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streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

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ROGER BEHRENS, GENTRIFICATION 15<br />

Adorno wohnt trotzdem<br />

Der Mensch im Kapitalismus ist<br />

nicht bei sich zu Hause. Er ist<br />

den gesellschaftlichen Verhältnissen,<br />

die er doch selbst macht, ausgeliefert.<br />

Was inhaltlich nicht nur das Motiv<br />

Marxens war, sondern auch bei Adorno<br />

im Mittelpunkt stand, wollte Letzterer<br />

auch sprachlich zum Ausdruck<br />

bringen. Da das Ich nicht bei sich zu<br />

Hause ist, sollte auch das Reflexivpronomen<br />

sich möglichst weit vom zugehörigen<br />

Subjekt entfernt stehen. Eine<br />

Sprachmacke – aber eine mit Sinn.<br />

Überhaupt spielte das Wohnen bei<br />

Adorno eine besondere Rolle. So lässt<br />

sich in gewisser Weise sagen, dass er<br />

Zeit seines Lebens – und nicht nur<br />

während der Zeit in den Vereinigten<br />

Staaten – im Exil lebte. Denn es sich<br />

einfach häuslich einzurichten im Kapitalismus,<br />

das kam für ihn nicht in<br />

Frage. Stets umgetrieben von dem<br />

Gefühl, der Faschismus könne zurückkehren,<br />

hatten er und seine Frau<br />

Gretel die Wohnung in Frankfurt<br />

niemals wirklich eingerichtet.<br />

In den Minima Moralia formulierte<br />

er das grundsätzliche Problem kritischer<br />

Intelligenz, am Widerspruch<br />

Areale, ganze Dörfer und Kleinstädte<br />

baulich erschlossen wurden.<br />

Mit dem Ende des „goldenen Zeitalters“<br />

der Wohlstandsgesellschaft sind die<br />

Städte selbst ungeheuren Transformationen<br />

unterworfen: Die rücksichtslose<br />

Kommodifizierung des Wohnens heißt<br />

nun nicht mehr, einfach aus der Vermietung<br />

eines Schutz- und Ruheraums Profit<br />

zu schlagen, sondern den Wohnraum<br />

als Ware sich über die „urbane Lebensqualität“<br />

gleichsam selbst rechtfertigen<br />

zu lassen: das heißt nicht nur, bereitwillig<br />

in einem als „chic“ geltenden Stadtteil<br />

überproportional mehr Miete zu zahlen,<br />

sondern auch die endgültige Bestätigung<br />

des Fetischcharakters dieser Ware, nämlich<br />

dass Wohnraum, Strom, Wasser etc.<br />

natürlich, d.h. selbstverständlich bezahlt werden<br />

müssen.<br />

Transformation der Städte<br />

Auch diese Transformation der Städte<br />

wird nach wie vor von einer Idee des<br />

Wohnens begleitet, die sich an der wie<br />

2000 Zeichen<br />

von Anspruch und Wirklichkeit<br />

nicht zu vergehen, am Beispiel des<br />

Wohnens. Egal welche Wohnform,<br />

egal welchen Typus von Architektur<br />

die Einzelnen auch wählen mögen:<br />

überall sei es im Grunde unmöglich,<br />

schadlos zu wohnen.<br />

Wer in seinen eigenen vier Wänden<br />

wohne, der mache sich schuldig,<br />

solange anderen das Wohnen versagt<br />

bliebe. Doch ohne Wohnung steige<br />

nur die Abhängigkeit von den gesellschaftlichen<br />

Bedingungen. Und<br />

wer wollte schon an der „lieblosen<br />

Nichtachtung der Dinge“ teilhaben,<br />

die doch dem Kapitalismus immer<br />

schon innewohnt? Wobei auch das,<br />

kaum ausgesprochen, schon zur Ideologie<br />

wird für jene, „welche mit<br />

schlechtem Gewissen das Ihre behalten<br />

wollen.“<br />

In genau diesem Sinne gibt es<br />

„kein richtiges Leben im falschen“.<br />

Nicht, dass wir nun eine Ausrede<br />

hätten, nichts zu tun. Wir müssen nur<br />

um die Beschränktheit unseres Handelns<br />

wissen und es stets aufs Neue<br />

auf seine praktischen Folgen für unser<br />

Leben und das Streben nach Emanzipation<br />

befragen.<br />

J.B.<br />

abwärts<br />

auch immer idealisierten Vorstellung der<br />

Lebensweise des Adels orientiert. Deshalb<br />

verwundert es nicht, dass bei einigen<br />

