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streifzuege_47 Kopie - Streifzüge

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NICOLETTA WOJTERA, HINTERWIRKLICHKEITEN 29<br />

zen unter lauter ruhigen, sesshaften Dingen<br />

(…). Zu sitzen (…) und ein Dichter<br />

zu sein. Und zu denken, dass ich auch so<br />

ein Dichter geworden wäre, wenn ich irgendwo<br />

hätte wohnen dürfen, irgendwo<br />

auf der Welt, in einem von den vielen<br />

verschlossenen Landhäusern, um die sich<br />

niemand bekümmert. Ich hätte ein einziges<br />

Zimmer gebraucht (…). Aber es ist<br />

anders gekommen (…). Meine alten Möbel<br />

faulen in der Scheune.“<br />

Rilke betont das Wohnen im Gegensatz<br />

zum „Leben“, und er nimmt damit<br />

eine Unterscheidung vorweg, die Judith<br />

Hermanns Erzählung „Hunter-Tompson-<br />

Musik“ als Lebenswirklichkeit am Ende<br />

des 20. Jahrhunderts beschreiben wird.<br />

Für Heidegger ist das „Verhältnis von<br />

Mensch und Raum (…) nichts anderes als<br />

das wesentlich gedachte Wohnen“, dessen<br />

Komplexität sich in der Literatur manifestiert.<br />

Mit Blick auf Hölderlin stellt<br />

Heidegger fest: „Das Dichten erbaut das<br />

Wesen des Wohnens. Dichten und Wohnen<br />

schließen sich nicht nur nicht aus.<br />

Dichten und Wohnen gehören vielmehr,<br />

wechselweise einander fordernd, zusammen.<br />

(…) Das Dichten ist das Grundvermögen<br />

des menschlichen Wohnens.“<br />

Gedanken zur modernen Literarizität<br />

von Wohnen<br />

Destruktion, Provokation, Hohn und<br />

Widerspruch – der Impetus der Moderne<br />

ist die Dekonstruktion überlieferter Formen,<br />

das Brechen mit herkömmlichen<br />

Darstellungsverfahren. Dennoch sind<br />

wir möglicherweise „nie modern gewesen“,<br />

denn die systemische und für die<br />

menschliche Existenz produktiv gemachte<br />

Korrelation von Natur, Technik und<br />

Mensch wird innerhalb der herrschenden<br />

lebensweltlichen Wirklichkeit(en) nicht<br />

erreicht. Aber vielleicht lässt sich gerade<br />

diese Diskordanz in der Interferenz<br />

von Literatur, Literarizität und Wohnen<br />

aufzeigen.<br />

Das Wohnen als Existenzparameter<br />

wird in der Literatur der Moderne zum<br />

Hybrid, zum „Quasi-Objekt“ zwischen<br />

dem essenziellen Erfordernis des „Sich-<br />

Behagens“ und einer dem Menschen äußerlichen<br />

existenziellen Mobilität, die<br />

zu seiner „Unbehaustheit“ (Holthusen,<br />

1951) führt und in der kumulativen Ruhelosigkeit<br />

der Existenz bei Botho Strauß<br />

und Judith Hermann qua Selbstaufhebung<br />

endet.<br />

Nicht lange nach Heideggers „Wohnen<br />

des Menschen“ diagnostiziert Lyotard die<br />

„Verschiebung im Raum“ als qualitative<br />

Modifikation der Existenz. Der Nietzscheanische<br />

Dualismus von Subjekt und<br />

Objekt potenziert sich in der „universellen<br />

Mobilmachung“ (Lyotard, 1989), und<br />

die Grimm’sche Definition des „sich an<br />

einer Stelle wohl befinden“ wird zu einem<br />

flüchtigen Anwesend-Sein.<br />

Wohnen berührt die Existenz, das Sein<br />

und ein „Sichzusichverhalten als Daseinsstruktur“<br />

(Biella, 1998). Ausdrucksform<br />

und Medium dieses Sichzusichverhaltens<br />

kann die Literatur sein, ihre (Un-)Tiefen<br />

und Grenzwerte als mögliche Poetologie<br />

der menschlichen soziokulturellen Existenz.<br />

Denn am Ende unserer Betrachtungen<br />

steht eine schlichte Antwort auf die<br />

Frage „Weshalb Sie hier leben? – Weil ich<br />

fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen<br />

meinen Koffer packen, die Tür hinter<br />

mir zuziehen, gehen.“ (Judith Hermann,<br />

Hunter-Tompson-Musik).<br />

Entlang dieser Skizzen und Gedanken<br />

liegt ein literarischer Spannungsbogen,<br />

den wir verfolgen können und der<br />

uns zeigen mag, ob die Literatur und die<br />

Metaphorik des Wohnens für das Projekt<br />

der (Post-)Moderne eine eigene ästhetische<br />

Projektionsfläche bildet.<br />

III. Rilke, Hofmannsthal, Kafka,<br />

Perec, Strauß, Hermann…<br />

Was passiert zwischen Rainer Maria Rilkes<br />

„Malte Laurids Brigge“ und Judith Hermanns<br />

„Hunter-Tompson-Musik“? Was<br />

