29.08.2014 Aufrufe

streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION 17<br />

in ihrer Welt wieder anerkennen will, keine<br />

geringere Aufgabe stellen können“,<br />

schreibt Guy Debord (Die Gesellschaft<br />

des Spektakels, Abs. 179).<br />

In der Krise der Städte manifestiert<br />

sich die Krise der kapitalistischen Gesellschaft.<br />

Ihren konkreten Ausdruck findet<br />

die Krise in den Wirklichkeiten der urbanen<br />

Lebensweise; und dies nicht einfach<br />

nur in einer Veränderung der kulturellen<br />

Ansprüche der Stadtbewohner an<br />

„ihre“ Stadt, „ihr“ Viertel, „ihre“ Siedlung,<br />

„ihre“ Straße oder schließlich „ihr“<br />

Haus und „ihre Wohnung“, sondern<br />

überhaupt in einer Kulturalisierung der<br />

subjektiven Selbstverortung (die gleichwohl<br />

in die Selbstautorisierung und Authentifizierung<br />

der eigenen Viertel-Identität<br />

unmittelbar zurückschlägt).<br />

Im Zuge dieser Dynamik zwischen urbanisiertem<br />

Individualismus und individualisiertem<br />

Urbanismus wird „das Soziale“ zum<br />

Teil in „das Kulturelle“ übersetzt, zum<br />

Teil auch vom „Kulturellen“ überlagert.<br />

Trotz der sich eklatant und brutal vermehrenden<br />

sozialen Miseren in den letzten<br />

Jahrzehnten (Arbeitslosigkeit, Hartz<br />

IV, Zusammenbruch des Sozialsystems,<br />

i.e. Renten- und Krankenversicherung,<br />

rapide steigende Lebenshaltungskosten,<br />

Verschuldung und Privatinsolvenzen,<br />

Obdachlosigkeit etc.), scheint sich das<br />

Augenmerk in Bezug auf die Sicherung<br />

der eigenen Situation selbst in den so genannten<br />

Problemvierteln immer mehr<br />

auf periphere und temporäre „kulturelle“<br />

Angebote zu beziehen. Das ist Ideologie,<br />

die allerdings gerade durch die<br />

Selbstinszenierungen einer so genannten<br />

Kulturlinken gewissermaßen „vorgelebt“<br />

wird: Unter der Parole, dass das Private<br />

das Politische ist, wurde im Verlauf<br />

der neunziger Jahre das Politische privatisiert.<br />

Heute meint selbst in den Resten<br />

einer ‚politischen Linken‘ „Politik“ nicht<br />

mehr eine Gesamtheit gesellschaftlicher<br />

Aktivitäten; statt dessen wird „Politik“<br />

von gesellschaftlichen Themenfeldern<br />

abgetrennt und rückt in den Nahbereich<br />

des Lebensumfeldes und privater Interessen,<br />

oder wird gänzlich aus dem eigenen<br />

Handlungsbereich ausgelagert.<br />

Gerade in der Zeit, in der soziale Probleme<br />

im urbanen Raum massiv und für<br />

alle sichtbar in Erscheinung treten, konzentriert<br />

man sich in der Beschäftigung<br />

mit dem urbanen Raum als (eigenes) Lebensumfeld<br />

vorrangig, wenn nicht ausschließlich<br />

mit isolierten kulturellen Phänomenen.<br />

Auffällig zudem, in welchem<br />

Maße die heute sich Engagierenden ohne<br />

Beziehungen zueinander operieren und<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Auseinandersetzungen auch auf einzelne<br />

Stadtteile oder sogar Straßenzüge isoliert<br />

bleiben. Selbst die Kritik der Gentrifizierung<br />

orientiert sich nicht mehr am ganzen<br />

Viertel oder gar an einer Kontextualisierung<br />

der betreffenden Vierteln mit<br />

anderen Vierteln oder der Gesamtstadt,<br />

sondern konzentriert sich auf einige wenige,<br />

repräsentative, eher symbolisch als<br />

für die urbane Struktur bedeutsame Gebäude<br />

und Bauvorhaben.<br />

So war im Schanzenviertel das Wasserturm-Hotel<br />

(Schanzenpark) das einzige<br />

Bauprojekt, an dem sich Widerstand<br />

entzündete; nahezu alle übrigen Baumaßnahmen,<br />

Sanierungen wie Neubau,<br />

konnten ohne jedweden faktischen Protest<br />

durchgeführt werden, das betrifft<br />

sowohl den riesigen Messe-Komplex als<br />

auch die Neubauten im Schulterblatt,<br />

die mit ihren Fassenden mittlerweile den<br />

architektonischen Charakter der Straße<br />

vollkommen verändert haben. Themen<br />

wie Umweltschutz, Infrastruktur-Angebote<br />

(Kindergärten, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten<br />

etc.), Mieten scheinen<br />

sich in den Partikularismus einer individualisierten<br />

Interessenverteidigung verschoben<br />

zu haben; an ihnen entzünden<br />

sich nur noch punktuelle (zeitliche wie<br />

räumliche) Defensivkonflikte. Was darüber<br />

hinaus im städtischen Bereich noch<br />

an explizit oder implizit urbanen Bewegungen<br />

übrig geblieben ist, oder vielleicht<br />

auch deklariert, sich als Bewegung<br />

neu zu formieren (man denke an<br />

den Euromayday und die dem einhergehende<br />

Prekarisierungsdebatte) unterliegt<br />

einem Zustand der Starre, wenn<br />

nicht Paralyse.<br />

Radikalität als Ritual<br />

Entscheidend für die Gentrification genannten<br />

Prozesse ist nicht nur eine „Aufwertung“<br />

des betreffenden Viertels durch<br />

neue Bewohnergruppen, die bereit sind<br />

höhere Mieten zu zahlen und die ihre<br />

Identifikation mit dem Viertel mit neuen<br />

Codes permanent demonstrieren, die<br />

eben durch solche – sei’s auch unbewussten<br />

Strategien „einkommensschwache“<br />

Bewohner verdrängen; entscheidend<br />

ist auch der politisch-ökonomische<br />

Eingriff in das Viertelleben, nämlich die<br />

Übernahme von staatlichen und marktwirtschaftlichen<br />

Funktionen und Posten.<br />

Es werden Läden und Kneipen eröffnet,<br />

Waren verkauft, und zum Teil die Verfolgung<br />

und sogar Bestrafung von Regelverstößen<br />

in Eigenregie in die Hand<br />

genommen (Diebstahl unter Freunden,<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!