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streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

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40 ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT<br />

nannt“ (Gorz 2004: 9). Die Fähigkeiten,<br />

die Arbeitnehmer für die Bewältigung<br />

der technologisch nicht substituierbaren<br />

Tätigkeiten brauchen, gehen über formal<br />

erlernbare wissenschaftlich-technische<br />

Kenntnisse und Qualifikationen im klassischen<br />

Sinn weit hinaus und übersteigen<br />

das in Schulen und Ausbildungsgängen<br />

traditionell erlernte formelle (Fach-)Wissen<br />

bei weitem. Derartige Aufgaben erfordern<br />

in hohem Maß Wissensformen,<br />

die nicht formalisierbar und deshalb systematisch<br />

auch nur sehr eingeschränkt<br />

lehrbar sind. Es handelt es sich dabei um<br />

„informelles Wissen“ (André Gorz), das<br />

seinem Träger nicht bloß „oberflächlich<br />

anhaftet“ sondern ihn als Individuum<br />

„betrifft“ und nachhaltig verändert.<br />

Wie fallbezogene Aufgaben zu erfüllen<br />

sind, lässt sich – ihrer Nicht-Formalisierbarkeit<br />

entsprechend – nicht an<br />

normierbaren Maßstäben der Arbeitserbringung<br />

messen, entzieht sich damit in<br />

letzter Konsequenz auch einer wirksamen<br />

Überwachung durch Kontrollorgane.<br />

Wie in derartigen Bereichen menschlichen<br />

Handelns vorzugehen ist, kann<br />

nicht anbefohlen oder kontrolliert werden,<br />

genau deshalb aber in traditioneller<br />

Form auch nicht gelehrt werden. Dass<br />

Schulen und Ausbildungsstätten sich in<br />

nahezu allen „entwickelten Ländern“ seit<br />

Jahren in einer Dauerkrise befinden und<br />

tiefgreifenden Veränderungsprozessen<br />

unterworfen sind, die Rolle und Funktion<br />

der Lehrenden in öffentlichen Bildungseinrichtungen<br />

von den verschiedensten<br />

Seiten kritisiert wird, sowie<br />

permanent neue Lernkulturen und die lebenslange<br />

Bereitschaft zum Weiterlernen<br />

eingefordert werden, hat im Kern genau<br />

mit diesem Wandel des Anforderungsprofils<br />

in der Arbeitswelt zu tun. Nicht<br />

zufällig fokussiert die Kritik am „traditionellen“<br />

schulischen Lernen sehr stark die<br />

dabei übliche Rolle des Lehrers/ der Lehrerin<br />

als zentraler Vermittlungsfigur von<br />

Lehrstoff und Hersteller/in von Lerndisziplin<br />

sowie den Umstand, dass in der<br />

Schule alle Schüler/innen im Gleichtakt<br />

dieselben Inhalte zu lernen und bei Prüfungen<br />

zu reproduzieren hätten. Das Argument,<br />

dass sich Lehrer/innen von ihrer<br />

traditionellen inhaltszentrierten Rolle<br />

verabschieden und zu Prozessmanager/<br />

innen selbstbestimmter Lernprozesse ihrer<br />

Schüler/innen – zu Lerncoaches, wie<br />

es verschiedentlich heißt – werden sollen,<br />

baut letztendlich – meist allerdings wohl<br />

eher unreflektiert – auf der Erkenntnis<br />

auf, dass sich die skizzierten neuen Anforderungen<br />

der Arbeitswelt tatsächlich systematisch<br />

nicht „vermitteln“ lassen. Deshalb<br />

muss sich die Schule von einem Ort<br />

der planmäßigen Vermittlung brauchbar<br />

machenden Wissens zu einem wandeln,<br />

wo es in erster Linie um die Sozialisierung<br />

von Heranwachsenden zum „unternehmerischen<br />

Selbst“ geht. Und dieses „fabriziert<br />

man nicht mit den Strategien des<br />

Überwachens und Strafens, sondern indem<br />

man ihre Selbststeuerungspotenziale<br />

aktiviert“ (Bröckling 2007: 61).<br />

Wenn das Sich-selbst-Einbringen als<br />

die Bereitschaft, unaufgefordert und unbeaufsichtigt<br />

im Sinne des unternehmerischen<br />

Verwertungsprozesses aktiv zu<br />

werden, zur wichtigsten Arbeitstugend<br />

avanciert, reicht es nämlich nicht mehr<br />

aus, als „brave/r Arbeitnehmer/in“ – den<br />

unternehmerischen Vorgaben entsprechend<br />

– antrainiertes Wissen und Können<br />

„zur Verfügung zu stellen“. Dazu<br />

sind Arbeitskräfte erforderlich, die gelernt<br />

haben, die Dimensionen der Verwertungslogik<br />

aus eigenem Antrieb auf sich<br />

anzuwenden und die nicht von der „antiquierten“<br />

Vorstellung eines grundsätzlichen<br />

Interessenswiderspruchs von Arbeit<br />

und Kapital angekränkelt sind; Menschen<br />

