24.10.2014 Aufrufe

Heft 3/2001: "Der Balkan: Was bringt die Zukunft?" - unhcr

Heft 3/2001: "Der Balkan: Was bringt die Zukunft?" - unhcr

Heft 3/2001: "Der Balkan: Was bringt die Zukunft?" - unhcr

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

HEIMKEHR<br />

Eritrea<br />

N R . 3 - S E P T E M B E R / O K T O B E R 2 0 0 1 - A 9 1 1 3 F<br />

DER<br />

<strong>Was</strong><br />

BALKAN<br />

<strong>bringt</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Zukunft</strong>?<br />

UNHCR<br />

<strong>Der</strong> Hohe<br />

Flüchtlingskommissar<br />

der Vereinten<br />

Nationen


EDITORIAL<br />

Ist das Glas halb voll<br />

oder halb leer?<br />

© S. SALGADO/ALB•1999<br />

Es war einer <strong>die</strong>ser beunruhigenden Widersprüche,<br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong> Situation auf dem <strong>Balkan</strong> so<br />

charakteristisch sind.<br />

Einerseits standen Vertreter der slawischen und der<br />

albanischen Volksgruppen unmittelbar vor der Unterzeichnung<br />

eines umfassenden Friedensvertrags für <strong>die</strong><br />

Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien; andererseits<br />

gab es wie in den gesamten sechs Monaten zuvor<br />

Meldungen über anhaltende Kämpfe zwischen den beiden<br />

Konfliktparteien nahe der Hauptstadt Skopje.<br />

Die feierliche Unterzeichnung, an <strong>die</strong> sich viele Hoffnungen<br />

knüpften, barg immer noch so viel Sprengstoff,<br />

dass Ort und Zeitpunkt dafür bis zur letzten Minute<br />

geheim gehalten wurden.<br />

Die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien<br />

war jedoch nur der jüngste Konfliktherd in der Region.<br />

Selbst in den Ländern, in denen <strong>die</strong> Waffen seit geraumer<br />

Zeit schweigen, war <strong>die</strong> Lage für Flüchtlinge<br />

und andere Vertriebene ebenfalls voller Widersprüche.<br />

Bis zu 1,8 Millionen Menschen sind in den letzten<br />

Jahren an ihre früheren Wohnorte in ihren Herkunftsländern<br />

zurückgekehrt. Selten hat sich das Schicksal so<br />

rasch gewendet wie nach der Vertreibung fast der<br />

gesamten albanischen Bevölkerungsgruppe des Kosovo<br />

1999. Ermutigend ist auch, dass in Bosnien und Herze-<br />

gowina immer mehr Menschen in Gebiete zurückkehren,<br />

in denen sie zur ethnischen Minderheit zählen<br />

werden. Selbst Serbien, das lange ausschließlich als<br />

Urheber der „ethnischen Säuberungen“ galt, hat zum<br />

ersten Mal wieder Angehörige einer ethnischen Minderheit<br />

zurückkehren lassen – ethnische Albaner, <strong>die</strong><br />

während des Konflikts geflohen waren.<br />

In Kroatien und Jugoslawien haben demokratische<br />

Regierungen <strong>die</strong> autoritären Regime abgelöst.<br />

Die Überstellung von Slobodan Milosevic nach Den<br />

Haag hat Hoffnungen geweckt, dass bald auch andere<br />

mutmaßliche Kriegsverbrecher festgenommen werden<br />

können.<br />

Es gibt aber auch weiterhin große ungelöste Probleme.<br />

Schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen warten<br />

immer noch darauf, zurückkehren zu können, und es ist<br />

heute vielleicht schwieriger als in der Vergangenheit,<br />

ihnen dabei zu helfen. Schätzungsweise 230.000 Serben,<br />

Roma und Angehörige anderer Minderheiten, <strong>die</strong> das<br />

Kosovo nach der Rückkehr der Albaner in einer<br />

zweiten Fluchtwelle verließen, sind angesichts ihrer<br />

unsicheren Lage zunehmend frustriert. In Jugoslawien<br />

leben nach wie vor 390.000 Flüchtlinge aus früheren<br />

Konflikten.<br />

Die Mittel für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit<br />

werden immer knapper, obwohl<br />

der Wiederaufbau von Wohnraum und Infrastruktur<br />

noch längst nicht abgeschlossen ist.<br />

In manchen Gebieten sind Korruption und ethnischer<br />

Hass weit verbreitet.<br />

An einem Tag wird in Bosnien ein sechzehnjähriges<br />

Mädchen rücksichtslos niedergeschossen und durch<br />

einen solchen Vorfall monate- oder jahrelange geduldige<br />

Vermittlungsarbeit zwischen den verfeindeten Volksgruppen<br />

zunichte gemacht. Und 24 Stunden später gibt<br />

es im Kosovo Anlass zu Optimismus, weil ein Projekt<br />

zum Wiederaufbau der Häuser von 50 serbischen Rückkehrern<br />

beginnt.<br />

Auf dem <strong>Balkan</strong> ist weiterhin unklar, ob <strong>die</strong> Optimisten<br />

