ausläuft. Die<br />

Langsamkeit der Gerichte tut ihr Übriges.<br />

Und schließlich wurde es den Mieter/<br />

innen in den letzten Jahren erschwert,<br />

ihre Rechte gerichtlich durchzusetzen.<br />

Im Jahr 2005 wurde nämlich das Gesetz<br />

derart geändert, dass die Mieter/innen<br />

im Fall, dass das Verfahren verloren wird,<br />

einen Kostenersatz für Vertretungskosten<br />

an die Vermieterseite zu zahlen haben.<br />

Da sich Vermieter mehrheitlich von<br />

Anwälten vertreten lassen, ist somit für<br />

antragstellende Mieter/innen ein großes<br />

Kostenrisiko gegeben, das natürlich viele<br />

davon abhält, zu Gericht zu gehen. Auch<br />

mit erhöhten Gebühren und sonstigen<br />

Gesetzesänderungen wird der Zugang<br />

zum Recht erschwert bzw. beschränkt.<br />

Die Anzahl der Mietenprozesse ist daher<br />

deutlich gesunken.<br />

Dazu kommt noch, dass sich Mietervertreter/innen,<br />

Schlichtungsstellen, Gerichte<br />

etc. mittlerweile mit einem Gesetz<br />

herumzuschlagen haben, das immer weniger<br />

in der Lage ist, die Materie der Vermietung<br />

von Wohnraum zu regeln. Klare<br />

Bestimmungen werden vom Gesetzgeber<br />

zunehmend vermieden, Entscheidungen,<br />

die eigentlich die Politik treffen sollte,<br />

etwa die Festsetzung der Höhe des<br />

Mietzinses, werden den Gerichten bzw.<br />

„unabhängigen“ Sachverständigen, die<br />

ausschließlich aus dem Bereich der Immobilienwirtschaft<br />

kommen, überlassen.<br />

...und die Folgen<br />

Alles im allem hat sich die Wiener Stadtstruktur<br />

durch diese Entwicklungen zum<br />

Nachteil für die Bewohner/innen geändert.<br />

Die ab Mitte der 70er Jahre vor allem<br />

aus Jugoslawien und der Türkei zugewanderten<br />

Arbeiter/innen hatten lange<br />

Jahre keinen Zugang zu den Gemeindebauten.<br />

Sie haben sich daher nicht über<br />

das Stadtgebiet verteilt, was ihre Integration<br />

hätte fördern können, sondern haben<br />

sich großteils in den Gründerzeitvierteln<br />

außerhalb des Gürtels angesiedelt. Dort<br />

waren genügend schlecht ausgestattete<br />

Wohnungen vorhanden, die – meist nach<br />

Bezahlung einer saftigen Ablöse – um eine<br />

halbwegs erschwingliche Miete zu haben<br />

waren bzw. auch nicht gesetzeskonform<br />

Eingewanderten als Unterschlupf gegen<br />

oft enormen Aufpreis zur Verfügung<br />

standen. Hauptsächlich betroffen hievon<br />

waren und sind noch (Inner)Favoriten,<br />

Rudolfsheim/Fünfhaus, Ottakring und<br />

die Brigittenau, wo Spekulanten ihre<br />

Mieter/innen auspressen und zugleich<br />

kaum in die Häuser investieren.<br />

Auch die Infrastruktur leidet in diesen<br />

Grätzln. Wettkaffees, Imbissshops<br />

und Billigläden herrschen im Straßenbild<br />

vor. Geschäfte, Wirtshäuser und<br />

Gewerbebetriebe sperren immer häufiger<br />

zu, sind zum Teil fast verschwunden.<br />

Auf der anderen Seite entsteht durch den<br />

Bauboom an den Stadträndern ein Einkaufszentrum<br />

und Bürobau nach dem<br />

anderen. Die Entflechtung städtischer<br />

Funktionen ist weit vorangeschritten,<br />

wodurch auch der Verkehr stark angestiegen<br />

ist. Maßnahmen zur Beseitigung<br />

dieser Entwicklung werden kaum ergriffen.<br />

Wenigstens zum Teil wird diese allerdings<br />

durch Neugründungen von Geschäften<br />

und Handwerksbetrieben durch<br />

die Zuwanderer und deren Nachkommen<br />

gemildert.<br />

Vielleicht kommt aber auch anderes<br />

wieder in Gang. Junge Leute fangen<br />

mit Hausbesetzungen an, um darauf hinzuweisen,<br />

dass der Wohnungsmarkt für<br />

sie und eine andere Art zu leben als in<br />

der Welt von Geld und Arbeit vorgesehen<br />

keinen Raum bietet. Zuletzt wurde<br />

z.B. eine alte Schule, die als Amtshaus in<br />

einer Fernsehsatire bekannt wurde, besetzt.<br />

Diese Aktion wurde freilich genauso<br />

wie die Mieterrevolten vor 100 Jahren<br />

von der Polizei zunächst einmal gewaltsam<br />

beendet.<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


22 HAUSPROJEKT<br />

Umsonstökonomischer Ansatz<br />

EINE DOKUMENTATION<br />

LIVING ROOM<br />

Wir wollen nicht auf das gute Leben irgendwann in der<br />

Zukunft warten, sondern hier und jetzt einen Raum für<br />

eine kritische Praxis schaffen. Ein Raum für ein solidarisches<br />

Miteinander mit dem Ziel, den uns umgebenden und verinnerlichten<br />

Zwängen zu entkommen. Darum ein Haus zum Wohnen<br />

und Leben, zum Älter-Werden und Aufwachsen, zum Ent-<br />

Lernen und widerspenstig sein.<br />

Innerhalb des Hauses wird es auf der Bandbreite von Offener<br />

Raum bis Rückzugsraum verschiedene Ebenen der Umsetzung<br />

geben. Fester Bestandteil soll ein Kollektivbereich mit Werkstätten,<br />

KostnixLaden, Cafe und Projekträumen sein. Der Kollektivbereich<br />

ist der Bereich, in dem auch Menschen, die nicht im<br />

Haus wohnen, konkrete Projekte umsetzen können. Dieser Bereich<br />

steht allen Menschen offen, die sich mit den Grundsätzen<br />

des Hauses identifizieren können. Der Wohnbereich ist auch der<br />

Rückzugsraum für jene, die ihren Lebensmittelpunkt in das Haus<br />

verlegen wollen. Wahrscheinlich wird es je nach Bedürfnissen<br />

verschiedene Wohngruppen mit gemeinsamen Wohnzimmern,<br />

mehreren Küchen usw. geben. Wichtig ist uns, dass das Haus<br />

auch ein Ort wird, an dem sich Kinder wohlfühlen können.<br />

Wir wollen einen Ort, wo wir an den Formen unseres Beisammenseins<br />

und dem Aufbrechen fremdbestimmter Strukturen<br />

arbeiten können - einen Ort, wo das, wofür wir kämpfen, erlebbar<br />

gemacht werden kann. Unsere Sexismen, Rassismen, Homophobie,<br />

Antisemitismen usw. sind ein Teil von uns, wir können<br />

sie nicht einfach an der Türe ablegen. Eine sich als emanzipatorisch<br />

verstehende Praxis muss darum vor allem im Umgang<br />

miteinander ansetzen. Daher soll im HausProjekt auf die praktische<br />

und theoretische Auseinandersetzung über Normierung<br />

von Raum, sowie den damit verbundenen allzu oft rassistischen,<br />

männlichen und heteronormativen Verhaltenweisen besonders<br />

Wert gelegt werden.<br />

Solche Räume gibt es viel zu selten – Grund genug, sich neue<br />

Freiräume zu erkämpfen. Der Ansatz der Aneignung erlaubt<br />

uns, durch ein mietfreies Leben uns ein stückweit von den Verwertungszwängen<br />

zu befreien. Wir setzen auf direkte Aktion<br />

und hoffen, dass die selbstbestimmte Deckung der Grundbedürfnisse<br />

auch dem Leerstand eine lebendige Zukunft beschert.<br />

Denn die Experimentierfreudigkeit der Stadt ist höchstens im<br />

Bereich der Privatisierung zu erkennen und nicht, wenn es um<br />

selbstbestimmte Wohnformen und Lebensentwürfe abseits der<br />

gepredigten Normen geht. Uns ist es wichtig, ein selbstverwaltetes<br />

Projekt zu sein und nicht von irgendwelchen Subventionen<br />

abhängig zu sein. Gleichzeitig kommt dem umsonstökonomischen<br />

Ansatz ein großer Stellenwert in der Wahrung der<br />

Unabhängigkeit und dem Erproben von Neuem zu. (...)<br />

Leider verlieren sich immer wieder Gruppen, die mit hohen<br />

Ansprüchen an sich selbst und die Veränderung der Gesellschaft<br />

begonnen haben, in der langsamen Kommerzialisierung<br />

und Ökonomisierung ihrer Projekte. Der Wunsch, endlich für<br />

den ganzen Aufwand auch Geld zu bekommen, oder die Verlockung<br />

durch ein viel Geld einspielendes Projekt, mit dem sich<br />

andere Möglichkeiten auftun, zerstört längerfristig die Möglichkeit,<br />

aus dem Projekt heraus radikale Veränderung entstehen<br />

zu lassen. Wir sind uns bewusst, dass Umsonstökonomie als<br />

globaler Ansatz nicht hier und heute umgesetzt werden kann,<br />

da wir nicht einfach aufhören können Kapitalismus zu machen.<br />

Bei aller Beschränktheit, die die Anwendung umsonstökonomischer<br />

Ansätze aufweist (woher mit der Knete?), stellt die Ablehnung<br />

von Verwertungslogiken innerhalb eines Projektes einen<br />

wichtigen Schutz dar, um die Richtung der Veränderung<br />

nicht aus dem Auge zu verlieren. Im Spannungsverhältnis aufgezwungener<br />

kapitalistischer Reproduktion und gleichzeitiger<br />

größtmöglicher Ablehnung von Tausch- und Vermarktungslogiken<br />

innerhalb des Projektes, erhoffen wir uns einen Anreiz für<br />

den weiteren Abbau von kapitalistischen Logiken im Zwischenmenschlichen,<br />

im Projekt sowie darüber hinaus. Konkret heißt<br />

diese Erkenntnis, dass es in und um das HAUS und die beteiligten<br />

Projekte keine kommerzielle Verwertung und keine Lohnarbeit<br />

in irgendeiner Form geben kann. Das heißt<br />

Der Verzicht auf jede Form von Lohnarbeit innerhalb des<br />

Hauses.<br />

Freie Preispolitik, d.h. es wird nie Eintritt verlangt und Getränke,<br />

Essen und Infrastruktur sind immer nach eigenem<br />

Ermessen zu bezahlen.<br />

Es gibt kein Copyright auf hier produzierte Dinge. Alles<br />

darf beliebig weiterverwendet, aber nicht verkommerzialisiert<br />

werden.<br />

Frei produzierte Dinge dürfen nicht verkommerzialisiert und<br />

nur gegen freie Preise weitergegeben werden.<br />

Fixkosten werden solidarisch und kollektiv aufgebracht, keine<br />

festgelegten Beiträge.<br />

Mit diesem Ansatz ist es möglich, umsonstökonomische Ideen<br />

und Praktiken auch nach Außen zu tragen, statt sich über kommerzielle<br />

Projekte (selbstverwaltete Betriebe) die Verwertungslogik<br />

schrittweise ins Projekt zu holen. Dies bedeutet, dass viele<br />

Menschen im Projekt weiterhin von externer Lohnarbeit abhängig<br />

sein werden, aber gleichzeitig bietet dies auch den Anreiz,<br />

immer mehr Bedürfnisse umsonstökonomisch abzudecken<br />

und somit die Zeit die für externe Lohnarbeit aufgewendet werden<br />

muss zu verkürzen. Es ist die Aufgabe der verschiedenen<br />

Kollektive und Wohngruppen, sich einen eigenen solidarischen<br />

Umgang für die aufzubringende Kohle zu überlegen. Nicht alle<br />

werden am Arbeitsmarkt für die gleiche investierte Zeit gleich<br />

bezahlt. Es ist wichtig, soziale Herkunft (Klasse, Bildungsstand,<br />

Gender, ...) mitzudenken und einen Ausgleich zu schaffen. Deshalb<br />

setzen wir keinen fixen Kostenanteil pro Person fest. Das<br />

Gesamtprojekt bzw. die einzelnen Kollektive/Wohngruppen<br />

sind gemeinsam dafür verantwortlich diese zu decken. Ein anderer<br />

Aspekt ist, dass über die externe Lohnarbeit eine Verbindung<br />

zu den gesellschaftlichen Zwängen und dem Alltagsleben<br />

der meisten Menschen bestehen bleibt, und die Gefahr einer abgekapselten<br />

Wohlfühlblase ohne Realitätsbezug nicht so leicht<br />

gegeben ist.<br />

Aus: 1x1 für ein Hausprojekt in Wien, Frühsommer 2009<br />

Mehr Infos zum Hausprojekt:<br />

http://hausprojekt.noblogs.org/<br />

Kontakt: hausprojekt@riseup.net<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


FRANZ SCHANDL, ÖKONOMIE DES WOHNENS 23<br />

Sonderbare Sonderware<br />

ZUR POLITISCHEN ÖKONOMIE DES WOHNENS<br />

von Franz Schandl<br />

Wohnungen müssen nicht bloß da sein,<br />

sie müssen auch jemanden gehören, also<br />

Eigentum sein: Ware auf dem und<br />

für den Immobilienmarkt.<br />

Wohnungen, wie könnte es im Kapitalismus<br />

anders sein, haben einen<br />

Preis, wobei dieser Marktpreis hierzulande<br />

einigen restriktiven gesetzlichen<br />

Beschränkungen und Auflagen unterworfen<br />

ist. Darüber hinaus sind die modernen<br />

Haushalte zwangsweise an den<br />

Markt angeschlossen, man denke an die<br />

Versorgung von Gas, Strom, Wasser oder<br />

die Entsorgung von Müll und Abwasser.<br />

Die Wohnung ist eine Markteinheit, unabhängig<br />

davon, ob ihre Bewohner einer<br />

solchen zugehörig sein wollen oder nicht.<br />

Preis statt Menschenrecht<br />

Wohnen ist zwar ein Grundbedürfnis,<br />

aber es ist kein Grundrecht. Wer nicht<br />

zahlen kann, fliegt raus oder steht ohne<br />

Wohnung da. Obdachlosigkeit ist eine<br />

schwere Strafe, sie führt aufgrund der<br />

rest- wie rastlosen Auslieferung an die<br />

Unwirtlichkeiten des öffentlichen Sektors<br />

und der zivilen Gesellschaft zu individueller<br />

Desorganisation.<br />

Wohnen im Kapitalismus ist somit keine<br />

Selbstverständlichkeit, es verwirklicht<br />

sich nur über ein bürgerliches Rechtsverhältnis,<br />

einen Miet- oder Kaufvertrag.<br />

Jedes Wohnrecht ist der Zahlungspflicht<br />

untergeordnet. Das gilt übrigens<br />

auch für andere Grundbedürfnisse: Essen,<br />

Trinken, Kleiden. Sie sind den ideellen<br />

Menschenrechten (Meinungsfreiheit,<br />

Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit)<br />

nicht gleich gestellt, werden von den<br />

bürgerlichen Gesellschaften nicht garantiert,<br />

sondern haben sich über den Markt<br />

zu realisieren. Wohnungsinhaber müssen<br />

Wohnungseigentümer oder Wohnungsmieter<br />

sein, so die Regel, oder von den<br />

beiden Letzteren als Bewohner geduldet<br />

werden, so die Ausnahmen.<br />

Der Preis der Häuser und Wohnungen<br />

rührt aus dem Wert zweier unterschiedlicher<br />

Revenuen, einmal aus dem Kapital<br />

(die erbaute Wohneinheit) und einmal<br />

aus der Grundrente (das Land, auf dem es<br />

steht). „Der Verkauf einer Ware besteht<br />

bekanntlich darin, dass der Besitzer ihren<br />

Gebrauchswert weggibt und ihren<br />

Tauschwert einsteckt. Die Gebrauchswerte<br />

der Waren unterscheiden sich unter<br />

anderem auch darin, dass ihre Konsumtion<br />

verschiedene Zeiträume erfordert. Ein<br />

Laib Brot wird in einem Tage verzehrt,<br />

ein Paar Hosen in einem Jahr verschlissen,<br />

ein Haus meinetwegen in hundert<br />

Jahren. Bei Waren von langer Verschleißdauer<br />

tritt also die Möglichkeit ein, den<br />

Gebrauchswert stückweise, jedes Mal auf<br />

bestimmte Zeit, zu verkaufen, d.h. ihn zu<br />

vermieten. Der stückweise Verkauf realisiert<br />

also den Tauschwert nur nach und<br />

nach; für diesen Verzicht auf sofortige<br />

Rückzahlung des vorgeschossenen Kapitals<br />

und des darauf erworbenen Profits<br />

wird der Verkäufer entschädigt durch<br />

einen Preisaufschlag, eine Verzinsung,<br />

deren Höhe durch die Gesetze der politischen<br />

Ökonomie, durchaus nicht willkürlich,<br />

bestimmt wird. Am Ende der<br />

hundert Jahre ist das Haus aufgebraucht,<br />

verschlissen, unbewohnbar geworden.<br />

Wenn wir dann von dem gezahlten Gesamtmietbetrag<br />

abziehen: 1. die Grundrente<br />

nebst der etwaigen Steigerung, die<br />

sie während der Zeit erfahren, und 2. die<br />

ausgelegten laufenden Reparaturkosten,<br />

so werden wir finden, dass der Rest im<br />

Durchschnitt sich zusammensetzt: 1. aus<br />

dem ursprünglichen Baukapital des Hauses,<br />

2. aus dem Profit darauf, und 3. aus<br />

der Verzinsung des nach und nach fällig<br />

gewordenen Kapitals und Profit.“ (Friedrich<br />

Engels, Zur Wohnungsfrage (1872),<br />

MEW 18:270)<br />

Ökonomie der Mieten<br />

Im Kauf wird das Vertragsverhältnis<br />

durch einen Akt eingelöst. Der Abschluss<br />

setzt diesem Vertragsverhältnis<br />

ein Ende, die Ware Wohnung oder Haus<br />

wird übergeben. Was der Käufer mit der<br />

Ware tut, geht den Verkäufer gar nichts<br />

mehr an. Bei der Miete hingegen setzt<br />

der Abschluss das Vertragsverhältnis erst<br />

in Gang. Mieter und Vermieter binden<br />

sich aneinander, gerade weil die Ware<br />

nicht den Eigentümer wechselt, sondern<br />

bloß Nutzungsrechte auf Zeit den Besitzer<br />

wechseln. Der Mieter ist daher dem<br />

Vermieter jedes Monat den Zins schuldig.<br />

Bei der Miete wird eine Zeit in einem<br />

Raum verkauft, ohne dass der Raum<br />

verkauft wird. Was der Mieter mit dem<br />

Raum in dieser Zeit macht, ist aber nicht<br />

ganz seiner Autonomie überlassen. Vermietung<br />

ist Verkauf ohne Entledigung,<br />

Besitzer und Nutzer fallen auseinander.<br />

Der Mieter zahlt den Vermieter, ist<br />

also Käufer einer Ware, ohne zu deren<br />

Eigentümer zu werden. Der Vermieter<br />

erhält Geld, weil er Teile seiner Verfügung<br />

per Vollmacht auf Zeit begrenzt<br />

entäußert. Der Arbeiter hingegen verkauft<br />

eine Ware. Seine Ware, die Arbeitskraft<br />

wird am Arbeitsmarkt nachgefragt<br />

und angekauft. Ökonomisch<br />

betrachtet sind so der Mietgegenstand<br />

und die Arbeitskraft das zu Veräußernde,<br />

während die Wohnung und die Arbeit<br />

das Anzueignende sind. Der Mietgegenstand<br />

ist im Wesentlichen tote Arbeit,<br />

die Arbeitskraft hingegen produziert lebendige<br />

Arbeit.<br />

Zur Konkretion: Bei der Lohnarbeit<br />

wird Zeit für die Anwendung der Arbeitskraft<br />

verkauft, ohne dass der Lohnarbeiter<br />

verkauft wird. Was der Käufer in<br />

dieser Zeit mit der Arbeitskraft macht,<br />

bleibt auch ihm überlassen. Im Gegensatz<br />

zur Vermietung ist das aber kein Zeitkauf<br />

eines fertigen Produktes, sondern der<br />

Zeitkauf einer abzuschöpfenden Potenz.<br />

Dass Lohnarbeiter zu Kapitalisten sich<br />

anders verhalten als Mieter zu Hausherrn,<br />

wusste schon Friedrich Engels: „Der Arbeiter,<br />

ob seine Arbeit vom Kapitalisten unter,<br />

über oder zu ihrem Wert bezahlt wird,<br />

wird immer um einen Teil seines Arbeitsprodukts<br />

geprellt; der Mieter nur dann,<br />

wenn er die Wohnung über ihren Wert<br />

bezahlen muss. Es ist also eine totale Verdrehung<br />

des Verhältnisses zwischen Mieter<br />

und Vermieter, es mit dem zwischen<br />

Arbeiter und Kapitalisten gleichstellen zu<br />

wollen. Im Gegenteil, wir haben es mit einem<br />

ganz gewöhnlichen Warengeschäft<br />

zwischen zwei Bürgern zu tun, und dies<br />

Geschäft wickelt sich ab nach den ökonomischen<br />

Gesetzen, die den Warenverkauf<br />

überhaupt regeln, und speziell den Verkauf<br />

der Ware: Grundbesitz.“ (MEW 18:216)<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