dieser städtischen Veränderungen in<br />

den achtziger Jahren nun von „Gentrification“<br />

gesprochen wird: der Begriff<br />

leitet sich vom englischen ‚Gentry‘ her,<br />

womit ehedem der niedere Adel vom<br />

höheren Adel (‚Peers‘, ‚Nobility‘) unterschieden<br />

wurde; die Gentry waren indes<br />

den einfachen Bürgern sozial und rechtlich<br />

übergeordnet. Einer der Protofälle<br />

der Gentrifizierung war in den achtziger<br />

Jahren in Manhattan (New York),<br />

insbesondere in Soho zu beobachten: In<br />

den von Zerfall und Armut betroffenen<br />

und von „sozial Schwachen“ bewohnten<br />

Viertel zog nun ein neuer „niederer<br />

Adel“, nämlich jugendliche und<br />

jung-erwachsene deklassierte Bürger<br />

und Kleinbürger, die ihre Lebensweise<br />

zwar vom Establishment abgrenzten,<br />

aber dennoch aufwerteten, indem sie<br />

ihre Lebensweise als bewussten Lebensstil<br />

erhöhten; sie – Studenten, Künstler,<br />

erfolglose Kleinunternehmer, gut ausgebildete<br />

Teilzeit-Jobber, die ersten professionellen<br />

Computer-Nerds etc. – eroberten<br />

Stadteile wie Soho als Bühne,<br />

für die Häuser, Straßen und alle anderen<br />

Bewohner nur eine – letzthin austauschbare<br />

– Kulisse darstellten: so konnten sie<br />

gerade in diesen Problemgebieten ein<br />

innerhalb der allgemeinen etablierten<br />

Maßstäbe nicht sonderlich erfolgreiches,<br />

kohärentes Lebensmodell als homogene,<br />

schließlich an diesem Ort auch hegemoniale<br />

Subkultur inszenieren; dies war<br />

schnell ökonomisch attraktiv, weil diese<br />

Subkultur einen riesigen neuen Arbeitsund<br />

Absatzmarkt bot, über den sich dieser<br />

„neue niedere Adel“ scheinbar autark<br />

und alternativ, schließlich finanziell erfolgreich<br />

versorgen konnte: Was Anfang<br />

der achtziger Jahre in den USA als Yuppisierung<br />

(Yuppie = young urban professionals)<br />

begann, endete mit dem Zerplatzen<br />

der New Economy-Blase um 2000.<br />

Was sich in diesem Zeitraum in den<br />

Metropolen an Gentrification vollzog,<br />

war zwar räumlich auf einzelne Stadtteile<br />

beschränkt, fand aber seine Parallele<br />

in einer neuen Form des konsumistischen<br />

Individualismus, mit der sich ein<br />

Sozialcharakter des „autonomen Konformisten“<br />

konstituierte, der sich vorrangig<br />

über verschiedene Selbst-Ästhetisierungsstrategien<br />

definiert. Zu<br />

diesen Strategien gehört nach wie vor<br />

die „bewusste“ Entscheidung für einen<br />

Wohnort, der mit einem Lebensstil<br />

beziehungsweise mit Lebensqualität<br />

identifiziert wird. Diese Identifikation<br />

ist allerdings heute keine produktive<br />

und kreative mehr (wonach ein bestimmtes<br />

Image eines Viertels erst im<br />

Alltag hergestellt wird), sondern funktioniert<br />

reproduktiv und rezeptiv als reiner<br />

Schematismus (wonach ein erwartetes,<br />

vorgegebenes Image eines Viertels<br />

adaptiert beziehungsweise konsumiert<br />

wird).<br />

Für die gegenwärtig in den Städten zu<br />

beobachtenden Transformationsprozesse,<br />

vor allem dort, wo auch heute wieder<br />

von Gentrifizierung gesprochen wird, hat<br />

dies aberwitzig erscheinende Konsequenzen:<br />

Gerade in den Stadtteilen Schanzenviertel,<br />

St. Pauli, Altona, Karolinenviertel<br />

und auch Wilhelmsburg sind es Gentrifizierungsgegner,<br />

die eine erste Gentrifizierungswelle<br />

vor zehn oder fünfzehn<br />

Jahren selbst in Gang gesetzt haben. Insgesamt<br />

wird deutlich, dass die Idee kultureller<br />

Aufwertung mit ihrem eigentlichen<br />

ökonomischen Zweck nicht kompatibel<br />

ist und eine Gentrifizierungskritik,<br />

die nur den eigenen Freiraum, Lifestyle<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

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