oder <strong>die</strong> Pessimisten Recht behalten werden.<br />

2 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


<strong>Der</strong> Hohe<br />

Flüchtlingskommissar der<br />

Vereinten Nationen (UNHCR)<br />

Postfach 2500<br />

CH-1211 Genf 2 Depot<br />

www.<strong>unhcr</strong>.ch<br />

Redaktion:<br />

Ray Wilkinson<br />

Deutsche Ausgabe:<br />

Stefan Telöken<br />

Angelika Emmelmann<br />

Redaktionelle Mitarbeit:<br />

Astrid van Genderen Stort, Udo Janz,<br />

Tony Land, Andrej Mahecic, Vesna<br />

Petkovic, Aida Pobric, Maki Shinohara,<br />

Kirsten Young und UNHCR-Mitarbeiter<br />

in allen <strong>Balkan</strong>-Staaten.<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Virginia Zekrya<br />

Photoredaktion:<br />

Suzy Hopper, Anne Kellner<br />

Layout:<br />

Vincent Winter Associés<br />

Produktion:<br />

Françoise Peyroux<br />

Verwaltung:<br />

Anne-Marie Le Galliard<br />

Vertrieb<br />

John O’Connor, Frédéric Tissot<br />

Karte:<br />

UNHCR - Kartenabteilung<br />

Historische Dokumente:<br />

UNHCR-Archiv<br />

„FLÜCHTLINGE“ wird in deutscher,<br />

englischer, französischer, spanischer,<br />

italienischer, japanischer, arabischer und<br />

russischer Sprache von der Informationsabteilung<br />

des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars<br />

der Vereinten Nationen<br />

herausgegeben.<br />

Die von beitragenden Autoren ausgedrückte<br />

Meinung entspricht nicht<br />

unbedingt der Meinung UNHCRs. Die<br />

in <strong>die</strong>ser Veröffentlichung verwendeten<br />

Bezeichnungen und Darstellungen<br />

drücken in keiner Weise <strong>die</strong> Meinung<br />

UNHCRs über den rechtlichen Status<br />

eines Gebietes oder seiner Behörde aus.<br />

Abzüge der mit einer UNHCR-Referenznummer<br />

versehenen Photographien sind<br />

von der UNHCR-Informationsabteilung<br />

erhältlich.<br />

Artikel und Photographien, <strong>die</strong> nicht<br />

mit dem Vermerk Copyright versehen<br />

sind, können ohne vorherige Anfrage<br />

unter Erwähnung UNHCRs abgedruckt<br />

werden.<br />

Gesamtauflage: 226.000<br />

Druck: (dt. Ausgabe)<br />

Greven & Bechtold, Hürth<br />

ISSN 0252-791 X<br />

Bestellungen der deutschen Ausgabe bei:<br />

UNHCR, Wallstr. 9-13, 10179 Berlin<br />

Tel.: 030/202202-26, Fax: 030/202202-23<br />

Spendenkonto: Deutsche Stiftung für<br />

UNO-Flüchtlingshilfe e.V.<br />

Commerzbank Bonn, BLZ 380 400 07,<br />

Kto.-Nr. 258266601<br />

Titelbild: Wie geht es weiter?<br />

© S. SALGADO/BIH•1994<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

UNHCR/S. BONESS/CS•ERI•<strong>2001</strong> UNHCR/M. VACCA/CS•BIH•1996<br />

4<br />

<strong>Der</strong> <strong>Balkan</strong> steht erneut<br />

am Scheideweg, und <strong>die</strong><br />

zukünftige Entwicklung<br />

ist sehr unklar. Die Ehemalige<br />

jugoslawische Republik<br />

Mazedonien stand seit<br />

Anfang des Jahres vor dem<br />

Ausbruch eines großen Bürgerkrieges.<br />

Mehrere hunderttausend<br />

Flüchtlinge und<br />

Vertriebene aus früheren<br />

Konflikten in den neunziger<br />

Jahren sind an ihre früheren<br />

Wohnorte zurückgekehrt,<br />

aber schätzungsweise<br />

1,3 Millionen Menschen sind<br />

noch immer entwurzelt.<br />

12<br />

Wie andere UN-<br />

Schutzzonen wurde<br />

Gorazde zu einem<br />

Symbol des Krieges in Bosnien.<br />

In den letzten Jahren hat sich<br />

dort viel verändert.<br />

26<br />

Eine der größten und<br />

am längsten bestehenden<br />

Flüchtlingsgemeinschaften<br />

kehrt endlich<br />

vom Sudan in ihr Herkunftsland<br />

Eritrea zurück.<br />

N R . 3 - S E P T E M B E R / O K T O B E R 2 0 0 1<br />

2 EDITORIAL<br />

<strong>Der</strong> <strong>Balkan</strong> erneut am Scheideweg.<br />

4<br />

TITEL<br />

Viele Menschen sind bereits an ihre früheren<br />

Wohnorte zurückgekehrt. Aber es gibt immer<br />