24 FRANZ SCHANDL, ÖKONOMIE DES WOHNENS<br />

LIVING ROOM<br />

Das Wohnrecht trägt diesen komplexen<br />

Verhältnissen auf unterschiedliche<br />

Weise Rechnung. Einerseits sind Mieter<br />

gegenüber öffentlichen Ämtern und<br />

Institutionen weitgehend rechtlos, da sie<br />

über keinen Eigentumstitel verfügen, somit<br />

also einen inferioren Rechtsstatus genießen.<br />

Auch heute gilt noch, was Wilhelm<br />

Kainrath einstens festgehalten hat:<br />

„So war es schon bisher. Im gesamten<br />

Baurecht sind nur die Grund- und Hauseigentümer<br />

Gesprächspartner der Behörde.“<br />

Und er zitiert gleich anschließend<br />

eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes<br />

vom 23. November 1911‚ die<br />

da lautet: „Weder durch die Beziehung<br />

zur Verhandlung noch durch die Zustellung<br />

des Bescheides können dem Mieter<br />

Parteirechte entstehen.“ (Neues FORVM,<br />

Heft 219, März 1972, S. 23.) So wie 1911<br />

1972, so wie 1972 2009.<br />

Andererseits müssen wir auch festhalten,<br />

dass auf der formal-rechtlichen Ebene<br />

Mieter in einigen Punkten besser gestellt<br />

sind als Vermieter, z.B. kann der<br />

Mieter kündigen ohne Gründe anzuführen,<br />

aber nicht gekündigt werden ohne<br />

Grund. Ohne diesen Sonderstatus wären<br />

die Mieter auch völlig der Willkür der<br />

Hausherren ausgeliefert. Ihre Abhängigkeit<br />

wäre absolut. Die Markstellung des<br />

Erwerbers einer Unterkunft ist in gewisser<br />

Hinsicht durchaus vergleichbar mit<br />

jener des Verkäufers der Ware Arbeitskraft,<br />

auch wenn der eine etwas loswerden<br />

will und der andere etwas erwerben<br />

möchte. Beider Stellung ist eine Minderstellung,<br />

weil die Ware, um die es jeweils<br />

geht, eine ist, auf die sie unbedingt angewiesen<br />

sind. Dass Mieterschutz notwendig<br />

ist, sagt freilich auch alles über die Erbärmlichkeit<br />

dieser Marktbeziehung aus,<br />

vor allem weil sie Mieter zu infantilen<br />

Subjekten erklären muss.<br />

Markt und Staat<br />

Das vorrangige Ziel der Immobilienbranche<br />

besteht nicht in der Schaffung<br />

von Wohnraum, sondern in der Erzielung<br />

und Erhöhung der Renditen. Daher<br />

ist es ökonomisch ratsam wie reizvoll,<br />

Leute mit niedrigen Mieten aus den<br />

Häusern zu drängen, um sie durch Hausparteien<br />

zu ersetzen, die oft das Doppelte<br />

bis Dreifache berappen und auch noch<br />

brav sieben Monatsmieten im Voraus<br />

(vier Monatsmieten Kaution, drei Monatsmieten<br />

Provision) abliefern. Gerade<br />

die Gentrifizierung bestimmter Stadtteile<br />

lässt eine aggressive Absiedelungspolitik<br />

der Hauseigentümer keimen. „Assanierung<br />

bedeutet Vertreibung der ärmsten<br />

und kaufschwächsten Bewohner aus dem<br />

City-Gebiet“, schrieb Kainrath schon vor<br />

mehr als 35 Jahren.“ (Ebenda, S. 24)<br />

Wolfgang Louzek, der Präsident der<br />

institutionellen Immobilien-Investoren<br />

bringt die Sicht der Branche im Standard<br />

vom 22. September 2009 auf den Punkt:<br />

„Die Mieter zahlen zu wenig, insbesondere<br />

bei Altverträgen und Richtwertmieten“.<br />

„Die Lösung wäre, diese<br />

ganzen Preisregelungen über Bord zu<br />

werfen. Die Mieten muss der Markt regulieren,<br />

alles andere führt zu nichts.“<br />

Was den Mann wohl besonders ärgert<br />

ist, dass gesetzliche Bestimmungen den<br />

Profit hemmen, was sie ja zweifellos<br />

tun. Daher fordern Vermieter auch stets<br />

die Lockerung oder gar Abschaffung des<br />

Mieterschutzes.<br />

„Der Markt regelt sich selbst“, posaunt<br />

der Mann allen Ernstes. Aber so wirklich<br />

gegen den Staat ist er natürlich nicht,<br />

im Gegenteil verlangt er im gleichen Interview,<br />

dass die öffentliche Hand via<br />

Mietzuschuss sicherstellt, dass sich Wohnungsbedürftige<br />

die Wohnungen leisten<br />

können. Forsch fordert er damit nichts<br />

anderes, als dass die Gewinne der Vermieter<br />

durch die Allgemeinheit bezahlt<br />

Büro 2.0: Vom Wohnen in der<br />

Legebatterie<br />

Dieser Beitrag entsteht nur zwei<br />

Meter von meinem Bett entfernt,<br />

ich trage sogar noch das Nachthemd.<br />

Schön, wenn man das prickelnd<br />

findet – der Kollateralnutzen<br />

einer Misere. Wer will denn schon<br />

seine Haut auf dem Arbeitsmarkt dafür<br />

verkaufen, um ebendas in einem<br />

größeren Raum zu erledigen? Außerdem<br />

muss sich noch vor der Büromiete<br />

zumindest jene für die Wohnung<br />

ausgehen. Fakt ist, dass die Schreibarbeit<br />

in einer Festanstellung nicht<br />

glücklich macht. Fakt ist, dass die<br />

Schreibarbeit ohne Festanstellung<br />

nicht reich macht.<br />

Also haut man sich einen Arbeitsbereich<br />

in der ohnehin nicht eben<br />

quadratmeterstarken eigenen Bleibe<br />

heraus. Psychohygieniker wiegen an<br />

dieser Stelle wegen des Ineinsfallens<br />

aller wichtigen Lebenseinrichtungen<br />

– Arbeit, Liebe, Schlaf und Steuererklärung<br />

– besorgt ihre Häupter. Und<br />

werden. Denn nicht die Mieter werden<br />

durch Mietbeihilfen gefördert – diese<br />

sind nur ein Durchlaufposten –, sondern<br />

die Vermieter. Indirekt gibt Louzek<br />

damit zu verstehen, dass der Markt das<br />

Wohnbedürfnis überhaupt nicht regeln<br />

kann. Unser Marktfanatiker ist gar nicht<br />

gegen den Staat, er möchte lediglich, dass<br />

die Protektion sich anders positioniert.<br />

Sonderfall Wohnen<br />

Nicht bloß die Miete ist ein Sonderfall,<br />

sondern Wohnen als Ware überhaupt.<br />

Warum?<br />

Erstens: Wohnraum ist nicht nur<br />

eine Ware, sondern auch eine Immobilie,<br />

d.h. sie ist fest an einen Ort gebunden.<br />

Somit auch ihr Erwerber, d.h.<br />

er legt sich mit Kauf oder Miete örtlich<br />

fest. Der Käufer holt die Ware nicht zu<br />

sich, sondern sich zur Ware. Daraus ergeben<br />

sich eine Unmenge von Konsequenzen.<br />

Man denke an die vergleichsweise<br />

hohen Kosten, die bei Kauf und<br />

Anmietung anfallen (Kaufpreis, Kaution,<br />

Provision, Vergebührung, Umzugskosten,<br />

Ausfallskosten), ebenso die dafür<br />

aufgewandten Zeiten und Energien<br />

der Übersiedelungen.<br />

2000 Zeichen<br />

zu was? Zu Unrecht! Wer weniger arbeitet,<br />

kann länger im Bett liegen.<br />

Leistung lohnt sich doch ohnehin<br />

nur noch punktuell. Wer auf Abruf<br />

im Bett auf der Lauer liegt, jederzeit<br />

telefonisch erreichbar und bereit zum<br />

Sprung auf den Bürosessel, kann für<br />

seinen Auftraggeber das Optimum<br />

aus der eigenen Arbeitskraft herausholen.<br />

Wer die Anfahrtswege zur Arbeitsstelle<br />

auf das In-die-Hausschuhe-Fahren<br />

reduziert, agiert nicht nur<br />

CO 2<br />

-neutral, sondern fixkostenideal.<br />

Die raumzeitliche Entgrenzung<br />

von Arbeit und Privatleben hilft beim<br />

Honorar-Dumping und sichert weitere<br />

Aufträge – kein anderer Freelancer<br />

ist sonst so blöd: meine Unique Selling<br />

Prosti… pardon: Proposition.<br />

Der Überdruss an den – ohnehin<br />

nicht eigenen – vier Wänden ist im<br />

Vergleich zu Schulden oder den Mühen<br />

der Organisation einer Generalrevolution<br />

das geringere Übel. Und<br />

wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen,<br />

ich muss mein Büro saugen.<br />

D.M.<br />

abwärts<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


FRANZ SCHANDL, ÖKONOMIE DES WOHNENS 25<br />

Zweitens: Wohnung ist eine langfristige<br />

Entscheidung, weil ihr Konsum ein<br />

langfristiger ist. Nicht nur der Ort ist gebunden,<br />

auch die Zeit. Die Wahl für diese<br />

oder jene Wohnung ist eine andere als<br />

für diesen oder jenen Wein, dieses oder<br />

jenes Waschmittel. Kauf und Anmietung<br />

sind somit unabhängig vom Preis eine jeweils<br />

eminente Disposition, die weit über<br />

die unmittelbare Lebenslage hinauswirkt.<br />

Wir treffen damit Verfügungen<br />

für Zeiträume, die wir gar nicht kennen.<br />

Fehlentscheidungen fallen bei Wohnungen<br />

größer ins Gewicht.<br />

Drittens: Das Wohnbedürfnis ist allgemeiner<br />

und quasi unbedingter Natur,<br />

man kann sich kaum aussuchen, ob<br />

man wohnen will oder nicht. Man muss.<br />

Dieser Mangel ist existenziell. Diese Not<br />

kann also nicht einfach durch andere Bedürfnisse<br />

substituiert werden. Gemeinhin<br />

werden Wohnungen nicht gesucht,<br />

weil man sie will, sondern weil man sie<br />

braucht. Die Wohnung ist ein unbedingter<br />

Gebrauchswert, der das Kriterium<br />

der Unverzichtbarkeit erfüllt. Der Gebrauchswert<br />

hat etwas von einer Vorbestimmung,<br />

die jede Selbstbestimmung<br />

am Markt übersteigt.<br />

Einseitige Konfrontationen<br />

In ihrer Studie „Soziologie des Wohnens“<br />

schreiben Hartmut Häußermann<br />

und Walter Siebel, „dass geringe Marktfähigkeit<br />

einhergeht mit geringer Kenntnis<br />

der eigenen Rechte beziehungsweise<br />

größerer Scheu, sie in Anspruch zu nehmen.<br />

Zum anderen werden Wohnprozesse<br />

dargestellt als Prozesse der Gewöhnung:<br />

an zuviel Lärm, steigende Kosten,<br />

schlechte Ausstattung und Überbelegung.<br />

Diese Gewöhnungseffekte sind ein<br />

weiterer Grund für die geringe Konfliktträchtigkeit<br />

(...)“ (S. 292)<br />

Die Hausinhabungen spekulieren zu<br />

Recht darauf, dass die Mieter auf Konflikte<br />

verzichten, weil diese ihnen einerseits<br />

zu mühsam sind, zu viel Zeit<br />

und Geld kosten und es sich andererseits<br />

oft bloß um geringe Beträge handelt,<br />

die sich kumuliert aber für die Vermieter<br />

durchaus hochrechnen. Deren Stärke<br />

liegt in den atomisierten und ruhiggestellten<br />

Mietern. Diese sind nicht nur<br />

schlecht organisiert, sie sind meist gar<br />

nicht organisiert. Interessenvertretungen<br />

erscheinen ihnen als zusätzliche Verursacherinnen<br />

von Kosten. So leben Mieter<br />

nebeneinander, haben wenig Ahnung<br />

voneinander und wollen diese als bürgerliche<br />

Subjekte auch gar nicht haben. Die<br />

gute und gepflegte Nachbarschaft ist in<br />

diesen Zeiten ziemlich sistiert, sowohl<br />

aufgrund des ökonomisch dimensionierten<br />

Zeitdrucks als auch wegen der mentalen<br />

Zurichtung.<br />

Was kümmern mich die anderen?<br />

Viele gehen als „souveräne Bürger“ davon<br />

aus, dass sie es sich selbst richten können.<br />

Die Empörung ist oft groß, doch sie<br />

überwindet Passivität und Fatalismus<br />

kaum. Die Aufregung bleibt meist in ihr<br />

selbst stecken und verpufft ohne Wirkung.<br />

Aber auch wenn mündige Bürger<br />

auftreten, aufgetakelt mit einem freien<br />

Willen und einem Faible für Gerechtigkeit,<br />

gleicht dies nicht selten einem<br />

Kampf gegen Windmühlen. Dass Mieter<br />

gegen Vermieter vorgehen, kommt seltener<br />

vor als umgekehrt.<br />

Ein Ungleichgewicht besteht auch darin,<br />

dass die Eigentümer und ihre Vertreter<br />

an solche Konfrontationen gewöhnt<br />

sind. Sie sind an Erfahrungen reich und<br />

überlegen, verfügen über bezahlte Angestellte<br />

und betreiben die Auseinandersetzung<br />

mehr oder weniger professionell.<br />

Ihre Geschäftstätigkeiten werden außerdem<br />

von den Mietern finanziert. Diese<br />

zahlen nicht nur für sich, sondern auch<br />

gegen sich. Selbst im Falle einer Niederlage<br />

sind die Hausbesitzer und Verwaltungen<br />

nicht unmittelbar oder gar persönlich<br />

betroffen, sondern lediglich als Geschäftsträger<br />

involviert. Emotional hängen<br />

sie nicht an einer bestimmten Wohnung.<br />

Verlieren Mieter ihre Wohnung,<br />

verlieren sie nicht irgendetwas, sie verlieren<br />

ihren bisherigen Lebensmittelpunkt.<br />

Ebenenwechsel<br />

Was tun? – Die Analyse der eigenen wie<br />

fremden Stärken und Schwächen ist Voraussetzung,<br />

um Konfrontationen erfolgreich<br />

führen und bestehen zu können. Eine<br />

solide Informationssammlung ist unabdingbar:<br />

Anzulegen sind Notizen, Vermerke,<br />

Tagebücher, Fotos, Dokumentationen<br />

aller Art. Kontraproduktiv ist das Versteifen<br />

auf irgendeine Art von Gerechtigkeit. Juristische<br />

Mittel sind die stumpfesten Waffen.<br />

Gerichtliche Auseinandersetzungen kosten<br />

Zeit und Nerven, dauern sehr lange, und<br />

ihr Ausgang ist oft ungewiss und zufällig.<br />

Man solle seine Rechte kennen, man sollte<br />

sie aber nicht überschätzen.<br />

Am allerwichtigsten ist der Ebenenwechsel.<br />

Dies meint erstens von der Defensive<br />

in die Offensive überzugehen,<br />

Reagieren durch Agieren zu ersetzen.<br />

Zweitens sollte eins selbst die Kampffelder<br />

bestimmen, soweit dies möglich ist. Die<br />

Gegenseite muss auf ein Terrain gezwungen<br />

werden, das nicht ihres ist und wo ihr<br />

die ganze Routine wenig nützt. Das erfordert<br />

eine planmäßige Vorgangsweise<br />

und einen strategischen Mix der Instrumentarien<br />

und Methoden. Vor allem das<br />

Internet und andere neue Medien bieten<br />

da zusätzliche Chancen. Gezielte Subversion<br />

und berechnende Multiplizierung<br />

der Kontakte sollen eine den Fall zuträgliche<br />

spezifische Öffentlichkeit schaffen.<br />

Indes, nur wer Zeit, Möglichkeit, Energie,<br />

Courage, Wissen hat, weiters über<br />

genügend Kompetenz, Infrastruktur und<br />

Netzwerke verfügt, kann das tun. Und<br />

man muss das nicht bloß können, man<br />

muss es sich auch leisten können. Insofern<br />

war unsere Auseinandersetzung mit<br />

der Niederösterreichischen Versicherung,<br />

unserem Hausbesitzer in der Margaretenstraße<br />

recht lehrreich, siehe:<br />

http://www.<strong>streifzuege</strong>.org/2008/darfman-kinder-in-einen-vogelkaefig-sperren<br />

Es geht aber nicht darum, den Kohlhaas<br />

zu spielen. Der individuelle Kraftakt<br />

kann nicht den kollektiven Zusammenschluss<br />

der Betroffenen ersetzen, er zeigt<br />

aber in Ansätzen an, was möglich sein<br />

könnte, käme es zu koordiniertem Auftreten.<br />

Alleine wenn Erfahrungen und<br />

Informationen weitergegeben werden<br />

könnten, wäre das ein großer Fortschritt.<br />

Macht funktioniert ja nur, wenn Ohnmacht<br />

sie zulässt und somit ermächtigt.<br />

Roger Behrens stellt in seinem Beitrag<br />

fest, dass es „keine kollektive Praxis<br />

in Bezug auf Mieterinteressen gibt“<br />

(S. 18). Das ist richtig, aber ist es unbedingt<br />

zwingend? Wäre es nicht geradezu<br />

notwendig, sich auch hier die Frage<br />

der Organisierung zu stellen? Ist die<br />

Mieterinitiative so abwegig? Könnte man<br />

sie nicht einbauen in die Frage nach dem<br />

guten Leben? Vermag das Wohnen mehr<br />

als individueller Rückzug zu sein, könnte<br />

es unter Umständen auch zum gemeinschaftlichen<br />

Aufbruch, ja Aufstand beitragen?<br />

Welche Wohntypen wären dafür<br />

zusätzlich zu inaugurieren?<br />

Die richtigen Fragen müssen, wie so<br />

oft, erst gestellt werden. Perspektivisch<br />

haben die Schranken zwischen jenen,<br />

die noch brav zahlen und jenen, die nicht<br />

mehr zahlen können oder wollen, überwunden<br />

zu werden. Wie erobern sich<br />

welche den Freiraum? Wie bleiben Leute<br />

in ihren Wohnungen, ohne dass sie zahlen<br />

müssen? Wie gelingt es, Wohnen als<br />

auch andere Bedürfnisse aus dem Warenverhältnis<br />

zu befreien? – Nicht nur Häuser<br />

gilt es zu besetzen, auch das Leben<br />

selbst muss besetzt werden.<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


26 BIRGIT V. CRIEGERN, FLÜCHTLINGE<br />

Ausharren im Nirgendwo<br />

FLÜCHTLINGE IN DEUTSCHLAND<br />

von Birgit v. Criegern<br />

LIVING ROOM<br />

Flüchtlinge in Deutschland „wohnen“<br />

unter miserablen Bedingungen<br />

zu großem Teil in Wohnheimen und Lagern<br />

abseits der Gesellschaft. Ob mensch<br />

den Berichten der „Flüchtlingsinitiative<br />

Berlin-Brandenburg“ zuhört, die Homepage<br />

von „The Voice Refugee Forum“<br />

liest oder die Lagebeschreibung<br />

(und: Lagerbeschreibung) des Flüchtlingsrates<br />

Bayern nach der „Lagerinventour<br />

2009“ studiert, meistens begegnen<br />

Feststellungen wie: „im Wald gelegen,<br />

mehrere Kilometer vom Dorf X.“, „am<br />

Stadtrand, im Industriegebiet“, „bis zum<br />

Bahnhof drei Kilometer Fußweg“ usw.<br />

usw. Die Handhabung, Flüchtlinge an<br />

den Peripherien, in der Einöde unterzubringen,<br />

ist inoffizielle politische Regel<br />

und gesellschaftlich umstandslos akzeptiert.<br />

Ohne dass es geschrieben stünde,<br />

gilt: Flüchtlinge haben in dieser Gesellschaft<br />

kein Recht auf soziale Teilhabe.<br />

Und sie haben auch kein Recht auf Wohnen<br />

– darauf, sich als Menschen zu fühlen,<br />

selbstbestimmt zu sein und unter anderen<br />

Menschen zu wohnen.<br />

Der Flüchtling Felix Otto aus Kamerun,<br />

der im April 2009 ins Gefängnis gehen<br />

musste, nur weil er gegen das Gesetz<br />

der Residenzpflicht verstieß – ein in der<br />

EU einmaliges deutsches Gesetz, das die<br />

Bewegungsfreiheit der MigrantInnen im<br />

Inland stark einschränkt – schrieb einen<br />

kurzen Brief aus der JVA in Suhl, Thüringen,<br />

an seine UnterstützerInnen von<br />

der Karawane für das Recht der Flüchtlinge:<br />

„Hallo (…) Ich bin seit neun Jahren<br />

in Deutschland. Es ist eine große Zeit<br />

in meinem Leben: ohne Zukunft, immer<br />

in einem Isolantewohnheim 30 km entfernt<br />

von jeder Stadt, kein Supermarkt,<br />

keine Apotheke. (…)“<br />

Während sich manche deutsche GegenwartsdichterInnen<br />

um originelle<br />

Erfindungen abmühen, formulierte<br />

Otto hier aus dem Gefängnis heraus<br />

eine frappierende Bezeichnung, treffend<br />

und bissig zugleich. Sie verweist auf das<br />

Peinlichste, Schäbigste, was unsere Gesellschaft<br />

zu bieten hat – die Flüchtlingsunterkünfte.<br />

Er selbst bezog sich dabei<br />

auf „sein“ Wohnheim in Rodarabrunn,<br />

im thüringischen Landkreis Schleiz, abseits<br />

der Gesellschaft. Zwei Kilometer<br />

entfernt liegt die bayrische Grenze. Die<br />

nächste größere Ortschaft, Kronach, die<br />

sich für Einkäufe und z.B. Telecafé-Besuche<br />

anbot, ist jenseits dieser Grenze.<br />

Weil er diese mehrmals ohne Erlaubnis<br />

der Ausländerbehörde übertreten hatte,<br />

wurde er zu acht Monaten Haft ohne<br />

Bewährung verurteilt. So schreibt es die<br />

„Residenzpflicht“ vor. Die Asylantenwohnheime<br />

sind „Isolantewohnheime“:<br />

ein treffendes Urteil für dieses Institut,<br />

trotz behaupteter freiheitlich-demokratischer<br />

Grundordnung, deren PolitikerInnen<br />

so gerne die „humanitären Mängel“<br />

anderswo anprangern. Felix Otto wurde<br />

im August aus dem Gefängnis heraus<br />

nach Kamerun abgeschoben – der politisch<br />

Oppositionelle hoffte vergeblich auf<br />

Hilfe und Asyl in Deutschland. Doch für<br />

die Öffentlichkeit war er da schon kein<br />

Unbekannter mehr wie so viele andere:<br />

„The Voice Refugee Forum“ hatte gegen<br />

seine Abschiebung protestiert und den<br />

Fall in die Medien gebracht.<br />

In den meisten Bundesländern gilt<br />

zwar, dass Flüchtlinge nach der „Erstaufnahme“<br />

in Heimen und Lagern eine eigene<br />

private Wohnung bekommen können<br />

– doch nicht immer zwingend. Die<br />

große Mehrzahl der abgelehnten AsylbewerberInnen<br />

mit „Duldungs“status<br />

(mehr als hunderttausend insgesamt in<br />

der BRD) wird zeitweise oder dauerhaft<br />

in eine „Gemeinschaftsunterkunft“ verwiesen<br />

– mit der Begründung, sie müssten<br />

ausreisen, ihre Passangelegenheiten in<br />

Ordnung bringen. Ein Druckmittel also.<br />

Da haben dann Flüchtlinge an den Peripherien<br />

auszuharren, zumeist in Containerbauten<br />

oder alten Kasernen, während<br />

sie versuchen, die deutsche Regierung<br />

von ihren Fluchtgründen zu überzeugen<br />

– politische Verfolgung, Not und Krieg<br />

in ihrem Herkunftsland. Hier soll es nur<br />

um ein Beispiel von vielen gehen.<br />

Möhlau zum Beispiel<br />

Das Lager Möhlau in Sachsen-Anhalt ist<br />

eines unter vielen. Eine frühere Sowjet-<br />

Plattenbaukaserne im Wald gelegen, abseits<br />

der Städte und ungefähr acht Kilometer<br />

entfernt von einem Bahnanschluss.<br />

Sie ist nach der Wiedervereinigung nicht<br />

saniert oder abgerissen worden, wird seit<br />

mehr als zehn Jahren als Flüchtlingsheim<br />

genutzt. Hier „wohnen“ derzeit hundertachtzig<br />

Menschen, unter ihnen viele<br />

Kinder und Jugendliche. Sie kommen aus<br />

Benin, China, Kosovo, Sierra Leone, Syrien<br />

und anderen Ländern.<br />

Ich habe das Lager besucht, zu dem es<br />

Info-Material von der Organisation „No-<br />

Lager-Halle“ (ludwigstrasse37.de/nolager)<br />

und der Initiative „Togo Action Plus“<br />

(togoactionplus.wordpress.com) gibt.<br />

Die Bausubstanz ist sehr heruntergekommen.<br />

Die düsteren Treppenaufgänge<br />

führen zu den Unterkünften auf mehreren<br />

Etagen. Die Türen aus billigem Holz<br />

sind teilweise kaputt, löcherig oder hängen<br />

schief in den Angeln. Auf engstem<br />

Raum sind mehrere Flüchtlinge, oft große<br />

Familien untergebracht.<br />

Die Möbel sind oft notdürftig zusammengeflickt,<br />

durchgesessen, schäbig.<br />

Mehrere Wohnungen teilen sich eine<br />

Gemeinschaftsküche, die aus einem kahlen<br />

Raum mit mehreren Herden besteht.<br />

Sieht mensch aus dem Fenster, geht der<br />

Blick auf ein Waldstück einerseits und auf<br />

eine versiegelte Betonfläche und mehrere<br />

alte mit Brettern provisorisch vernagelten<br />

Baracken andererseits. „Nachts<br />

hört man die Wildschweine“, sagt einer<br />

der Bewohner. Ein anderer, der hier<br />

schon seit mehr als zehn Jahren lebt, sagt:<br />

„Dieser Ort ist so gut wie alles, was ich<br />

von Deutschland kenne.“ Er spricht vor<br />

allem Französisch, konnte sich Deutsch<br />

nur teilweise im Lauf der Jahre selbst aneignen,<br />

der Besuch von Deutschkursen in<br />

der Stadt wurde ihm nicht erlaubt.<br />

Transformationsclub<br />

der züge<br />

120 Euro pro Jahr<br />

Details auf<br />

www.<strong>streifzuege</strong>.org<br />

oder auf Anfrage<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


BIRGIT V. CRIEGERN, FLÜCHTLINGE 27<br />

Bei gutem Wetter stellen die Männer<br />

auf dem Hof, vor den Baracken,<br />

einen klapprigen Tisch auf und spielen<br />

Karten, mehr Zerstreuung ist nicht<br />

drin. Die Frauen hängen hier draußen<br />

die Wäsche auf. Die Kinder laufen zwischen<br />

den Baracken herum. Es herrscht<br />

eine merkwürdige Zeit- und Ortlosigkeit.<br />

Die weite Entfernung zu den bewohnten<br />

Gegenden, zu den größeren<br />

Ortschaften (20 Kilometer nach Dessau,<br />

30 nach der Lutherstadt Wittenberg, der<br />

Landkreishauptstadt), schafft von selbst<br />

eine Abschottung. Auch der selten fahrende<br />

Bus kann keine Verbindung für<br />

die Flüchtlinge herstellen – von ihrem<br />

kargen „Taschengeld“ können sie keine<br />

Busfahrten bestreiten. Es herrscht eine<br />

Art Ausnahmezustand in einem gesellschaftlichen<br />

Nirgendwo, welcher von<br />

Administration und Politik wissentlich<br />

herbeigeführt ist. Ein Nirgendwo mitten<br />

in der hochentwickelten deutschen<br />

Informationsgesellschaft. Struktureller<br />

Rassismus, sagt die Flüchtlingsinitiative<br />

„Togo Action Plus“.<br />

Salomon Wantchoucou wohnt seit<br />

2008 in Möhlau. Er ist politischer Flüchtling<br />

aus Benin, ein Oppositioneller. Die<br />

Kugel, die seine Gegner auf ihn abgefeuert<br />

hatten, konnte er erst hierzulande in<br />

Zerbst herausoperieren lassen. Als Beweisstück<br />

für ein Asylrecht hat sie für die<br />

Behörde nicht ausgereicht – Wantchoucou<br />

muss weiter darum kämpfen, als politisch<br />

Verfolgter hier bleiben zu dürfen.<br />

Er dokumentierte die Lebensverhältnisse<br />

der Flüchtlinge hier im Lager, gründete<br />

die „Flüchtlingsinitiative Möhlau“,<br />

organisierte eine Kundgebung im Juli<br />

mit. Und er schrieb mit den Flüchtlingen<br />

im April 2009 einen offenen Brief an<br />

die Ausländerbehörde in Wittenberg, in<br />

dem sie private Wohnungen in der Stadt<br />

forderten.<br />

Dieser war im Frühjahr von den Behörden<br />

abschlägig beschieden worden.<br />

Doch nachdem ein Flüchtling von Möhlau<br />

unter ungeklärten Umständen an<br />

Brandverletzungen gestorben war, interessierten<br />

sich die Medien für die Möhlauer<br />

Lebensverhältnisse. Zugleich bereiteten<br />

die MigrantInnen eine Demonstration<br />

in Wittenberg vor. Am 30. Juli forderte<br />

die „Flüchtlingsinitiative Möhlau“ sowie<br />

„No-Lager-Halle“ und „Togo Action<br />

Plus“ öffentlich eine dezentrale Unterbringung<br />

für die Betroffenen in Wohnungen.<br />

Jetzt, im Herbst, werden die<br />

Behörden wohl darüber entscheiden, ob<br />

Möhlau bleibt. Und von den anderen Lagern<br />

ist nicht einmal die Rede.<br />

„Wittenberg is very very far from here“<br />

Aus einem Gespräch, das „Togo Action Plus“ im Mai 2009<br />

über Möhlau mit Herrn Wantchoucou führte.<br />

(Danke an die Initiative für die Überlassung von Bandaufzeichnungen.)<br />

W.: The word of integration is a politicial<br />

word they use to blasphemy<br />

some certain things but internally<br />

some Landkreises have not even been<br />

trying to integrate the refugeees that<br />

have been living here for many years.<br />

Like for Möhlau, as long as I have<br />

been here, I have never seen people<br />

from government coming to the refugees<br />

(…), giving them information<br />

about the system and the state, so this<br />

people have been aparted out of the<br />

system by racial intend. (…)<br />

You refugees have been saying that Möhlau<br />

must be closed. What are the most important<br />

reasons to this?<br />

W.: Now, this Heim: The building<br />

is not what we are talking about, but<br />

the position of the Heim is not good<br />

for refugees because of lack of transportation<br />

system, lack of a place that<br />

is near to buy something. Everybody<br />

living here, all the Germans living<br />

in the small city Möhlau, have<br />

car. So we refugees don’t have car<br />

and we cannot support to be travelling<br />

from here to Dessau, to Gräfenhanichen,<br />

to buy goods that can be<br />

more than twenty kilo, thirty kilo at<br />

the same time. (...) how can this person<br />

go, itself, and go to a place very<br />

far, seven kilometres, twenty kilometres,<br />

and this even in winter, and all<br />

over the year (…)<br />

Children are traumatised because<br />

of lack of seeing some people to<br />

which they will play together, to see<br />

some different kind of things. Then,<br />

if you want to create a Heim, create a<br />

Heim in Wittenberg! (…) And there’s<br />

a lot of empty houses everywhere, but<br />

the system wants that we must live in<br />

this isolated area. This is why we also<br />

told to the company who make this<br />

Heim, that they must close it (...), because<br />

they are making money with it,<br />

while innocent refugees get traumatised,<br />

some are trying to kill themselves,<br />

living in this situation for<br />

many, many years.<br />

Are you getting pocket-money, and then,<br />

how do you evaluate the Gutschein?<br />

W.: We are getting pocket-money of<br />

20 Euro, so (...) we are using Gutschein<br />

of 130 Euro (pro Kopf und Monat,<br />

Anm. B.v.C.). So imagine a man<br />

living with this, a 130 Euro Gutschein<br />

in which it is obligatory that he will<br />

not buy this, he will not buy that. So,<br />

in African culture for example, we<br />

not always eat much sugar, or not eat<br />

things that are made with much sugar,<br />

and we cannot find things that are adapted<br />

to our situation, but that could<br />

cause diseases or diabetics and so on.<br />

Even, if we go to Gräfenhainichen<br />

and back for buying things, for one<br />

time, 10 Euro is gone from the pocket<br />

money. And also we cannot think of<br />

buying dresses, because dresses is not<br />

allowed from the Gutschein. You will<br />

not buy shoes, you will not buy a lot<br />

of things. Now how would you live?<br />

This is a criminal act. So we are telling<br />

the foreigner office of Wittenberg<br />

to stop this nonsense. (…)<br />

How about the problem of Krankenschein,<br />

how does this work, what happens if a person<br />

is getting ill, while this place is far out?<br />

W.: Now Wittenberg is very, very far<br />

from here, about 30 kilometres. It is<br />

where the Sozialamt is (...) They don’t<br />

have the already prepared Krankenschein.<br />

So if you are sick, you have to<br />

call Wittenberg, where they have to<br />

prepare this, and this can take many<br />

days. (…) Imagine that somebody can<br />

be chronically ill, and has to go to the<br />

house doctor, but he has no transport<br />

system, so now if someone is sick, he’ll<br />

have no energy, and before he takes the<br />

bicycle and goes to the house doctor, he<br />

could in the streets collaps or even die.<br />

(...) So who causes these consequences,<br />

that is Wittenberg Sozialsystem. (...) So<br />

we say, the people of this system should<br />

accept human dignity and think about a<br />

better system for integrating foreigners,<br />

refugeees, about a better way of life.<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


