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streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

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ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT 39<br />

se brauchen oder wünschen wir? Was ist<br />

wissenswert?“ (Gorz 2004: 89) werden<br />

ignoriert. Die dem Wissen innewohnende<br />

Potenz, Menschen zu befähigen, sich<br />

über ihre bloße Kreatürlichkeit zu erheben<br />

und Autonomie zu gewinnen, hat dabei<br />

keine Bedeutung. Im Sinne der von<br />

Erich Fromm entwickelten Dichotomie<br />

von „Haben und Sein“ (Fromm 1979)<br />

zielt ein an formellem Wissen ausgerichtetes<br />

Lernen nicht auf eine Erweiterung<br />

des Bewusstseins und verändertes „Sein“,<br />

sondern darauf, Lernende zu „Besitzern“<br />

von Wissen zu machen – gelungene Lernprozesse<br />

beweisen sich darin, dass die ihnen<br />

Unterworfenen nachher mehr Wissen<br />

„haben“ als vorher. Lernende werden dabei<br />

als zwar hochkomplexe und entsprechend<br />

schwierig zu steuernde, nichtsdestotrotz<br />

aber programmierbare Maschinen<br />

behandelt. Mit unterschiedlichsten methodischen<br />

Arrangements wird versucht,<br />

ihr Aufnahme- und Behaltevermögen<br />

zu optimieren und sie möglichst gut mit<br />

Wissen zu „füllen“. Das Ziel besteht darin,<br />

sie für Arbeitsprozesse verwertbar zu<br />

machen und dem gesellschaftlichen Status<br />

quo anzupassen (vgl. insbesondere<br />

Freire 1973). Methodisch geschickt werden<br />

ihnen Informationen sowie Methoden<br />

zu deren instrumentellen Verarbeitung<br />

„übermittelt“, wodurch sie befähigt<br />

werden sollen, eine mehr oder weniger<br />

hohe Position im Rahmen des gegebenen<br />

ökonomisch-gesellschaftlichen Systems<br />

einzunehmen, nicht jedoch dazu, dieses<br />

hinsichtlich seiner Prämissen und Folgen<br />

zu hinterfragen. Das strukturell eingeschriebene<br />

Ziel derartigen Lernens heißt<br />

Brauchbarkeit und Nutzen – ganz sicher<br />

nicht Selbstbestimmung oder (Eigen-)<br />

Sinn. Es geht nicht darum, durch den Erwerb<br />

von Wissen den Tatsachen der Welt<br />

gegenüber mündiger zu werden. Völlig<br />

konträr zu dem ursprünglich von Francis<br />

Bacon formulierten Ausspruch lautet die<br />

sich in derart ausgerichteten Unterrichtsystemen<br />

tatsächlich verwirklichende Parole:<br />

„Ohnmacht durch Wissen“!<br />

Für das reibungslose Funktionieren der<br />

Industriegesellschaft war es erforderlich,<br />

zumindest dem Großteil der Bevölkerung<br />

eine derart entfremdete Haltung gegenüber<br />

Wissen „anzuerziehen“. Lernen<br />

als „Akt der Unterwerfung“ unter die als<br />

unhinterfragbar wahrgenommenen sogenannten<br />

„Erfordernisse“ von Gesellschaft<br />

und Arbeitswelt bildete eine ganz<br />

wesentliche sozialisatorische Grundlage<br />

der Massenloyalität gegenüber dem ökonomisch-politischen<br />

System. Indem das<br />

Bewusstsein der Menschen dahingehend<br />

geprägt wurde, sich bloß als Speichermedium<br />

und Maschine zur bewusstlosrationalen<br />

Verarbeitung von Wissen zu<br />

begreifen, diesem also nur in instrumenteller<br />

Form gegenüberzustehen, „lernten“<br />

sie auch, sich als „bewusstlose Funktionsträger“<br />

im ökonomisch-gesellschaftlichen<br />

System wahrzunehmen. Auf diese<br />

Art konnte zum einen der im modernen<br />

Industriekapitalismus rasch anwachsende<br />

Bedarf nach Arbeitskräften befriedigt<br />

werden, die in der Lage waren, Arbeitsprozesse<br />

im Sinne des aktuellen Wissensstandes<br />

fachlich qualifiziert durchzuführen.<br />

Zum anderen war es damit möglich,<br />

immer mehr Menschen zu immer höheren<br />

formalen Bildungsabschlüssen zu<br />

führen sowie die „Quellen des Wissens“<br />

weitgehend zu demokratisieren, ohne<br />

dass das nunmehr auf breiter Basis verfügbare<br />

Wissen eine subversive, systemsprengende<br />

Kraft entfaltete.<br />

Der digitale Kapitalismus erfordert<br />

eine neue Form der Zurichtung der<br />

Menschen<br />

Wie schon erwähnt, nimmt die Bedeutung<br />

des Menschen als Träger formellen<br />

Wissens ab. Die IKT machen es möglich,<br />

die für Produktion und Verwaltung<br />

erforderlichen, bisher an das „Trägermedium<br />