noch 1,3 Millionen Vertriebene auf dem <strong>Balkan</strong>.<br />

Eine neue Krise droht in der Region.<br />

Von Ray Wilkinson<br />

Chronologie<br />

der jüngeren Geschichte des <strong>Balkan</strong>s.<br />

Gute Nachbarn<br />

Eine Familie aus dem Kosovo erweist sich<br />

mazedonischen Flüchtlingen gegenüber<br />

erkenntlich.<br />

Gorazde<br />

Das neue Gesicht der früheren UN-Schutzzone.<br />

16 KARTE IN DER HEFTMITTE<br />

Ein Überblick über <strong>die</strong> Ereignisse auf dem<br />

<strong>Balkan</strong>.<br />

Die Suche nach der Wahrheit<br />

Auf dem <strong>Balkan</strong> gibt es immer mehrere<br />

Wahrheiten.<br />

Minderheiten<br />

Für <strong>die</strong> Angehörigen der kleinsten Minderheiten<br />

war das Leben besonders hart.<br />

26 ERITREA<br />

Eine der am längsten bestehenden Flüchtlingsgemeinschaften<br />

kehrt nach Hause zurück.<br />

Von Newton Kanhema und Wendy Rappeport<br />

30 MENSCHEN UND LÄNDER<br />

31 ERLESENES<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

3


© S. SALGADO/ALB•1999<br />

| TIT<br />

LANGE<br />

DER<br />

<strong>Der</strong> Krieg<br />

hat sie entwurzelt.


EL |<br />

WEGZURÜCK<br />

<strong>Der</strong> <strong>Balkan</strong> bietet ein verwirrendes Mosaik<br />

voller Hoffnung und Verzweiflung.<br />

Hunderttausende Menschen versuchen,<br />

ihr Leben neu zu ordnen. Für viele sind<br />

<strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong>saussichten düster.<br />

Fortsetzung auf Seite 6<br />

Ã


| TITEL |<br />

à DER<br />

LANGE WEG<br />

von Ray Wilkinson<br />

ZURÜCK<br />

Es ist sehr schwierig, in den<br />

Spiegel zu schauen und dem<br />

Teufel ins Gesicht zu blicken“,<br />

sagt eine Mitarbeiterin einer<br />

Hilfsorganisation in Belgrad.<br />

„Dies ist eine ernüchternde und verwirrende<br />

Zeit für uns.“<br />

Sie versucht <strong>die</strong> raschen und oft widersprüchlichen<br />

Veränderungen im ehemaligen<br />

Jugoslawien einzuordnen.<br />

Dass Slobodan Milosevic an das Kriegsverbrechertribunal<br />

in Den Haag ausgeliefert<br />

und eine demokratische Regierung<br />

gebildet worden war, dass sich das Land<br />

nach Jahren der Isolation wieder der Außenwelt<br />

geöffnet hatte und Hunderttausende<br />

Flüchtlinge und Vertriebene wieder Hoffnung<br />

auf eine bessere <strong>Zukunft</strong> schöpfen<br />

konnten, all <strong>die</strong>s zählte zu den positiven<br />

Nachrichten, <strong>die</strong> nur Monate zuvor noch<br />

undenkbar gewesen wären.<br />

Aber zur gleichen Zeit wurden <strong>die</strong> Menschen<br />

in der Hauptstadt mit einer schrecklichen<br />

Entdeckung konfrontiert: Menschlichen<br />

Überresten in der Donau, den „jüngsten“<br />

Opfern der Kosovo-Krise im Jahre<br />

1999. Bis zu 1.000 Leichen wurden mittlerweile<br />

aus dem Fluss und umliegenden Seen<br />

geborgen, <strong>die</strong> weit entfernt von der damaligen<br />

Front liegen. <strong>Der</strong> Fund löste bei den<br />

Jugoslawen Empörung, Wut, Dementis und<br />

schiere Ungläubigkeit aus.<br />

„<strong>Was</strong> man sieht, hängt davon ab, wer in<br />

den Spiegel sieht und wie <strong>die</strong> Betreffenden<br />

das Spiegelbild interpretieren, das sie anschaut“,<br />

sagt <strong>die</strong> humanitäre Helferin kopfschüttelnd.<br />

Dies gilt nicht nur für Jugoslawien. <strong>Der</strong><br />

gesamte <strong>Balkan</strong> bietet ein verwirrendes Mosaik<br />

von Hoffnung und Verzweiflung, Fortschritten<br />

und neu ausbrechenden Krisen.<br />

Die mächtigsten Staaten der Welt und<br />

<strong>die</strong> Militärmaschinerie der NATO haben<br />

Etwa 1,8 Millionen Menschen sind seit dem Ende der Kriege in den neunziger<br />

Jahren an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt. Dazu zählen auch <strong>die</strong>se zur<br />

muslimischen Minderheit gehörenden Rückkehrer in <strong>die</strong> Republika Srpska (Bosnien<br />