28 NICOLETTA WOJTERA, HINTERWIRKLICHKEITEN<br />

Hinterwirklichkeiten<br />

GEDANKEN ZUM LITERARISCHEN (WOHN-)RAUM<br />

VON RAINER MARIA RILKE BIS BOTHO STRAUß UND DAVID FOSTER WALLACE<br />

von Nicoletta Wojtera<br />

LIVING ROOM<br />

I. Präliminarien<br />

Die Möbel haben längliche Formen, matt<br />

liegen sie da. Sie wirken, als träumten<br />

sie; man könnte meinen, sie besäßen ein<br />

nachtwandlerisches Leben, wie das Reich der<br />

Pflanzen und Mineralien. Die Stoffe sprechen<br />

eine stumme Sprache, wie Blumen, wie Himmel,<br />

wie untergehende Sonnen (…).<br />

Das paradiesische Zimmer (…), all dieser<br />

Zauber ist mit dem rohen Schlag des Gespenstes<br />

verschwunden.<br />

O Schrecken! Ich erinnere mich! Ich erinnere<br />

mich! Ja! Dieses elende Loch, dieser Ort ewigen<br />

Überdrusses – es ist ja meine Behausung.<br />

Da sind die dummen Möbel, staubig und angeschlagen;<br />

da der Kamin ohne Flamme und<br />

ohne Glut (…).<br />

O ja! Die Zeit ist wieder erschienen; die Zeit<br />

herrscht jetzt unumschränkt (…).<br />

Ich versichere euch, dass die Sekunden nun<br />

stark und feierlich staccato erklingen, und jede<br />

sagt, während sie von der Wanduhr springt:<br />

,Ich bin das Leben, das unerträgliche, das unversöhnliche<br />

Leben!‘“<br />

(Charles Baudelaire, Das doppelte Zimmer)<br />

Mit Baudelaire, mit den „Blumen des<br />

Bösen“ und den Prosagedichten des „Pariser<br />

Spleen“, beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

die Moderne als umfassender<br />

Paradigmenwechsel, als das „Staccato“<br />

in der Seinsdefinition menschlicher<br />

(Ko-)Existenz. Wie sich dieses Staccato<br />

der Moderne auch fortsetzen mag –<br />

eine Frage, die uns im Verlauf dieser literarischen<br />

Wohnerkundung beschäftigen<br />

wird –, hier bricht es sich zunächst in der<br />

Dissonanz zwischen erfahrener Lebenswirklichkeit<br />

und gesuchter Selbstverortung<br />

Bahn. Die Diffusion der Existenz<br />

innerhalb der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse<br />

von Industrialisierung, Urbanisierung<br />

und Dynamisierung wird<br />

zum bestimmenden Parameter, und sie<br />

determiniert den Reflexionsmodus nicht<br />

nur der Literatur.<br />

Baudelaire wählt das „Doppelte Zimmer“,<br />

das Sein im Wohnen als Maß der<br />

Entropie der modernen Existenz, und<br />

Edgar Allan Poe stellt etwa zeitgleich<br />

in seiner „Philosophie der Einrichtung“<br />

fest:<br />

„(…) Textilien mit gewaltigen, wuchernden<br />

und ausgreifenden Zeichnungen, von<br />

Streifen durchsetzt und in allen Farbtönen erstrahlend,<br />

zwischen denen kein Untergrund<br />

sichtbar ist –, so sind sie nur die üblen Erfindungen<br />

einer Sorte von Opportunisten und<br />

Geldschefflern – von Kindern des Baal und<br />

Verehrern des Mammon – von Utilitaristen,<br />

die, um am Denken zu sparen und die Phantasie<br />

einträglich zu machen, grausamerweise<br />

zuerst das Kaleidoskop erfanden und dann<br />

Aktiengesellschaften gründeten, um es durch<br />

Dampfkraft zu bewegen (…).“<br />

(Edgar Allan Poe, Die Philosophie der<br />

Einrichtung)<br />

Damit wird bereits jetzt, in der anbrechenden<br />

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,<br />

in dem Prosagedicht Baudelaires<br />

und dem Essay Edgar Allan Poes virulent,<br />

was Panajotis Kondylis im „Niedergang<br />

der bürgerlichen Denk- und Lebensform“<br />

knapp 150 Jahre später auf den<br />

erkenntnistheoretischen Punkt einer verpassten<br />

Komplementärfunktion zwischen<br />

Kultur und Natur bringt: „Die Zertrümmerung<br />

der bürgerlichen Synthese durch<br />

Angriffe, die von verschiedenen, ja geradezu<br />

entgegengesetzten Seiten kamen,<br />

verwandelte alles, was vorher nur als organisiertes<br />

Ganzes gedacht werden konnte<br />

(…) in Teile oder Fragmente, die nicht<br />

mehr in notwendigen Beziehungen zueinander<br />

standen.“ Es geht um nichts weniger<br />

als „die Auflösung der bürgerlichen<br />

Normhierarchie“. (Kondylis, 2007)<br />

Und genau in diesem Moment, im Moment<br />

der Ablösung einer bürgerlich existenziellen<br />

Harmoniestruktur, setzt mit<br />

Baudelaire eine Literatur ein, die das<br />

Wohnen und damit die Bedingungen lebenswirklicher<br />

Räumlichkeit in der Frage<br />

nach der Selbstverortung des Menschen<br />

instrumentalisiert – in welcher Form, zu<br />

welchem Ende? Wir werden sehen.<br />

Parallel zu Kondylis überführt Bruno<br />

Latour eben diese verpasste Komplementärfunktion<br />

in die „Hybriden“, in<br />

die „Quasi-Objekte“ einer zweifelhaften<br />

Moderne, die vielleicht „nie modern gewesen“<br />

ist? Mit Baudelaire und Poe kündigt<br />

sich ein Spannungsbogen an, dessen<br />

kontingenter Spannungsgehalt von einem<br />

paradoxalen Welterfahren gespeist wird,<br />

das in Form einer „Ästhetik des Hässlichen“<br />

die Möglichkeiten der Negation<br />

kumuliert und diese als Produktivkraft für<br />

die Literatur einsetzt. Eine Literatur, die<br />

mit Friedrich Nietzsche die Illusion der<br />

Wahrheit einer Ordnung, einer „Welt von<br />

Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen,<br />

Grenzbestimmungen“ produktiv demontiert,<br />

„denn zwischen zwei absolut verschiedenen<br />

Sphären wie zwischen Subjekt<br />

und Objekt gibt es keine Kausalität (…),<br />

sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten.“<br />

(Nietzsche, Über Wahrheit und<br />

Lüge im außermoralischen Sinne)<br />

Baudelaire nennt die Sphären Nietzsches<br />

beim Namen: das „doppelte Zimmer“,<br />

durchzogen von der Parallelität des<br />

Überdrusses und des paradiesischen Zaubers,<br />

der „moderne“ Subjekt-Objekt-<br />

Dualismus, literarisch im umgebenden<br />

Wohnraum verortet.<br />

II. Gedanken<br />

Gedanken zum Grimm’schen Wörterbuch<br />

Das Grimm’sche Wörterbuch weist<br />

unserer literarischen Wohnerkundung<br />

den Weg: Die Etymologie von Wohnen<br />

gründet auf „sich behagen, zufrieden<br />

sein“ und „sich an einer Stelle wohl<br />

befinden“. Welchen Weg nimmt dieses<br />

Wohlbefinden in der (Post-)Moderne?<br />

Gedanken zu Heideggers „Wohnen des<br />

Menschen“<br />

Heidegger diskutiert unter der Überschrift<br />

„dichterisch wohnet der Mensch“<br />

nicht nur Hölderlins Frage nach dem unbekannten<br />

oder offenbaren Gott; vielmehr<br />

formuliert sein Vortrag aus dem Jahr<br />

1951 die zunehmend virulenter werdende<br />

Frage nach dem Ende der „bürgerlichen<br />

Denk- und Lebensform“ und damit die<br />

Frage nach dem „Ende der großen Erzählungen“.<br />

Wenn Hölderlin in der Dichotomie<br />

von Natur und Mensch die dichterische<br />

Synthese eines Lebens im Tod,<br />

denn – „Tod ist auch ein Leben“ (Hölderlin,<br />

In lieblicher Bläue), entwickelt, sieht<br />

Rainer Maria Rilke in ebendieser Dichterexistenz<br />

bereits den unüberwindlichen<br />

Widerspruch des Menschen zwischen<br />

Wohnen und Leben. Und in ebendiesem<br />

Kraftfeld ruft Malte Laurids Brigge: „O<br />

was für ein glückliches Schicksal, in der<br />

stillen Stube eines ererbten Hauses zu sit-<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


NICOLETTA WOJTERA, HINTERWIRKLICHKEITEN 29<br />

zen unter lauter ruhigen, sesshaften Dingen<br />

(…). Zu sitzen (…) und ein Dichter<br />

zu sein. Und zu denken, dass ich auch so<br />

ein Dichter geworden wäre, wenn ich irgendwo<br />

hätte wohnen dürfen, irgendwo<br />

auf der Welt, in einem von den vielen<br />

verschlossenen Landhäusern, um die sich<br />

niemand bekümmert. Ich hätte ein einziges<br />

Zimmer gebraucht (…). Aber es ist<br />

anders gekommen (…). Meine alten Möbel<br />

faulen in der Scheune.“<br />

Rilke betont das Wohnen im Gegensatz<br />

zum „Leben“, und er nimmt damit<br />

eine Unterscheidung vorweg, die Judith<br />

Hermanns Erzählung „Hunter-Tompson-<br />

Musik“ als Lebenswirklichkeit am Ende<br />

des 20. Jahrhunderts beschreiben wird.<br />

Für Heidegger ist das „Verhältnis von<br />

Mensch und Raum (…) nichts anderes als<br />

das wesentlich gedachte Wohnen“, dessen<br />

Komplexität sich in der Literatur manifestiert.<br />

Mit Blick auf Hölderlin stellt<br />

Heidegger fest: „Das Dichten erbaut das<br />

Wesen des Wohnens. Dichten und Wohnen<br />

schließen sich nicht nur nicht aus.<br />

Dichten und Wohnen gehören vielmehr,<br />

wechselweise einander fordernd, zusammen.<br />

(…) Das Dichten ist das Grundvermögen<br />

des menschlichen Wohnens.“<br />

Gedanken zur modernen Literarizität<br />

von Wohnen<br />

Destruktion, Provokation, Hohn und<br />

Widerspruch – der Impetus der Moderne<br />

ist die Dekonstruktion überlieferter Formen,<br />

das Brechen mit herkömmlichen<br />

Darstellungsverfahren. Dennoch sind<br />

wir möglicherweise „nie modern gewesen“,<br />

denn die systemische und für die<br />

menschliche Existenz produktiv gemachte<br />

Korrelation von Natur, Technik und<br />

Mensch wird innerhalb der herrschenden<br />

lebensweltlichen Wirklichkeit(en) nicht<br />

erreicht. Aber vielleicht lässt sich gerade<br />

diese Diskordanz in der Interferenz<br />

von Literatur, Literarizität und Wohnen<br />

aufzeigen.<br />

Das Wohnen als Existenzparameter<br />

wird in der Literatur der Moderne zum<br />

Hybrid, zum „Quasi-Objekt“ zwischen<br />

dem essenziellen Erfordernis des „Sich-<br />

Behagens“ und einer dem Menschen äußerlichen<br />

existenziellen Mobilität, die<br />

zu seiner „Unbehaustheit“ (Holthusen,<br />

1951) führt und in der kumulativen Ruhelosigkeit<br />

der Existenz bei Botho Strauß<br />

und Judith Hermann qua Selbstaufhebung<br />

endet.<br />

Nicht lange nach Heideggers „Wohnen<br />

des Menschen“ diagnostiziert Lyotard die<br />

„Verschiebung im Raum“ als qualitative<br />

Modifikation der Existenz. Der Nietzscheanische<br />

Dualismus von Subjekt und<br />

Objekt potenziert sich in der „universellen<br />

Mobilmachung“ (Lyotard, 1989), und<br />

die Grimm’sche Definition des „sich an<br />

einer Stelle wohl befinden“ wird zu einem<br />

flüchtigen Anwesend-Sein.<br />

Wohnen berührt die Existenz, das Sein<br />

und ein „Sichzusichverhalten als Daseinsstruktur“<br />

(Biella, 1998). Ausdrucksform<br />

und Medium dieses Sichzusichverhaltens<br />

kann die Literatur sein, ihre (Un-)Tiefen<br />

und Grenzwerte als mögliche Poetologie<br />

der menschlichen soziokulturellen Existenz.<br />

Denn am Ende unserer Betrachtungen<br />

steht eine schlichte Antwort auf die<br />

Frage „Weshalb Sie hier leben? – Weil ich<br />

fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen<br />

meinen Koffer packen, die Tür hinter<br />

mir zuziehen, gehen.“ (Judith Hermann,<br />

Hunter-Tompson-Musik).<br />

Entlang dieser Skizzen und Gedanken<br />

liegt ein literarischer Spannungsbogen,<br />

den wir verfolgen können und der<br />

uns zeigen mag, ob die Literatur und die<br />

Metaphorik des Wohnens für das Projekt<br />

der (Post-)Moderne eine eigene ästhetische<br />

Projektionsfläche bildet.<br />

III. Rilke, Hofmannsthal, Kafka,<br />

Perec, Strauß, Hermann…<br />

Was passiert zwischen Rainer Maria Rilkes<br />

„Malte Laurids Brigge“ und Judith Hermanns<br />

„Hunter-Tompson-Musik“? Was<br />

liegt auf diesem knapp ein Jahrhundert<br />

umfassenden Spannungsbogen, dass sich<br />

die beiden literarischen Entwürfe am Ende<br />

im „Asyl“ treffen? Zwei gleichsam „Moderne“<br />

exemplifizieren die Frage des Daseins<br />

im „Raum“ entlang einer Wohnstatt:<br />

„Es war im Plan nicht zu finden, aber über<br />

der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyl<br />

de nuit.“ – „Es ist ein Asyl, ein Armenhaus<br />

für alte Leute, eine letzte verrottete Station<br />

vor dem Ende, ein Geisterhaus.“ – „Neben<br />

dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie<br />

gelesen. Es war nicht teuer.“<br />

Hans Egon Holthusen lässt den Beginn<br />

der Moderne und die Existenz des „unbehausten<br />

Menschen“ mit Blick auf Rilke<br />

einsetzen: „1910 also. Es war das Jahr, in<br />

dem die ,Aufzeichnungen des Malte Laurids<br />

Brigge‘ erschienen, das Pariser Tagebuch<br />

eines jungen Menschen, der von sich<br />

sagte, dass ,dieses so ins Bodenlose gehängte<br />

Leben eigentlich unmöglich sei‘“.<br />

Das „Pariser Tagebuch“ ist das Tagebuch<br />

eines Unbehausten im Wortsinn;<br />

Rilkes Malte Laurids Brigge sucht<br />

nach der Wohnstatt, nach der räumlichen<br />

„Ver-Ortung“ (s)einer Existenz.<br />

Diese Suche ist eine Suche in der Interferenz<br />

der Subjekt-Objekt-Relation,<br />

für die Nietzsche das ästhetische<br />

Verhalten als die einzig denkbare Lebenswirklichkeit<br />

definiert hatte. Und in<br />

der brachialen Erkenntnis des Subjektes<br />

zwischen der Dichotomie der Dinge<br />

setzt Rilke ein mit der unrevidierbaren<br />

Form von Leben – mit dem Tod –, indem<br />

er feststellt: „So, also hierher kommen<br />

die Leute, um zu leben, ich würde<br />

eher meinen, es stürbe sich hier. (…)<br />

Ich habe einen Menschen gesehen, welcher<br />

schwankte und umsank. Die Leute<br />

versammelten sich um ihn, das ersparte<br />

mir den Rest.“ Dieser Unmittelbarkeit<br />

des Todes korrespondiert eine spezifische<br />

Ambivalenz, denn – „Die Hauptsache<br />

war, dass man lebte. Das war die<br />

Hauptsache.“<br />

Die Polarität der Sphären, ihre Überlagerung<br />

in der Feststellung eines gelebten<br />

Todes wird lanciert von einer äußeren<br />

Dynamik, die die innere Lebenswelt<br />

unmittelbar erfasst und in der Wohnsituation<br />

kumuliert, wenn Malte im Tagebuch<br />

festhält: „Elektrische Bahnen rasen<br />

läutend durch meine Stube. Automobile<br />

gehen über mich hin.“<br />

Das Pariser Tagebuch lässt die Amplituden<br />

der Moderne ausschlagen, und<br />

die Perspektive der eigenen Wohnsituation<br />

bestimmt ihre Frequenz in der Frage<br />

Maltes „Was für ein Leben ist das eigentlich:<br />

ohne Haus, ohne ererbte Dinge,<br />

ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens<br />

seine Erinnerungen. Aber wer hat die?“<br />

Zuhause sein, bei sich sein, sich behagen<br />

– wir erinnern uns an die Definition<br />

des Grimm’schen Wörterbuches.<br />

Rilke differenziert die semantische Zuordnung:<br />

Die Kohärenz von Wohnen<br />

und Leben wird perspektivisch variiert<br />

und erweitert, indem der Wohn-Raum<br />

der Bücher, die Nationalbibliothek in Paris,<br />

als Lebens-Raum apostrophiert wird,<br />

bei dem man „eine besondere Karte haben<br />

(muss), um in diesen Saal eintreten<br />

zu können. (…) und dann bin ich zwischen<br />

diesen Büchern, bin euch weggenommen,<br />

als ob ich gestorben wäre, und<br />

sitze und lese einen Dichter.“<br />

Rilke kontrastiert den von Kondylis<br />

bezeichneten „Niedergang der bürgerlichen<br />

Denk- und Lebensform“ in der Kohäsion<br />

des Wohnens und der offengelegten<br />

Fassade der modernen Existenz. Er<br />

formuliert den einsetzenden Niedergang<br />

äußerer Harmoniestrukturen in Parallele<br />

zu einer unaufhaltsamen Dynamik der<br />

Existenz: „Denn das ist das Schreckliche<br />

(…): es ist zu Hause in mir.“<br />

Auf dieser Projektionsfläche schließlich<br />

geschieht im zweiten Teil der „Auf-<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


30 NICOLETTA WOJTERA, HINTERWIRKLICHKEITEN<br />

LIVING ROOM<br />

zeichnungen“ mit dem Beginn der „Zeit,<br />

wo alles aus den Häusern fortkommt“,<br />

die Umwertung. Die Häuser „können<br />

nichts mehr behalten. Die Gefahr ist sicherer<br />

geworden als die Sicherheit.“ Und<br />

diese Sicherheit der Gefahr manifestiert<br />

sich in der flüchtigen Wohnsituation eines<br />

Hotels, wie sie uns in Judith Hermanns<br />

„Hunter-Tompson-Musik“ etwa<br />

einhundert Jahre später wieder begegnen<br />

wird – „Ich sah ihnen ins Gesicht und<br />

ließ sie fühlen, dass ich im Hotel Phönix<br />

wohnte und jeden Augenblick wieder<br />

reisen konnte.“<br />

In Parallele zu Rilke und doch singulär<br />

in seiner Radikalität reagiert Hugo<br />

von Hofmannsthal auf die Diskordanz<br />

der Moderne und auf die Frage nach dem<br />

Bei-sich-Sein des Menschen. Im „Märchen<br />

der 672. Nacht“ erfahren wir erneut<br />

die physische Korrespondenz des<br />

Todes zu dem ihn umgebenden Wohnraum:<br />

„Wenn das Haus fertig ist, kommt<br />

der Tod.“ Die Modi des Todes. Sie wirken<br />

als zentrales Movens in der dissonanten<br />

Lebenserfahrung der Moderne. Und<br />

doch wandeln sie im Verlauf des Spannungsbogens<br />

ihre Aussagewerte; die<br />

„Unbehaustheit“, die bei Rilke und Hofmannsthal<br />

in den katastrophisch erfahrenen<br />

Zustand des Todes mündet, wandelt<br />

ihre dichterische Existenz und wird zum<br />

integrativen Element.<br />

Auf diesem Weg liegt ein anderer<br />

„Moderner“, der die Radikalität auf dem<br />

Spannungsbogen konzentriert – Franz<br />

Kafka übersteigert die physische Ebene<br />

ins Paradoxale und manifestiert damit<br />

den Verlust des „Sich-Behagens“ in<br />

einem Wohnen, in dem das Moment des<br />

Bei-sich-Seins keine Geltung mehr hat.<br />

Ab jetzt wird das Wohnen selbst, die individuelle<br />

Wohnsituation zur Bedrohung.<br />

Das von Rilke befürchtete Eindringen in<br />

die „Stube“ geschieht, der Einzelne ist<br />

ohne Macht und Behagen in seinem Lebens-Raum:<br />

Joseph K. wird zum ortlosen<br />

Objekt auch und gerade in seiner Wohnung.<br />

Der von Sartre explizierte „Blick<br />

des Anderen“ in der Begrenzung von<br />

Zimmer(Lebens-)Wänden kündigt sich<br />

an. Noch einmal Hans Egon Holthusen:<br />

„Bei Kafka hingegen funktioniert die<br />

Wirklichkeit grundsätzlich nicht, die Sinnfiguren<br />

schließen sich nicht, jedenfalls nicht<br />

auf vernünftige Weise: alles bleibt offen. Der<br />

Stil des Dichters ist durchaus ,realistisch‘, er<br />

ist konkret, sachlich, schlicht und genau (…).<br />

Und trotzdem tritt überall der Hintersinn und<br />

Unsinn des Daseins im unsicher gewordenen<br />

Gefüge der Wirklichkeit zutage, das Hinterwirkliche<br />

bricht in Form des Absurden, Ironischen<br />

und Paradoxen in den Bereich des Greifbaren<br />

und Sichtbaren ein.“<br />

„Ich habe den Bau eingerichtet und<br />

er scheint wohlgelungen“ – Franz Kafka<br />

entwickelt in der Erzählung „Der<br />

Bau“ aus den Jahren 1923/24 bereits zu<br />

Beginn die Umkehrung der Werte Rilkes<br />

und Hofmannsthals in eine paradoxe<br />

Übersteigerung, indem er die Ambivalenz<br />

der physisch-mentalen Existenz<br />

zwischen äußerer (Bau-)Realität und innerer<br />

Lebenswirklichkeit der „Hinterwirklichkeit“<br />

Holthusens kontrastiert:<br />

„Von außen ist eigentlich nur ein großes<br />

Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit<br />

nirgends hin, schon nach ein paar<br />

Schritten stößt man auf natürliches festes<br />

Gestein. (…) Freilich manche List ist<br />

so fein, dass sie sich selbst umbringt, das<br />

weiß ich besser als irgendwer sonst (…).<br />

Doch verkennt mich, wer glaubt, dass ich<br />

feige bin und etwa nur aus Feigheit meinen<br />

Bau anlege.“ Es geht um den Kampf<br />

der Kreatur mit dem Bau und damit um<br />

den Brennpunkt der Selbstverortung in<br />

der Haltlosigkeit der modernen Existenzsituation,<br />

in der der Einzelne qua Reflexion<br />

auf die ihn umgebenden Angstparameter<br />

seinen Wohnraum schafft und<br />

dort dennoch nicht „in seinem Haus ist“<br />

– denn: „Ich lebe im Innersten meines<br />

Hauses in Frieden und inzwischen bohrt<br />

sich langsam und still der Gegner von irgendwoher<br />

an mich heran. (…) Hier gilt<br />

auch nicht, dass man in seinem Haus ist,<br />

vielmehr ist man in ihrem Haus.“<br />

Kafka kontrastiert unmittelbar. Es gibt<br />

keine vermittelnden Elemente zwischen<br />

den Sphären; es gibt keine Brücken zwischen<br />

Subjekt und Objekt, sondern mit<br />

Nietzsche lediglich ein „ästhetisches Verhalten“.<br />

Kafka manifestiert dieses ästhetische<br />

Verhalten in der subtilen Korrelation<br />

der Wandelbarkeit und Negativmobilität<br />

des Wohnraumes in der Literatur: „Arme<br />

Wanderer ohne Haus.“<br />

Die Erzählung wird um die Akausalität<br />

der beiden Sphären zentriert; das<br />

„Sich-Behagen“ der „bürgerlichen Denkund<br />

Lebensform“ korrespondiert einer inneren<br />

Dauermobilität, die sich in der paradoxalen<br />

Umkehr als äußerer Zwang<br />

preisgibt. Die Kreatur wird sui generis<br />

zu einer getriebenen Existenz und die<br />

Nietzscheanische Demontage bereitet den<br />

Weg für Lyotards „universelle Mobilmachung“,<br />

wenn Kafka formuliert: „Wie?<br />

Dein Haus ist geschützt, in sich abgeschlossen.<br />

Du lebst in Frieden, warm, gut<br />

genährt, Herr, alleiniger Herr über eine<br />

Vielzahl von Gängen und Plätzen, und alles<br />

dieses willst du hoffentlich nicht opfern<br />

(…). Aber dann hebe ich doch vorsichtig<br />

die Falltüre und bin draußen, lasse sie<br />

vorsichtig sinken und jage, so schnell ich<br />

kann, weg von dem verräterischen Ort.“<br />

Odradek schließlich, Kafkas „Hybrid“<br />

in „Die Sorge des Hausvaters“, domestiziert<br />

diese Jagd in dem „ästhetischen Verhalten“<br />

zwischen Subjekt und Objekt:<br />

„Es (Odradek, Anm. Verf.) sieht zunächst<br />

aus wie eine flache sternartige Zwirnspule,<br />

und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn<br />

bezogen (…).<br />

Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus<br />

der Mitte des Sterns kommt ein kleines Querstäbchen<br />

hervor und an dieses Stäbchen fügt<br />

sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit<br />

Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen<br />

Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sterns<br />

auf der anderen Seite, kann das Ganze wie<br />

auf zwei Beinen aufrecht stehen. (…).<br />

,Und wo wohnst du?‘ ,Unbestimmter Wohnsitz‘,<br />

sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen,<br />

wie man es ohne Lungen hervorbringen<br />

kann.“<br />

Das Kafkaeske, die mehrdimensionale<br />

Hintergründigkeit soziokultureller<br />

(Ko-)Existenz und das paradoxal Politische<br />

der harmonischen Denkfigur führen<br />

(nicht nur) die Literatur und die Literarizität<br />

in den postmodernen Diskurs.<br />

Mit Franz Kafka beginnen wir den<br />

Blick nach innen zu richten, ohne das Außen<br />

der expliziten demontierenden Analyse<br />

zu unterwerfen, wie es Rilke und<br />

Hofmannsthal schreibend erkunden, um<br />

im Schreibakt, in der ästhetischen Konsequenz<br />

die Möglichkeit einer Antwort auf<br />

den generativen Wechsel der Seins-Dimension<br />

zu finden. Der Spannungsbogen<br />

dehnt sich, um in einer veränderten Perspektive<br />

der Polarität Nietzsches einen integrativen<br />

Impuls zu geben.<br />

Der Wandel ist in und an der Literatur<br />

(ab-)lesbar – Baudelaires „Ich bin das Leben,<br />

das unerträgliche, das unversöhnliche<br />

Leben!“ überführt George Perec in<br />

„Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung“.<br />

Zentral in Perecs „Gebrauchsanweisung“<br />

ist das Element des Puzzles. Das<br />

Puzzle integriert. Im Moment der Hybridisierung<br />

der sozialen Existenz übernimmt<br />

die Idee der konstruktiven<br />

Demontage die Argumentationslinie<br />

zwischen Moderne und Postmoderne.<br />

Perecs Puzzle synthetisiert die Elemente<br />

der Existenz. Es geht darum, die Dynamik<br />

des menschlichen Seins zwischen Erscheinen<br />

und Verschwinden, das Flüchtige<br />

und das in allem manifeste Nichts<br />

Sartres in der Parallelität der äußeren<br />

Realität eines Pariser Mietshauses auszuspielen.<br />

Perec spielt mit dem Puzzle in<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


NICOLETTA WOJTERA, HINTERWIRKLICHKEITEN 31<br />

einer subtilen Mehrdimensionalität; der<br />

Roman setzt Leben zusammen aus Zimmern,<br />

Wohnungen, Einrichtungen, Küchen-,<br />

Bad- und Wohnzimmermöbeln,<br />

aus Einzelnen und Paaren und der versuchten<br />

Selbstverortung in einem Haus<br />

mit 99 Zimmern.<br />

Die spürbare Getriebenheit des Einzelnen<br />

im undurchdringbaren Labyrinth der<br />

modernen Existenz bei Rilke und Hofmannsthal<br />

wird zum frei flottierenden Lebensspiel,<br />

das Ich wird zu einem Puzzle in<br />

der Ambivalenz der Frage danach, wer puzzelt<br />

und wer definiert das Puzzle? Denn –<br />

„Die Kunst des Puzzles beginnt (…), wenn<br />

der, der sie fertigt, sich alle Fragen zu stellen<br />

sucht, die der Spieler lösen muss, wenn<br />

er, statt den Zufall die Spuren verwischen<br />

zu lassen, an seine Stelle die List, die Falle,<br />

die Illusion zu setzen gedenkt: (…)“ Und<br />

dennoch ist es „allem Anschein zum Trotz<br />

(...) kein solitäres Spiel: jede Gebärde, die<br />

der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller<br />

vor ihm bereits gemacht; jeder<br />

Baustein, den er immer wieder zur Hand<br />

nimmt, den er betrachtet, den er liebkost,<br />

jede Kombination, die er versucht und immer<br />

wieder versucht, jedes Tasten, jede Intuition,<br />

jede Hoffnung, jede Entmutigung,<br />

sind von dem andern ergründet, auskalkuliert,<br />

beschlossen worden.“<br />

Perec fragmentiert und er fügt zusammen:<br />

99 Zimmer, einzeln und auf sich<br />

zentriert in der übergeordneten Einheit<br />

eines Wohnhauses, gespeist durch zwei<br />

Protagonisten – den Puzzlespieler und<br />

den Puzzlehersteller in der Synthese des<br />

Hauses und doch singulär in der Vereinzelung<br />

des Seins..<br />

Die Vereinzelung im Raum – damit<br />

hat die (Post-)Moderne ihren literarischen<br />

„Hybriden“ gefunden. Heideggers<br />

„Bauen Wohnen Denken“ und Botho<br />

Strauß’ „Wohnen Dämmern Lügen“ bedingen<br />

sich, Gerhard Kurz hat zu Recht<br />

darauf hingewiesen. In der Interferenz<br />

von Baudelaires „Staccato“ und Heideggers<br />

„Rede von Mensch und Raum“ ist<br />

es Botho Strauß, der den entscheidenden<br />

Schritt zur Hybridisierung des Wohnens<br />

in der Literatur geht.<br />

Wo Heidegger feststellt: „Das Verhältnis<br />

von Mensch und Raum ist<br />

nichts anderes als das wesentlich gedachte<br />

Wohnen“, setzt Botho Strauß ein mit<br />

der Frage: „Wann merkt ein Mann, dass<br />

er auf einem stillgelegten Bahnhof sitzt<br />

und vergeblich auf seinen Zug wartet?<br />

Denn es ist schwer, vielleicht unmöglich,<br />

in einem Wartesaal einzukehren,<br />

um seine erschöpften Beine auszuruhen,<br />

und gegen den Raumsinn zu empfinden,<br />

dass hier kein Warten mehr belohnt<br />

wird.“<br />

Der Roman „Wohnen Dämmern Lügen“<br />

demontiert weit mehr als Perecs<br />

„Das Leben“ die gesellschaftliche (Ko-)<br />

Existenz des Einzelnen in der Frage nach<br />

der Konstante einer Sinn stiftenden Einheit.<br />

Wo Perec das Haus, und darin 99<br />

Zimmer, als Rahmen des „modernen“<br />

Spiels, des Puzzles mit dem Ziel des großen<br />

Ganzen definiert, überblendet Botho<br />

Strauß diesen Halt gewährenden Parameter<br />

in der programmatischen Ausrichtung<br />

auf das systematisierte Chaos.<br />

Die Kapitelstruktur von Strauß’ Roman<br />

ist rein visuell: Die Satzanfänge<br />

der Kapitel im Buchraum sind typografisch<br />

differenziert; 37 Kapitel nehmen die<br />

Diskordanz der Moderne in der Raumstruktur<br />

des Lebens auf: Es sind Einzelne<br />

und Paare, Ehepaare und Kinder, die einen<br />

Teil des Lebens-Raumes im Roman<br />

einnehmen und ihn doch nicht füllen. Da<br />

ist „Er“, der einfach nicht auszog aus einer<br />

längst überlebten WG-Idee, dessen<br />

Freund längst als Freund nicht mehr bezeichnet<br />

werden kann und der „für zwei<br />

Stunden am Nachmittag zwischen vier<br />

und sechs (…) den Stuhl in den Flur<br />

(rückt), dicht neben die Wohnungstür.<br />

Treppensteigen hören!“ Und da ist Julias<br />

Mutter, die zurückschaut, denn „Jemand<br />

ist auf dem Weg zurückgeblieben. Jemand<br />

lässt auf sich warten.“ In einem anderen<br />

Moment stellt sie fest, „man laokoonisiert<br />

langsam, ganz allmählich geht das<br />

Geschlinge in den Zustand, in die Reglosigkeit<br />

über. Zeit raus, Raum rein.<br />

(…) Raum! … Raum! Wie ein Erstickender<br />

um Atem, so rang sie um Raum … als<br />

die Zeit versiegte in ihren Adern (…)“<br />

Das Ringen um (Lebens-)Raum und<br />

die parallel sich vollziehende Dissoziation<br />

des modernen Menschen in der Suche<br />

nach Individualität konzentriert Strauß in<br />

dem Theaterstück „Die Zeit und das Zimmer“<br />

jeweils in einem einzigen Raum. Das<br />

„Staccato der Zeit“, wir erinnern uns an<br />

Baudelaire, manifestiert sich in der räumlichen<br />

Lebenssituation. Der Autor verlegt<br />

die Differenzierung des Lebens als Solitär<br />

im Raum in das Medium eines Theaterstückes<br />

und eröffnet damit die physische<br />

Mehrdimensionalität von Heideggers<br />

„wesentlich gedachte(m) Wohnen“ in der<br />

Literatur. Das Zimmer als Lebens-Raum<br />

hat sich längst seiner bewahrenden und<br />

schützenden Funktion begeben, und in<br />

der Konsequenz dieses Paradigmenwechsels<br />

liegt das andere Ende des Spannungsbogens,<br />

der mit Rilke begonnen hatte. Die<br />

Modi der „Unbehaustheit“, die Kafka be-<br />

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LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