liegt auf diesem knapp ein Jahrhundert<br />

umfassenden Spannungsbogen, dass sich<br />

die beiden literarischen Entwürfe am Ende<br />

im „Asyl“ treffen? Zwei gleichsam „Moderne“<br />

exemplifizieren die Frage des Daseins<br />

im „Raum“ entlang einer Wohnstatt:<br />

„Es war im Plan nicht zu finden, aber über<br />

der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyl<br />

de nuit.“ – „Es ist ein Asyl, ein Armenhaus<br />

für alte Leute, eine letzte verrottete Station<br />

vor dem Ende, ein Geisterhaus.“ – „Neben<br />

dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie<br />

gelesen. Es war nicht teuer.“<br />

Hans Egon Holthusen lässt den Beginn<br />

der Moderne und die Existenz des „unbehausten<br />

Menschen“ mit Blick auf Rilke<br />

einsetzen: „1910 also. Es war das Jahr, in<br />

dem die ,Aufzeichnungen des Malte Laurids<br />

Brigge‘ erschienen, das Pariser Tagebuch<br />

eines jungen Menschen, der von sich<br />

sagte, dass ,dieses so ins Bodenlose gehängte<br />

Leben eigentlich unmöglich sei‘“.<br />

Das „Pariser Tagebuch“ ist das Tagebuch<br />

eines Unbehausten im Wortsinn;<br />

Rilkes Malte Laurids Brigge sucht<br />

nach der Wohnstatt, nach der räumlichen<br />

„Ver-Ortung“ (s)einer Existenz.<br />

Diese Suche ist eine Suche in der Interferenz<br />

der Subjekt-Objekt-Relation,<br />

für die Nietzsche das ästhetische<br />

Verhalten als die einzig denkbare Lebenswirklichkeit<br />

definiert hatte. Und in<br />

der brachialen Erkenntnis des Subjektes<br />

zwischen der Dichotomie der Dinge<br />

setzt Rilke ein mit der unrevidierbaren<br />

Form von Leben – mit dem Tod –, indem<br />

er feststellt: „So, also hierher kommen<br />

die Leute, um zu leben, ich würde<br />

eher meinen, es stürbe sich hier. (…)<br />

Ich habe einen Menschen gesehen, welcher<br />

schwankte und umsank. Die Leute<br />

versammelten sich um ihn, das ersparte<br />

mir den Rest.“ Dieser Unmittelbarkeit<br />

des Todes korrespondiert eine spezifische<br />

Ambivalenz, denn – „Die Hauptsache<br />

war, dass man lebte. Das war die<br />

Hauptsache.“<br />

Die Polarität der Sphären, ihre Überlagerung<br />

in der Feststellung eines gelebten<br />

Todes wird lanciert von einer äußeren<br />

Dynamik, die die innere Lebenswelt<br />

unmittelbar erfasst und in der Wohnsituation<br />

kumuliert, wenn Malte im Tagebuch<br />

festhält: „Elektrische Bahnen rasen<br />

läutend durch meine Stube. Automobile<br />

gehen über mich hin.“<br />

Das Pariser Tagebuch lässt die Amplituden<br />

der Moderne ausschlagen, und<br />

die Perspektive der eigenen Wohnsituation<br />

bestimmt ihre Frequenz in der Frage<br />

Maltes „Was für ein Leben ist das eigentlich:<br />

ohne Haus, ohne ererbte Dinge,<br />

ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens<br />

seine Erinnerungen. Aber wer hat die?“<br />

Zuhause sein, bei sich sein, sich behagen<br />

– wir erinnern uns an die Definition<br />

des Grimm’schen Wörterbuches.<br />

Rilke differenziert die semantische Zuordnung:<br />

Die Kohärenz von Wohnen<br />

und Leben wird perspektivisch variiert<br />

und erweitert, indem der Wohn-Raum<br />

der Bücher, die Nationalbibliothek in Paris,<br />

als Lebens-Raum apostrophiert wird,<br />

bei dem man „eine besondere Karte haben<br />

(muss), um in diesen Saal eintreten<br />

zu können. (…) und dann bin ich zwischen<br />

diesen Büchern, bin euch weggenommen,<br />

als ob ich gestorben wäre, und<br />

sitze und lese einen Dichter.“<br />

Rilke kontrastiert den von Kondylis<br />

bezeichneten „Niedergang der bürgerlichen<br />

Denk- und Lebensform“ in der Kohäsion<br />

des Wohnens und der offengelegten<br />

Fassade der modernen Existenz. Er<br />

formuliert den einsetzenden Niedergang<br />

äußerer Harmoniestrukturen in Parallele<br />

zu einer unaufhaltsamen Dynamik der<br />

Existenz: „Denn das ist das Schreckliche<br />

(…): es ist zu Hause in mir.“<br />

Auf dieser Projektionsfläche schließlich<br />

geschieht im zweiten Teil der „Auf-<br />

LIVING ROOM<br />

<strong>Streifzüge</strong> N° <strong>47</strong> / Dezember 2009

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