und Herzegowina), <strong>die</strong> emsig ihre Häuser wieder aufbauen.<br />

in Bosnien und Herzegowina und im<br />

Kosovo eine Situation geschaffen, <strong>die</strong> als<br />

Frieden bezeichnet wird, in Wirklichkeit<br />

aber nur ein instabiles Patt von zweifelhafter<br />

Dauer ist.<br />

Vorfälle wie der kürzlich begangene<br />

kaltblütige Mord an einem 16-jährigen muslimischen<br />

Mädchen in einem serbisch dominierten<br />

Gebiet Bosniens können <strong>die</strong><br />

jahrelange geduldige Vermittlungsarbeit<br />

zwischen den verfeindeten Volksgruppen<br />

zunichte machen. Umgekehrt kann <strong>die</strong><br />

Entscheidung früher verfeindeter serbischer<br />

und muslimischer Gemeinschaften,<br />

in einem winzigen Dorf oberhalb der einst<br />

berüchtigten bosnischen Stadt Gorazde<br />

wieder zusammenzuleben und „sogar das<br />

kleinste Stück Schokolade, das wir erhalten“,<br />

miteinander zu teilen, neue Hoffnung<br />

aufkeimen lassen. Vielleicht könnte das Experiment<br />

doch noch gelingen.<br />

DER BALKAN BIETET EIN VERWIRRENDES MOSAIK VON HOFFNUNG UND VERZWEIFLUNG,<br />

FORTSCHRITTEN UND NEU AUSBRECHENDEN KRISEN.<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•BIH•<strong>2001</strong><br />

DIE POSITIVEN NACHRICHTEN<br />

Auf dem gesamten <strong>Balkan</strong> sind seit der<br />

Einstellung der Kriegshandlungen mindestens<br />

1,8 Millionen Menschen an ihre<br />

früheren Wohnorte zurückgekehrt. Unter<br />

ihnen mehrere hunderttausend Angehörige<br />

der albanischen Volksgruppe, <strong>die</strong> in das<br />

Kosovo innerhalb weniger Wochen im Schutz<br />

der NATO-Panzer zurückgekehrt sind.<br />

Doch es gibt auch viele Menschen, <strong>die</strong> individuell<br />

den Entschluss gefasst haben, ihr<br />

Leben neu zu beginnen, und sei es unter<br />

Nachbarn, <strong>die</strong> sie vielleicht weiterhin verdächtigen,<br />

Kriegsverbrechen begangen zu<br />

haben.<br />

Autoritäre Regimes in Jugoslawien und<br />

Kroatien wurden durch demokratische Regierungen<br />

ersetzt. Zu ihren ersten Ankündigungen<br />

zählten <strong>die</strong> Zusagen, sich für <strong>die</strong><br />

Lösung der anhaltenden Flüchtlingsprobleme<br />

einsetzen zu wollen.<br />

100.000 – 120.000 Menschen sind bereits<br />

nach Kroatien zurückgekehrt. Die Regierung<br />

in Zagreb hat versprochen, dass auch<br />

<strong>die</strong> anderen Flüchtlinge, <strong>die</strong> in den neunziger<br />

Jahren geflohen waren, bis Ende 2002<br />

vollständig reintegriert sein werden.<br />

Die Regierung in Belgrad hat <strong>die</strong> Gesetze<br />

gelockert, was es für viele der dort lebenden<br />

390.000 Flüchtlinge leichter macht,<br />

<strong>die</strong> Staatsangehörigkeit zu beantragen und<br />

auf Dauer dort zu bleiben. Auch der Hohe<br />

Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen<br />

Ruud Lubbers hielt <strong>die</strong> Entwicklung<br />

für ermutigend und meinte, zum ersten<br />

Mal seit einem Jahrzehnt bestehe eine reelle<br />

Chance zur Lösung des Flüchtlingsproblems.<br />

Die internationale Gemeinschaft signalisierte<br />

ihre Zufriedenheit über <strong>die</strong> Flexibilität<br />

der Regierung in Belgrad und verabschiedete<br />

ein Hilfspaket mit einem<br />

Volumen von 1,3 Milliarden Dollar als Rettungsanker<br />

für eine Wirtschaft, <strong>die</strong> durch<br />

Jahre des Krieges und der Isolation am Boden<br />

liegt.<br />

Die Auslieferung des früheren jugoslawischen<br />

Präsidenten Slobodan Milosevic<br />

Ã<br />

6 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| TITEL |<br />

<strong>Der</strong> <strong>Balkan</strong>: Ein geschichtlicher Überblick<br />