32 NICOLETTA WOJTERA, HINTERWIRKLICHKEITEN<br />

LIVING ROOM<br />

reits in die Paradoxale der sich selbst bedrohenden<br />

Wohnsituation überführt hatte,<br />

wird mit Strauß zu einem Reflexionsparameter<br />

des Lebens. Zeit und (Wohn-)Raum<br />

heben sich innerhalb eines Zimmers – und<br />

bezeichnenderweise innerhalb eines Theaterraumes<br />

– auf, die perspektivische Mehrdimensionalität<br />

moderner Existenz findet<br />

hierin mit Latour ihren produktiven „Hybriden“.<br />

Einer, der diese Mehrdimensionalität<br />

der Flüchtigkeit zur unmittelbaren<br />

Konsequenz des physischen Verschwindens<br />

steigert, heißt in Judith Hermanns<br />

Erzählung „Sommerhaus, später“ bezeichnenderweise<br />

„Stein“; und „Stein<br />

fand das Haus im Winter“: „Stein hatte<br />

nie eine eigene Wohnung besessen,<br />

er zog mit diesen Tüten durch die Stadt<br />

und schlief mal hier, mal da, und wenn er<br />

nichts fand, schlief er in seinem Taxi. Er<br />

war nicht das, was man sich unter einem<br />

Obdachlosen vorstellt. (…) er hatte eben<br />

keine eigene Wohnung, vielleicht wollte<br />

er keine.“<br />

Das zentrale Movens des Wohnens,<br />

das Sich-Behagen, hat die Umwertung<br />

aller Werte der Moderne vollzogen, die<br />

Parameter der „Unbehaustheit“, Dynamisierung<br />

und Flüchtigkeit bestimmen<br />

die Perspektive des Einzelnen auf seine<br />

Verortung in Zeit und Raum. Stein<br />

lebt expressis verbis in (s)einem Mobilitätsfaktor<br />

– einem Taxi – denn, er will<br />

keine Wohnung. Die Negation macht<br />

die Drohung der Moderne substanzlos:<br />

NAHRADA, Franz (Hg.)<br />

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keine (sic) „Elektrische(n) Bahnen rasen<br />

läutend durch meine Stube“, denn ihnen<br />

wurde „die Stube“ entzogen.<br />

Die Affirmation der Negation – in<br />

der Erzählung „Hunter-Tompson-Musik“<br />

schließlich wird sie offenbar in Hunters<br />

Antwort auf die Frage: „Ich will nur<br />

wissen, weshalb Sie hier leben, weshalb<br />

denn, können Sie mir das sagen? – Weil<br />

ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden<br />

Morgen meinen Koffer packen, die Tür<br />

hinter mir zuziehen, gehen.“<br />

IV. Nachliterarische Skizze…<br />

In der Frage nach dem (Wohn-)Raum in<br />

der literarischen Moderne entstehen Wege:<br />

„In lieblicher Bläue blühet<br />

mit dem metallenen Dache der Kirchthurm.<br />

Den umschwebet<br />

Geschrei der Schwalben, den umgiebt die rührendste<br />

Bläue.<br />

Die Sonne gehet hoch darüber und färbet das<br />

Blech,<br />

im Winde aber oben stille krähet die Fahne.<br />

Wenn einer unter der Glocke dann herabgeht,<br />

jene Treppen,<br />

ein stilles Leben ist es, weil,<br />

wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist,<br />

die Bildsamkeit herauskommt dann des<br />

Menschen.(…)<br />

Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.“<br />

(Hölderlin, In lieblicher Bläue)<br />

Bei Rilke und Hofmannsthal ist der<br />

Tod im Wohnen ex negativo und in der<br />

unmittelbaren Korrelation eines polaren<br />

Dualismus von Leben und Tod präsent.<br />

Das ändert sich. Die Moderne nimmt<br />

Form an, die Parameter verdichten sich<br />

und verwischen ihre Demarkationslinien.<br />

Im diskursiven Blick zwischen Moderne<br />

und Postmoderne interpoliert die<br />

Moderne den Tod dem Sein. Die Existenz<br />

erschafft sich qua literarischem<br />

Möglichkeits-Raum einen lebensweltlichen<br />

Wohn-Raum: den kreativen Spannungsbogen<br />

zwischen „Wohnen Dämmern<br />

(und) Lügen“.<br />

V. Post Scriptum<br />

Das Entstehen des Beitrags wurde lanciert<br />

von einer speziellen Lektüreerfahrung:<br />

„Unendlicher Spaß“ von David<br />

Foster Wallace, als „Infinite Jest“ bereits<br />

1996 in den USA erschienen. Ein<br />

Buch, das über den (be-)schreibenden<br />

Weg der Frage nach dem „Sich-zu-sich-<br />

Verhalten“ die Brücke schlägt zu dem<br />

Wohnen des Menschen im 21. Jahrhundert.<br />

Der Autor steigert die Feststellung<br />

des „Ich bin hier drin“ zum „Ich bin da<br />

gefangen drin“ und wechselt den Modus<br />

zu – „Wenn da eigentlich gar keiner<br />

drin ist“?! Dann? Dann wird der euklidische<br />

Standpunkt der Geraden als kürzeste<br />

Verbindung zwischen den Dingen<br />

aufgegeben. Und damit ist der als<br />

postmodern apostrophierte David Foster<br />

Wallace bei dem Modernen, bei Rainer<br />

Maria Rilke, angekommen, für den<br />

der Halt des euklidischen Standpunktes<br />

bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

keiner mehr sein konnte. Die literarische<br />

Idee des Wohnens innerhalb des<br />

Selbst macht die Negation der euklidischen<br />

Geraden produktiv.<br />

Literatur<br />

Baudelaire, Charles: Pariser Spleen. Kleine<br />

Gedichte in Prosa. Stuttgart 2008.<br />

Ders.: Œuvres complètes. Paris 1975.<br />

Biella, Burkhard: Eine Spur ins Wohnen<br />

legen. Düsseldorf, Bonn 1998.<br />

Foster Wallace, David: Unendlicher Spaß.<br />

Köln 2009.<br />

Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abtlg.,<br />

Bd. 7 u. 13. Vorträge und Aufsätze.<br />

Frankfurt/M. 2000.<br />

Hermann, Judith: Sommerhaus, später.<br />

Frankfurt/M. 1998.<br />

Hofmannsthal, Hugo v.: Gesammelte Werke.<br />

Erzählungen, Erfundene Gespräche und<br />

Briefe, Reisen. Frankfurt/M. 1979.<br />

Holthusen, Hans Egon: Der unbehauste<br />

Mensch. München 1951.<br />

Kafka, Franz: Der Bau. In: Beschreibung<br />

eines Kampfes. Frankfurt/M. 1976.<br />

Ders.: Die Sorge des Hausvaters. In:<br />

Gesammelte Werke. Bd. 5. Frankfurt/<br />

M. 1950.<br />

Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der<br />

bürgerlichen Denk- und Lebensform.<br />

Berlin 2007.<br />

Latour, Bruno: Wir sind nie modern<br />

gewesen. Berlin 1995.<br />

Lyotard, Jean-Fraçois: Das Inhumane.<br />

Wien 1989.<br />

Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und<br />

Lüge im außermoralischen Sinne. In:<br />

KSA I, München 1988.<br />

Perec, Georges: Das Leben. Gebrauchsanweisung.<br />

Frankfurt/M. 2002.<br />

Poe, Edgar Allan: Werke IV. Hrsg. von<br />

Kuno Schuhmann. Olten 1973.<br />

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen<br />

des Malte Laurids Brigge. Frankfurt/M.,<br />

Leipzig 1996.<br />

Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts.<br />

Reinbek 1991.<br />

Strauß, Botho: Besucher. München, Wien 1988.<br />

Ders.: Wohnen Dämmern Lügen. München,<br />

Wien 1994.<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


HOME STORIES 33<br />

Home Stories<br />

My Home is my Aura<br />

Mein Leben spielt sich nicht im weit verbreiteten<br />

Stakkatostil, dem täglichen Gehetze zwischen<br />

Drinnen und Draußen, ab. Meinereins,<br />

zur forschenden und schreibenden Zunft<br />

gehörend, bevorzugt so wie Künstler generell<br />

als Platz der Inspiration meist die<br />

eigenen vier Wände. Intensive Phasen des<br />

Lesens, Studierens, Schreibens oder Organisierens<br />

wechseln sich bei mir schon seit<br />

langem mit Phasen des „Wegseins“ ab:<br />

des Freunde und Sippschaft Besuchens,<br />

des Unterwegsseins, der intensiven Eindrücke<br />

und Erlebnisse, der Magie des Augenblicks.<br />

Mein kreativer Prozess braucht jedoch<br />

ungestörte Zeit und ungestörten<br />

Raum. Wie sagte Oskar Werner: „Kunst<br />

kann man nicht machen, Kunst muss man<br />

wachsen, gedeihen und blühen lassen.“<br />

Meine Ideen und Einfälle entstehen im<br />

Wildwuchs. Sie halten sich an keine Büroordnung.<br />

Sie schaffen eher Unordnung –<br />

in meiner Wohnung. Ganz so wie auf dem<br />

Foto der Grande Dame der österreichischen<br />

Literatur Friederike Mayröcker in<br />

ihrer „Wiener Verzettelungswirtschaft“,<br />

auf dem sie zwischen Papierbergen zu verschwinden<br />

droht, sieht es in meiner noch<br />

nicht aus, aber die Tendenz dazu ist immer<br />

wieder bemerkbar. (Wir sammeln nicht, es<br />

sammelt sich an.)<br />

Der Raum zwischen meinen „vier<br />

Wänden“ ist quasi meine erweiterte Aura.<br />

Hier liegt mein Innerstes wie ein offenes<br />

Buch herum: Notizen auf Papier, am<br />

PC, Briefe, Mails, Bücher mit unzähligen<br />

Randbemerkungen, Zeitungsartikel und<br />

vieles mehr. Und wie für meinen nahen<br />

Seelenverwandten, den Schriftsteller Bernhard<br />

Hüttenegger, ist auch für mich eine<br />

„der (räumlichen) Voraussetzungen für die<br />

Schreibarbeit: eine Art von Höhlengefühl“.<br />

Zwischen meinen „vier Wänden“ ist<br />

also der Platz des Sinnierens, des In-den-<br />

Sinn-Kommens. Wenn ich am Schreibtisch<br />

gerade nicht weiter weiß, fällt es<br />

mir meist in der Küche oder am Klo ein.<br />

Besonders ertragreich sind die Gedanken<br />

und Ideen nach dem Aufwachen – da<br />

braucht es die nötige Ruhe, damit sie sich<br />

nicht gleich wieder verflüchtigen.<br />

Drinnen und Draußen sind zwei wesentliche<br />

Aspekte meines Lebens. Sie betreffen<br />

auch Begegnungen. Diese bestehen<br />

ja nicht nur aus dem „face to face“,<br />

sondern auch aus der Zeit zwischen den<br />

Treffen. Es bedarf immer wieder Zeiten<br />

des Zu-sich-Kommens. Wer nicht<br />

zu sich kommt, kann auch nicht zum<br />

Anderen kommen. In meiner Wohnung<br />

bin also nicht nur ich zu Hause, sondern<br />

auch die Vorfreude und das „Nachbeben“.<br />

„Um sich nahe zu kommen, darf<br />

man nicht stets in der Nähe sein. Lust<br />

ist aufgehobener Verlust“, schreibt Franz<br />

Schandl treffend in „Sei so“ – Kleine<br />

Fundstücke wider die große Affirmation<br />

(Wespennest, Herbst 2007). Dementsprechend<br />

spiegelt sich die Phasenhaftigkeit<br />

meines Daseins auch in meinem Bett:<br />

Der zweite Schlafplatz ist entweder mit<br />

Papieren aller Art, vor allem mit zu Kunst<br />

gewordener Sinnlichkeit, sprich: mit Büchern<br />

belegt oder aber, wenn die Textwerkstatt<br />

geschlossen hat, mit der „Sinnlichkeit<br />

in Person“.<br />

Es gibt nur einen Schwachpunkt dieser<br />

Wohn- und Lebensform, dieses „Schaffens-<br />

Raums“ – wenn nämlich dieser Raum nicht<br />

denk-, fühl- und handlungsautonom gestaltet<br />

werden kann, weil er von außen mit<br />

immensem Druck und existentieller Ungewissheit<br />

besetzt wird. Wenn diese sich so<br />

breit machen, bis dass der Raum zum Ab-<br />

Schaffen aufgebläht wird, dann ist nicht nur<br />

jegliche Kreativität beim Teufel, sondern es<br />

hört sich alles auf.<br />

Maria Wölflingseder<br />

Minimal Housing –<br />

Meine kleine Strohhütte<br />

Das Wohnen in den Städten heutzutage<br />

kommt mir vor wie eine Art Massentierhaltung<br />

und ist eigentlich das Gegenteil<br />

meiner Vorstellung von Wohnkultur.<br />

Die lehnt sich eher an die der Naturvölker<br />

an.<br />

Solange ich zurückdenken kann, liebte<br />

ich es, auf meinen <strong>Streifzüge</strong>n durch<br />

Wald und Wiese die Tier- und Pflanzenwelt<br />

zu erkunden. Ziemlich spannend<br />

fand ich es, aus den vorgefundenen<br />

Materialien kleine Behausungen zu basteln.<br />

Später einmal wollte ich in einem<br />

Baumhaus oder kleinen Hüttchen inmitten<br />

der Wildnis leben. Nun ja, die Jahre<br />

verflogen, doch diese Idee ließ mich nicht<br />

mehr los. Im vergangenen Jahr schließlich<br />

habe ich mir den Traum vom naturverbundenen<br />

Leben annähernd erfüllt.<br />

Das kam so:<br />

Vor einiger Zeit besuchte ich einen<br />

Permakulturkurs, wo ich zum ersten Mal<br />

von selbsttragenden Strohballenhäusern<br />

hörte. Da mir das Konzept gefiel und<br />

ich der Überzeugung bin, dass die Behausung<br />

zur natürlichen Umgebung und<br />

zum dazugehörigen Klima passen sollte<br />

– etwa in der Wahl der Baumaterialien<br />

oder der Gebäudeform – entschied ich<br />

mich ein Strohhäuschen zu bauen. Das<br />

schien funktionell, gut isoliert und billig<br />

zu sein und außerdem einfach selbst<br />

zu bauen. Stroh ist ja bei uns reichlich<br />

vorhanden und wird absurderweise häufig<br />

einfach vernichtet. Den Lehm stellte<br />

der Dachs zur Verfügung. Der wohnt<br />

bei uns im Garten und produziert bei seiner<br />

eigenen Bautätigkeit große Mengen<br />

an Aushub.<br />

So bauten wir vergangenen Winter<br />

im hintersten Winkel des Gartens, unter<br />

drei alten Kiefern, ein rundes, etwa<br />

18 m 2 großes Häuschen aus Stroh. Auf einem<br />

Achteck aus alten Dachbalken und<br />

Brettern als Unterkonstruktion schlichteten<br />

wir dann Strohballen wie Ziegel zu<br />

einer runden Wand. Fenster und Tür haben<br />

wir mit kurzen Holzzinken in den<br />

Ballen verankert. Auf die selbsttragende<br />

Strohwand kamen dann das Obergeschoss<br />

und die Dachkonstruktion drauf,<br />

die auch mit Stroh gedämmt ist. Hier, im<br />

Schutze der Dachkuppel aus duftendem<br />

Holz schlafe ich. Wenn ich im Sommer<br />

die große Dachklappe öffne, dann lieg<br />

ich direkt unterm Sternenhimmel.<br />

Auf beiden Seiten der Strohwand trugen<br />

wir abschließend Lehmputz auf. Der<br />

besteht eigentlich nur aus Lehm, Sand<br />

und ein bisschen Stroh. Dieser Wandaufbau<br />

reguliert die Luftfeuchtigkeit<br />

und dämmt hervorragend. Und so blieb<br />

es im Sommer auch an heißen Tagen<br />

seits<br />

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<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


34 HOME STORIES<br />

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drinnen angenehm kühl und im Winter<br />

lange warm. Jetzt, wo es wieder winterlich<br />

wird, lässt mich die urige, aber gemütliche<br />

Holzofenatmosphäre die bittere<br />

Kälte draußen vergessen.<br />

An meiner Wohnautonomie bastle<br />

ich noch weiter: Gerade haben wir einen<br />

kleinen Waschtisch gezimmert und das<br />

Kompostklo soll jetzt auch dringend fertig<br />

werden.<br />

Das Leben ist einfach und aufs Wesentlichste<br />

beschränkt, was mir gut tut<br />

und meinen unsteten Geist beruhigt. Es<br />

ist gemütlich und beschaulich. Ich sitz oft<br />

stundenlang auf meiner kleinen Couch<br />

vor dem Fenster und lasse den Blick in<br />

die Ferne schweifen. Dann und wann<br />

queren Wildschweine, Rehe oder unser<br />

Dachs die Wiese.<br />

Möge der Stress der Zivilisation nie bis<br />

zu meiner kleinen Hütte vordringen!<br />

Sara Kleyhons<br />

Living Room<br />

Nun denn, wir leben zu sechst in einem<br />

Margaretener Altbau: Theresa, zwei ihrer<br />

Kinder, unsere zwei Kinder, ich –<br />

und wenn mein Sohn auch noch da ist,<br />

sind wir sieben. Ich, der nie eine Kleinfamilie<br />

wollte, bin im familiären Großclan<br />

gelandet. Wir wohnen hier aber<br />

ganz komfortabel. Zwar hat kein Kind<br />

ein eigenes Zimmer, aber mit 135m 2 ist<br />

die Wohnung doch halbwegs geräumig.<br />

Nie müssen sich alle am gleichen Flecken<br />

drängen. Die Böden sind aus Holz, die<br />

Wände sind hoch, zwei funktionstüchtige<br />

Kachelöfen gibt es auch noch. Im<br />

dritten Stock gelegen (exklusive Mezzanin),<br />

ist die Wohnung recht hell und<br />

vom Lärm her erträglich. Leisten können<br />

wir sie uns nur, weil sie im Herbst<br />

1996 als Kategorie B (ohne Gasetagenheizung,<br />

mittlerweile von uns nachträglich<br />

eingebaut) angemietet wurde. Wir<br />

hoffen, dass das so bleibt. Da die Gegend<br />

um den Margaretenplatz inzwischen von<br />

der Innenstadt erobert worden ist, leben<br />

wir in einem sich gentrifizierenden Grätzel.<br />

Immer mehr Yuppis parken ihre großen<br />

Schlitten vor neuen Lokalen.<br />

Man kann es sich ausmalen: Haushalt,<br />

Erziehung und Reproduktion veranschlagen<br />

weit mehr Zeit, als wir wollen.<br />

So kommt der Alltag auch schnell durcheinander:<br />

wenn eins krank wird, die<br />

Waschmaschine ausfällt, Konflikte sich<br />

zuspitzen oder unvorhergesehene Lohntätigkeiten<br />

über die Freiberufler hereinbrechen.<br />

Da verfällt die Wohnung. Wenn<br />

sich gar niemand mehr zuständig fühlt,<br />

kann es richtig schiach werden. Nicht<br />

sturmfrei ist die Bude dann, sondern<br />

putzfrei. So schaut es in der Wohnung nie<br />

so aus, wie es ausschauen sollte, weil es<br />

einfach ausschaut. Das Schandmal ist das<br />

sogenannte Wohnzimmer, das mehr einer<br />

Abstell- und Rumpelkammer gleicht. Ich<br />

selbst ersticke stets in Papier, das auf meinen<br />

drei Schreibtischen, am Boden, am<br />

Fensterbrett, im Bett oder auch an Stellen<br />

herumliegt, wo es niemand, auch der<br />

Verursacher nicht, vermuten würde.<br />

Fad wird es da nie, aber das ist nicht<br />

unbedingt ein Vorteil. Denn mir ist<br />

ganz gerne langweilig. Die lange Weile<br />

verdeutlicht eine Zeit, die gemächlich<br />

laufen kann, die nicht von Fristen<br />

und Terminen zerhackt ist, und in der ich<br />

denken, sinnieren, lieben, lesen, spielen,<br />

Musik hören, Guglhupf backen oder einfach<br />

nur meseln kann. Ruhig ist es hier<br />

lediglich an späten Vormittagen und an<br />

frühen Nachmittagen, da sind wochentags<br />

die meisten außer Haus.<br />

Ausziehen möchte ich hier nicht, aber<br />

der Zug aufs Land, der wird in den letzten<br />

Jahren wieder stärker. In irgendeiner<br />

Zukunft sehe ich mich im Waldviertel<br />

sitzen, in einer warmen Stube, wo ich<br />

nach dem frühen Auslauf (per pedes oder<br />

auf Schiern) ganz ohne Zeitdruck meine<br />

Sachen mache oder auch nicht. Größere<br />

publizistische Projekte musste ich in den<br />

letzten Jahren immer wieder schieben,<br />

nicht weil ich sie nicht leisten kann, sondern<br />

weil ich sie mir nicht leisten kann.<br />

Aber die Kinder werden größer (unsere<br />

Jüngste ist 12), und dann werden wir<br />

weiter sehen.<br />

Franz Schandl<br />

Wundervoll entwohnt<br />

In einem Seitental der Schlafgemeinde<br />

Weidling hab ich meine ersten Schritte<br />

unternommen, sah einige meiner lieben<br />

sieben Geschwister das Licht der Welt erblicken,<br />

lag oft im hohen Gras und bestaunte<br />

dortselbst den Himmel über<br />

mir. Der weckte in mir die Sehnsucht,<br />

die weitere Umgebung zu erkunden, da<br />

ich zu Recht mehr als den Obstgarten<br />

und die Schafweide unter dem mächtigen<br />

Gewölk vermutete. Damals kletterte<br />

ich bedenkenlos über Zäune und Mauern<br />

und fühlte, indem ich sie überwand,<br />

ein unbeschreiblich beglückendes Gefühl<br />

wieder errungener Freiheit.<br />

Auch im Hause ging’s damals recht<br />

munter her. Das hat sich über die Jahre<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


