Franz Schandl inspiziert Fassaden * Ernst Lohoff ... - Streifzüge
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PAOLO LAGO,OTIUM UND NEGOTIUM 17<br />
Liebe“) (V. 141-144): quam platanus vino<br />
gaudet, quam populus unda / et quam limosa<br />
canna palustris humo, / tam Venus otia amat;<br />
qui finem quaeris amoris,/ cedit amor rebus;res<br />
age: tutus eris („Wie sich die Platane der<br />
Weinranke erfreut, wie die Pappel des<br />
Wassers, / und wie das Schilf im Sumpf<br />
sich des schlammigen Bodens, / so liebt<br />
Venus die Muße; du suchst eine Liebe zu<br />
beenden – Liebe weicht dem Geschäft;sei<br />
geschäftig und du wirst es sicher erreichen“).<br />
…und bei Seneca<br />
Von einem Poeten zu einem Philosophen.<br />
Es war Seneca (4 v. – 65 n.), der das otium<br />
als Lebensweise voll rehabilitiert hat. Genauer<br />
gesagt ist es seine Schrift De brevitate<br />
vitae („Von der Kürze des Lebens“),in der<br />
er sich darum bemüht, einen positiven<br />
Sinn der Ausdrücke otiosus und otiosa vita<br />
herauszuarbeiten. Die Abschnitte XII,2,<br />
XIII,1 und XIV,1 sind eine methodische<br />
Anstrengung,die Muße zu rehabilitieren,<br />
die Kapitel XII und XIII stellen eine Anklage<br />
gegen die landläufigen Definitionen<br />
der vita otiosa dar,während der Beginn des<br />
XIV. eine engagierte Verteidigung des<br />
philosophischen otium ins Werk setzt: soli<br />
omnium otiosi sunt qui sapientiae vacant, soli<br />
vivunt („Allein von allen sind diejenigen<br />
der Muße hingegeben,die für Philosophie<br />
Zeit haben;sie allein leben“).Was aber gemeinhin<br />
als otium – Muße – angesehen<br />
wird,ist das für Seneca nicht.Es war es damals<br />
nicht und ist es heutigen Tags nicht.<br />
Wir versuchen eine Gegenüberstellung<br />
dessen,was Seneca dazu in De brevitate vitae<br />
bezüglich der Menschen des 1.Jh.n.Chr.<br />
sagt,mit dem,was wir im Manifest gegen die<br />
Arbeit der Gruppe Krisis aus dem Jahre<br />
1999 lesen.<br />
So schreibt Seneca:Persequi singulos longum<br />
est,quorum aut latrunculi aut pila aut excoquendi<br />
in sole corporis cura consumpsere<br />
vitam.Non sunt otiosi,quorum voluptates multum<br />
negotii habent (XIII, 1) („Es würde zu<br />
weit führen, alle aufzuzählen, die ihr<br />
Leben bei Brett- oder Ballspiel oder in der<br />
Sorge vertan haben, ihren Körper in der<br />
Sonne ausbraten zu lassen.Nicht in Muße<br />
leben die,deren Vergnügungen viel Mühe<br />
kosten“).<br />
Seneca und das<br />
„Manifest gegen die Arbeit“<br />
Und so lesen wir im Manifest gegen die Arbeit:„Sobald<br />
es [das moderne Individuum]<br />
sich aus dem Fernsehsessel erhebt und<br />
aktiv wird, verwandelt sich jedes Tun sofort<br />
in ein arbeitsähnliches.Der Jogger ersetzt<br />
die Stechuhr durch die Stoppuhr,im<br />
chromblanken Fitnessstudio erlebt die<br />
Tretmühle ihre postmoderne Wiedergeburt<br />
und die Urlauber schrubben in ihrem<br />
Auto Kilometer herunter, als müssten sie<br />
die Jahresleistung eines Fernfahrers erbringen.“8<br />
Im Rom Senecas wie in der heutigen<br />
Zeit ist „Freizeit“, die in Folge der negotia,der<br />
Anstrengung,der Arbeit,existiert,<br />
selber wiederum Anstrengung, Arbeit,<br />
weil sie immer an die restriktive Logik des<br />
negotium gebunden bleibt.Deswegen muss<br />
für Seneca die wirkliche „Freizeit“, die<br />
Muße,der Sorge und Pflege für sich selbst<br />
gewidmet sein.Wie Michel Foucault beobachtet<br />
hat,erreicht die Anwendung auf<br />
sich selbst bei Seneca eine bemerkenswerte<br />
Breite und wird mit einer Palette<br />
von Ausdrücken bezeichnet: secum morari<br />
(bei sich weilen), suum fieri (seines<br />
werden),in se recedere (zu sich kommen)<br />
etc.,alles dies um eine vacatio (Freisein) zu<br />
erreichen, eine Freiheit für sich selbst.<br />
Diesbezüglich kann man auch an De brevitate<br />
vitae VII,5 erinnern: Magni, mihi<br />
crede, et supra humanos errores eminentis viri<br />