1878<br />

Nach Jahren des Konflikts legen <strong>die</strong><br />

Großmächte auf dem Berliner Kongress<br />

<strong>die</strong> Grenzen auf dem <strong>Balkan</strong><br />

neu fest. Drei neue Staaten – Serbien,<br />

Montenegro und Rumänien –<br />

entstehen. Die Wünsche der Bevölkerung<br />

in der Region werden dabei<br />

jedoch weitgehend ignoriert.<br />

1912/13<br />

In zwei <strong>Balkan</strong>kriegen wird versucht,<br />

<strong>die</strong> jahrhundertelange<br />

türkische Herrschaft zu beenden.<br />

Alle regionalen Völker – Rumänen,<br />

Serben, Bulgaren, Griechen und<br />

Albaner – nehmen daran teil.<br />

28. Juni 1914<br />

Ein serbischer Attentäter erschießt<br />

in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo<br />

Erzherzog Franz Ferdinand,<br />

den österreichisch-ungarischen<br />

Thronerben. <strong>Der</strong> Anschlag löst den<br />

Ersten Weltkrieg aus.<br />

1. Dezember 1918<br />

Aus den früher von der Türkei und<br />

Österreich beherrschten Gebieten<br />

wird Jugoslawien, das „Königreich<br />

der Serben, Kroaten und Slowenen”,<br />

geschaffen.<br />

24. Oktober 1944<br />

Die kommunistischen Partisanen<br />

unter der Führung von Josip Broz<br />

Tito befreien Belgrad von den Nazis<br />

und errichten ein kommunistisches<br />

Regime in Jugoslawien.<br />

25. Juni 1991<br />

Kroatien und Slowenien erklären <strong>die</strong><br />

Unabhängigkeit von der Sozialistischen<br />

Bundesrepublik Jugoslawien.<br />

Serbische Truppen besetzen 30 Prozent<br />

des kroatischen Territoriums.<br />

8. Oktober 1991<br />

Jugoslawien bittet UNHCR um Unterstützung.<br />

<strong>Der</strong> UN-Generalsekretär<br />

ernennt das Amt zur federführenden<br />

humanitären Organisation.<br />

3. März 1992<br />

Bosnien und Herzegowina erklärt <strong>die</strong><br />

Unabhängigkeit. Die bosnischen<br />

Serben erobern 70 Prozent des Staatsgebietes<br />

und belagern Sarajewo.<br />

3. Juli 1992<br />

UNHCR beginnt eine dreieinhalbjährige<br />

Luftbrücke nach Sarajewo,<br />

<strong>die</strong> sich zur längsten humanitären<br />

Luftbrücke der Geschichte entwickeln<br />

wird. Auf dem Höhepunkt<br />

des Konflikts unterstützen Hilfsorganisationen<br />

bis zu 3,5 Millionen<br />

Menschen im gesamten ehemaligen<br />

Jugoslawien. Schätzungsweise<br />

700.000 Bosnier ergreifen <strong>die</strong> Flucht.<br />

11. Juli 1995<br />

Srebrenica, eines von mehreren von<br />

den Vereinten Nationen zur<br />

„Schutzzone” erklärten Gebieten,<br />

fällt an <strong>die</strong> serbischen Truppen.<br />

Etwa 7.000 Männer und männliche<br />

Jugendliche werden bei der schrecklichsten<br />

Gräueltat in Europa seit dem<br />

Zweiten Weltkrieg ermordet. Andere<br />

Schutzzonen wie Gorazde entgehen<br />

einem ähnlichen Schicksal.<br />

12. August 1995<br />

Kroatien leitet <strong>die</strong> Operation Sturm<br />

ein und erobert <strong>die</strong> Krajina von den<br />

serbischen Rebellen zurück. 170.000<br />

Serben ergreifen <strong>die</strong> Flucht. Viele<br />

sind heute noch Flüchtlinge.<br />

21. November 1995<br />

Die Unterzeichnung des Friedensabkommens<br />

von Dayton soll <strong>die</strong><br />

Kampfhandlungen beenden und<br />

den Weg für <strong>die</strong> Rückkehr der<br />

Flüchtlinge und Vertriebenen an<br />

ihre früheren Wohnorte frei machen.<br />

Mehrere hunderttausend<br />

Menschen sind bislang immer noch<br />

nicht zurückgekehrt. Die Schutztruppe<br />

IFOR (Implementation<br />

Force) unter der Führung der NATO<br />

wird in der Region stationiert.<br />

März 1998<br />

Im Kosovo brechen Kämpfe zwischen<br />

der Mehrheit der Albaner<br />

und Serben aus. Nur wenige<br />

Monate später sind etwa 350.000<br />

Menschen vertrieben worden oder<br />

geflohen.<br />

24. März 1999<br />

Nach dem Scheitern der Friedensgespräche<br />

im französischen<br />