HOME STORIES 35<br />

1989<br />

Konterrevolution<br />

gegen<br />

Konterrevolution<br />

mit Gáspár Tamás<br />

(Budapest)<br />

am Montag, 21. Dezember<br />

um 18 Uhr 30 im<br />

Ost-Klub<br />

Schwarzenbergplatz 10, 1040 Wien<br />

Ausklang bei Klaviermusik in der Ost-Bar<br />

In Kooperation mit den Redaktionen<br />

der Grundrisse und Perspektiven<br />

kaum geändert, obwohl vom ursprünglichen<br />

Besatz lediglich mein älterer Bruder<br />

und ich verblieben: Selten vergeht ein<br />

gastloser Tag.<br />

Erstbesucher sind häufig ratlos: Kein<br />

Zaun, kein Tor, keine Klingel. Ist’s eine<br />

Baustelle, eine WG, eine Lokalität gar?<br />

Die kundigen Freunde sind aber mit<br />

den Usancen hier vertraut; wissen, dass<br />

je nach Witterung, allgemeiner Verfassung<br />

und je nach Erfordernis miteinander<br />

gekocht, genossen, diskutiert, musiziert,<br />

Auto repariert, getanzt, gefeiert,<br />

gehausbaut wird; wissen, der Schlüssel<br />

ist zwischen den Ziegeln neben der Türe<br />

hinterlegt und die Espressomaschine im<br />

Sommer stets betriebsbereit; wissen, dass<br />

dem Ruhesuchenden am Oberdeck ein<br />

paar Liegen Erquickung versprechen.<br />

Das mit dem Schlüssel ist aber rein formal:<br />

Unmittelbar neben dem Eingang gewährt<br />

eine noch fensterlose Maueröffnung<br />

großzügig Einlass. Im Obergeschoß<br />

finden sich weitere Einstiegsmöglichkeiten.<br />

Durch das noch unverglaste Dazwischen<br />

von Wand und Decke etwa, mittels<br />

Sessel oder Hochspagat. Hiervon machte<br />

vor einigen Monaten auch unser getreuer<br />

Rauchfangkehrer Gebrauch und bestätigte<br />

seine Visite mit der lakonischen Zettelbotschaft:<br />

„Rauchfänge wurden gekehrt!“<br />

In der besinnlicheren Jahreszeit konzentriert<br />

sich das Innenleben um den<br />

Kachelofen im Wohnzimmer – neben<br />

dem Stövchen in meinem Zimmer zurzeit<br />

der einzige Wärmespender. Letztes Jahr<br />

frühstückten wir inmitten des verschneiten<br />

Mobiliars am Oberdeck. Ein wenig bizarr,<br />

aber traumhaft schön. Der Vorteil der<br />

„natürlichen“ Wohnraumtemperierung<br />

liegt sicher auch darin, dass es draußen<br />

selten mehr als 10°C weniger hat, als<br />

es einem drinnen vorkommt, sodass<br />

der Schritt über die Schwelle ohne den<br />

üblichen Kälteschock ausfällt. Zudem<br />

erspart man sich die unterschiedlichsten<br />

Saisonkrankheiten. Und den Kühlschrank.<br />

Der bleibt dann ausgeschaltet, weil der<br />

Kompressor so selten taktet, dass es im<br />

Gefrierfach taut. Eisblumen gibt’s nur<br />

hin und wieder. Die belebende Guten-<br />

Morgen-Dusche gibt’s täglich, warmes<br />

Wasser nur in der Küche.<br />

Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer<br />

ich nicht bedarf…, halt ein, Sokrates, irgendwann<br />

werden die Bauarbeiten beendigt,<br />

das Oberdeck verplankt, der Balkon<br />

verglast sein, wird die Wärmepumpe<br />

Heizungs- und Brauchwasser erwärmen.<br />

Ob sich dann an der – auch physischen –<br />

Durchlässigkeit etwas ändern wird? Ich<br />

glaube nicht. Immer klarer wird mir, dass<br />

mein verlängertes Wohnzimmer doch eigentlich<br />

ein planetares ist – wundervoll!<br />

Severin Heilmann<br />

Ich habe nie gewohnt<br />

Ich habe nie gewohnt, immer haben wir<br />

gewohnt. Ich war schon 26, als ich das erste<br />

Mal ein Zimmer für mich hatte. Dass<br />

dessen Tür offen steht, ist auch heute nach<br />

weiteren 36 Jahren noch keine Seltenheit.<br />

(Immer an derselben Adresse übrigens,<br />

wenn auch die Wohnung beträchtlich geschrumpft<br />

ist.) Dabei ist es gar nicht so,<br />

dass ich mir mit anderen Leuten leicht tue.<br />

Aber ohne tue ich mir viel schwerer.<br />

Natürlich kenne ich das Bedürfnis,<br />

dass die Wohnung dem Rückzug vom<br />

Stress von Frust, Leistung und Konkurrenz<br />

dienen soll. Auch von der Illusion,<br />

dass hier das Nest von Glück und Selbstentfaltung<br />

sein könnte, wenn’s rundherum<br />

auch recht unwirtlich ist, bin ich<br />

nicht unberührt geblieben. Hat aber natürlich<br />

nie wirklich funktioniert.<br />

Schon deshalb hat mich seit den frühen<br />

Siebzigern der Gedanke nie völlig<br />

losgelassen, dass Wohnen, das Zusammenwohnen<br />

natürlich, zur Suche nach<br />

einer Alternative zur herrschenden Lebensart<br />

gehört. Zu einem Leben von Arbeit<br />

und Freigang, Frust draußen und<br />

Freude daheim, das sich inzwischen zum<br />

Dauergrinsen eines „Ich verwerte mich,<br />

wo immer ich bin“ verdichtet. Dass drinnen<br />

der Hausfriede und draußen „das<br />

feindliche Leben“ herrscht oder das Leben<br />

halt überall nur eine Gelegenheit<br />

zum Business ist – dieser Glaube ist auf<br />

Dauer nur mit Alk, Kokain und Prozac<br />

zu nähren. Kein Wunder, dass das Single-Wohnen<br />

und einsame Leben rasant<br />

zugenommen hat. Es ist ja wirklich nicht<br />

leicht, mit diesem Leben am Buckel noch<br />

so jemanden um sich auszuhalten. Aber<br />

ist es nicht mehr denn je so, dass es ein<br />

gutes Leben für die Menschheit nur noch<br />

geben wird, wenn es nicht so verdammt<br />

schwer bleibt, sich bei anderen Menschen<br />

„zu Haus“ zu fühlen?<br />

Mit der Kommune ist es nichts geworden<br />

– nicht nur, weil wir so blöd waren,<br />

aber ganz ohne dem freilich auch nicht.<br />

Und interessanter ist der eigne Anteil auf<br />

jeden Fall. Es bringt was, das im Bewusstsein<br />

zu halten, was ich mir wünsche und<br />

nicht kann, ohne gleich zu verdrängen,<br />

dass es mir gut täte, wenn ich’s lernte und<br />

leben könnte, anstatt es mit allem möglichen<br />

Zeugs kompensieren zu müssen.<br />

Dann kam die politische Wohngemeinschaft;<br />

ist bald an der Politik gescheitert.<br />

Die war schließlich auch nicht grad das<br />

Gelbe vom Ei. Das übrigens war wesentlich<br />

leichter zu begreifen als das Scheitern<br />

der Kommune. Die Politik verschmerze<br />

ich mit Freuden, die Kommune bleibt ein<br />

Weg, der gangbar zu machen ist.<br />

Mit Vater, Mutter, Kindern war es irgendwie<br />

am besten aushaltbar an unserer<br />

Adresse. (Haben wir schließlich am<br />

ehesten und irgendwie gelernt.) Aber<br />

was draus zu machen ist auch nur, weil<br />

die Türen nie ganz zugingen. Wir waren<br />

immer auch eine Art Versammlungsort<br />

für Gegner diverser Zumutungen unserer<br />

glorreichen Lebens- und Wirtschaftsweise.<br />

Dass wir in „fremden“ Wohnungen<br />

jährlich die eine oder andere Woche<br />

leben und umgekehrt, ist lange Übung,<br />

und Gäste kommen zu uns aus aller Herren<br />

Länder (seit wir bei „Servas“ sind).<br />

Ja, dank meiner Liebsten kennen wir<br />

sogar etliche Nachbarn unter den so achtzig<br />

Parteien in unserem Block beträchtlich<br />

näher als vom Vorbeigehen im Hausgang.<br />

Seit ein paar Jahren lädt sie einfach<br />

alle Leute im Juni zu einem Hoffest. Das<br />

hat Folgen für den Umgang. Vielleicht ist<br />

es schwer zu glauben, aber es gibt da Haarrisse<br />

im unwirtlichen Gebirge der Sachlichkeit<br />

und des „Jeder ist sich selbst der<br />

Nächste“. Es kommt schon ein bisschen<br />

darauf an, dass wer da ist, der’s probiert.<br />

Lorenz Glatz<br />

los<br />

www.<strong>streifzuege</strong>.org<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


36 LOTHAR GALOW-BERGEMANN, REZENSION<br />

You can’t get something for nothing<br />

von Lothar Galow-Bergemann<br />

Diese amerikanische Spruchweisheit<br />

bringt zwar nicht die Ansprüche<br />

an ein befreites Leben jenseits der Zwänge<br />

der Warenwirtschaft, dafür aber diese<br />

selbst umso besser auf den Punkt. Dass sich<br />

Warenwert stur gegen Warenwert austauscht<br />

und sich im Laufe dieses Geschäfts<br />

trotzdem zunehmend in Luft auflöst, begründet<br />

letztendlich das ganze Dilemma<br />

des Kapitalismus. Der scheitert nämlich<br />

regelmäßig an seiner eigenen Voraussetzung<br />

und ist – besonders in seiner finanzblasendominierten<br />

Gegenwart – gezwungen,<br />

immer wieder something (sprich Geld)<br />

aus nothing zu machen. Heraus kommt dabei<br />

ebenso regelmäßig, dass er auf noch<br />

wackligeren Beinen steht als zuvor.<br />

Texte, die sich diesem unauflösbaren<br />

Widerspruch und seinen Konsequenzen<br />

widmen, werden zu Recht oft als extrem<br />

theoretisch und trocken empfunden. Wer<br />

sich nach konkretem Anschauungsmaterial<br />

sehnt und noch dazu Spaß beim Lesen<br />

haben will, dem sei der hier besprochene<br />

Band wärmstens empfohlen. Nicht dass<br />

Stefan Franks Text über die Hintergründe<br />

der Wirtschaftskrise, dem er den treffenden<br />

Namen „Die Weltvernichtungsmaschine“<br />

gab, die theoretische Auseinandersetzung<br />

mit Warenproduktion und Krise ersetzen<br />

würde. Aber er bietet einen Zugang zur<br />

vertieften Auseinandersetzung mit den<br />

Wurzeln der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise.<br />

Der Autor beweist, dass man<br />

sich mit Geschichte und Verlauf der Krise<br />

befassen kann, ohne auch nur einmal<br />

über „Heuschrecken“ und „gierige Spekulanten“<br />

als den vermeintlichen Verursachern<br />

des Übels herziehen zu müssen,<br />

wie es unter manchen sich besonders antikapitalistisch<br />

vorkommenden „Krisenanalytikern“<br />

leider gang und gäbe ist.<br />

Frank gibt einen Überblick über<br />

Crashs und Booms der letzten hundert<br />

Jahre, zeichnet eine kurze Geschichte<br />

des Geldes, das spätestens seit der Aufhebung<br />

der Golddeckung im Jahre 1971 zur<br />

reinen Glaubenssache geworden ist, und<br />

führt in die Tricks und Instrumente der<br />

neuesten Finanzalchemie ein. Wer immer<br />

wieder Bahnhof versteht, wenn von Credit<br />

Default Swaps, relative value trading und<br />

Balance-Sheet-CDOs die Rede ist, darf<br />

reichlich Nachhilfeunterricht erwarten.<br />

Ob es wirklich einen „Skyscraper-Index“<br />

gibt, der besagt, dass jeder Hochhausboom<br />

ein untrügliches Zeichen für das herannahende<br />

Platzen der Finanzblase sei, mag dahingestellt<br />

bleiben - ein origineller Gedanke<br />

ist es auf jeden Fall. Dazu kommt eine erfrischende<br />

Sprache, die man in vergleichbaren<br />

Arbeiten leider nur allzu oft vermisst. Was eigentlich<br />

falsch sei an Panik, fragt der Autor<br />

beispielsweise, schließlich lebten Elefanten,<br />

die panische Angst vor Menschen haben,<br />

nachweislich länger als ihre furchtlosen Artgenossen.<br />

Und sein Vorschlag, zur Rettung<br />

des Bankensystems Benefizkonzerte zu veranstalten,<br />

kann sich in punkto Erfolgsaussichten<br />

durchaus mit den diversen Antikrisenkonzepten<br />

messen, die in Politik und<br />

Medien mit Bierernst gehandelt werden.<br />

„Der Produktionsprozess“, sagt Karl<br />

Marx über den Charakter der warenproduzierenden<br />

Gesellschaft, „erscheint nur als<br />

unvermeidliches Mittelglied, als notwendiges<br />

Übel zum Behuf des Geldmachens.<br />

Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise<br />

werden daher periodisch von einem<br />

Schwindel ergriffen, worin sie ohne<br />

Vermittlung des Produktionsprozesses das<br />

Geldmachen vollziehen wollen.“ (MEW<br />

24,62) Frank zitiert Marx nicht. Aber wie<br />

zur Illustration dessen schildert er die Verrücktheit<br />

eines Systems, in dem Millionen<br />

Phantasten von der wundersamen Geldvermehrung<br />

mittels finanzmarktakrobatischer<br />

Verrenkungen träumen, während an<br />

ihrer Spitze ein Notenbankpräsident hantiert,<br />

der bekennt, mehr seiner Magengrube<br />

als seinem Kopf zu vertrauen. Eines Systems,<br />

dessen oberste Verwalter nach dem<br />

Terroranschlag vom 11. September den<br />

Leuten allen Ernstes empfehlen mussten,<br />

„shoppen zu gehen“, damit es nicht zusammenbricht<br />

und dessen „Fachleute“ sich regelmäßig<br />

mit ihren Prognosen blamieren.<br />

So wie Bundeskanzlerin Merkel, die noch<br />

Anfang 2008 verkündete: „Es gibt keine<br />

Anzeichen für eine Rezession in Deutschland.<br />

Das muss man ganz deutlich sagen.“<br />

Wenn Banken und Unternehmen ihre<br />

Verluste von einem auf den anderen Tag<br />

als fünfmal höher „neu bewerten“, dann<br />

kann das nur heißen, dass sie entweder<br />

die vier Grundrechenarten nicht beherrschen<br />

oder schlicht und ergreifend keinen<br />

blassen Schimmer mehr davon haben,<br />

was eigentlich im eigenen Laden los<br />

ist. „Hoffen wir, dass wir alle reich und<br />

im Ruhestand sind, wenn dieses Kartenhaus<br />

zusammenbricht“, zitiert Frank einen<br />

Rating-Analysten. Ein Prinzip Hoffnung,<br />

von dem sich die Menschheit besser<br />

heute als morgen verabschieden sollte.<br />

Dem Leser werden viele Namen aus<br />

der internationalen Finanzwelt begegnen<br />

und man kann dem Autor nicht unterstellen,<br />

dass er Sympathiewerbung für<br />

sie betreibt. Das ist auch völlig okay, denn<br />

selbstverständlich ist niemand gezwungen,<br />

Manager zu werden und die barbarischen<br />

Gesetze der Kapitalakkumulation<br />

auf dem Rücken von Mensch und<br />

Natur zu exekutieren. Darin genau liegt<br />

die persönliche Verantwortung, die den<br />

Betreffenden auch vorzuhalten ist. Aber<br />

wer nun mal Manager ist, ist sehr wohl<br />

gezwungen, diese Gesetze durchzupeitschen,<br />

andernfalls er nämlich die längste<br />

Zeit Manager gewesen wäre. Und dieser<br />

Sachverhalt verweist auf die Systemursache<br />

der Krise, die leider von sehr vielen<br />

übersehen wird. Was wiederum zu allerlei<br />

Verschwörungsphantasien animiert.<br />

Manchmal hat man beim Lesen den<br />

Eindruck, dass die systemischen Ursachen<br />

auch bei Frank etwas zu kurz kommen.<br />

Aber gegen Ende spricht er klar und unmissverständlich<br />

davon. Auch wendet er<br />

sich gegen die grassierende Illusion vom<br />

Staat als dem guten Retter in der Not und<br />

gegen den Keynesianismus, dem er rundweg<br />

den „Glauben an Zauberei“ bescheinigt:<br />

Wenn eine staatliche Intervention<br />

überhaupt noch einmal erfolgreich sein<br />

könne, dann „nur durch eine noch größere<br />

Spekulations- und Schuldenblase, die zu<br />

einer noch gewaltigeren Krise in der Zukunft<br />

führen würde und zum Preis einer<br />

Geldentwertung und eines drohenden<br />

Staatsbankrotts“. Es hätte dem Buch nicht<br />

geschadet, wenn dieser Schlussteil etwas<br />

ausführlicher ausgefallen wäre. Trotzdem<br />

eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die<br />

die Krise besser verstehen wollen.<br />

Stefan Frank,<br />

Die Weltvernichtungsmaschine<br />

–<br />

Vom Kreditboom<br />

zur Wirtschaftskrise<br />

CONTE Verlag<br />

2009<br />

199 Seiten<br />

ca. 20 Euro<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT 37<br />

Bildung hat keinen Wert*<br />

ÜBER DEN VERLUST VON BILDUNG, SOBALD DIESER WERT ZUGESCHRIEBEN WIRD<br />

von Erich Ribolits<br />

* Auszug aus dem Buch von Erich Ribolits:<br />

Bildung ohne Wert – Wider die Humankapitalisierung<br />

des Menschen, Löcker-Verlag,<br />

Wien 2009, 200 Seiten, ca. 20 Euro.<br />

Spätestens nachdem am „Gipfel von<br />

Lissabon“ im Jahre 2000 durch die<br />

Europäischen Bildungsminister deklariert<br />

worden war, die Europäische Union zum<br />

„wettbewerbsfähigsten und dynamischsten<br />

wissensbasierten Wirtschaftsraum der<br />

Welt“ machen zu wollen, ist der Begriff<br />

„Wissensgesellschaft“ zum fixen Bestandteil<br />

von Festreden, Forschungsprogrammen<br />

und bildungspolitischen Absichtserklärungen<br />

geworden. Der Begriff, dessen<br />

Wurzeln bis in die 1960er Jahren zurückreichen,<br />

dient dabei als Kürzel, um einen<br />

seit mehreren Jahrzehnten konstatierten,<br />

grundsätzlichen Wandel der gesellschaftlichen<br />

und ökonomischen Bedeutung<br />

von Wissen zu argumentieren – einen<br />

Wandel, dem verschiedentlich eine gleichermaßen<br />

tiefgreifende Wirkung wie<br />

dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft<br />

zugesprochen wird (vgl.<br />

Miegel 2001: 203). Das Kürzel „Wissensgesellschaft“<br />

wird dabei in zwei unterschiedlichen<br />

Bedeutungen verwendet:<br />

einerseits als Metapher, um aktuell stattfindende<br />

gesellschaftliche Veränderungsprozesse<br />

zu charakterisieren, andererseits<br />

aber auch, um diese zu legitimieren und<br />

zu beschleunigen. Zum einen wird mit<br />

dem Begriff die in den letzten Jahrzehnten<br />

vor sich gegangene Durchdringung<br />

sämtlicher Lebensbereiche mit Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien<br />

(IKT) angesprochen, die tiefgreifende<br />

Veränderungen der kognitiven Tätigkeiten<br />

von Menschen sowie eine anwachsende<br />

Nachfrage nach wissens- und<br />

kommunikationsbasierten Dienstleistungen<br />

nach sich gezogen haben. Zum anderen<br />

dient der Begriff aber auch als Warnung<br />

und Appell: Er soll die Behauptung<br />

untermauern, dass die verwertbaren<br />

Kompetenzen der arbeitsfähigen Bevölkerung<br />

von Regionen und Staaten zunehmend<br />

die wichtigste Ressource der<br />

lokalen wirtschaftlichen Entwicklung<br />

darstellen und es somit erforderlich sei,<br />

ein konsequent an den Verwertungsvorgaben<br />

ausgerichtetes Lernen potenzieller<br />

Arbeitskräfte in allen Lebensbereichen<br />

und -altern zu forcieren.<br />

Beim angesprochenen Hochloben von<br />

Wissen zur entscheidenden Größe im allgemeinen<br />

Konkurrenzkampf wird nur<br />

selten reflektiert, dass die Bezugnahme<br />

auf die Größe „Wissen“ für die aktuelle<br />

Entwicklung tatsächlich wesentlich zu<br />

kurz greift und das Spezifische der derzeit<br />

stattfindenden Veränderung auch<br />

keineswegs schlüssig erklärt. Bei dem<br />

unter dem Titel Wissensgesellschaft firmierenden<br />

Paradigmenwechsel geht es<br />

nämlich durchaus nicht nur um einen<br />

bloßen Bedeutungsgewinn des Qualifikationsniveaus<br />

der Erwerbsbevölkerung<br />

in dem Sinn, dass möglichst viele Menschen<br />

im (Aus-)Bildungssystem möglichst<br />

hohe formale Abschlüsse erwerben,<br />

um das dabei erworbene Wissen in den<br />

wirtschaftlichen Verwertungsprozess einbringen<br />

zu können. Es stellt ja auch keine<br />

echte Neuigkeit dar, dass das Know<br />

how, auf das in einer Gesellschaft zugegriffen<br />

werden kann, einen engen Bezug<br />

zu Produktivität und Produktivitätssteigerung<br />

hat. Wissen war unzweifelhaft<br />

auch schon bisher wesentlicher Einflussfaktor<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Dass dem so ist, lässt sich nicht zuletzt an<br />

der dramatischen Krise zeigen, von der<br />

das kapitalistische Gesellschaftssystem aktuell<br />

heimgesucht wird. Die Ursache der<br />

abnehmenden Fähigkeit des postindustriellen<br />

Kapitalismus, menschliche Arbeitskraft<br />

zu vernutzen, ist ja nirgendwo<br />

anders zu suchen, als in den in den<br />

letzten Jahrzehnten auf Grundlage wissenschaftlicher<br />

Fortschritte geschaffenen<br />

„neuen“ Technologien und deren Rationalisierungspotential.<br />

Dass Waren heute<br />

immer rationeller – in immer kürzerer<br />

Zeit, durch immer weniger Arbeitskräfte<br />

– hergestellt werden können, deshalb aber<br />

immer mehr Menschen „freigesetzt“ werden<br />

und sich im aktuellen gesellschaftlichen<br />

System den Konsum der massenhaft<br />

und immer rationeller herstellbaren<br />

Waren nicht mehr leisten können, hängt<br />

letztendlich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

sowie deren massenhafter<br />

Verbreitung und Umsetzung zusammen.<br />

Nicht ein Mangel an Wissen, sondern die<br />

durch das Konkurrenzdiktat der marktgesteuerten<br />

Ökonomie gepushten Fortschritte<br />

im wissenschaftlich-technischen<br />

Wissen lassen das politisch-ökonomische<br />

System Kapitalismus zunehmend an seine<br />

Grenzen stoßen!<br />

Ohne spezifische Formen des Generierens<br />

und Weitergebens von Wissen ist<br />

wohl noch keine Gesellschaftsformation<br />

ausgekommen. Seit Menschen Gemeinschaften<br />

bilden, organisierten sie dabei<br />

auch Wissen, wobei sich dessen Qualität<br />

im Laufe der Geschichte selbstverständlich<br />

durchaus verändert hat. Seit der<br />

„Freisetzung der Konkurrenz“ im Rahmen<br />

der kapitalistischen Ökonomie stellt<br />

die Verfügung über Wissen und das systematische<br />

Weiterentwickeln verwertungsrelevanten<br />

Wissens zum Zweck der Profitmaximierung<br />

einen ganz wesentlichen<br />

Faktor der gesellschaftlichen Dynamik<br />

dar. Die diesbezügliche Verwertung von<br />

Wissen war somit von allem Anfang an<br />

ein bestimmendes Element der Industriegesellschaft<br />

gewesen; es mag deshalb erstaunen,<br />

dass erst jetzt, in einer weit fortgeschrittenen<br />

Phase des Kapitalismus, der<br />

Begriff Wissensgesellschaft geboren wurde<br />

und zu derartiger Bedeutung gelangte.<br />

Tatsächlich ist die Ursache dafür aber auch<br />

nicht bloß in einer aktuell vor sich gehenden<br />

Intensivierung der Kapitalisierung<br />

von Wissen zu suchen, sondern darin,<br />

dass diese – in ihrer traditionellen Form –<br />

gegenwärtig an Grenzen stößt und es im<br />

Zusammenhang damit erforderlich wird,<br />

völlig neue Dimensionen von Wissen der<br />

Verwertung zugänglich zu machen. Konkret<br />

geht es darum, dass der Fokus der<br />

Verwertung bisher primär auf formalisiertem<br />

Wissen gelegen ist, dieses aber<br />

heute zunehmend von seinen menschlichen<br />

Trägern losgelöst in Form von Software<br />

verfügbar ist. Die Folge ist, dass die<br />

systematische Aneignung von Wissen in<br />

organisierten Lernprozessen und seine instrumentelle<br />

Verwendung zunehmend an<br />

Bedeutung verliert, es im Gegenzug aber<br />

notwendig wird, dass Menschen lernen,<br />

mit Wissen in einer völlig veränderten<br />

Form umzugehen.<br />

Wissen wird ja auf zwei gänzlich unterschiedlichen<br />

Wegen erworben bzw.<br />

stehen Individuen dem von ihnen erwor-<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


