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6 FRANZ SCHANDL, PRAXIS DES WOHNENS<br />

Raum für die meiste Zeit<br />

LOSE VERMUTUNGEN ZUR ALLTÄGLICHEN PRAXIS DES WOHNENS<br />

von Franz Schandl<br />

LIVING ROOM<br />

Wenn wir wohnen – was tun wir, was<br />

geschieht uns? So ungefähr lauten unsere<br />

Ausgangsfragen, von denen aus wir<br />

unsere Überlegungen entwickeln möchten.<br />

Wohnen könnte man vorerst einmal<br />

umschreiben als das regelmäßige<br />

Dasein in einer Behausung, die Realisierung<br />

exklusiver Verfügung von Räumlichkeiten.<br />

Es geht um ein (in doppeltem<br />

Wortsinn) festes Zuhause in einem überschaubaren<br />

und abgeschlossenen Bereich.<br />

Der Bezug zur Wohnung ist geprägt von<br />

einer sich stetig durchsetzenden Hingezogenheit,<br />

die mehr als episodischen Charakter<br />

hat, sie ist permanenter Natur. Im<br />

Wohnen drückt sich aus ein mächtiges Wo,<br />

welches das Wohin immer an das Woher<br />

verweisen will. Wohnen hat was von Zurückkommen<br />

und Zusichkommen.<br />

Tür und Tor sind Scheidepunkte der<br />

Welt in ein Innen und ein Außen. Und<br />

diese Grenze will jeder und jede wahrgenommen<br />

sehen. Durch die Wohnung setze<br />

ich anderen eine Schranke, die nicht<br />

verletzt werden soll. Eine Wohnung ist so<br />

betrachtet der Prototyp des nichtöffentlichen<br />

Raumes. Die Möglichkeit des Versperrens,<br />

des unbegründeten Abschließens<br />

und Abschottens hat gewährleistet zu sein.<br />

Das bürgerliche Wohnen baut auf einem<br />

sehr strikten Gegensatz von Exklusion und<br />

Inklusion. Der Wohnraum selbst ist nach<br />

innen weniger porös als der Staat, die Eigner<br />

verfügen rigoros, nach außen zu freilich<br />

soll jener absolut durchlässig sein. Alle<br />

sollen raus dürfen, aber nur wenige rein.<br />

Existenzielle Verortung<br />

Die Zeit, in der wir leben, die ist uns vorgegeben.<br />

Der Ort, an dem wir leben, da<br />

sind wir relativ autonom. Die Wohnung<br />

als Immobilie ist in ihrem empirischen Sosein<br />

die Konkretion eines aktuell unversetzbaren<br />

Sitzes. Sie verortet die unmittelbare<br />

Existenz oder noch genauer: die<br />

Koordinaten räumlichen Existierens. So<br />

könnte man die Wohnung definieren als<br />

physische Behausung mit metaphysischem<br />

Gehalt. Nicht nur wir sitzen in der Wohnung,<br />

die Wohnung sitzt auch in uns, weil<br />

wir ihr Teil geworden sind. Ähnlich der<br />

Nahrung und der Kleidung verkörpert die<br />

Wohnung wohl die erste Kategorie der<br />

Lebensmittel.<br />

Existenzielle Bedürfnisse sind hier zugegen:<br />

Schlafen, Essen, Vögeln, Kleiden,<br />

Waschen, Pflege, Erziehung oder Spiel,<br />

aber auch sehr lästige Pflichten wie Putzen<br />

oder Bügeln, Aufräumen oder Verstauen.<br />

Die notwendige Ausdifferenzierung<br />

der Genannten kann aber bloß<br />

angedeutet werden; insbesondere auch das<br />

ausufernde Fernsehen oder das Internet-<br />

Surfen müssten als Gelegenheiten, die a<br />

priori nicht existenziell sind, wohl aber<br />

so erscheinen, in die Analyse der Struktur<br />

des Wohnens noch einbezogen werden.<br />

Die Wohnung ist ein Ort, der die Regelmäßigkeit<br />

des Alltags ordnet, primär<br />

den Reproduktionsbereich. Berufsleben<br />

und öffentliches Leben finden anderswo<br />

statt, wenngleich in den letzten Jahren Ersteres<br />

immer mehr in den privaten Raum<br />

zurückgedrängt wird, Heimarbeit zusehends<br />

obligat werden möchte, um Kosten<br />

auszulagern.<br />

In der Wohnung hat alles seinen Platz,<br />

was in der Unmittelbarkeit der Reproduktion<br />