Rambouillet und wiederholten<br />

Warnungen beginnt <strong>die</strong> NATO ihren<br />

78-tägigen Luftkrieg. Nur drei Tage<br />

später beginnen Albaner zu fliehen<br />

oder werden von serbischen Truppen<br />

aus der Region vertrieben.<br />

Insgesamt flohen fast 444.600<br />

Menschen nach Albanien, 244.500<br />

in <strong>die</strong> Ehemalige Jugoslawische<br />

Republik Mazedonien und 69.900<br />

nach Montenegro. Um <strong>die</strong> politischen<br />

Spannungen in der Region zu<br />

verringern, werden später mehr als<br />

90.000 Albaner vorübergehend in<br />

29 Länder in Sicherheit geflogen.<br />

12. Juni 1999<br />

Nach der Annahme eines Friedensplans<br />

durch Jugoslawien mit der<br />

Voraussetzung, dass alle Truppen<br />

aus dem Kosovo abgezogen werden,<br />

rücken NATO-Truppen und<br />

russische Einheiten in das Kosovo<br />

ein. Am nächsten Tag kehren UNHCR<br />

und andere humanitäre Organisationen<br />

zurück. Auch <strong>die</strong> Flüchtlinge<br />

beginnen zurückzukehren. In einem<br />

der schnellsten Rückkehrbewegungen<br />

der Geschichte kehren innerhalb<br />

von drei Wochen 600.000<br />

Menschen zurück. In einer Gegenbewegung<br />

suchen schätzungsweise<br />

230.000 Serben und Roma aus<br />

Angst vor Vergeltungsmaßnahmen<br />

Schutz in Serbien und Montenegro.<br />

Eine UN-Zivilverwaltung wird eingesetzt.<br />

<strong>Der</strong> Wiederaufbau der<br />

Provinz beginnt.<br />

11. Dezember 1999<br />

Politische Veränderungen erfassen<br />

<strong>die</strong> Region. <strong>Der</strong> starke Mann<br />

Kroatiens, Franjo Tudjman, stirbt in<br />

Zagreb. Sein Tod ebnet den Weg für<br />

<strong>die</strong> Bildung einer demokratischen<br />

Regierung in dem Land.<br />

6. Oktober 2000<br />

Erst nachdem Demonstranten das<br />

jugoslawische Parlamentsgebäude<br />

in Brand gesteckt haben, gesteht<br />

Slobodan Milosevic seine Niederlage<br />

bei den Präsidentenwahlen ein.<br />

Er wird unter Hausarrest gestellt<br />

und am 28. Juni <strong>2001</strong> an das internationale<br />

Tribunal in Den Haag<br />

ausgeliefert, vor dem er sich wegen<br />

Kriegsverbrechen verantworten<br />

soll. Die neue Regierung in Belgrad<br />

bezeichnet <strong>die</strong> Lösung des Flüchtlingsproblems<br />

in der Region und<br />

<strong>die</strong> Rückkehr der Vertriebenen in<br />

das Kosovo als eines der wichtigsten<br />

Anliegen des Landes.<br />

Als in den neunziger Jahren ein umfassender Krieg<br />

ausbrach, richteten Serben in Bosnien und Herzegowina<br />

Kriegsgefangenenlager wie <strong>die</strong>ses nahe Banja Luka ein.<br />

Februar <strong>2001</strong><br />

In der Ehemaligen Jugoslawischen<br />

Republik Mazedonien kommt es zu<br />

einem offenen Konflikt. Während<br />

sich internationale Vermittler und<br />

<strong>die</strong> Regierung bemühen, <strong>die</strong> Einheit<br />

des Landes zu bewahren, fliehen<br />

mehr als 150.000 Menschen, vor<br />

allem in das benachbarte Kosovo.<br />

Juli <strong>2001</strong><br />

Trotz massiver Unterstützung in den<br />

letzten Jahren, der Wiederaufnahme<br />

regionaler und internationaler diplomatischer<br />

Beziehungen sowie der<br />

Bildung demokratischer Regierungen<br />

bleibt der <strong>Balkan</strong> ein Unruheherd.<br />

Viele Kriegsverbrecher sind nach wie<br />

vor auf freiem Fuß, mehr als eine<br />

Million Menschen sind noch nicht an<br />

ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt,<br />

und der Region droht ein<br />

weiterer großer Konflikt.<br />

13. August <strong>2001</strong><br />

Aufmerksam verfolgt von den<br />

einflussreichen westlichen Staaten<br />

und der NATO schließen <strong>die</strong> Konfliktparteien<br />

in der Ehemaligen<br />

Jugoslawischen Republik Mazedonien<br />

einen Friedensvertrag.<br />

© B. GYSEMBERGH/CS•BIH•1992<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