38 ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT<br />

benen Wissen in weitgehend unterschiedlicher<br />

Form gegenüber: Zum einen handelt<br />

es sich – siehe André Gorz (2001:5)<br />

– um formelles Wissen, worunter alle jene<br />

Kenntnisse und Fähigkeiten zu verstehen<br />

sind, deren Aneignung vorsätzlich<br />

und methodisch erfolgt und die über den<br />

Weg bloßer Erfahrung und Interaktion<br />

nicht oder nur unzureichend erworben<br />

werden können. Die Inhalte des formellen<br />

Wissens sowie die zu seiner Aneignung<br />

erforderlichen Lernprozesse werden<br />

im Wesentlichen durch die jeweiligen<br />

Ausprägungsformen des öffentlich organisierten<br />

Unterrichtswesens bestimmt.<br />

Zum anderen tritt Wissen als informelles<br />

Wissen in Erscheinung. Darunter lassen<br />

sich alle Kenntnisse und Fähigkeiten subsumieren,<br />

die spontan durch Erfahrungen<br />

und den Umgang mit anderen erworben<br />

werden, ohne dass sie je ausdrücklich thematisiert<br />

oder vorsätzlich gelernt werden.<br />

Typische Aspekte dieser Wissensdimension<br />

sind beispielsweise die Sprache inklusive<br />

der sich in unterschiedlichen Kulturen<br />

und sozialen Gruppen durch Gesten, Mimik<br />

und ähnliches artikulierenden Metasprache<br />

oder die adäquate Handhabung<br />

alltäglicher Gebrauchsgegenstände sowie<br />

das Umgehen mit üblichen Problemstellungen.<br />

Informelles Wissen artikuliert<br />

sich großteils in Form von Gewohnheiten<br />

und Fertigkeiten, die dem Einzelnen<br />

weitgehend selbstverständlich erscheinen<br />

und seine problemlose Integration in die<br />

jeweilige soziale Umwelt bewirken. Dieses<br />

präkognitive informelle Wissen stellt<br />

die soziale Basis für die sinnliche, psychische<br />

und intellektuelle Entfaltung einer<br />

Person dar und kann diese begünstigen<br />

oder hemmen.<br />

Formelles Wissen – das Schmiermittel<br />

des Industriekapitalismus<br />

Beim Erwerb formellen Wissens ist auffällig,<br />

dass, seitdem der Schulbesuch<br />

hierzulande im 18. Jahrhundert für alle<br />

heranwachsenden Gesellschaftsmitglieder<br />

verpflichtend geworden ist, Lernvorgänge<br />

in Schulen und Ausbildungen<br />

fast ausschließlich unter strukturellen Bedingungen<br />

arrangiert wurden, die ein<br />

„instrumentelles Umgehen“ mit systematisch<br />

erworbenem Wissen implizieren. Es<br />

handelt sich dabei um eine Form der Wissensaufnahme,<br />

bei der Individuen gewissermaßen<br />

wie „intelligente Maschinen“<br />

fungieren – Medien der Speicherung und<br />

instrumentell-logischen Verknüpfung<br />

von Informationen, gekoppelt mit mechanischen<br />

Verarbeitungseinheiten. Das<br />

Die Spezialisten des Überlebens<br />

Dem Kapital ist es egal, wenn<br />

Wüsten entstehen, die Polkappen<br />

schmelzen, die Ressourcen zu<br />

Ende gehen, den Menschen die Lebensgrundlagen<br />

entzogen werden.<br />

Der Kapitalismus stößt an seine Grenzen,<br />

eine Krise jagt die andere, jede<br />

schlimmer als die zuvor. Zeit für eine<br />

radikale Wende. Wann, wenn nicht<br />

jetzt!<br />

Die Litanei ist endlos und die<br />

Schlachtlämmer geraten in Bewegung,<br />

wollen bewegen und alles neu<br />

gestalten. Auf dass nur nichts geschieht<br />

und alles so bleibt, wie es immer<br />

war.<br />

Zur falschen Zeit am falschen Ort<br />

aus all den falschen Gründen. Die<br />

störenden Symptome beseitigen, um<br />

weiter dem Spektakel des Überlebens<br />

zu frönen.<br />

Dem Spektakel, dem schlechten<br />

Traum der gefesselten Gesellschaft,<br />

der schließlich nur ihren Wunsch zu<br />

schlafen ausdrückt; als solches nicht<br />

länger nur Wächter dieses Schlafes,<br />

sondern Beschützer und Verbündeter.<br />

Garant des Fortbestehens<br />

des sedierten Vor-sich-hin-Dämmerns,<br />

aus dem niemand mehr erwachen<br />

will. Ein Traum, der sogar<br />

von Zeit zu Zeit die Illusion erweckt,<br />

Wissen bleibt ihnen dabei äußerlich, es<br />

nimmt keinen Einfluss auf ihre Persönlichkeit,<br />

sondern bleibt für sie gewissermaßen<br />

etwas Fremdes, das nur als Mittel<br />

zu anderen Zwecken – Arbeitsproduktivität,<br />

Einkommen, Prestige, Zugangsberechtigung<br />

… – dient. Lernprozesse dienen<br />

dem Ziel des Antizipierens der sich<br />

aus dem gesellschaftlichen Status quo ergebenden<br />

Anforderungen. Die Individuen<br />

sind dabei bloß „bewusstlose Träger“<br />

des Wissens und werden von diesem<br />

nicht wirklich „betroffen“; entsprechend<br />

taub sind sie auch gegenüber den sich aus<br />

dem Gewussten ergebenden „Forderungen“<br />

hinsichtlich der Ausrichtung ihres<br />

Lebens. (Das macht es z.B. möglich, über<br />

die ökologische Problematik beruflich<br />

verwendeter Materialien oder die sozialen<br />

Konsequenzen beruflichen Handelns<br />

bzw. der privaten Lebensführung Bescheid<br />

zu wissen und sich dennoch ohne<br />

inneres Dilemma in der allgemein üblichen<br />

„ökologischen und sozialen Gleichgültigkeit“<br />

zu verhalten.) Körperlichsinnliche<br />

Wahrnehmungen, körperlich<br />

bedingte Gefühle, Affekte, Bedürfnisse,<br />

Erwartungen, Ängste, Sehnsüchte usw.<br />

werden nicht in Relation zu den Wissensinhalten<br />

gestellt. Ohne deren Einbeziehung<br />

ist es aber nicht möglich, sinnvolle<br />

Urteile zu fällen, Fakten zu interpretieren,<br />

Entscheidungen zu treffen und aus<br />

Erfahrungen zu lernen. Und ohne ihr<br />

Mitwirken bleibt von menschlicher Intelligenz<br />

lediglich die Fähigkeit zu rechnen,<br />

zu kombinieren, zu analysieren, Informationen<br />

zu speichern, kurz die Maschinen-<br />

Intelligenz (vgl. Gorz 2004: 89).<br />

Wissen in der skizzierten, auf Rationalität<br />

verkürzten Form dient der Verwertbarkeit<br />

und korreliert nicht mit<br />

Intellektualität. Sinnfragen werden ausgeklammert<br />

und „die aus politischer Sicht<br />

wesentlichen Fragen, die sich eine Gesellschaft<br />

stellen muss: Welche Kenntnis-<br />

2000 Zeichen<br />

wach zu sein. Besonders in Krisenzeiten,<br />

erfordern diese doch spektakuläre<br />

Veränderungen zur Aufrechterhaltung<br />

des Schlafes. So ist das Spektakel<br />

als konkrete Verkehrung des Lebens<br />

die autonome Bewegung des Leblosen.<br />

Und „it’s time for a change“ als<br />

die perfekte Waffe des Spektakels,<br />

welches es zu nichts anderem bringen<br />

will als zu sich selbst.<br />

All ihr Spezialisten des Überlebens,<br />

es gilt nicht aufgrund der Not,<br />

der Gefährdung des vertrauten Schlafes,<br />

zu kämpfen, sondern für unsere<br />

Begierden, für die Umkehrung des<br />

Verkehrten. Wir wollen nicht den<br />

Mangel an Leben prolongieren, sondern<br />

die Welt verändern und das Leben<br />

neu erfinden. Dies ist von einer<br />

gewissen hedonistischen Berechnung<br />

nicht zu trennen. Irgendwann ist der<br />

Augenblick da, in dem die Leidenschaft<br />

und das Bewusstsein, dass eine<br />

andere Welt möglich ist, wieder zu<br />

wachsen beginnen. Nicht aufgrund<br />

der Not der Unterdrückten, sondern<br />

aufgrund unseres unwiderstehlichen<br />

Verlangens nach Leben.<br />

Bis dahin schlafwandelt weiter zu<br />

euren bewegenden Veränderungen,<br />

damit das Überleben weitergeht wie<br />

bisher!<br />

Ihr könnt mich mal!<br />

R.T.<br />

abwärts<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT 39<br />

se brauchen oder wünschen wir? Was ist<br />

wissenswert?“ (Gorz 2004: 89) werden<br />

ignoriert. Die dem Wissen innewohnende<br />

Potenz, Menschen zu befähigen, sich<br />

über ihre bloße Kreatürlichkeit zu erheben<br />

und Autonomie zu gewinnen, hat dabei<br />

keine Bedeutung. Im Sinne der von<br />

Erich Fromm entwickelten Dichotomie<br />

von „Haben und Sein“ (Fromm 1979)<br />

zielt ein an formellem Wissen ausgerichtetes<br />

Lernen nicht auf eine Erweiterung<br />

des Bewusstseins und verändertes „Sein“,<br />

sondern darauf, Lernende zu „Besitzern“<br />

von Wissen zu machen – gelungene Lernprozesse<br />

beweisen sich darin, dass die ihnen<br />

Unterworfenen nachher mehr Wissen<br />

„haben“ als vorher. Lernende werden dabei<br />

als zwar hochkomplexe und entsprechend<br />

schwierig zu steuernde, nichtsdestotrotz<br />

aber programmierbare Maschinen<br />

behandelt. Mit unterschiedlichsten methodischen<br />

Arrangements wird versucht,<br />

ihr Aufnahme- und Behaltevermögen<br />

zu optimieren und sie möglichst gut mit<br />

Wissen zu „füllen“. Das Ziel besteht darin,<br />

sie für Arbeitsprozesse verwertbar zu<br />

machen und dem gesellschaftlichen Status<br />

quo anzupassen (vgl. insbesondere<br />

Freire 1973). Methodisch geschickt werden<br />

ihnen Informationen sowie Methoden<br />

zu deren instrumentellen Verarbeitung<br />

„übermittelt“, wodurch sie befähigt<br />

werden sollen, eine mehr oder weniger<br />

hohe Position im Rahmen des gegebenen<br />

ökonomisch-gesellschaftlichen Systems<br />

einzunehmen, nicht jedoch dazu, dieses<br />

hinsichtlich seiner Prämissen und Folgen<br />

zu hinterfragen. Das strukturell eingeschriebene<br />

Ziel derartigen Lernens heißt<br />

Brauchbarkeit und Nutzen – ganz sicher<br />

nicht Selbstbestimmung oder (Eigen-)<br />

Sinn. Es geht nicht darum, durch den Erwerb<br />

von Wissen den Tatsachen der Welt<br />

gegenüber mündiger zu werden. Völlig<br />

konträr zu dem ursprünglich von Francis<br />

Bacon formulierten Ausspruch lautet die<br />

sich in derart ausgerichteten Unterrichtsystemen<br />

tatsächlich verwirklichende Parole:<br />

„Ohnmacht durch Wissen“!<br />

Für das reibungslose Funktionieren der<br />

Industriegesellschaft war es erforderlich,<br />

zumindest dem Großteil der Bevölkerung<br />

eine derart entfremdete Haltung gegenüber<br />

Wissen „anzuerziehen“. Lernen<br />

als „Akt der Unterwerfung“ unter die als<br />

unhinterfragbar wahrgenommenen sogenannten<br />

„Erfordernisse“ von Gesellschaft<br />

und Arbeitswelt bildete eine ganz<br />

wesentliche sozialisatorische Grundlage<br />

der Massenloyalität gegenüber dem ökonomisch-politischen<br />

System. Indem das<br />

Bewusstsein der Menschen dahingehend<br />

geprägt wurde, sich bloß als Speichermedium<br />

und Maschine zur bewusstlosrationalen<br />

Verarbeitung von Wissen zu<br />

begreifen, diesem also nur in instrumenteller<br />

Form gegenüberzustehen, „lernten“<br />

sie auch, sich als „bewusstlose Funktionsträger“<br />

im ökonomisch-gesellschaftlichen<br />

System wahrzunehmen. Auf diese<br />

Art konnte zum einen der im modernen<br />

Industriekapitalismus rasch anwachsende<br />

Bedarf nach Arbeitskräften befriedigt<br />

werden, die in der Lage waren, Arbeitsprozesse<br />

im Sinne des aktuellen Wissensstandes<br />

fachlich qualifiziert durchzuführen.<br />

Zum anderen war es damit möglich,<br />

immer mehr Menschen zu immer höheren<br />

formalen Bildungsabschlüssen zu<br />

führen sowie die „Quellen des Wissens“<br />

weitgehend zu demokratisieren, ohne<br />

dass das nunmehr auf breiter Basis verfügbare<br />

Wissen eine subversive, systemsprengende<br />

Kraft entfaltete.<br />

Der digitale Kapitalismus erfordert<br />

eine neue Form der Zurichtung der<br />

Menschen<br />

Wie schon erwähnt, nimmt die Bedeutung<br />

des Menschen als Träger formellen<br />

Wissens ab. Die IKT machen es möglich,<br />

die für Produktion und Verwaltung<br />

erforderlichen, bisher an das „Trägermedium<br />

Mensch“ gebundenen Kenntnisse<br />

und Fertigkeiten manueller und kognitiver<br />

Art in anwachsendem Maß vom<br />

Menschen getrennt in Form von Software<br />

zu speichern und als Maschinen-Wissen<br />

abzurufen. Daraus leiten sich zwei Effekte<br />

ab: Zum einen nimmt der Bedarf an<br />

menschlichen Arbeitskräften insgesamt ab<br />

und zum anderen sehen sich die weiterhin<br />

gebrauchten Arbeitskräfte mit nachhaltig<br />

veränderten Qualifikationsanforderungen<br />

konfrontiert. Ursache dafür ist, dass<br />

die IKT den Menschen nämlich keineswegs<br />

generell ersetzen können. Tätigkeiten,<br />

die durch die „neuen“ Technologien<br />

nicht substituiert werden können und<br />

deshalb weiterhin von Menschen ausgeübt<br />

werden müssen, sind solche, die Kreativität<br />

erfordern und/oder einen starken Beziehungsaspekt<br />

beinhalten – alles in allem<br />

Tätigkeiten, bei denen sich Professionalität<br />

nicht durch das Umsetzen eingelernter<br />

Verhaltensweisen beweist, sondern darin,<br />

dass aus einer verinnerlichten Haltung<br />

heraus gehandelt wird. Für alle formalisierbaren<br />

– normbezogenen – Arbeitsaufgaben<br />

können in letzter Konsequenz<br />

IKT eingesetzt werden, d.h. für alle, die<br />

sich in Form eines mathematischen Ablaufschemas<br />

abbilden lassen. Somit müssen<br />

mit deren fortschreitender Implementierung<br />

von menschlichen Arbeitskräften<br />

zunehmend nur mehr fallbezogene Aufgaben<br />

durchgeführt werden. Darunter sind<br />

Aufgaben zu verstehen, die nicht formalisierbar<br />

sind, weil sie von Fall zu Fall ein<br />

spezifisches Vorgehen erfordern und nicht<br />

im Sinne antrainierter Routine, sondern<br />

nur auf Grundlage von besonderen sozialen<br />

und emotionalen Kompetenzen bzw.<br />

Kreativität, Intuition oder Empathie der<br />

sie Verrichtenden bewältigt werden können.<br />

Derartige Aufgaben können nicht<br />

ausgeführt werden, indem bloß getan<br />

wird, was im Rahmen einer Ausbildung<br />

erlernt wurde – hier gilt es aus einer verinnerlichten<br />

Einstellung heraus, gewissermaßen<br />

autonom zu handeln. (Anzumerken<br />

ist hier, dass auch bisher schon z.B. in<br />

Lehr-, Sozial-, Therapie- und Pflegeberufen<br />

in hohem Maße fallbezogene Arbeiten<br />

durchzuführen waren. Typischerweise<br />

werden diese Menschen auf ein<br />

besonders hohes Berufsethos verpflichtet<br />

– es wird von ihnen erwartet, dass sie die<br />

Motivation für ihren Beruf nicht primär<br />

aus der – meist sowieso eher niedrigen –<br />

Bezahlung schöpfen, sondern aus dem<br />

Wunsch, „etwas Gutes“ tun zu wollen.)<br />

Jene Tätigkeiten, die trotz der in den<br />

letzten Jahrzehnten geschaffenen technologischen<br />

Möglichkeiten auch weiterhin<br />

von Menschen durchgeführt werden<br />

müssen, enthalten einen wachsenden<br />

Anteil eines spezifischen Vermögens, das<br />

zwar sehr häufig als „Wissen“ apostrophiert<br />

wird, die im Alltagsbewusstsein<br />

bestehende Dimension dieses Begriffs tatsächlich<br />

aber weit überschreitet. „Es geht<br />

nicht mehr nur um ,know what‘, also um<br />

die Anwendung kodifizierten Faktenwissens<br />

durch die Arbeitskräfte, sondern um<br />

darüber hinausgehende Qualifikationselemente“,<br />

sogenannte „tacit skills“ (unterschwellige<br />

Fähigkeiten), verschiedentlich<br />

– eher unscharf – auch als Know how bezeichnet.<br />

Darunter lassen sich „alle Formen<br />

des impliziten und informellen bzw.<br />

des Erfahrungswissens der Arbeitskräfte<br />

wie auch ihre Fähigkeit zur Kommunikation<br />

und Kooperation im Produktionsprozess“<br />

(Atzmüller 2004: 598) subsumieren.<br />

„Gefragt sind Erfahrungswissen,<br />

Urteilsvermögen, Koordinierungs-, Selbstorganisierungs-<br />

und Verständigungsfähigkeit,<br />

also Formen lebendigen Wissens,<br />

die (…) zur Alltagskultur gehören. Die<br />

Art und Weise, wie Erwerbstätige dieses<br />

Wissen einbringen, kann weder vorbestimmt<br />

noch anbefohlen werden. Sie<br />

verlangt ein Sich-selbst-Einbringen, in<br />

der Managersprache ,Motivation‘ ge-<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


40 ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT<br />

nannt“ (Gorz 2004: 9). Die Fähigkeiten,<br />

die Arbeitnehmer für die Bewältigung<br />

der technologisch nicht substituierbaren<br />

Tätigkeiten brauchen, gehen über formal<br />

erlernbare wissenschaftlich-technische<br />

Kenntnisse und Qualifikationen im klassischen<br />

Sinn weit hinaus und übersteigen<br />

das in Schulen und Ausbildungsgängen<br />

traditionell erlernte formelle (Fach-)Wissen<br />

bei weitem. Derartige Aufgaben erfordern<br />

in hohem Maß Wissensformen,<br />

die nicht formalisierbar und deshalb systematisch<br />

auch nur sehr eingeschränkt<br />

lehrbar sind. Es handelt es sich dabei um<br />

„informelles Wissen“ (André Gorz), das<br />

seinem Träger nicht bloß „oberflächlich<br />

anhaftet“ sondern ihn als Individuum<br />

„betrifft“ und nachhaltig verändert.<br />

Wie fallbezogene Aufgaben zu erfüllen<br />

sind, lässt sich – ihrer Nicht-Formalisierbarkeit<br />

entsprechend – nicht an<br />

normierbaren Maßstäben der Arbeitserbringung<br />

messen, entzieht sich damit in<br />

letzter Konsequenz auch einer wirksamen<br />

Überwachung durch Kontrollorgane.<br />

Wie in derartigen Bereichen menschlichen<br />

Handelns vorzugehen ist, kann<br />

nicht anbefohlen oder kontrolliert werden,<br />

genau deshalb aber in traditioneller<br />

Form auch nicht gelehrt werden. Dass<br />

Schulen und Ausbildungsstätten sich in<br />

nahezu allen „entwickelten Ländern“ seit<br />

Jahren in einer Dauerkrise befinden und<br />

tiefgreifenden Veränderungsprozessen<br />

unterworfen sind, die Rolle und Funktion<br />

der Lehrenden in öffentlichen Bildungseinrichtungen<br />

von den verschiedensten<br />

Seiten kritisiert wird, sowie<br />

permanent neue Lernkulturen und die lebenslange<br />

Bereitschaft zum Weiterlernen<br />

eingefordert werden, hat im Kern genau<br />

mit diesem Wandel des Anforderungsprofils<br />

in der Arbeitswelt zu tun. Nicht<br />

zufällig fokussiert die Kritik am „traditionellen“<br />

schulischen Lernen sehr stark die<br />

dabei übliche Rolle des Lehrers/ der Lehrerin<br />

als zentraler Vermittlungsfigur von<br />

Lehrstoff und Hersteller/in von Lerndisziplin<br />

sowie den Umstand, dass in der<br />

Schule alle Schüler/innen im Gleichtakt<br />

dieselben Inhalte zu lernen und bei Prüfungen<br />

zu reproduzieren hätten. Das Argument,<br />

dass sich Lehrer/innen von ihrer<br />

traditionellen inhaltszentrierten Rolle<br />

verabschieden und zu Prozessmanager/<br />

innen selbstbestimmter Lernprozesse ihrer<br />

Schüler/innen – zu Lerncoaches, wie<br />

es verschiedentlich heißt – werden sollen,<br />

baut letztendlich – meist allerdings wohl<br />

eher unreflektiert – auf der Erkenntnis<br />

auf, dass sich die skizzierten neuen Anforderungen<br />

der Arbeitswelt tatsächlich systematisch<br />

nicht „vermitteln“ lassen. Deshalb<br />

muss sich die Schule von einem Ort<br />

der planmäßigen Vermittlung brauchbar<br />

machenden Wissens zu einem wandeln,<br />

wo es in erster Linie um die Sozialisierung<br />

von Heranwachsenden zum „unternehmerischen<br />

Selbst“ geht. Und dieses „fabriziert<br />

man nicht mit den Strategien des<br />

Überwachens und Strafens, sondern indem<br />

man ihre Selbststeuerungspotenziale<br />

aktiviert“ (Bröckling 2007: 61).<br />

Wenn das Sich-selbst-Einbringen als<br />

die Bereitschaft, unaufgefordert und unbeaufsichtigt<br />

im Sinne des unternehmerischen<br />

Verwertungsprozesses aktiv zu<br />

werden, zur wichtigsten Arbeitstugend<br />

avanciert, reicht es nämlich nicht mehr<br />

aus, als „brave/r Arbeitnehmer/in“ – den<br />

unternehmerischen Vorgaben entsprechend<br />

– antrainiertes Wissen und Können<br />

„zur Verfügung zu stellen“. Dazu<br />

sind Arbeitskräfte erforderlich, die gelernt<br />

haben, die Dimensionen der Verwertungslogik<br />

aus eigenem Antrieb auf sich<br />

anzuwenden und die nicht von der „antiquierten“<br />

Vorstellung eines grundsätzlichen<br />

Interessenswiderspruchs von Arbeit<br />

und Kapital angekränkelt sind; Menschen<br />

also, die gelernt haben, sich selbst<br />

(bloß noch) als Humankapital wahrzunehmen<br />

und freiwillig, ohne permanente<br />

Kontrolle, im Sinne der Verwertungsvorgaben<br />

aktiv zu werden. Dafür ist eine<br />

Einstellung notwendig, die mit dem Bewusstsein,<br />

(bloß) „Arbeit-Nehmer/in“ zu<br />

sein, der/die seine/ihre mehr oder weniger<br />

qualifizierte Arbeitskraft einem „Arbeit-Geber“<br />

über eine beschränkte Zeit<br />

zur Verfügung stellt und dafür eine vorab<br />

definierte Entlohnung und ein gewisses<br />

Maß an sozialer Sicherheit erwarten darf,<br />

nicht kompatibel. Vor allem bedarf es<br />

dazu Menschen, die nicht in der Vorstellung<br />

verhaftet sind, sich der Verwertung<br />

als Arbeitskraft nur aus der Not eines<br />

sonst nicht gesicherten adäquaten Überlebens<br />

zu unterwerfen, das „gute Leben“<br />

aber außerhalb der Verwertungssphäre<br />

ansiedeln. Nur wer zwischen Leben<br />

und Verwertung nicht mehr (zu) unterscheiden<br />

(ver)mag, ist bereit, sich auf seine<br />

Selbstvermarktung voll und ganz einzulassen<br />

und diese auch noch selbständig<br />

voranzutreiben. Damit ist nicht bloß gemeint,<br />

fremdbestimmter Arbeit positive<br />

Aspekte abzugewinnen und daraus – zumindest<br />

in Teilbereichen – Befriedigung<br />

zu schöpfen. Es geht um viel mehr, nämlich<br />

um die Herausbildung einer Persönlichkeit,<br />

die sich über ihre Verwertbarkeit<br />

definiert; um Menschen, die sich selbst nur<br />

mehr im Spiegel des Marktwerts wahrzunehmen<br />

imstande sind und dementsprechend<br />

nicht eine grundsätzlich gegebene<br />

menschliche Würde für sich reklamieren,<br />

sondern sich – in Abhängigkeit von ihrem<br />

beruflich-materiellen Erfolg – bloß<br />

noch als mehr oder weniger „wert-voll“<br />

empfinden können (und wollen).<br />

Das neue Lernen untergräbt die<br />

Möglichkeit von Bildung noch mehr<br />

als das alte<br />

Galt bisher die deklarierte Bereitschaft,<br />

jede Arbeit annehmen zu wollen, als Höhepunkt<br />

der Unterwerfungsgeste unter das<br />

System der Arbeitskraftverwertung, beweist<br />

eine derartige Aussage heute bloß,<br />

die Lektion noch immer nicht ausreichend<br />

begriffen zu haben. Nun geht es<br />

darum, auf die Vermarktung seiner selbst<br />

als Arbeitskraft „proaktiv“ zuzugehen<br />

und diese, sowie die Bedingungen, unter<br />

denen diese stattfindet, voll und ganz<br />

zu antizipieren. Unter diesen Umständen<br />

wird die Befähigung und das Wecken<br />

der Bereitschaft zur Selbstvermarktung<br />

selbstverständlich zum primären Ziel der<br />

Beeinflussung der Subjekte durch organisierte<br />

Lernprozesse. Schon Heranwachsende<br />

müssen das Bewusstsein ausbilden,<br />

Human-Kapital (und sonst gar nichts) zu<br />

sein und für dessen Reproduktion, Modernisierung,<br />

Erweiterung und Verwertung<br />

als „Geschäftsführer ihres eigenen<br />

Lebens“ die Verantwortung zu tragen.<br />

Sie müssen die Konkurrenzlogik verinnerlichen<br />

und lernen, sich ohne Zwang so<br />

zu verhalten, wie es die Wettbewerbsfähigkeit<br />

des Unternehmens, das sie selbst<br />

sind, erforderlich macht. Ganz in diesem<br />

Sinn fokussieren „fortschrittliche“ Schulprogramme<br />

neuerdings in abnehmendem<br />

Maß kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten,<br />

stattdessen aber zunehmend die<br />

Vermittlung sogenannter „Handlungskompetenzen“.<br />

Zwar wird nur selten der<br />

Versuch gemacht, den dabei verwendeten<br />

Begriff „Kompetenz“ einer bildungstheoretisch<br />

legitimierten und stringent<br />

nachvollziehbaren Bestimmung zuzuführen<br />

(dazu ausführlich Müller-Ruckwitt<br />

2008), bei kritischer Durchsicht der<br />

entsprechenden Appelle ist allerdings<br />

schnell klar, dass damit ganz wesentlich<br />

die Fähigkeit und Bereitschaft zur Adaption<br />

an die Prämissen der Selbstvermarktung<br />

angesprochen wird. Im Gegensatz<br />

zum Qualifikationsbegriff, der eng mit<br />

den konkreten Anforderungen bestimmter<br />

Berufe und Tätigkeiten verknüpft war<br />

und erst in Form der „Schlüsselqualifikationen“<br />

eine berufsübergreifende Er-<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT 41<br />

weiterung erfahren hatte, ist der Kompetenzbegriff<br />

eher „subjektzentriert“ und<br />

„zeichnet sich vor allem durch das Merkmal<br />

,selbst organisiert‘ aus“ (Höhne 2006:<br />

300). Er fokussiert allgemeine Dispositionen<br />

von Menschen, die zu einer – im Sinne<br />

der historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten<br />

– adäquaten Bewältigung<br />

der lebensweltlichen Anforderungen erforderlich<br />

sind. In entsprechenden bildungspolitischen<br />

Absichtserklärungen<br />

wird immer wieder explizit auf Selbstlern-<br />

und Selbstorganisationsfähigkeit<br />

sowie Selbständigkeit und Selbstverantwortung<br />

Bezug genommen. Besonders<br />

die Fähigkeit zur Selbstorganisation wird<br />

dabei immer wieder als elementar für das<br />

Bestehen in den neuen Arbeits- und Produktionsverhältnissen<br />

hervorgehoben.<br />

Lernen wandelt sich, wie Anna<br />

Tuschling in einem Text zum Lebenslangen<br />

Lernen zusammenfasst, zunehmend<br />

zu einer „Technik der Selbstführung<br />

mit dem Telos eines umfassenden<br />

Wandlungs- und Anpassungsvermögens“.<br />

Da Informationen mit Hilfe der<br />

Schreckstellungen zu Scheuringer<br />

und seinen Kontrahenten<br />

Gewissheit hat ein Ablaufdatum,<br />

Anlaufdatum nicht minder. Gewissheit<br />

hat eine Bandbreite der Belastung<br />

und der Zustimmung, hat etwas<br />

von einem Pass oder ist ein Schlüssel,<br />

der Zugänge und Übergänge erlaubt.<br />

Gewissheit wird erzeugt, grenzt ein<br />

und aus. Wenn Gewissheiten aneinander<br />

geraten, ist dann Feuer am<br />

Dach oder Wasser im Keller?<br />

Gewissheit hat Machart, je nachdem,<br />

woraus sie besteht, wofür sie gebraucht<br />

wird. Von der Gewissheit bis<br />

zur Ungewissheit gibt es eine Skala,<br />

zu der Vermutung, Ahnung, Zweifel<br />

gehören. Mathematisch erscheint sie<br />

als Wahrscheinlichkeit. Sogar da, in<br />

den Gefilden formaler Eineindeutigkeit<br />

gibt es gegensätzliche Ansichten<br />

und Vorgangsweisen betreffend den<br />

Gegensatz zwischen Übergang (Analogie)<br />

und Stufe (Diskretion). Der<br />

Zwang, sich für eine oder eine gegensätzliche<br />

Lösung zu entscheiden,<br />

ist ein eigenes Problem: Wer oder<br />

was erzeugt diesen Zwang, wie äußert<br />

er sich, wie wirkt er auf die gegnerischen<br />

Entscheidungen und deren<br />

2000 Zeichen<br />

Umstände und Bedingungen.<br />

Einige Volksweisheiten geben dazu<br />

Hinweise: „Wenn zwei sich streiten,<br />

freut sich der Dritte“, ist eine solche.<br />

In der auslösenden Kontroverse (vgl.<br />

<strong>Streifzüge</strong> Nr. 43-46) über die Bedeutung<br />

des Rausches wird deutlich, was<br />

alles dabei zu Tage kommt und unter<br />

den Teppich gekehrt oder dort vermutet<br />

wird. Nicht selten sind solche<br />

Differenzen stellvertretend für nicht<br />

Zugegebenes oder nicht Eruierbares.<br />

Genauso oft sind sie immanent, sind<br />

nicht eindeutig lösbar oder sind aneinander<br />

räumlich, zeitlich, öffentlich<br />

oder privat gebunden. Oft genug liegt<br />

die Entscheidungsmöglichkeit auf einer<br />

anderen Ebene, in einem anderen<br />

Bereich usf. Das Trennende und<br />

das Gemeinsame von Streit in unterschiedlichster<br />

Form, Bedeutung und<br />

Wirkung stellt sich als Hintereinander<br />

heraus. „Unkenntnis schützt vor<br />

Strafe nicht“, gilt ja genauso umstritten<br />

wie die Differenzen über Schuld<br />

und Sühne. Zu allen Fällen sind daher<br />

die unterscheidenden und einigenden<br />

Faktoren möglichst präzise zu definieren.<br />

Da ist dann mehr zu gewinnen<br />

als der Streit.<br />

P.P.<br />

abwärts<br />

Technik heute ohnehin jederzeit abrufbar<br />

sind, rückt das Was – der Wissensinhalt<br />

– zugunsten der Prozesshaftigkeit<br />

und des Wie des Wissenserwerbs immer<br />

mehr in den Hintergrund. „Was zählt ist<br />

die Kompetenz, sich in der entgrenzten<br />

„Wissensgesellschaft“ zurechtzufinden,<br />

das heißt Wichtiges von Unwichtigem<br />

unterscheiden, Pfade durch den Informationsdschungel<br />

schlagen und sich fortwährend<br />

auf Neues einstellen zu können.<br />

Übersetzt in die Sprache der Computer:<br />

Auf das Betriebssystem und die Software,<br />

nicht auf das Content-Management<br />

kommt es an. Der Lehrende wird zum<br />

Katalysator (scheinbar Anm. E.R.) autonomer<br />

Lernprozesse, Unterrichten zum<br />

Beraten, Vermitteln und Mentoring“<br />

(Tuschling 2004: 155, 158). Auch der<br />

Lernbegriff selbst erfährt mit der Umdeutung<br />

von Lernen zu einem Prozess<br />

der Selbstmodellierung im Sinne der Prämissen<br />

des Selbstunternehmertums eine<br />

massive Ausweitung. „Er bezieht sich auf<br />

organisiertes wie nichtorganisiertes, institutionelles<br />

wie nichtinstitutionelles, formelles<br />

wie informelles Lernen; er richtet<br />

sich ohne Ausnahme an alle und jeden;<br />

er stellt nicht nur den Anspruch an Einzelne,<br />

ein Leben lang zu lernen, sondern<br />

propagiert die „lernende Gesellschaft“.<br />

(…) An die Stelle ehemaliger Curricula<br />

[tritt] ein fragmentiertes Lernangebot:<br />

modularisierte, atomisierte Einzelkomponenten,<br />

die je nach Bedarf aneinander<br />

angeschlossen oder ausgetauscht werden<br />

sollen. Ihren Zusammenhang stiftet keine<br />

kritische Bildungstheorie, sondern der<br />

jeweils erwünschte pragmatische Effekt“<br />

(Pongratz 2006: 167). Seine Legitimation<br />

bezieht das informelle, selbstgesteuerte<br />

und selbstorganisierte Lernen nicht aus<br />

der allen traditionellen Bildungstheorien<br />

immanenten Vorstellung eines durch die<br />

reflektierte Auseinandersetzung mit den<br />

Tatsachen der Welt zunehmend zu seiner<br />

Reife gelangenden Menschen, sondern<br />

aus der Vorstellung, dass sich die<br />

Zielsetzung menschlicher Existenz darin<br />

erschöpft, unter gegebenen gesellschaftlichen<br />

Bedingungen möglichst erfolgreich<br />

„über die Runden“ zu kommen, indem<br />

man sein Dasein als Unternehmen betrachtet,<br />

dessen Kurswert durch eine mittels<br />

Lernen erreichte geschickte Positionierung<br />

am Marktplatz des Lebens positiv<br />

oder negativ beeinflusst werden kann.<br />

„Die Entfremdung und Ausbeutung<br />

des Menschen findet im 21. Jahrhundert<br />

nicht mehr über autoritäre politische<br />

Strukturen oder politische Ideologien<br />

statt, sondern über eine neue pädagogische<br />

Ideologie, die da heißt: lebenslanges<br />

und selbstorganisiertes Lernen“ (Hufer/<br />

Klemm 2002: 101). Ziel des „neuen Lernens“<br />

ist das Heranbilden des „flexiblen<br />

Menschen“ (Sennett 2006), den seine<br />

nachgiebige, formbare Identität nicht<br />

bloß dazu befähigt, sich ganzheitlich den<br />

wechselnden Anforderungen der informations-<br />

und kommunikationstechnologisch<br />

dominierten Arbeitswelt zu unterwerfen,<br />

sondern der die ihm zugemuteten<br />

Bedingungen der Verwertung gar nicht<br />

erst als Entfremdung wahrnimmt. In diesem<br />

Sinn geht es im sogenannten Bildungswesen<br />

nicht um die intellektuelle<br />

Auseinandersetzung mit den (neuen)<br />

Anforderungen im System der Arbeitskraftverwertung,<br />

sondern um das Herausbilden<br />

der Bereitschaft, mit diesem in<br />

einer „bejahenden Form“ umzugehen, es<br />

geht um das Erwerben gesellschaftsadäquater<br />

„Überlebensstrategien“, um „Cleverness“,<br />

nicht um Widerstand, der den<br />

gesellschaftlichen Zumutungen entgegengesetzt<br />

werden könnte. Selbstverständlich<br />

war es – wie schon ausgeführt<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