Mensch“ gebundenen Kenntnisse<br />

und Fertigkeiten manueller und kognitiver<br />

Art in anwachsendem Maß vom<br />

Menschen getrennt in Form von Software<br />

zu speichern und als Maschinen-Wissen<br />

abzurufen. Daraus leiten sich zwei Effekte<br />

ab: Zum einen nimmt der Bedarf an<br />

menschlichen Arbeitskräften insgesamt ab<br />

und zum anderen sehen sich die weiterhin<br />

gebrauchten Arbeitskräfte mit nachhaltig<br />

veränderten Qualifikationsanforderungen<br />

konfrontiert. Ursache dafür ist, dass<br />

die IKT den Menschen nämlich keineswegs<br />

generell ersetzen können. Tätigkeiten,<br />

die durch die „neuen“ Technologien<br />

nicht substituiert werden können und<br />

deshalb weiterhin von Menschen ausgeübt<br />

werden müssen, sind solche, die Kreativität<br />

erfordern und/oder einen starken Beziehungsaspekt<br />

beinhalten – alles in allem<br />

Tätigkeiten, bei denen sich Professionalität<br />

nicht durch das Umsetzen eingelernter<br />

Verhaltensweisen beweist, sondern darin,<br />

dass aus einer verinnerlichten Haltung<br />

heraus gehandelt wird. Für alle formalisierbaren<br />

– normbezogenen – Arbeitsaufgaben<br />

können in letzter Konsequenz<br />

IKT eingesetzt werden, d.h. für alle, die<br />

sich in Form eines mathematischen Ablaufschemas<br />

abbilden lassen. Somit müssen<br />

mit deren fortschreitender Implementierung<br />

von menschlichen Arbeitskräften<br />

zunehmend nur mehr fallbezogene Aufgaben<br />

durchgeführt werden. Darunter sind<br />

Aufgaben zu verstehen, die nicht formalisierbar<br />

sind, weil sie von Fall zu Fall ein<br />

spezifisches Vorgehen erfordern und nicht<br />

im Sinne antrainierter Routine, sondern<br />

nur auf Grundlage von besonderen sozialen<br />

und emotionalen Kompetenzen bzw.<br />

Kreativität, Intuition oder Empathie der<br />

sie Verrichtenden bewältigt werden können.<br />

Derartige Aufgaben können nicht<br />

ausgeführt werden, indem bloß getan<br />

wird, was im Rahmen einer Ausbildung<br />

erlernt wurde – hier gilt es aus einer verinnerlichten<br />

Einstellung heraus, gewissermaßen<br />

autonom zu handeln. (Anzumerken<br />

ist hier, dass auch bisher schon z.B. in<br />

Lehr-, Sozial-, Therapie- und Pflegeberufen<br />

in hohem Maße fallbezogene Arbeiten<br />

durchzuführen waren. Typischerweise<br />

werden diese Menschen auf ein<br />

besonders hohes Berufsethos verpflichtet<br />

– es wird von ihnen erwartet, dass sie die<br />

Motivation für ihren Beruf nicht primär<br />

aus der – meist sowieso eher niedrigen –<br />

Bezahlung schöpfen, sondern aus dem<br />

Wunsch, „etwas Gutes“ tun zu wollen.)<br />

Jene Tätigkeiten, die trotz der in den<br />

letzten Jahrzehnten geschaffenen technologischen<br />

Möglichkeiten auch weiterhin<br />

von Menschen durchgeführt werden<br />

müssen, enthalten einen wachsenden<br />

Anteil eines spezifischen Vermögens, das<br />

zwar sehr häufig als „Wissen“ apostrophiert<br />

wird, die im Alltagsbewusstsein<br />

bestehende Dimension dieses Begriffs tatsächlich<br />

aber weit überschreitet. „Es geht<br />

nicht mehr nur um ,know what‘, also um<br />

die Anwendung kodifizierten Faktenwissens<br />

durch die Arbeitskräfte, sondern um<br />

darüber hinausgehende Qualifikationselemente“,<br />

sogenannte „tacit skills“ (unterschwellige<br />

Fähigkeiten), verschiedentlich<br />

– eher unscharf – auch als Know how bezeichnet.<br />

Darunter lassen sich „alle Formen<br />

des impliziten und informellen bzw.<br />

des Erfahrungswissens der Arbeitskräfte<br />

wie auch ihre Fähigkeit zur Kommunikation<br />

und Kooperation im Produktionsprozess“<br />

(Atzmüller 2004: 598) subsumieren.<br />

„Gefragt sind Erfahrungswissen,<br />

Urteilsvermögen, Koordinierungs-, Selbstorganisierungs-<br />

und Verständigungsfähigkeit,<br />

also Formen lebendigen Wissens,<br />

die (…) zur Alltagskultur gehören. Die<br />

Art und Weise, wie Erwerbstätige dieses<br />

Wissen einbringen, kann weder vorbestimmt<br />

noch anbefohlen werden. Sie<br />

verlangt ein Sich-selbst-Einbringen, in<br />

der Managersprache ,Motivation‘ ge-<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

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