vonnöten ist: Kochstellen, Ruhestätten,<br />

Esstische, Rückzugsorte, Waschgelegenheiten,<br />

Aborte, Aufbewahrungsräume.<br />

In den bürgerlichen Haushalten sind diese<br />

zu erkennen als Küche, Schlafzimmer,<br />

Wohnzimmer, Kinderzimmer, WC, Badezimmer,<br />

Speisekammer. Alles fein separiert<br />

und arbeitsteilig angelegt.<br />

Im Wohnen drücken sich ganz wichtige<br />

Aspekte profaner Begehrlichkeiten aus. Die<br />

Wohnung garantiert an sich Widersprüchliches:<br />

Sie gewährleistet das Vereinzeln<br />

ebenso wie das Verrudeln mit bestimmten<br />

Leuten. Die Frage, wer da zusammen<br />

wohnt, ist eine Frage nach der Typologie<br />

der Bewohner. (Vgl. ausführlich Hartmut<br />

Häußermann/Walter Siebel, Soziologie<br />

des Wohnens, Weinheim und München,<br />

2. Aufl. 2000, S. 322ff.) Wir unterscheiden<br />

etwa in Großfamilien, Kleinfamilien<br />

(mit und ohne Patchwork), Kernfamilien,<br />

Alleinerziehende mit Kind(ern), Wohngemeinschaften,<br />

Singlehaushalte, Heime,<br />

Klöster, Kinderdörfer, Haftanstalten<br />

etc. Vorherrschend ist wohl immer noch<br />

die neuzeitliche Kleinfamilie, das heterosexuelle<br />

Paar und seine ein bis zwei Kinder.<br />

Anzumerken bleibt aber, dass der allen<br />

geläufige Zentralbegriff der Familie erst<br />

im 18. Jahrhundert seinen Eingang in die<br />

Umgangssprache gefunden hat.<br />

Abgewandter Lebensmittelpunkt<br />

Das Wohnen ist einem nahe, nicht fern.<br />

So nahe, dass man sich kaum distanzieren<br />

kann. Eben weil Personen und Gegenstände<br />

des Alltäglichen in und um die<br />

Wohnung anzutreffen sind und dies alles<br />

als emotionale Einhegung wahrgenommen<br />

wird. Schon das Kind greift mangels Alternative<br />

eifrig danach, ohne es auch nur<br />

begreifen zu können. Einhegung ist in ihrem<br />

ersten Erleben eine unwidersprochene<br />

Vorgabe für jeden Menschen.<br />

Die Wohnung bildet einen sinnlichen<br />

Lebensmittelpunkt, d.h., sie ist ein Platz,<br />

der (von Ausnahmen abgesehen) täglich<br />

angesteuert wird, die permanente Anlaufstelle,<br />

der Ort des Niederlegens und<br />

des Aufstehens. Zentral sind das Private<br />

und das Intime, das der übrigen Welt Entzogene.<br />

Wohnen erfährt sich als sinnliche<br />

Hingabe nach innen, eins will dabei nach<br />

außen unsichtbar und unhörbar, unberührbar<br />

und unriechbar bleiben. Natürlich<br />

ist dieser Abschluss einmal rigider, einmal<br />

offener, aber Abschluss bleibt Abschluss.<br />

Am allerwichtigsten ist ja auch nicht, dass<br />

die Wohnung geschlossen ist, sondern dass<br />

sie schließbar ist.<br />

Die häusliche Intimität ist gezeichnet<br />

durch das Geborgene wie das Verborgene.<br />

Intimität ist drinnen, nicht draußen.<br />

Wohnung kann verstanden werden als die<br />

der Öffentlichkeit abgewandte Seite. Hier<br />

will man seine Eigenheiten entfalten, ohne<br />

auf Äußerlichkeiten Rücksicht nehmen zu<br />

müssen. Die Wohnung gilt als nichtbeobachtetes<br />

Kontinuum, als Ort diverser Geheimnisse<br />

des Lebens, als Heimstätte für<br />

das vermeintlich Individuelle, wenngleich<br />

bei näherer Sichtung dieses so individuell<br />

wiederum nicht ist.<br />

Diese Abgeschiedenheit entfaltet eine<br />

eigene Ordnung, wo etwa der Rhythmus,<br />

die Gerüche oder die Lichtverhältnisse<br />

charakteristische Potenzen entfalten.<br />

Die darin Lebenden begreifen alles als unmittelbar,<br />

weil es für sie das Unmittelbare<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

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