42 ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT<br />

– auch in Zeiten des Industriekapitalismus<br />

nicht das Ziel des Schul- und Ausbildungswesens,<br />

widerständige Potentiale<br />

zu wecken, allerdings wandelt sich mit<br />

dem Bedeutungsverlust des Menschen als<br />

Träger formellen Wissens die Funktion<br />

organisierter Lernbemühungen noch<br />

einmal grundlegend. Das als Bildungswesen<br />

bezeichnete System der organisierten<br />

Anpassung von Menschen an die<br />

„Anforderungen der Gesellschaft“ hat<br />

nun nicht mehr in erster Linie die Aufgabe<br />

der Weitergabe brauchbar machenden<br />

Wissens, eines Wissens, das – im Widerspruch<br />

zur Form seiner üblichen Vermittlung<br />

– immerhin die Grundlage mündig<br />

machender Bildung abgeben kann.<br />

Wenn mit Arbeitskräften, die sich ihrer<br />

Verwertung bloß unterwerfen, zunehmend<br />

„kein Geschäft mehr zu machen“ ist, sondern<br />

solche erforderlich werden, die ihr<br />

Verwertungspotential aus eigenem Antrieb<br />

aktivieren, dann wird es zur primären<br />

Aufgabe des Schulsystems, eine derartige<br />

Haltung bei den Besuchern hervorzubringen.<br />

Es ist nicht so sehr die Tatsache der<br />

„Zurichtung für die Verwertung“, die<br />

somit die großartige Neuigkeit hinter<br />

dem gegenwärtig an allen Ecken und Enden<br />

stattfindenden Umbau des Bildungswesens<br />

darstellt – diese war auch bisher<br />

schon die oberste Prämisse des Bildungswesens.<br />

Bildung als die Befähigung von<br />

Menschen, potenziell dagegen, eigensinnig<br />

und herrschaftskritisch zu sein sowie<br />

gegebene Tatsachen, unabhängig von<br />

ökonomischen Nützlichkeitserwägungen,<br />

hinterfragen zu können, stellte im<br />

System gesellschaftlich organisierter Beschulung<br />

auch bisher bestenfalls den ideologischen<br />

Überbau dar. Allerdings war<br />

das Bildungswesen bisher notgedrungen<br />

Hauptlieferant der Ressource Wissen,<br />

die, entgegen der hinter ihrer Vermittlung stehenden<br />

Absicht, zur Grundlage von (echter)<br />

Autonomie, kritischer Distanz und<br />

Mündigkeit werden konnte. Die Notwendigkeit<br />

der systematischen Wissensvermittlung<br />

verunmöglichte ein wirklich<br />

konsequentes Hintanhalten von Bildung<br />

und schuf die Möglichkeit, dass – zumindest<br />

fallweise und in Teilaspekten – „Bildung<br />

trotz Schule“ (Fischer 1978: 178)<br />

stattfinden konnte. Der derzeit stattfindende<br />

Totalumbau des Bildungswesens,<br />

der sich in Maßnahmen der Veränderung<br />

der Lernorganisation, wie z.B. der<br />

Modularisierung oder dem sogenannten<br />

selbstverantwortlichen und selbstorganisierten<br />

Lernen, und in der zunehmenden<br />

Ausrichtung an ökonomisch determinierten<br />

Qualitätsvorgaben und zu erreichenden<br />

Standards inklusive der veränderten<br />

Verhaltenssteuerung der im Bildungswesen<br />

Tätigen widerspiegelt, untergräbt allerdings<br />

genau diese klammheimlich gegebene<br />

Möglichkeit der Verwirklichung<br />

von Bildung. Die durch Schulen, Ausbildungsstätten<br />

und Universitäten auch bisher<br />

schon zu erfüllende Funktion von<br />

Sozialisationsagenturen zur Herstellung<br />

von Warensubjekten erreicht durch die<br />

angesprochenen Maßnahmen des inneren<br />

und äußeren Strukturumbaus von<br />

Bildungsinstitutionen eine neue und<br />

deutlich nachhaltigere Dimension.<br />

Der mit dem Übergang vom Industrie-<br />

zum Informationskapitalismus einhergehende<br />

Totalumbau der Strukturen<br />

von Schulen, Universitäten und Erwachsenenbildungseinrichtungen<br />

zielt<br />

darauf ab, die Brauchbarkeit von Menschen<br />

auch unter den informationskapitalistisch<br />

veränderten Bedingungen der<br />

Verwertung aufrechtzuerhalten. Bildung<br />

ist aber nicht das Vermögen, sich einem<br />

System anzudienen und darin problemlos<br />

zu funktionieren; mit Bildung ist –<br />

im völligen Gegensatz dazu – die Selbstbefreiung<br />

des Menschen aus dem Kokon<br />

der Macht gemeint. Bildungsbemühungen,<br />

die diesen Namen zu Recht tragen,<br />

zielen somit auf die Entfaltung seiner widerständig-emanzipatorischen<br />

Potentiale.<br />

Das alles überstrahlende „Richtscheit<br />

des Werts“ ist mit einer derartigen Ausrichtung<br />

von Bildung allerdings niemals<br />

zur Deckung zu bringen. Die Befähigung<br />

zu Kritik, Widerstand und<br />

eigensinnigem Handeln umfasst alle an<br />

Menschen herangetragene Zumutungen<br />

der Ausrichtung des Lebens und macht<br />

selbstverständlich auch vor der Verwertungsprämisse<br />

nicht Halt. Logischerweise<br />

steht der gebildete Mensch zuallererst<br />

seiner eigenen Verwertung kritisch gegenüber.<br />

Im Sinne der skizzierten, im<br />

Informationskapitalismus zunehmend<br />

gegebenen Notwendigkeit der Identifizierung<br />

mit der Verwertungslogik, korreliert<br />

Bildung somit letztendlich mit einer<br />

Verringerung des (Markt-)Werts.<br />

Der gängigen Nomenklatur entsprechend<br />

muss Bildung – als die Ermächtigung<br />

des Menschen zum eigensinnigen<br />

Leben – somit als wert-los bezeichnet<br />

werden; Bildung hat keinen Wert!<br />

Literatur<br />

Atzmüller, Roland (2004): Qualifikationsanforderungen<br />

und Berufsbildung im Postfordismus.<br />

In: Bildung und Ausbildung.<br />

Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft,<br />

Jg. 34, Heft 137.<br />

Bünger, Carsten/ Mayer, Ralf/ Messerschmidt,<br />

Astrid/ Zitzelsberger, Olga (Hg.)<br />

(2009): Bildung in der Kontrollgesellschaft.<br />

Analyse und Kritik pädagogischer<br />

Vereinnahmung. Paderborn.<br />

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische<br />

Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform.<br />

Frankfurt a.M.<br />

Fischer, Wolfgang (1978): Schule als parapädagogische<br />

Organisation. Kastellaun.<br />

Freire, Paulo (1973): Pädagogik der Unterdrückten.<br />

Bildung als Praxis der Freiheit.<br />

Reinbeck b. Hamburg.<br />

Fromm, Erich (1979): Haben oder Sein.<br />

Die seelischen Grundlagen einer neuen<br />

Gesellschaft. München.<br />

Gorz, André (2001): Welches Wissen?<br />

Welche Gesellschaft? Textbeitrag zum<br />

Kongress „Gut zu Wissen“, Heinrich-<br />

Böll-Stiftung, 5/2001. http://www.wis<br />

sensgesellschaft.org/themen/orientierung/<br />

welchegesellschaft.html (Mai 2009)<br />

Gorz, André (2004): Wissen, Wert und Kapital.<br />

Zur Kritik der Wissensökonomie. Zürich.<br />

Höhne, Thomas (2006): Wissensgesellschaft.<br />

In: Dzierzbicka/Schirlbauer: Pädagogisches<br />

Glossar der Gegenwart, S. 297-305. Wien.<br />

Hufer, Klaus-Peter/ Klemm, Ulrich (2002):<br />

Wissen ohne Bildung? Auf dem Weg in die<br />

Lerngesellschaft des 21. Jahrhundert. AG<br />

SPAK Bücher – M 150 – Kleine Reihe,<br />

Neu-Ulm.<br />

Miegel, Meinhard (2001): Von der Arbeitskraft<br />

zum Wissen. Merkmale einer gesellschaftlichen<br />

Revolution. In: Merkur, 55/3.<br />

Müller-Ruckwitt (2008): „Kompetenz“ –<br />

Bildungstheoretische Untersuchungen<br />

zu einem aktuellen Begriff. Würzburg.<br />

Pongratz, Ludwig A. (2006): Lebenslanges<br />

Lernen. In: Dzierzbicka/Schirlbauer:<br />

Pädagogisches Glossar der Gegenwart,<br />

S.162-171. Wien.<br />

Sennet, Richard (2006): Der flexible<br />

Mensch. Die Kultur des neuen<br />

Kapitalismus. Berlin.<br />

Tuschling, Anna (2004): Lebenslanges<br />

Lernen. In: Bröckling/Krasmann/Lemke<br />

(Hg.): Glossar der Gegenwart, S.152-158.<br />

Frankfurt a.M.<br />

www.plagiat.biz<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


STEFAN MERETZ, GESELLSCHAFT 43<br />

Gesellschaft<br />

Immaterial World<br />

von Stefan Meretz<br />

Der Gesellschaftsbegriff wird nach<br />

Auskunft der Online-Enzyklopädie<br />

Wikipedia von Soziologinnen und<br />

Soziologen nicht mehr verwendet. Für<br />

eine kritische Theorie ist er unverzichtbar.<br />

Wie könnte eine sinnvolle Annäherung<br />

aussehen?<br />

Zunächst einmal ist festzustellen, dass<br />

sich eine Gesellschaft aus Menschen zusammensetzt.<br />

Diese Menschen nehmen<br />

unterschiedliche Rollen wahr, füllen bestimmte<br />

Funktionen aus und stehen zueinander<br />

in bestimmten Beziehungen,<br />

die schließlich als Ganzes die Gesellschaft<br />

ergeben. – Eine solche Beschreibung ist<br />

nicht falsch, obgleich total unterbelichtet,<br />

unabhängig davon, wie genau man<br />

die Rollen, Funktionen und Beziehungen<br />

auch beschreibt.<br />

Schauen wir genauer hin, zeigt sich, dass<br />

die einzelnen Menschen der Gesellschaft<br />

als „Nicht-Gesellschaft“ gegenüber stehen.<br />

Hier wird klar, dass die Gesellschaft<br />

nicht nur einfach die Summe der Individuen<br />

ist, sondern eine von den einzelnen<br />

Individuen unabhängige, eigene Funktionslogik<br />

besitzt. Zwar gilt noch immer,<br />

dass es ohne Individuen keine Gesellschaft<br />

gäbe, aber es ist nicht so, dass die<br />

Gesellschaft weniger oder mehr Gesellschaft<br />

wäre, wenn es weniger oder mehr<br />

Individuen gäbe. – Diese Sicht kommt der<br />

Wahrheit schon etwas näher, indem sie<br />

den System-Charakter von Gesellschaft<br />

versteht. Gleichzeitig hypostasiert sie ein<br />

spezifisches Verhältnis von Gesellschaft<br />

und Individuum als Entgegensetzung.<br />

Die Entgegensetzung ist im Kapitalismus<br />

tatsächlich Ausdruck der System-Reproduktion<br />

als etwas Abgetrenntes, dem Einzelnen<br />

als Fremdes Gegenüberstehendes.<br />

Weiter gedacht – jetzt bleiben wir<br />

beim Kapitalismus – erkennen wir neben<br />

der Entgegensetzung gleichzeitig auch<br />

Übergreifendes. Das Fremde ist in Wahrheit<br />

das Eigene, das uns als etwas Fremdes<br />

entgegentritt, obwohl wir es erschaffen.<br />

Der Kapitalismus verabsolutiert in seiner<br />

wertvermittelten Reproduktionslogik<br />

tatsächlich das Moment der Getrenntheit<br />

in einer Weise, dass die Marxsche Kennzeichnung<br />

des Kapitals als „automatisches<br />

Subjekt“ treffend ist. Doch der Automatismus<br />

ist gleichwohl nur ein Moment<br />

des gesellschaftlichen Zusammenhangs,<br />

zu dem ebenso die menschliche Tätigkeit<br />

gehört. In der Form der Arbeit ist sie<br />

dem Automatismus der Wertvermittlung<br />

untergeordnet, in der Form der individuellen<br />

Selbstentfaltung steht sie ihm entgegen.<br />

Das Individuum geht nicht in der<br />

Subalternität auf.<br />

Es gilt hier also, nicht in ein abstraktes,<br />

vereinfachendes Denken zurückzufallen<br />

und die Wert-Selbstverwertung als von<br />

uns real getrennte Systemlogik zu verabsolutieren,<br />

sondern zu erkennen, dass wir<br />

sie machen. Das, was uns entgegentritt,<br />

sind wir selbst, auch wenn es uns fremd<br />

ist. Dies erkannt ruft nach einer Perspektive,<br />

in der uns das Entgegentretende<br />

nicht das von uns abgetrennte Fremde ist,<br />

sondern das uns Vertraute, wir selbst.<br />

Gesellschaft ist nichts für sich Seiendes,<br />

sondern so wie die Menschen Moment<br />

des übergreifenden Gesellschaft-<br />

Mensch-Zusammenhangs. Es gilt stets,<br />

den Zusammenhang zu begreifen. Wer<br />

die Gesellschaft denken will, muss<br />

gleichzeitig den Menschen denken: Ohne<br />

einen Begriff des gesellschaftlichen Menschen<br />

keinen Begriff der menschlichen<br />

Gesellschaft – und umgekehrt. Genau<br />

genommen handeln beide Begriffe vom<br />

Gleichen, nur aus unterschiedlichen Perspektiven.<br />

Schneidet man ein Moment<br />

ab, wird jede Analyse schief. Das ist nicht<br />

nur ein Problem der bürgerlichen, sondern<br />

auch der kritischen Theorie.<br />

Der Kapitalismus ist keineswegs eine<br />

allgemeine, sondern nur eine historisch-spezifische<br />

Form des Gesellschaft-<br />

Mensch-Zusammenhangs. Es ist zwar<br />

richtig, dass erst der Kapitalismus den<br />

Vermittlungszusammenhang im planetaren<br />

Maßstab hergestellt hat, es wäre aber<br />

falsch daraus zu schließen, dass es vor dem<br />

Kapitalismus keinen allgemeinen Vermittlungszusammenhang<br />

gegeben hätte.<br />

Vor dem Kapitalismus waren es personale<br />

Abhängigkeits- und religiöse Fetischverhältnisse,<br />

über die die gesellschaftliche<br />

Vermittlung organisiert wurde. Die<br />

personalen Herrschaftsstrukturen waren<br />

gesellschaftlich allgemein, auch wenn sie<br />

regional völlig verschieden sein konnten.<br />

Eine Form der abstrakten Allgemeinheit,<br />

Gleichheit und Gleich-Gültigkeit war<br />

erst unter der unpersonalen Herrschaft<br />

der Wertvermittlung möglich.<br />

Aus diesen Überlegungen lassen sich<br />

Schlüsse für eine Perspektive der Aufhebung<br />

des Kapitalismus ziehen. Auf der<br />

Grundlage der bestehenden Vermittlungsformen<br />

ist Emanzipation nicht zu haben.<br />

Gleichzeitig kann sie nur dort beginnen.<br />

Mit diesem Widerspruch muss jeder (anti-)<br />

politische Ansatz umgehen. Voraussetzung<br />

ist, sich klar zu machen, was gesellschaftliche<br />

Vermittlung eigentlich bedeutet.<br />

Wir stellen unsere Lebensbedingungen<br />

gesellschaftlich her, und fast jeder individuelle<br />

Mensch hat daran in unterschiedlichem<br />

Ausmaß teil. Gesellschaftliches Herstellen<br />

und Teilhaben ist dabei so umfassend wie<br />

nur möglich zu verstehen, um nicht nur<br />

an die lohnarbeitsförmigen Tätigkeiten<br />

zu denken – es geht um alle Tätigkeiten,<br />

die in einer Gesellschaft gebraucht werden.<br />

Die Vermittlungsweise entscheidet darüber,<br />

was gebraucht werden darf.<br />

Im Kapitalismus ist die dominante, alle<br />

anderen Formen übergreifende Vermittlungsweise<br />

die der Wertvermittlung. Neben<br />

dieser existieren jedoch unübersehbar<br />

viele weitere Arten der Vermittlung,<br />

ohne die die dominante Form nicht existieren<br />

könnte. Während die Wertvermittlung<br />

etwa entscheidet, dass eine Tätigkeit<br />

„nicht gebraucht“ wird, weil sie<br />

auf keinen zahlungsfähigen Bedarf stößt,<br />

wird sie dennoch erledigt, weil sie tatsächlich<br />

doch gebraucht wird. Die – durch<br />

Zahlung nicht vermittelbaren, tatsächlich<br />

aber oft sogar dringend gebrauchten<br />

Tätigkeiten werden von der dominanten<br />

Vermittlungsform abgespalten und in den<br />

personal-regulierten Bereich verschoben:<br />

Familie, Ehrenamt, Nachbarschaften etc.<br />

Aus Sicht der wertvermittelten Produktion<br />

erscheint der abgespaltene Bereich<br />

nur als Reproduktion, obgleich dort<br />

genauso Lebensbedingungen hergestellt<br />

werden. Eine emanzipatorische Alternative<br />

muss folglich mehrere Fliegen mit einer<br />

Klappe schlagen: Sie hebt die Spaltung<br />

von Produktion und Reproduktion<br />

auf und stellt die gesellschaftliche Vermittlung<br />

auf die Grundlage der individuellen<br />

Entfaltung der Menschen. Gesellschaft<br />

und Individuum erscheinen nicht<br />

mehr als Gegensatz, wenn „die freie Entwicklung<br />

eines jeden die Bedingung für<br />

die freie Entwicklung aller ist“ (Manifest<br />

der Kommunistischen Partei, 1848).<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


44 LORENZ GLATZ, HOMO OECONOMICUS<br />

What we do matters<br />

ZU FRIEDERIKE HABERMANN: DER HOMO OECONOMICUS UND DAS ANDERE<br />

von Lorenz Glatz<br />

What we do matters“, ist der Schlusssatz<br />

des Buches. Derlei Sentenzen<br />

sagen oft einiges über Stimmung, Haltung<br />

und Perspektive, mit der die AutorInnen<br />

schreiben. Z.B. das „Dixi et salvavi animam<br />

meam“ am Ende von Marxens Kritik<br />

des Gothaer Programms, aus dem sein<br />

schon resignativer Frust über den Gang der<br />

deutschen Arbeiterbewegung spricht. Oder<br />

in den letzten Jahren der Satz „Die Gedanken<br />

sind frei, auch wenn sonst gar nichts<br />

mehr frei ist“ am Ende des Kurz’schen<br />

„Schwarzbuch Kapitalismus“ angesichts<br />

seiner Verzweiflung über das Nicht-Erscheinen<br />

einer mit „theoretischer Innovation“<br />

gerüsteten „Massenbewegung“ für einen<br />

„regelrechten Aufstand“.<br />

Emanzipatorischer Impetus<br />

Habermanns Klausel ist da weniger bewölkt.<br />

Sie sieht sich dem Geschehen nicht<br />

gegenüberstehen, sondern mittendrin, wo<br />

das, was eins selber tut, wie auch jenes, das<br />

wir unterlassen, den Gang unserer Geschichte<br />

macht. Es ist ein roter Faden in ihrem<br />

Text: Immer wieder tritt sie mit ihrem<br />

Anliegen vor den Vorhang der akademischen<br />

Bühne, auf der das Buch ihre Dissertation<br />

darstellt. Das vorherrschende Unerträgliche<br />

muss geändert, die Gesellschaft<br />

den Menschen angemessen(er) gemacht<br />

werden. Nur dazu muss untersucht werden,<br />

was ist, muss der Berg an Literatur abgetragen<br />

und den Gedanken der SchreiberInnen<br />

nachgegangen werden. Läge ihrer ungemein<br />

nüchternen Schreibweise nicht jede<br />

Melodramatik fern, könnte sie mit John<br />

Holloways („Die Welt verändern, ohne die<br />

Macht zu übernehmen“) poetischen Worten<br />

beginnen: „Im Anfang ist der Schrei“,<br />

das Gespür, „dass etwas mit der existierenden<br />

Welt radikal falsch ist“. Und: „Wir<br />

schreien, … weil wir davon träumen, uns<br />

zu befreien.“<br />

Es hat wirklich etwas von einem Tagtraum<br />

im guten Sinne Montaignes, wenn<br />

sich Habermann daran macht, eine Theorie<br />

der menschlichen Handlungsfähigkeit<br />

in den Strukturen der Unterdrückung<br />

zu entwickeln. Eine Theorie, die sich bei<br />

den teilweise recht inkompatiblen Herangehensweisen<br />

von Leuten wie Gramsci,<br />

Althusser, Foucault, Derrida, Hall, La-<br />

clau, Mouffe, Butler und vieler anderer aus<br />

deren disparaten Umkreisen bedient, um<br />

sie dahin abzufragen, was sie begrifflich<br />

für das Verstehen und das Abschaffen von<br />

Unterdrückung hergeben. Und wie sehr es<br />

dabei um Letzteres, um das Ändern, Sich-<br />

Emanzipieren geht, macht schon ihre Bemerkung<br />

klar, dass, wenn es eine kompakte<br />

Theorie (noch) nicht gibt, ein kritischer<br />

Eklektizismus durchaus angebracht sei.<br />

„Subjektzentrierte Hegemonietheorie“<br />

Diesen sperrigen Titel gibt Habermann<br />

dem Theoriestrang, den sie flechten<br />

will. Grob gesagt will sie die Stärke<br />

der (post)marxistischen Tradition in der<br />

Analyse der gesellschaftlichen Strukturen<br />

(den Struktur-Begriff bringt sie mit dem<br />

Marx’schen der Form zusammen) mit dem<br />

Fokus des „Poststrukturalismus“ und der<br />

Diskurstheorie(n) auf Subjekt, Identität und<br />

das darin befangene Individuum verbinden<br />

und deren Zusammenhang herausarbeiten.<br />

Geschichte lässt sich als determinierter<br />

Ablauf struktureller, herrschaftsförmiger<br />

ökonomischer Gesetzmäßigkeiten noch<br />

als Folge voluntaristischer Entscheidungen<br />

autonomer Subjekte befriedigend deuten.<br />

Strukturen und Subjekte mit ihren Identitäten<br />

sind ineinander verwoben und das<br />

eine ohne das andere nicht denkbar. Die gesellschaftlichen<br />

Formen der Herrschaft wirken<br />

auf die sozialen Prozesse und Kämpfe<br />

der Menschen. Umgekehrt aber existieren<br />

diese Strukturen nur als ein Ergebnis dieser<br />

Prozesse, als Ergebnis von Kämpfen um<br />

die Hegemonie, das sich als fragmentierter,<br />

widersprüchlicher Alltagsverstand in den<br />

Menschen sedimentiert und Handlungsmotiv<br />

wird. Das Leiden der „realen“ Menschen<br />

am Leben in den Strukturen der Herrschaft<br />

sowie die unvorhersehbaren Entwicklungen,<br />

die sich daraus ergeben, dass das „Reale“<br />

von den Diskursen nie erschöpfend fassbar<br />

ist, verhindern jedoch die identische<br />

Wiederholung von konformen strukturerhaltenden<br />

Handlungen. So verschieben sich<br />

immer wieder Strukturen und Identitäten,<br />

ändert sich der gesellschaftliche Alltagsverstand<br />

und entstehen neue Handlungsmöglichkeiten.<br />

Gesellschaftliche Veränderungen<br />

werden nicht erst als regelmäßige<br />

Lawine, sondern schon als unvorhersehbarer<br />

Schneeball wahrnehmbar – und sind<br />

teilnehmend zu beeinflussen.<br />

Habermanns Analysen enden daher nie<br />

im Gegenüber zu einer Revolution oder<br />

deren Ausläufern „soziale Widerstands-“<br />

und „Massenbewegung“. Sie reicht nicht<br />

die Theorie der gesellschaftlichen Zwangsformen<br />

gewissermaßen als Waffe zum voluntaristischen<br />

Gebrauch „hinüber“, sondern<br />

versteht die Analysanten ausdrücklich<br />

als Menschen, die selbst in den sozialen Formen,<br />

Subjektivierungsprozessen und eigenen<br />

Identitäten und Interessen befangen<br />

und im Denken, Fühlen und Handeln in die<br />

Strukturen der Herrschaft verwoben sind<br />

und in ihrem Horizont beengt werden.<br />

Ein Gedanke, der es wert wäre, auch in<br />

seinen Konsequenzen für den theoretischen<br />

Betrieb weitergedacht zu werden. Immerhin<br />

legt er Skepsis den eigenen Erkenntnissen<br />

gegenüber genauso nahe wie einen<br />

Zusammenhang zwischen theoretischen<br />

Fortschritten und den praktischen Bemühungen<br />

der Denkerinnen und Schreiber,<br />

aus der von der Lebensweise aufgeherrschten<br />

Konkurrenz, Indolenz und Konformität<br />

ein Stückchen herauszufinden (der Exkurs<br />

Habermanns zum Feminismus des<br />

stockbürgerlichen John Stuart Mill mag<br />

da durchaus eine Ermutigung sein). Damit<br />

wird auch die übliche lebenswirkliche<br />

Trennung von Theorie und Praxis und der<br />

alte Streit um die Farbenlehre, ob jene grau,<br />

grün oder golden sind, ein wenig in Frage<br />

gestellt. Dass Habermann diese Erkenntnis<br />

recht leicht fällt, hat wohl mit ihrem eigenen<br />

Leben zu tun, in dem die beiden klassischen<br />

Bereiche eng verquickt zu sein scheinen.<br />

Herrschaft ist eine Hydra<br />

Die im Buch diskutierten Formen sozialer<br />

Unterdrückung sind Kapitalismus, Sexismus<br />

und Rassismus. Habermann lehnt die<br />

in der marxistischen Tradition verbreitete<br />

Zurückführung jeder sozialen Herrschaftsmechanik<br />

auf das Kapitalverhältnis ab, das<br />

jene zumindest überformt und sich einverleibt<br />

habe und dessen Sturz jede andere<br />

Form von Unterdrückung erledigen werde.<br />

In zwei Durchgängen durch die Geschichte<br />

der kapitalistischen Wirtschaftstheorie<br />

und die „Hegemoniale(n) Entwicklungen<br />

der Identitätskonstruktionen“ stellt sie im<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


