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streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

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LORENZ GLATZ, HOMO OECONOMICUS 45<br />

Umfang eines mittleren Taschenbuchs dar,<br />

wie die diskutierten Formen sich verschlingen,<br />

gegenseitig fördern oder behindern,<br />

also „artikuliert“ (Laclau-Mouffe) existieren<br />

und sinnvoll nur in ihrer gemeinsamen<br />

Wirksamkeit betrachtet werden können.<br />

Genauso artikuliert sollten sie das Angriffsziel<br />

gesellschaftlicher Emanzipation<br />

sein, wird man – vermutlich ganz im Sinne<br />

der Autorin – hinzufügen können. Selektiv<br />

gegen Herrschaft vorzugehen lässt<br />

die Hydra unversehrt. Ihre abgeschlagenen<br />

Köpfe wachsen – in neuer Form vielleicht<br />

– nach. Habermann illustriert diesbezüglich<br />

anschaulich und ausführlich, wie im Ergebnis<br />

der bürgerlichen „Freiheit und Gleichheit“<br />

der weißen Männer in Frankreich und<br />

Amerika die Lage der Frauen und „Farbigen“<br />

bedeutend schlimmer war als zuvor.<br />

Inzwischen, so ist hier anzumerken, entpuppen<br />

sich auch die neuen bürgerlichen Herren<br />

„bloß“ als hochprivilegierte Büttel eines ungemein<br />

destruktiven Systemzwangs. Doch<br />

auch wenn dieser an den inneren Widersprüchen<br />

und am Widerstand der Menschen<br />

gegen die wachsenden Zumutungen sowie<br />

die sozialen und ökologischen Katastrophen<br />

zerbräche, wäre das allein noch keineswegs<br />

die Garantie einer besseren Welt.<br />

Ein Dilemma, das Habermann selbst<br />

benennt, sei noch angedeutet: Die von ihr<br />

analysierten Herrschaftsverhältnisse sind<br />

keineswegs die Einzigen. Sie selbst erwähnt<br />

u.a. „ageism“, die Diskriminierung<br />

der „unnützen“ Alten, die – wie vieles, das<br />

früher unter den doppelbödigen Begriff<br />

Fürsorge fiel – meist nicht einmal wahrgenommen<br />

wird. Alle diese Formen gehen<br />

ein in das vielfältig „artikulierte“ Institut<br />

der Herrschaft. Sie alle in eine Analyse<br />

einzubeziehen, ist einerseits unmöglich,<br />

andererseits aber können Auslassungen<br />

nicht ohne Auswirkung auf Erkenntnis<br />

und Emanzipation bleiben.<br />

Der homo oeconomicus und die<br />

Emanzipation<br />

In der europäischen Aufklärung beginnt<br />

sich der weiße, heterosexuelle Mann theoretisch<br />

und praktisch als Bourgeois und<br />

Citoyen zu konstituieren, indem andere<br />

Menschen als nicht-weiß, nicht-heterosexuell,<br />

nicht-männlich „erfunden“, identifiziert<br />

und ausgeschlossen werden. Mit der<br />

sich ausbreitenden kapitalistischen Logik<br />

entsteht im rationalen, nach Kosten und<br />

Nutzen kalkulierenden homo oeconomicus<br />

über Jahrhunderte ein neues hegemoniales<br />

Leitbild artikulierter Herrschaftsformen,<br />

wie Habermann ausführlich und<br />

überzeugend darlegt. Ursprünglich das<br />

Modell eines bürgerlichen Mannes, insofern<br />

er wirtschaftlich tätig war, ist er heute<br />

zum Inbegriff und Leitbild des Menschen<br />

überhaupt geworden.<br />

Dieses europäisch-männliche Ideal ist<br />

mittlerweile allerdings durch die Kämpfe<br />

um Emanzipation auch für die weiblichen,<br />

„farbigen“, schwulen etc. Identitäten<br />

offen, die durch den Ausschluss aus<br />

der hegemonischen Identität des „white<br />

heterosexual able-bodied man“ (wham)<br />

quasi erst erzeugt wurden. Da diese Entwicklung<br />

aber im Horizont von Herrschaft<br />

bleibt, entstehen daraus Paradoxien.<br />

Einerseits z.B. neuerlich aggressive Diskurse<br />

und Politiken eines biologisch-natürlichen<br />

Ausschlusses, andererseits Ansprüche,<br />

Eigenschaften zu verkörpern, die<br />

von einem Individuum selbst dann kaum<br />

einzulösen sind, wenn es den Startvorteil,<br />

ein „wham“ zu sein, mitbringt. Wobei<br />

noch hinzuzufügen wäre, dass diese<br />

Quasi-Virtualisierung und -Demokratisierung<br />

des Anforderungsprofils mit sich<br />

nunmehr seit Jahrzehnten verschärfenden<br />

Ansprüchen der Arbeit und Konkurrenz<br />

auf bald allen irgendwie ökonomisierbaren<br />

Gebieten des Lebens einhergehen.<br />

Denen können immer mehr Menschen in<br />

den „reichen Ländern“ nur noch mit Psychopharmaka<br />

beikommen, während die<br />