7


| TITEL |<br />

Ã<br />

UNHCR/H. CAUX/DP•MKD•<strong>2001</strong><br />

nach Den Haag, wo er wegen Kriegsverbrechen<br />

vor Gericht gestellt werden soll,<br />

könnte den Weg für <strong>die</strong> baldige Festnahme<br />

von möglicherweise mehreren tausend anderen<br />

gesuchten Kriegsverbrechern ebnen.<br />

Nach Ansicht von Wolfgang Petritsch, dem<br />

Hohen Repräsentanten der internationalen<br />

Gemeinschaft in Bosnien, ist <strong>die</strong>s eine Voraussetzung<br />

für einen wirklichen Durchbruch<br />

zur Versöhnung.<br />

Auf dem Zentralbalkan kehrten so gut<br />

wie alle der 880.000 Kosovaren, <strong>die</strong> im<br />

Frühjahr 1999 aus der Provinz geflohen<br />

waren oder vertrieben wurden, innerhalb<br />

weniger Monate zurück. Selten hat sich in<br />

der Flüchtlingsgeschichte das Schicksal so<br />

schnell und so dramatisch gewendet. Heute<br />

herrscht auf den Straßen des Kosovo Verkehrschaos,<br />

auf den Dächern der Hauptstadt<br />

Pristina findet sich kaum noch ein<br />

freier Platz für weitere Satellitenschüsseln,<br />

und der Wiederaufbau ist in vollem Gange.<br />

Eine der größten amerikanischen Militärbasen<br />

mit dem etwas merkwürdigen Namen<br />

Bondsteel zeugt davon, wie stark sich<br />

<strong>die</strong> Welt in der Region engagiert.<br />

In Bosnien und Herzegowina brachte<br />

der Friedensvertrag von Dayton 1995 <strong>die</strong><br />

Waffen zum Schweigen. Während des<br />

Krieges waren mehrere zehntausend Menschen<br />

getötet und mehr als zwei Millionen<br />

entwurzelt worden. Fast eine Million<br />

Häuser und Wohnungen wurden zerstört<br />

oder beschädigt. Die humanitäre Hilfe für<br />

das Land erreichte ein Volumen von fünf<br />

Milliarden US-Dollar.<br />

In der Hauptstadt Sarajewo spürt man<br />

wieder einiges von dem Schwung und der<br />

Lebensfreude, <strong>die</strong> der Stadt in besseren<br />

Zeiten einmal halfen, Austragungsort der<br />

olympischen Winterspiele von 1984 zu werden.<br />

<strong>Der</strong> einst mit unzähligen Sandsäcken<br />

geschützte Flughafen, Symbol des Widerstands,<br />

wurde wieder aufgebaut. Über ihn<br />

wurde <strong>die</strong> Stadt mit der längsten je<br />

durchgeführten humanitären Luftbrücke<br />

während dreieinhalb Kriegsjahren versorgt.<br />

Die Zahl der in dem Land stationierten<br />

NATO-Soldaten wurde drastisch auf etwa<br />

20.000 verringert.<br />

Mehr als 730.000 Bosnier sind zurückgekehrt.<br />

Bezeichnenderweise hat <strong>die</strong> Zahl<br />

jener Menschen in den letzten beiden<br />

Jahren deutlich zugenommen, deren<br />

Wohnort in Gebieten liegen, in denen sie<br />

in <strong>die</strong>sem zutiefst geteilten Land nun <strong>die</strong><br />

ethnische Minderheit bilden,.<br />

Optimisten meinen, <strong>die</strong> in weniger als<br />

sechs Jahren erzielten Fortschritte seien<br />

zwar nur ein Anfang, aber angesichts des<br />

tiefen Hasses zwischen Serben, Muslimen<br />

und Kroaten nach dem Krieg und des Ausmaßes<br />

der Zerstörung der Infrastruktur,<br />

von Wohnraum wie Strom- und <strong>Was</strong>serversorgung,<br />

seien große Fortschritte unverkennbar.<br />

DIE NEGATIVEN NACHRICHTEN<br />

Pessimisten sahen <strong>die</strong> Ereignisse auf<br />

dem <strong>Balkan</strong> in einem anderen Licht.<br />

Obwohl <strong>die</strong> Kriege der neunziger Jahre<br />

einem prekären Patt gewichen sind, geriet<br />

ein anderer Staat – <strong>die</strong> Ehemalige Jugoslawische<br />

Republik Mazedonien – in der<br />

ersten Hälfte des Jahres <strong>2001</strong> an den Rand<br />

eines Bürgerkrieges. In einem wiederum<br />

ethnisch motivierten Konflikt lieferten sich<br />

Regierungstruppen und örtliche Guerilla-<br />

„DIE ALTE GESCHICHTE VON GEWALT, UND ,ETHNISCHER<br />

SÄUBERUNG‘ AUF DEM BALKAN IST NOCH NICHT VORBEI.„<br />

Neue Sorgen auf dem <strong>Balkan</strong>: In <strong>die</strong>sem Jahr brachen in der Ehemaligen<br />