est nihil ex suo tempore delibari sinere,et ideo<br />
eius vita longissima est,quia,quantumcumque<br />
patuit, totum ipsi vacavit („Glaube mir, es<br />
braucht einen großen und über die<br />
menschlichen Irrtümer sich erhebenden<br />
Mann,sich von seiner Zeit nichts nehmen<br />
zu lassen,und sein Leben ist deswegen ein<br />
langes, weil er, wie lange auch immer es<br />
dauerte,ganz für sich da war“).Dieses beständige<br />
Achten auf die Rückkehr zu sich<br />
selbst nimmt zweifellos die künftigen Ideale<br />
vorweg,die in De otio (datierbar auf 62<br />
n. Chr., in den Zeiten seines Rückzugs<br />
aus dem politischen Leben) zum Ausdruck<br />
kommen, das sich sozusagen als<br />
„esoterisches“ Werk darstellt (im Sinne,<br />
dass es wenigen Auserwählten vorbehalten<br />
blieb) und der Bildung des vollkommenen<br />
stoischen Weisen in Übereinstimmung<br />
mit der Moral eines Bürgers und<br />
dem Weltgesetz gewidmet ist,für den sich<br />
das otium in kontemplative Einsamkeit<br />
transformiert.<br />
Schließlich, um diesen schnellen<br />
Durchgang durch die lateinischen Autoren<br />
abzuschließen,kann man beobachten,<br />
wie der hauptsächliche Gehalt des otium,<br />
seine positive Energie,vielleicht gerade in<br />
diesem Für-sich-selbst-Sein liegt, in dieser<br />
Sorge, die auf das Innere und auf die<br />
Realität,in einer bestimmten Weise existieren<br />
zu müssen,auf das „Innehalten und<br />
Reflektieren“ verwendet wird,was heute<br />
umso mehr zu schätzen wäre,in einer Gesellschaft,<br />
die vollkommen auf Geschwindigkeit<br />
und Irrealität setzt. Das<br />
Für-sich-selbst-Sein könnte sich auf eine<br />
ganze künftige Weltgemeinschaft erstrecken,in<br />
der Weise eines Projekts eines realen<br />
otium gegen ein irreales negotium,<br />
gegen die alte,kranke Gesellschaft des negotium,<br />
die sich auf eine Demokratie der<br />
Bomben und auf massenhafte Vernichtung<br />
gründet.<br />
Verwendete Literatur<br />
André, J.M., Recherches sur l’otium romain, Les<br />
Belles Lettres, Paris 1962.<br />
Id., L’otium dans la vie morale et intellectuelle<br />
romaine (des origines à l’époque augustéenne),<br />
Presses Universitaires de France,<br />
Paris 1966.<br />
Dziatzco, C.,Ausgewählte Komödien des<br />
P.Terentius Afer, erklärt von C. Dziatzko,<br />
Leipzig 1881.<br />
Fick,A.,Vergleichendes Wörterbuch der Indogermanischen<br />
Sprachen,Vandenhoeck & Ruprecht,<br />
Göttingen 1870-71, vol. I, 1870.<br />
Foucault, M., Le souci de soi, Gallimard, Paris<br />
1984.<br />
Gruppe Krisis, Manifest gegen die Arbeit, Eigenverlag,<br />
Juni 1999.<br />
Schwyzer,A., Etymologisch-Kulturgeschichtliches,<br />
Indogermanische Forschungen, 45,<br />
1927, S. 252-266.<br />
Anmerkungen<br />
1 E. Schwyzer, Etymologisch-Kulturgeschichtliches,<br />
Indogermanische Forschungen, 45,<br />
1927, S. 252-266, S. 261ff.<br />
2 Ebenda.<br />
3 Aus:A. Fick,Vergleichendes Wörterbuch der<br />
indogermanischen Sprachen,Vandenhoeck &<br />
Ruprecht, Göttingen 1870-71, Bd. I, 1870,<br />
S. 338.<br />
4 Diogenes Laertios, Leben und Meinungen der<br />
großen Philosophen VI, 51.<br />
5 Ausgewählte Kömodien des P.Terentius Afer,<br />
erkärt von C. Dziatzko, Leipzig 1881,<br />
S. 21.<br />
6 J. M.André, L’otium dans la vie morale et intellectuelle<br />
Romaine (des origines a l’époque<br />
augustéenne), Presses Universitaires de<br />
France, Paris 1966, S. 309: „La conscience<br />
romaine, dans le De Oratore, exige que<br />
l’otium appelle la culture, et non la culture<br />
l’otium“ (Übersetzung im Text von L.G.).<br />
7 Ebenda S. 505: „Les otia représentent l’effort<br />
joyeux dans les campagnes pacifieés, liberées<br />
du miles impius par la Pax et soustraites à la<br />
trépidation frénétique des villes“ (Übersetzung<br />
im Text von L.G.).<br />
8 Gruppe Krisis, Manifest gegen die Arbeit,<br />
Juni 1999 im Eigenverlag, S. 35.<br />
Streifzüge Nr. 34/Juli 2005