am desperatesten entschlossenen homines<br />

oeconomici der pauperisierten Mehrheit<br />

der Menschheit mit zunehmender,<br />

rassistischer Polizei- und Militärgewalt<br />

von dieser „paradiesischen“ Existenzweise<br />

ferngehalten werden.<br />

Im ungemein dichten Schlussteil kommt<br />

Habermann in den „Perspektiven für eine<br />

emanzipatorische Politik“ zur Frage, was<br />

Unterdrückte hindern sollte, im Kampf<br />

gegen Hegemonie selbst „als Gruppe hegemonial<br />

werden zu wollen“, zugespitzt:<br />

faschistisch zu agieren statt emanzipatorisch,<br />

Sozialismus für die Nation drinnen<br />

und scharfer Schuss nach draußen. Sie beantwortet<br />

die Frage nicht, sondern wirbt<br />

mit einer potentiellen Anthropologie für<br />

eine mögliche menschliche Praxis. Als das<br />

autonome, selbstidentische Subjekt der europäischen<br />

Moderne bleiben wir von den<br />

Anderen getrennt, gegeneinander gesetzt,<br />

unterdrückt und Unterdrücker. Zu<br />

freundlichen Beziehungen zu Mensch und<br />

Welt können wir gelangen, wenn wir „bedingungslose<br />

und nicht auf Austausch gerichtete<br />

Verantwortung gegenüber dem<br />

Anderen“ akzeptieren, nicht nur den Subjekten,<br />

auch den Objekten gegenüber.<br />

Der Großteil der Menschheit ist jedoch<br />

in den Kampf um und gegen den hegemonialen<br />

Konsens gar nicht eingebunden, sondern<br />

aus allen diesen Diskursen und Sprechweisen<br />

ausgeschlossen, schlicht „subaltern“,<br />

im Bereich der Hegemonie nicht gehört<br />

und nicht verständlich. Befreiung brauche<br />

den Brückenschlag dorthin, die Lern-Bereitschaft<br />

der kritischen, selbst beherrschten<br />

Teilhaber an der metropolitanen Hegemonie,<br />

„Privilegien zu verlernen“, um in einen<br />

herrschaftsfreien Dialog zu kommen, „neuartige<br />

Gedanken zwischen uns entstehen“<br />

zu lassen, die weder uns noch den Anderen<br />

gehören. Eine emanzipatorische Art von<br />

Theorie eben, ohne genialen Autor und<br />

sein Copyright, auf dem Weg zur praktischen<br />

Befreiung. Bloß: Man braucht dazu<br />

nicht erst unbedingt den Nabel der Welt zu<br />

verlassen, die Unsichtbaren, Unhörbaren,<br />

Marginalisierten gibt es auch hier. Auch<br />

ohne diese gibt es keine Emanzipation, bloß<br />

eine „andere Welt“ der Checker, die wissen,<br />

wo die Loser – „zu ihrem eignen Besten“<br />

natürlich – langzugehen haben.<br />

Ganz zu Recht weist Habermann<br />

schließlich auch auf die Bedeutung autonomer<br />

Räume, virtueller wie physischgeographischer,<br />

hin. „Jede Subversion eines<br />

hegemonialen Raums hängt von den<br />

Ressourcen marginalisierter Räume ab,<br />

und die Verteidigung der Möglichkeiten,<br />

die durch Subversion eröffnet werden,<br />

hängt ihrerseits von der Konstruktion und<br />

Stärkung alternativer Räume ab.“ Freilich<br />

bleiben wir gespalten, weil die Herrschaft<br />

und ihre Leitbilder auch in uns sind.<br />

Und weil jeder Widerstand auch die alten<br />

Methoden braucht. Aber widersprüchlich<br />

bleibt es auch, wenn wir uns dem Status<br />

quo ergeben. Foucault hat m.E. zu Recht<br />

in der Herrschaft das institutionelle Einfrieren<br />

und Monopolisieren der Macht gesehen,<br />

die unter den Menschen stets im<br />

Fluss die eine über den anderen und umgekehrt<br />

und durcheinander hat. Emanzipation<br />

ist so besehen ein Tauwetter. Analog<br />

steht es wohl mit den Identitäten und dem<br />

Bestreben sie zu „queeren“, ihre Starrheit<br />

aufzubrechen im Spiel alternativer Plätze<br />

und Gelegenheiten, in den Möglichkeiten<br />

des Alltags, die wir doch auch den Bemühungen<br />

früherer Menschen um Freiheit<br />

verdanken. Wir wissen nicht, wie viel<br />

wir ausrichten werden. Aber alles, was wir<br />

tun, wirkt auch auf die andern, die noch<br />

nach uns da sind. Ich kenne etliche davon,<br />

die ich liebe. Das überschreitet die Grenzen<br />

der Textsorte, aber das tut Habermanns<br />

Buch mit den seinen auch.<br />

Friederike Habermann: Der homo oeconomicus<br />

und das Andere. Hegemonie, Identität<br />

und Emanzipation, Nomos Verlag, Baden-<br />

Baden 2008, 320 Seiten, ca. 44 Euro.<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

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