LORENZ GLATZ, HOMO OECONOMICUS 45<br />

Umfang eines mittleren Taschenbuchs dar,<br />

wie die diskutierten Formen sich verschlingen,<br />

gegenseitig fördern oder behindern,<br />

also „artikuliert“ (Laclau-Mouffe) existieren<br />

und sinnvoll nur in ihrer gemeinsamen<br />

Wirksamkeit betrachtet werden können.<br />

Genauso artikuliert sollten sie das Angriffsziel<br />

gesellschaftlicher Emanzipation<br />

sein, wird man – vermutlich ganz im Sinne<br />

der Autorin – hinzufügen können. Selektiv<br />

gegen Herrschaft vorzugehen lässt<br />

die Hydra unversehrt. Ihre abgeschlagenen<br />

Köpfe wachsen – in neuer Form vielleicht<br />

– nach. Habermann illustriert diesbezüglich<br />

anschaulich und ausführlich, wie im Ergebnis<br />

der bürgerlichen „Freiheit und Gleichheit“<br />

der weißen Männer in Frankreich und<br />

Amerika die Lage der Frauen und „Farbigen“<br />

bedeutend schlimmer war als zuvor.<br />

Inzwischen, so ist hier anzumerken, entpuppen<br />

sich auch die neuen bürgerlichen Herren<br />

„bloß“ als hochprivilegierte Büttel eines ungemein<br />

destruktiven Systemzwangs. Doch<br />

auch wenn dieser an den inneren Widersprüchen<br />

und am Widerstand der Menschen<br />

gegen die wachsenden Zumutungen sowie<br />

die sozialen und ökologischen Katastrophen<br />

zerbräche, wäre das allein noch keineswegs<br />

die Garantie einer besseren Welt.<br />

Ein Dilemma, das Habermann selbst<br />

benennt, sei noch angedeutet: Die von ihr<br />

analysierten Herrschaftsverhältnisse sind<br />

keineswegs die Einzigen. Sie selbst erwähnt<br />

u.a. „ageism“, die Diskriminierung<br />

der „unnützen“ Alten, die – wie vieles, das<br />

früher unter den doppelbödigen Begriff<br />

Fürsorge fiel – meist nicht einmal wahrgenommen<br />

wird. Alle diese Formen gehen<br />

ein in das vielfältig „artikulierte“ Institut<br />

der Herrschaft. Sie alle in eine Analyse<br />

einzubeziehen, ist einerseits unmöglich,<br />

andererseits aber können Auslassungen<br />

nicht ohne Auswirkung auf Erkenntnis<br />

und Emanzipation bleiben.<br />

Der homo oeconomicus und die<br />

Emanzipation<br />

In der europäischen Aufklärung beginnt<br />

sich der weiße, heterosexuelle Mann theoretisch<br />

und praktisch als Bourgeois und<br />

Citoyen zu konstituieren, indem andere<br />

Menschen als nicht-weiß, nicht-heterosexuell,<br />

nicht-männlich „erfunden“, identifiziert<br />

und ausgeschlossen werden. Mit der<br />

sich ausbreitenden kapitalistischen Logik<br />

entsteht im rationalen, nach Kosten und<br />

Nutzen kalkulierenden homo oeconomicus<br />

über Jahrhunderte ein neues hegemoniales<br />

Leitbild artikulierter Herrschaftsformen,<br />

wie Habermann ausführlich und<br />

überzeugend darlegt. Ursprünglich das<br />

Modell eines bürgerlichen Mannes, insofern<br />

er wirtschaftlich tätig war, ist er heute<br />

zum Inbegriff und Leitbild des Menschen<br />

überhaupt geworden.<br />

Dieses europäisch-männliche Ideal ist<br />

mittlerweile allerdings durch die Kämpfe<br />

um Emanzipation auch für die weiblichen,<br />

„farbigen“, schwulen etc. Identitäten<br />

offen, die durch den Ausschluss aus<br />

der hegemonischen Identität des „white<br />

heterosexual able-bodied man“ (wham)<br />

quasi erst erzeugt wurden. Da diese Entwicklung<br />

aber im Horizont von Herrschaft<br />

bleibt, entstehen daraus Paradoxien.<br />

Einerseits z.B. neuerlich aggressive Diskurse<br />

und Politiken eines biologisch-natürlichen<br />

Ausschlusses, andererseits Ansprüche,<br />

Eigenschaften zu verkörpern, die<br />

von einem Individuum selbst dann kaum<br />

einzulösen sind, wenn es den Startvorteil,<br />

ein „wham“ zu sein, mitbringt. Wobei<br />

noch hinzuzufügen wäre, dass diese<br />

Quasi-Virtualisierung und -Demokratisierung<br />

des Anforderungsprofils mit sich<br />

nunmehr seit Jahrzehnten verschärfenden<br />

Ansprüchen der Arbeit und Konkurrenz<br />

auf bald allen irgendwie ökonomisierbaren<br />

Gebieten des Lebens einhergehen.<br />

Denen können immer mehr Menschen in<br />

den „reichen Ländern“ nur noch mit Psychopharmaka<br />

beikommen, während die<br />

am desperatesten entschlossenen homines<br />

oeconomici der pauperisierten Mehrheit<br />

der Menschheit mit zunehmender,<br />

rassistischer Polizei- und Militärgewalt<br />

von dieser „paradiesischen“ Existenzweise<br />

ferngehalten werden.<br />

Im ungemein dichten Schlussteil kommt<br />

Habermann in den „Perspektiven für eine<br />

emanzipatorische Politik“ zur Frage, was<br />

Unterdrückte hindern sollte, im Kampf<br />

gegen Hegemonie selbst „als Gruppe hegemonial<br />

werden zu wollen“, zugespitzt:<br />

faschistisch zu agieren statt emanzipatorisch,<br />

Sozialismus für die Nation drinnen<br />

und scharfer Schuss nach draußen. Sie beantwortet<br />

die Frage nicht, sondern wirbt<br />

mit einer potentiellen Anthropologie für<br />

eine mögliche menschliche Praxis. Als das<br />

autonome, selbstidentische Subjekt der europäischen<br />

Moderne bleiben wir von den<br />

Anderen getrennt, gegeneinander gesetzt,<br />

unterdrückt und Unterdrücker. Zu<br />

freundlichen Beziehungen zu Mensch und<br />

Welt können wir gelangen, wenn wir „bedingungslose<br />

und nicht auf Austausch gerichtete<br />

Verantwortung gegenüber dem<br />

Anderen“ akzeptieren, nicht nur den Subjekten,<br />

auch den Objekten gegenüber.<br />

Der Großteil der Menschheit ist jedoch<br />

in den Kampf um und gegen den hegemonialen<br />

Konsens gar nicht eingebunden, sondern<br />

aus allen diesen Diskursen und Sprechweisen<br />

ausgeschlossen, schlicht „subaltern“,<br />

im Bereich der Hegemonie nicht gehört<br />

und nicht verständlich. Befreiung brauche<br />

den Brückenschlag dorthin, die Lern-Bereitschaft<br />

der kritischen, selbst beherrschten<br />

Teilhaber an der metropolitanen Hegemonie,<br />

„Privilegien zu verlernen“, um in einen<br />

herrschaftsfreien Dialog zu kommen, „neuartige<br />

Gedanken zwischen uns entstehen“<br />

zu lassen, die weder uns noch den Anderen<br />

gehören. Eine emanzipatorische Art von<br />

Theorie eben, ohne genialen Autor und<br />

sein Copyright, auf dem Weg zur praktischen<br />

Befreiung. Bloß: Man braucht dazu<br />

nicht erst unbedingt den Nabel der Welt zu<br />

verlassen, die Unsichtbaren, Unhörbaren,<br />

Marginalisierten gibt es auch hier. Auch<br />

ohne diese gibt es keine Emanzipation, bloß<br />

eine „andere Welt“ der Checker, die wissen,<br />

wo die Loser – „zu ihrem eignen Besten“<br />

natürlich – langzugehen haben.<br />

Ganz zu Recht weist Habermann<br />

schließlich auch auf die Bedeutung autonomer<br />

Räume, virtueller wie physischgeographischer,<br />

hin. „Jede Subversion eines<br />

hegemonialen Raums hängt von den<br />

Ressourcen marginalisierter Räume ab,<br />

und die Verteidigung der Möglichkeiten,<br />

die durch Subversion eröffnet werden,<br />

hängt ihrerseits von der Konstruktion und<br />

Stärkung alternativer Räume ab.“ Freilich<br />

bleiben wir gespalten, weil die Herrschaft<br />

und ihre Leitbilder auch in uns sind.<br />

Und weil jeder Widerstand auch die alten<br />

Methoden braucht. Aber widersprüchlich<br />

bleibt es auch, wenn wir uns dem Status<br />

quo ergeben. Foucault hat m.E. zu Recht<br />

in der Herrschaft das institutionelle Einfrieren<br />

und Monopolisieren der Macht gesehen,<br />

die unter den Menschen stets im<br />

Fluss die eine über den anderen und umgekehrt<br />

und durcheinander hat. Emanzipation<br />

ist so besehen ein Tauwetter. Analog<br />

steht es wohl mit den Identitäten und dem<br />

Bestreben sie zu „queeren“, ihre Starrheit<br />

aufzubrechen im Spiel alternativer Plätze<br />

und Gelegenheiten, in den Möglichkeiten<br />

des Alltags, die wir doch auch den Bemühungen<br />

früherer Menschen um Freiheit<br />

verdanken. Wir wissen nicht, wie viel<br />

wir ausrichten werden. Aber alles, was wir<br />

tun, wirkt auch auf die andern, die noch<br />

nach uns da sind. Ich kenne etliche davon,<br />

die ich liebe. Das überschreitet die Grenzen<br />

der Textsorte, aber das tut Habermanns<br />

Buch mit den seinen auch.<br />

Friederike Habermann: Der homo oeconomicus<br />

und das Andere. Hegemonie, Identität<br />

und Emanzipation, Nomos Verlag, Baden-<br />

Baden 2008, 320 Seiten, ca. 44 Euro.<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


46 ROGER BEHRENS, THRILLER!<br />

Thriller!<br />

Rückkopplungen<br />

von Roger Behrens<br />

Kann sich daran noch jemand erinnern?<br />

– Am 25. Juni 2009 ist in Los<br />

Angeles der Musiker Michael Jackson gestorben.<br />

Der Tag danach. Natürlich war der<br />

Tod Thema in den Medien – beziehungsweise<br />

nicht der Tod, sondern das<br />

Spektakel des Todes; es ist dies, gerade im<br />

Fall von Jackson, ein spekulatives Spektakel<br />

vom Sterben. Und wie jedes Spektakel<br />

lebt auch dieses von Bildern. Die<br />

Bilder verweisen auf das, was in der unheimlichen<br />

Welt der flüchtigen Sensationen<br />

als positive Tatsachen gehandelt werden<br />

kann; Bilder geben der Panik eine<br />

Sicherheit, eine Ordnung zurück; aber<br />

zugleich erzeugen diese Bilder diese Panik<br />

überhaupt erst. Panik ist die Einstellung,<br />

mit der die Bilder betrachtet werden.<br />

Immer wieder wird das Programm<br />

unterbrochen, gibt es die Nachricht vom<br />

Tod Michael Jacksons als Sondermeldung;<br />

immer wieder wird die Sequenz<br />

vom Krankenwagen gezeigt, der mit<br />

Blaulicht davonrast. Mit jeder Wiederholung<br />

der Bildsequenz wird die Nachricht<br />

vom Tod authentischer.<br />

Die Popkulturindustrie, als deren König<br />

Michael Jackson galt, setzt für die Fälle<br />

eines so genannten Kategorie-A-Toten<br />

ihre eigenen Mechanismen in Gang;<br />

es sind ökonomische Mechanismen, die<br />

freilich der krudesten Verwertungslogik<br />

des Kapitals unterliegen. Das betrifft vor<br />

allem den Devotionalienhandel, das temporär<br />

aufblühende Geschäft mit Fan-<br />

Artikeln und Souvenirs, die dem allgemeinen<br />

Warenfetischismus noch einmal<br />

einen religiösen, wenngleich auch höchst<br />

albernen Aspekt verleihen: Wer hier unmittelbar<br />

nach dem Tod die Preise verfolgte,<br />

wurde von allerhand Absurditäten<br />

überrascht. „Moonwalk. Mein<br />

Leben“, ein Buch, bei dem Michael Jackson<br />

als Autor fungiert, erschienen 1994,<br />

war nicht unter 110,00 Euro zu haben;<br />

die englische Originalausgabe gab es für<br />

rund 250 Pfund. Weitere, als Biografien<br />

sachlich<br />

www.<strong>streifzuege</strong>.org<br />

betitelte, Taschenbücher, gebraucht, keineswegs<br />

immer gut erhalten, ehedem publiziert<br />

in den üblichen Trivial-Verlagen,<br />

wurden für mitunter weit über fünfzig<br />

Euro angeboten. Zu Höchstpreisen gehandelt<br />

wurde schließlich der „Official<br />

Michael Jackson Calendar 2009“ (893,20<br />

Euro) und Victor M. Gutierrez’ Dokumentation<br />

„Michael Jackson Was My<br />

Lover“ (neu: 452 Euro; gebraucht: 379<br />

Euro). – Und schon kurze Zeit später<br />

gab es all dies wieder hinterhergeschmissen,<br />

zu Kleinpreisen im Centbereich. Bemerkenswert<br />

zudem, dass solche Dinge,<br />

die in der Popgesellschaft den ökonomisch<br />

berechtigten Status von Sammlerobjekten<br />

haben, nämlich Schallplatten,<br />

insbesondere Erstpressungen und sonstige<br />

Raritäten, in ihrer Preisentwicklung<br />

vom Tod Jacksons völlig unbeeinflusst<br />

blieben.<br />

Und das ist gerade bei dem King of<br />

Pop eine kleine Besonderheit, denn immerhin<br />

hat er seinen Titel nicht nur aus<br />

künstlerischen Gründen erhalten, sondern<br />

vor allem aus ökonomischen: Mit<br />

zirka 750 Millionen verkauften Tonträgern<br />

ist – und bleibt wohl auch – Michael<br />

Jackson der kommerziell erfolgreichste<br />

Künstler der Musikgeschichte;<br />

sein Album „Thriller“ von 1982 ist dabei<br />

das bis heute weltweit meistverkaufte<br />

Album (schätzungsweise 60 Millionen<br />

Mal).<br />

Auch wenn Michael Jackson mit<br />

knapp 51 Jahren nicht sonderlich alt geworden<br />

ist, hat er eigentlich die Umkehrung<br />

des von Seneca überlieferten Satzes<br />

„vita brevis ars longa – Das Leben<br />

ist kurz, die Kunst ist lang“ bewiesen:<br />

Jackson hatte schon mit den neunziger<br />

Jahren sein musikalisches Schaffen, das<br />

Originalität beanspruchen kann, überlebt;<br />

mit anderen Worten: Seine Kunst<br />

war kurz, seine große Musik war aufgeladen<br />

mit einem Zeitkern der Wahrheit,<br />

den er nicht zu Lebzeiten zu aktualisieren<br />

vermochte. Michael Jackson<br />

hat sich selbst überlebt. Darüber hinaus<br />

ist es Michael Jackson, dem nun die<br />

Unsterblichkeit zuteil wird; seine Musik<br />

wird im Schatten der Ewigkeit des Popstars<br />

verschwinden. Paradox kann ihm<br />

dieser Status nur zuteil werden – und<br />

das ist dem perfiden Wesen des Popstars<br />

geschuldet, das auch schon James<br />

Dean, Marilyn Monroe, Elvis Presley<br />

oder Kurt Cobain unsterblich gemacht<br />

hat –, weil er eigentlich schon immer tot<br />

war, nie gelebt hat, zumindest nicht in<br />

der Realperson, die den Künstler repräsentierte.<br />

Dies ist die Figur des Zombies,<br />

eine Gestalt, in die sich Michael Jackson<br />

Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger<br />

verwandelt.<br />

Seinen ersten Auftritt als Zombie hat<br />

Michael Jackson 1978 in dem Film „The<br />

Wiz“. In der ins moderne New York versetzten<br />

Adaption von L. Frank Baums<br />

„Zauberer von Oz“ spielt Jackson die Vogelscheuche,<br />

die in dieser Fassung nicht<br />

aus Stroh besteht, sondern aus Abfall.<br />

Doch wie in der Originalgeschichte hat<br />

sie kein Gehirn („no brains at all“): das<br />

heißt, sie kann zwar erstaunlicherweise<br />

sprechen und offenbar durchaus auch<br />

denken, verfügt aber über keinen Verstand,<br />

vor allem keine Erinnerung und<br />

kein Gefühl – ein Zombie, wenn auch<br />

ein freundlicher.<br />

1982 kommt „Thriller“, dazu 1983<br />

das Musikvideo von John Landis, das mit<br />

über 13 Minuten einen eigenständigen<br />

Film darstellt. Hier tritt Jackson gleich<br />

mehrfach in der Zombierolle auf, bis<br />

zum Schlussbild: ein Schwellenwesen –<br />

scheintot, der Halbwelt der Unterhaltung<br />

entkommen. Das Motiv reicht in die Antike<br />

zurück, etwa bei Orpheus. Jacques<br />

Offenbach hat als Erster das Motiv in seiner<br />

das Genre definierenden Opera buffa<br />

„Orpheus in der Unterwelt“ mit Mitteln<br />

der Massenkultur in die Massenkultur<br />

selbst übersetzt. Doch anders als Orpheus<br />

steigt der Zombie nicht in die Unterwelt<br />

herab, sondern bricht aus ihr – aus dem<br />

Reich der Toten – heraus.<br />

Das Antlitz eines Zombies ist gewissermaßen<br />

die Charaktermaske, die man bis<br />

zum Tod von Jackson auch als sein scheinbar<br />

reales Gesicht zu sehen bekommt: Bis<br />

zur Kenntlichkeit entstellt präsentiert<br />

sich Michael Jackson als Star, der bereit<br />

ist, gleich dem Zombie, aus nie zu stillendem<br />

Lebenshunger sich selbst aufzufressen.<br />

Bis am Ende nur das Bild bleibt,<br />

das in seiner medialen Kurzlebigkeit vom<br />

immer schon scheintoten Popstar Jackson<br />

nie eingeholt werden konnte – und auch<br />

nie eingeholt werden wird.<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


aramis, 1950. Flucht aufs Land. Lebt im<br />

Abseits selbstgeschaffener Inseln rund um<br />

historische Gebäude, welche er revitalisiert.<br />

Seit längerem auf Schloss Lind<br />

(www.schlosslind.at).<br />

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg,<br />

Weimar und Belo Horizonte. Studium der<br />

Philosophie und Sozialwissenschaften. An<br />

mehreren Universitäten, bei testcard und<br />

Zeitschrift für kritische Theorie tätig.<br />

Julian Bierwirth, 1975. Lebt in Göttingen.<br />

Studium der Sozialwissenschaften.<br />

Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe<br />

180° – Für einen neuen Realismus und<br />

emanzipationoderbarbarei.blogsport.de.<br />

Andreas Exner, 1973, <strong>Streifzüge</strong> -Redakteur.<br />

Lothar Galow-Bergemann, 1953.<br />

Lebt in Stuttgart. Krankenpflegehelfer.<br />

Seit 68 in linken Zusammenhängen. Gewerkschafter<br />

und Personalrat. Freiwillig<br />

teilzeitarbeitslos.<br />

Lorenz Glatz, 1948, <strong>Streifzüge</strong>-Redakteur.<br />

Severin Heilmann, 1976, <strong>Streifzüge</strong>-<br />

Redakteur.<br />

Sara Kleyhons, 1982, wohnt in Weidling<br />

bei Wien. Studium der Sozialwissenschaften.<br />

Im Umweltschutz und Sozialbereich<br />

tätig. Rebellische Tendenzen,<br />

Hang zum Leben in wilder Natur.<br />

Dominika Meindl, 1978. Studium<br />

der Philosophie. Untertags freibeutende<br />

Schreibmaschine von Texten aller Art,<br />

abends Bloggerin und Poetry Slammerin<br />

in Linz (http://minkasia.blogspot.com).<br />

AutorInnen<br />

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker.<br />

Schwerpunkte: Freie Software<br />

und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei<br />

Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus.<br />

Peter Pichl, 1934. Wiener, mit Bildender<br />

Kunst, vor allem Malerei beschäftigt.<br />

Praktiker, Lehrer und Theoretiker. Seit<br />

1975 politisch engagiert.<br />

Peter Pott, 1937. Bis 2002 Professor für<br />

Politik und Philosophie an der FHS-<br />

Bielefeld. Lebt in der Kommune Kleekamp<br />

in Westfalen (www.peter-pott.de,<br />

www.kommune-kleekamp.de).<br />

Erich Ribolits, 19<strong>47</strong>. Techniker, Berufsschullehrer,<br />

dann Bildungswissenschafter,<br />

Professor an der Uni Wien. Zuletzt:<br />

Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung<br />

des Menschen, Wien 2009.<br />

Franz Schandl, 1960, <strong>Streifzüge</strong>-Redakteur.<br />

Günter Schneider, 1956. Wiener. Anti-<br />

AKW-Bewegung, Alternative Liste. Seit<br />

20 Jahren Mietervertreter bei der Mieter-<br />

Interessens-Gemeinschaft Österreichs.<br />

Ricky Trang, <strong>Streifzüge</strong>-Redakteur.<br />

Birgit von Criegern, 1976. Studium der<br />

Germanistik, Islamwissenschaft und Kunstgeschichte.<br />

Im Sozialwesen tätig. Freie Journalistin,<br />

Autorin und Übersetzerin in Berlin.<br />

Nicoletta Wojtera, 1971. Lebt in Köln.<br />

Studium der Germanistik, Literaturwissenschaft<br />

und Geschichte. Bei der Zeitschrift<br />

für Nachwuchswissenschaftler engagiert.<br />

Bildungsberaterin.<br />

Maria Wölflingseder, 1958, <strong>Streifzüge</strong>-<br />

Redakteurin.<br />

IMPRESSUM<br />

ISSN 1813-3312<br />

MEDIENINHABER UND<br />

HERAUSGEBER<br />

Kritischer Kreis – Verein für<br />

gesellschaftliche Transformationskunde,<br />

Margaretenstraße 71-73/23,<br />

1050 Wien.<br />

E-Mail: redaktion@<strong>streifzuege</strong>.org<br />

Website: www.<strong>streifzuege</strong>.org<br />

DRUCK<br />

H.Schmitz, Leystraße 43, 1200 Wien<br />

Auflage: 1500<br />

COPYLEFT<br />

Alle Artikel der <strong>Streifzüge</strong> unterliegen,<br />

sofern nicht anders gekennzeichnet,<br />

dem Copyleft-Prinzip: Sie dürfen frei<br />

verwendet, kopiert und weiterverbreitet<br />

werden unter Angabe von<br />

Autor/in, Titel und Quelle des Originals<br />

sowie Erhalt des Copylefts.<br />

OFFENLEGUNG<br />

Der Medieninhaber ist zu 100 Prozent<br />

Eigentümer der <strong>Streifzüge</strong> und an<br />

keinen anderen Medienunternehmen<br />

beteiligt.<br />

Grundlegende Richtung:<br />

Kritik und Perspektive<br />

REDAKTION<br />

(zugleich Mitglieder des Leitungsorgans<br />

des Medieninhabers)<br />

Andreas Exner, Lorenz Glatz,<br />

Severin Heilmann, Franz Schandl,<br />

Martin Scheuringer, Ricky Trang<br />

und Maria Wölflingseder<br />

Covergestaltung: Isalie Witt<br />

Layout: Françoise Guiguet<br />

KONTEN<br />

Österreich: Kritischer Kreis<br />

PSK (BLZ 60000)<br />

Kontonummer 93 038 948<br />

Deutschland: Franz Schandl<br />

Postbank Nürnberg (BLZ 760 100 85)<br />

Kontonummer 405 952 854<br />

Andere EU-Länder: Kritischer Kreis<br />

BIC: OPSKATWW<br />

IBAN: AT87 60000 00093038948<br />

ABONNEMENTS<br />

Aborichtpreise für 3 Hefte pro Jahr: 1 Jahr<br />

18 Euro, 2 Jahre 33 Euro, 3 Jahre 45 Euro.<br />

Erstbeziehende bitten wir um schriftliche<br />

Bestellung (Mail oder Brief), da seitens des<br />

grandiosen Bankservices den Kontoauszügen<br />

nicht immer die vollständige<br />

Adresse zu entnehmen ist. Bei Aboverlängerung<br />

bitten wir um die Anführung<br />

der Postleitzahl bei der Einzahlung.<br />

Das Abo endet, wenn es nicht durch<br />

Einzahlung verlängert wird.<br />

TRANSFORMATIONSRAT<br />

Christoph Adam (Santiago de Compostela),<br />

Dora de la Vega (Cordoba,<br />

Argentinien), Peter Klein (Nürnberg),<br />

Paolo Lago (Verona), Neil Larsen<br />

(Davis, USA), Massimo Maggini<br />

(Livorno), Stefan Meretz (Berlin),<br />

Pichl Peter (Wien), Erich Ribolits<br />

(Wien), Salih Selcuk (Istanbul),<br />

Gerburg Vermesy (Hamburg),<br />

Ulrich Weiß (Berlin)<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009


Auslauf<br />

von Andreas Exner<br />

Starke Fragen<br />

Es tut sich was. Studierende besetzen<br />

Unis. Gewerkschaften erklären sich<br />

solidarisch. Pensionisten finden’s auch gut.<br />

Eine Debatte ist entbrannt. Mehr Geld für<br />

die Unis ist ihr kleinster Nenner. Freie Bildung<br />

ohne Zugangsbeschränkungen ist beinahe<br />

Konsens. Einige wollen Ausbeutung<br />

abschaffen, andere ein Grundeinkommen<br />

durchsetzen. Was tut sich da?<br />

Komisch eigentlich: Die Studierenden<br />

als Studierende sind recht besehen machtlos.<br />

Anders als ein Streik in einer Fabrik<br />

tut die Besetzung des Audimax niemandem<br />

weh. Warum entfalten sie dennoch<br />

Wirkung? Unmittelbar treibt sie die Wut<br />

über miese Studienbedingungen. Der<br />

Bologna-Prozess empört sie, sie sind<br />

frustriert von Gängelung. Doch dies ist<br />

nur die eine Seite. Der Kontext ist die andere:<br />

das Gefühl der Perspektivlosigkeit,<br />

ja der Bedrohlichkeit der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung.<br />

Roter Punkt am Adressenetikett:<br />

bitte Abo einzahlen!<br />

Die breite Öffentlichkeit nimmt diese<br />

Koppelung von unmittelbarem Motiv und<br />

mittelbarem Rahmen nur unterschwellig<br />

wahr. Kommentare in den Massenmedien<br />

zeigen sich in dieser Hinsicht zum Großteil<br />

ignorant. Unter den Studierenden ist<br />

die Problemsicht gespalten. Während einige<br />

klar im Auge haben, dass der Zustand<br />

der Universität Teil gesellschaftlicher<br />

Zwangsstrukturen ist, frönen viele andere<br />

der Illusion, man könne das Anliegen<br />

als eines „der Universität“ irgendwie isolieren.<br />

Sie klagen nur die eigene Konkurrenzfähigkeit<br />

ein. Man führt Beschwerde<br />

über fehlende Mittel, weil man sich fit für<br />

den Arbeitsmarkt machen will, das heißt:<br />

für das Kapital und seinen Staat.<br />

Schon immer war es eine Illusion,<br />

durch den vermeintlichen Nachweis der<br />

eigenen verwertungskonformen „Nützlichkeit“<br />

wesentliche Verbesserungen zu<br />

erreichen. Das kann nur scheitern. Oder<br />

mündet darin, die Selektion in Verwertbare<br />

und Wertlose zu verhärten. Eine kapitalismuskritische<br />

Position gegen Lohnarbeit,<br />

Markt und Staat einzunehmen ist<br />

für die Studierendenbewegung, anders als<br />

für Lohnkämpfe, geradezu lebenswichtig.<br />

Denn sie bezieht ihre Attraktivität und<br />

ihre symbolische Macht gerade daraus, dass<br />

sie ein zwar diffuses, jedoch verbreitetes<br />

Unbehagen am Kapitalismus artikuliert.<br />

Ihr oft zaghafter, zeitweise jedoch durchaus<br />

bestimmter Versuch, die herrschenden<br />

Normen von gesellschaftlicher Entwicklung<br />

grundsätzlich zu hinterfragen,<br />

ermutigt viele, die am neoliberalen Paradigma<br />

zu zweifeln begonnen haben.<br />

Wo der universitäre Unmut Menschen<br />

in anderen gesellschaftlichen Sphären ansteckt,<br />

die von der kapitalistischen Entwicklung<br />

nachhaltig verunsichert sind,<br />

dort kann Bewegung in die vielfachen<br />

Risse der Herrschaft des Sachzwangs kommen.<br />

Solche Resonanzböden für die Bewegung<br />

an den Universitäten gibt es in<br />

einem gewissen Maß. Man kann den<br />

Kontext der Proteste erweitern und bereichern,<br />

indem man diese Böden in<br />

Schwingung bringt.<br />

Soziale Kämpfe kommen auf dem<br />

Terrain des Gegners nicht voran. Dort<br />

müssen sie scheitern. „Finanzierbarkeit“,<br />

„Wettbewerbsfähigkeit“, die Selektion<br />

der „Leistungswilligen“ bilden das Terrain<br />

des Gegners. Wer sich darauf einlässt,<br />

hat verloren.<br />

Die Potenz der Bewegung liegt darin,<br />

das Terrain der Debatten zu verändern:<br />

Schuften für Profit oder ein gutes<br />

Leben leben? Auf Finanzierung hoffen<br />

oder das, was stofflich-konkret machbar<br />

ist, auch machen? Sich für den Konkurrenzkampf<br />

zurichten oder in Solidarität<br />

kooperieren?<br />

Der kapitalistische Kanon von Profit,<br />

Finanzierbarkeit und Konkurrenz ist<br />

Nonsens. Eine „Solidarische Universität“,<br />

die Schluss damit macht, ist nötig.<br />

Die Fragen stellen wir.<br />

www.<strong>streifzuege</strong>.org

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