also, die gelernt haben, sich selbst<br />

(bloß noch) als Humankapital wahrzunehmen<br />

und freiwillig, ohne permanente<br />

Kontrolle, im Sinne der Verwertungsvorgaben<br />

aktiv zu werden. Dafür ist eine<br />

Einstellung notwendig, die mit dem Bewusstsein,<br />

(bloß) „Arbeit-Nehmer/in“ zu<br />

sein, der/die seine/ihre mehr oder weniger<br />

qualifizierte Arbeitskraft einem „Arbeit-Geber“<br />

über eine beschränkte Zeit<br />

zur Verfügung stellt und dafür eine vorab<br />

definierte Entlohnung und ein gewisses<br />

Maß an sozialer Sicherheit erwarten darf,<br />

nicht kompatibel. Vor allem bedarf es<br />

dazu Menschen, die nicht in der Vorstellung<br />

verhaftet sind, sich der Verwertung<br />

als Arbeitskraft nur aus der Not eines<br />

sonst nicht gesicherten adäquaten Überlebens<br />

zu unterwerfen, das „gute Leben“<br />

aber außerhalb der Verwertungssphäre<br />

ansiedeln. Nur wer zwischen Leben<br />

und Verwertung nicht mehr (zu) unterscheiden<br />

(ver)mag, ist bereit, sich auf seine<br />

Selbstvermarktung voll und ganz einzulassen<br />

und diese auch noch selbständig<br />

voranzutreiben. Damit ist nicht bloß gemeint,<br />

fremdbestimmter Arbeit positive<br />

Aspekte abzugewinnen und daraus – zumindest<br />

in Teilbereichen – Befriedigung<br />

zu schöpfen. Es geht um viel mehr, nämlich<br />

um die Herausbildung einer Persönlichkeit,<br />

die sich über ihre Verwertbarkeit<br />

definiert; um Menschen, die sich selbst nur<br />

mehr im Spiegel des Marktwerts wahrzunehmen<br />

imstande sind und dementsprechend<br />

nicht eine grundsätzlich gegebene<br />

menschliche Würde für sich reklamieren,<br />

sondern sich – in Abhängigkeit von ihrem<br />

beruflich-materiellen Erfolg – bloß<br />

noch als mehr oder weniger „wert-voll“<br />

empfinden können (und wollen).<br />

Das neue Lernen untergräbt die<br />

Möglichkeit von Bildung noch mehr<br />

als das alte<br />

Galt bisher die deklarierte Bereitschaft,<br />

jede Arbeit annehmen zu wollen, als Höhepunkt<br />

der Unterwerfungsgeste unter das<br />

System der Arbeitskraftverwertung, beweist<br />

eine derartige Aussage heute bloß,<br />

die Lektion noch immer nicht ausreichend<br />

begriffen zu haben. Nun geht es<br />

darum, auf die Vermarktung seiner selbst<br />

als Arbeitskraft „proaktiv“ zuzugehen<br />

und diese, sowie die Bedingungen, unter<br />

denen diese stattfindet, voll und ganz<br />

zu antizipieren. Unter diesen Umständen<br />

wird die Befähigung und das Wecken<br />

der Bereitschaft zur Selbstvermarktung<br />

selbstverständlich zum primären Ziel der<br />

Beeinflussung der Subjekte durch organisierte<br />

Lernprozesse. Schon Heranwachsende<br />

müssen das Bewusstsein ausbilden,<br />

Human-Kapital (und sonst gar nichts) zu<br />

sein und für dessen Reproduktion, Modernisierung,<br />

Erweiterung und Verwertung<br />

als „Geschäftsführer ihres eigenen<br />

Lebens“ die Verantwortung zu tragen.<br />

Sie müssen die Konkurrenzlogik verinnerlichen<br />

und lernen, sich ohne Zwang so<br />

zu verhalten, wie es die Wettbewerbsfähigkeit<br />

des Unternehmens, das sie selbst<br />

sind, erforderlich macht. Ganz in diesem<br />

Sinn fokussieren „fortschrittliche“ Schulprogramme<br />

neuerdings in abnehmendem<br />

Maß kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten,<br />

stattdessen aber zunehmend die<br />

Vermittlung sogenannter „Handlungskompetenzen“.<br />

Zwar wird nur selten der<br />

Versuch gemacht, den dabei verwendeten<br />

Begriff „Kompetenz“ einer bildungstheoretisch<br />

legitimierten und stringent<br />

nachvollziehbaren Bestimmung zuzuführen<br />

(dazu ausführlich Müller-Ruckwitt<br />

2008), bei kritischer Durchsicht der<br />

entsprechenden Appelle ist allerdings<br />

schnell klar, dass damit ganz wesentlich<br />

die Fähigkeit und Bereitschaft zur Adaption<br />

an die Prämissen der Selbstvermarktung<br />

angesprochen wird. Im Gegensatz<br />

zum Qualifikationsbegriff, der eng mit<br />

den konkreten Anforderungen bestimmter<br />

Berufe und Tätigkeiten verknüpft war<br />

und erst in Form der „Schlüsselqualifikationen“<br />

eine berufsübergreifende Er-<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

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