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ERICH RIBOLITS, BILDUNG HAT KEINEN WERT 37<br />

Bildung hat keinen Wert*<br />

ÜBER DEN VERLUST VON BILDUNG, SOBALD DIESER WERT ZUGESCHRIEBEN WIRD<br />

von Erich Ribolits<br />

* Auszug aus dem Buch von Erich Ribolits:<br />

Bildung ohne Wert – Wider die Humankapitalisierung<br />

des Menschen, Löcker-Verlag,<br />

Wien 2009, 200 Seiten, ca. 20 Euro.<br />

Spätestens nachdem am „Gipfel von<br />

Lissabon“ im Jahre 2000 durch die<br />

Europäischen Bildungsminister deklariert<br />

worden war, die Europäische Union zum<br />

„wettbewerbsfähigsten und dynamischsten<br />

wissensbasierten Wirtschaftsraum der<br />

Welt“ machen zu wollen, ist der Begriff<br />

„Wissensgesellschaft“ zum fixen Bestandteil<br />

von Festreden, Forschungsprogrammen<br />

und bildungspolitischen Absichtserklärungen<br />

geworden. Der Begriff, dessen<br />

Wurzeln bis in die 1960er Jahren zurückreichen,<br />

dient dabei als Kürzel, um einen<br />

seit mehreren Jahrzehnten konstatierten,<br />

grundsätzlichen Wandel der gesellschaftlichen<br />

und ökonomischen Bedeutung<br />

von Wissen zu argumentieren – einen<br />

Wandel, dem verschiedentlich eine gleichermaßen<br />

tiefgreifende Wirkung wie<br />

dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft<br />

zugesprochen wird (vgl.<br />

Miegel 2001: 203). Das Kürzel „Wissensgesellschaft“<br />

wird dabei in zwei unterschiedlichen<br />

Bedeutungen verwendet:<br />

einerseits als Metapher, um aktuell stattfindende<br />

gesellschaftliche Veränderungsprozesse<br />

zu charakterisieren, andererseits<br />

aber auch, um diese zu legitimieren und<br />

zu beschleunigen. Zum einen wird mit<br />

dem Begriff die in den letzten Jahrzehnten<br />

vor sich gegangene Durchdringung<br />

sämtlicher Lebensbereiche mit Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien<br />

(IKT) angesprochen, die tiefgreifende<br />

Veränderungen der kognitiven Tätigkeiten<br />

von Menschen sowie eine anwachsende<br />

Nachfrage nach wissens- und<br />

kommunikationsbasierten Dienstleistungen<br />

nach sich gezogen haben. Zum anderen<br />

dient der Begriff aber auch als Warnung<br />

und Appell: Er soll die Behauptung<br />

untermauern, dass die verwertbaren<br />

Kompetenzen der arbeitsfähigen Bevölkerung<br />

von Regionen und Staaten zunehmend<br />

die wichtigste Ressource der<br />

lokalen wirtschaftlichen Entwicklung<br />

darstellen und es somit erforderlich sei,<br />

ein konsequent an den Verwertungsvorgaben<br />

ausgerichtetes Lernen potenzieller<br />

Arbeitskräfte in allen Lebensbereichen<br />

und -altern zu forcieren.<br />

Beim angesprochenen Hochloben von<br />

Wissen zur entscheidenden Größe im allgemeinen<br />

Konkurrenzkampf wird nur<br />

selten reflektiert, dass die Bezugnahme<br />

auf die Größe „Wissen“ für die aktuelle<br />

Entwicklung tatsächlich wesentlich zu<br />

kurz greift und das Spezifische der derzeit<br />

stattfindenden Veränderung auch<br />

keineswegs schlüssig erklärt. Bei dem<br />

unter dem Titel Wissensgesellschaft firmierenden<br />

Paradigmenwechsel geht es<br />

nämlich durchaus nicht nur um einen<br />

bloßen Bedeutungsgewinn des Qualifikationsniveaus<br />

der Erwerbsbevölkerung<br />

in dem Sinn, dass möglichst viele Menschen<br />

im (Aus-)Bildungssystem möglichst<br />

hohe formale Abschlüsse erwerben,<br />

um das dabei erworbene Wissen in den<br />

wirtschaftlichen Verwertungsprozess einbringen<br />

zu können. Es stellt ja auch keine<br />

echte Neuigkeit dar, dass das Know<br />

how, auf das in einer Gesellschaft zugegriffen<br />

werden kann, einen engen Bezug<br />

zu Produktivität und Produktivitätssteigerung<br />

hat. Wissen war unzweifelhaft<br />

auch schon bisher wesentlicher Einflussfaktor<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Dass dem so ist, lässt sich nicht zuletzt an<br />

