streifzuege_47 Kopie - Streifzüge
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NICOLETTA WOJTERA, HINTERWIRKLICHKEITEN 31<br />
einer subtilen Mehrdimensionalität; der<br />
Roman setzt Leben zusammen aus Zimmern,<br />
Wohnungen, Einrichtungen, Küchen-,<br />
Bad- und Wohnzimmermöbeln,<br />
aus Einzelnen und Paaren und der versuchten<br />
Selbstverortung in einem Haus<br />
mit 99 Zimmern.<br />
Die spürbare Getriebenheit des Einzelnen<br />
im undurchdringbaren Labyrinth der<br />
modernen Existenz bei Rilke und Hofmannsthal<br />
wird zum frei flottierenden Lebensspiel,<br />
das Ich wird zu einem Puzzle in<br />
der Ambivalenz der Frage danach, wer puzzelt<br />
und wer definiert das Puzzle? Denn –<br />
„Die Kunst des Puzzles beginnt (…), wenn<br />
der, der sie fertigt, sich alle Fragen zu stellen<br />
sucht, die der Spieler lösen muss, wenn<br />
er, statt den Zufall die Spuren verwischen<br />
zu lassen, an seine Stelle die List, die Falle,<br />
die Illusion zu setzen gedenkt: (…)“ Und<br />
dennoch ist es „allem Anschein zum Trotz<br />
(...) kein solitäres Spiel: jede Gebärde, die<br />
der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller<br />
vor ihm bereits gemacht; jeder<br />
Baustein, den er immer wieder zur Hand<br />
nimmt, den er betrachtet, den er liebkost,<br />
jede Kombination, die er versucht und immer<br />
wieder versucht, jedes Tasten, jede Intuition,<br />
jede Hoffnung, jede Entmutigung,<br />
sind von dem andern ergründet, auskalkuliert,<br />
beschlossen worden.“<br />
Perec fragmentiert und er fügt zusammen:<br />
99 Zimmer, einzeln und auf sich<br />
zentriert in der übergeordneten Einheit<br />
eines Wohnhauses, gespeist durch zwei<br />
Protagonisten – den Puzzlespieler und<br />
den Puzzlehersteller in der Synthese des<br />
Hauses und doch singulär in der Vereinzelung<br />
des Seins..<br />
Die Vereinzelung im Raum – damit<br />
hat die (Post-)Moderne ihren literarischen<br />
„Hybriden“ gefunden. Heideggers<br />
„Bauen Wohnen Denken“ und Botho<br />
Strauß’ „Wohnen Dämmern Lügen“ bedingen<br />
sich, Gerhard Kurz hat zu Recht<br />
darauf hingewiesen. In der Interferenz<br />
von Baudelaires „Staccato“ und Heideggers<br />
„Rede von Mensch und Raum“ ist<br />
es Botho Strauß, der den entscheidenden<br />
Schritt zur Hybridisierung des Wohnens<br />
in der Literatur geht.<br />
Wo Heidegger feststellt: „Das Verhältnis<br />
von Mensch und Raum ist<br />
nichts anderes als das wesentlich gedachte<br />
Wohnen“, setzt Botho Strauß ein mit<br />
der Frage: „Wann merkt ein Mann, dass<br />
er auf einem stillgelegten Bahnhof sitzt<br />
und vergeblich auf seinen Zug wartet?<br />
Denn es ist schwer, vielleicht unmöglich,<br />
in einem Wartesaal einzukehren,<br />
um seine erschöpften Beine auszuruhen,<br />
und gegen den Raumsinn zu empfinden,<br />
dass hier kein Warten mehr belohnt<br />
wird.“<br />
Der Roman „Wohnen Dämmern Lügen“<br />
demontiert weit mehr als Perecs<br />
„Das Leben“ die gesellschaftliche (Ko-)<br />
Existenz des Einzelnen in der Frage nach<br />
der Konstante einer Sinn stiftenden Einheit.<br />
Wo Perec das Haus, und darin 99<br />
Zimmer, als Rahmen des „modernen“<br />
Spiels, des Puzzles mit dem Ziel des großen<br />
Ganzen definiert, überblendet Botho<br />
Strauß diesen Halt gewährenden Parameter<br />
in der programmatischen Ausrichtung<br />
auf das systematisierte Chaos.<br />
Die Kapitelstruktur von Strauß’ Roman<br />
ist rein visuell: Die Satzanfänge<br />
der Kapitel im Buchraum sind typografisch<br />
differenziert; 37 Kapitel nehmen die<br />
Diskordanz der Moderne in der Raumstruktur<br />
des Lebens auf: Es sind Einzelne<br />
und Paare, Ehepaare und Kinder, die einen<br />
Teil des Lebens-Raumes im Roman<br />
einnehmen und ihn doch nicht füllen. Da<br />
ist „Er“, der einfach nicht auszog aus einer<br />
längst überlebten WG-Idee, dessen<br />
Freund längst als Freund nicht mehr bezeichnet<br />
werden kann und der „für zwei<br />
Stunden am Nachmittag zwischen vier<br />
und sechs (…) den Stuhl in den Flur<br />
(rückt), dicht neben die Wohnungstür.<br />
Treppensteigen hören!“ Und da ist Julias<br />
Mutter, die zurückschaut, denn „Jemand<br />
ist auf dem Weg zurückgeblieben. Jemand<br />
lässt auf sich warten.“ In einem anderen<br />
Moment stellt sie fest, „man laokoonisiert<br />
langsam, ganz allmählich geht das<br />
Geschlinge in den Zustand, in die Reglosigkeit<br />
über. Zeit raus, Raum rein.<br />
(…) Raum! … Raum! Wie ein Erstickender<br />
um Atem, so rang sie um Raum … als<br />
die Zeit versiegte in ihren Adern (…)“<br />
Das Ringen um (Lebens-)Raum und<br />
die parallel sich vollziehende Dissoziation<br />
des modernen Menschen in der Suche<br />
nach Individualität konzentriert Strauß in<br />
dem Theaterstück „Die Zeit und das Zimmer“<br />
jeweils in einem einzigen Raum. Das<br />
„Staccato der Zeit“, wir erinnern uns an<br />
Baudelaire, manifestiert sich in der räumlichen<br />
Lebenssituation. Der Autor verlegt<br />
die Differenzierung des Lebens als Solitär<br />
im Raum in das Medium eines Theaterstückes<br />
und eröffnet damit die physische<br />
Mehrdimensionalität von Heideggers<br />
„wesentlich gedachte(m) Wohnen“ in der<br />
Literatur. Das Zimmer als Lebens-Raum<br />
hat sich längst seiner bewahrenden und<br />
schützenden Funktion begeben, und in<br />
der Konsequenz dieses Paradigmenwechsels<br />
liegt das andere Ende des Spannungsbogens,<br />
der mit Rilke begonnen hatte. Die<br />
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LIVING ROOM<br />
<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009