der dramatischen Krise zeigen, von der<br />

das kapitalistische Gesellschaftssystem aktuell<br />

heimgesucht wird. Die Ursache der<br />

abnehmenden Fähigkeit des postindustriellen<br />

Kapitalismus, menschliche Arbeitskraft<br />

zu vernutzen, ist ja nirgendwo<br />

anders zu suchen, als in den in den<br />

letzten Jahrzehnten auf Grundlage wissenschaftlicher<br />

Fortschritte geschaffenen<br />

„neuen“ Technologien und deren Rationalisierungspotential.<br />

Dass Waren heute<br />

immer rationeller – in immer kürzerer<br />

Zeit, durch immer weniger Arbeitskräfte<br />

– hergestellt werden können, deshalb aber<br />

immer mehr Menschen „freigesetzt“ werden<br />

und sich im aktuellen gesellschaftlichen<br />

System den Konsum der massenhaft<br />

und immer rationeller herstellbaren<br />

Waren nicht mehr leisten können, hängt<br />

letztendlich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

sowie deren massenhafter<br />

Verbreitung und Umsetzung zusammen.<br />

Nicht ein Mangel an Wissen, sondern die<br />

durch das Konkurrenzdiktat der marktgesteuerten<br />

Ökonomie gepushten Fortschritte<br />

im wissenschaftlich-technischen<br />

Wissen lassen das politisch-ökonomische<br />

System Kapitalismus zunehmend an seine<br />

Grenzen stoßen!<br />

Ohne spezifische Formen des Generierens<br />

und Weitergebens von Wissen ist<br />

wohl noch keine Gesellschaftsformation<br />

ausgekommen. Seit Menschen Gemeinschaften<br />

bilden, organisierten sie dabei<br />

auch Wissen, wobei sich dessen Qualität<br />

im Laufe der Geschichte selbstverständlich<br />

durchaus verändert hat. Seit der<br />

„Freisetzung der Konkurrenz“ im Rahmen<br />

der kapitalistischen Ökonomie stellt<br />

die Verfügung über Wissen und das systematische<br />

Weiterentwickeln verwertungsrelevanten<br />

Wissens zum Zweck der Profitmaximierung<br />

einen ganz wesentlichen<br />

Faktor der gesellschaftlichen Dynamik<br />

dar. Die diesbezügliche Verwertung von<br />

Wissen war somit von allem Anfang an<br />

ein bestimmendes Element der Industriegesellschaft<br />

gewesen; es mag deshalb erstaunen,<br />

dass erst jetzt, in einer weit fortgeschrittenen<br />

Phase des Kapitalismus, der<br />

Begriff Wissensgesellschaft geboren wurde<br />

und zu derartiger Bedeutung gelangte.<br />

Tatsächlich ist die Ursache dafür aber auch<br />

nicht bloß in einer aktuell vor sich gehenden<br />

Intensivierung der Kapitalisierung<br />

von Wissen zu suchen, sondern darin,<br />

dass diese – in ihrer traditionellen Form –<br />

gegenwärtig an Grenzen stößt und es im<br />

Zusammenhang damit erforderlich wird,<br />

völlig neue Dimensionen von Wissen der<br />

Verwertung zugänglich zu machen. Konkret<br />

geht es darum, dass der Fokus der<br />

Verwertung bisher primär auf formalisiertem<br />

Wissen gelegen ist, dieses aber<br />

heute zunehmend von seinen menschlichen<br />

Trägern losgelöst in Form von Software<br />

verfügbar ist. Die Folge ist, dass die<br />

systematische Aneignung von Wissen in<br />

organisierten Lernprozessen und seine instrumentelle<br />

Verwendung zunehmend an<br />

Bedeutung verliert, es im Gegenzug aber<br />

notwendig wird, dass Menschen lernen,<br />

mit Wissen in einer völlig veränderten<br />

Form umzugehen.<br />

Wissen wird ja auf zwei gänzlich unterschiedlichen<br />

Wegen erworben bzw.<br />

stehen Individuen dem von ihnen erwor-<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

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