Jugoslawischen Republik Mazedonien Kämpfe aus. Mehr als 150.000 Menschen<br />

verließen deshalb ihre Wohnorte.<br />

Einheiten in den nördlichen Landesteilen<br />

um <strong>die</strong> Hauptstadt Skopje Gefechte.<br />

Das Ausmaß der Kämpfe war gering im<br />

Vergleich zu den früheren Auseinandersetzungen.<br />

Dennoch bewirkten sie eine Verschlechterung<br />

der Beziehungen zwischen<br />

der albanischen Minderheit und der slawischen<br />

Mehrheit, stürzten <strong>die</strong> Regierung<br />

in eine Dauerkrise und führten zur Flucht<br />

von rund 150.000 Menschen. Die meisten<br />

der Betroffenen suchten im benachbarten<br />

Kosovo Zuflucht, wo <strong>die</strong> Albaner, <strong>die</strong> nur<br />

zwei Jahre zuvor Schutz in der Ehemaligen<br />

Jugoslawischen Republik Mazedonien<br />

gesucht hatten, sich nun erkenntlich zeigen.<br />

Sie nahmen ihrerseits <strong>die</strong> Flüchtlinge aus<br />

dem Nachbarland in ihren Häusern auf<br />

(siehe Seite 11).<br />

Humanitäre Organisationen entwarfen<br />

Krisenpläne für das weit schlimmere Szenario<br />

eines offenen Krieges mit mehreren<br />

hunderttausend Vertriebenen, der nicht<br />

nur <strong>die</strong> Ehemalige Jugoslawische Republik<br />

Mazedonien ins Unglück stürzen, sondern<br />

auch <strong>die</strong> Sicherheit und <strong>die</strong> Stabilität der<br />

umliegenden Staaten gefährden würde.<br />

Selbst vor <strong>die</strong>ser jüngsten Krise gab es<br />

in der Region weiterhin schätzungsweise<br />

1,3 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene.<br />

Mitarbeitern von Flüchtlingsorganisationen<br />

zufolge wird es zunehmend<br />

schwieriger, Perspektiven für<br />

<strong>die</strong>se entwurzelten Menschen zu finden –<br />

noch schwieriger als für <strong>die</strong>, <strong>die</strong> bereits<br />

zurückgekehrt sind.<br />

Für einige Probleme wurden Lösungen<br />

gefunden. Dazu zählt beispielsweise <strong>die</strong><br />

Entscheidung der Regierung in Belgrad, es<br />

den Flüchtlingen zu erleichtern, <strong>die</strong> jugoslawische<br />

Staatsangehörigkeit zu beantragen.<br />

Hingegen bleibt der Wohnraummangel<br />

eine der gravierendsten Kriegsfolgen<br />

im ganzen ehemaligen Jugoslawien.<br />

Während des Konflikts wurden Städte<br />

und Dörfer mutwillig zerstört, was zu einer<br />

drastischen Wohnraumknappheit nach<br />

dem Ende der Kämpfe führte. <strong>Der</strong> noch<br />

8 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| TITEL |<br />

© S. SALGADO/YUG•1995<br />

vorhandene Wohnraum wurde als Mittel<br />

zur Festigung der „ethnischen Säuberung“<br />

an Angehörige der neuen „Mehrheiten“<br />

verteilt.<br />

Seit dem Ende der Kampfhandlungen<br />

findet in der gesamten Region eine gigantische<br />

„Reise nach Jerusalem“ statt, bei der<br />

es nicht um freie Stühle, sondern um leer<br />

stehende Häuser geht. Ein Teil des Wohnraums<br />

wurde wieder aufgebaut bzw. instand<br />

gesetzt – in Bosnien beispielsweise 125.000<br />

von fast 500.000 zerstörten oder<br />

beschädigten Wohneinheiten. Internationale<br />

Bevollmächtigte und <strong>die</strong> Regierungen<br />

änderten oder verschärften <strong>die</strong> Wohnraumgesetze<br />

oder schrieben sie ganz neu.<br />

Dies trug dazu bei, mehr Menschen <strong>die</strong><br />

Rückkehr in ihren früheren Wohnraum zu<br />

ermöglichen. In einigen Gebieten wurden<br />

auch <strong>die</strong> Demarkationslinien an <strong>die</strong> Realität<br />

angepasst. (In einigen Stadtteilen Sarajewos<br />

verlief <strong>die</strong> Trennlinie zwischen den serbischen<br />

und muslimischen Gebieten bis<br />

vor kurzem mitten durch einige Hochhäuser<br />

und sogar mitten durch einzelne<br />

Wohnungen.)<br />

Hardliner in den örtlichen Behörden,<br />

<strong>die</strong> entschlossen waren, den Status quo zu<br />

festigen, oder Menschen, <strong>die</strong> in dem von<br />

ihnen okkupierten Wohnraum bleiben<br />

Fast <strong>die</strong> gesamte serbische Bevölkerung<br />

verließ 1995 fluchtartig Kroatien.<br />

Manche wie Slobodan Pupovac und<br />

seine Ehefrau entschieden sich jetzt<br />

dafür, auf Dauer in Jugoslawien zu<br />

bleiben.<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

UNHCR/R. WILKINSON/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

wollten, weil sie nirgendwo anders hin<br />

konnten, entwickelten großes Geschick,<br />

mit allen möglichen Tricks <strong>die</strong> Rückkehr<br />

von Angehörigen von Minderheiten in ihr<br />

Wohneigentum zu verzögern oder zu verhindern.<br />

Das Problem wurde dadurch verschärft,<br />

dass manche Familien zwei oder<br />

mehr Wohnungen belegten und unzählige<br />

freie Wohnungen absichtlich verborgen<br />

oder verschwiegen wurden. Jeder Rückkehrer<br />

muss damit rechnen, in einen nervenaufreibenden<br />

und verzwickten administrativen<br />

Wettbewerb zwischen verschiedenen<br />

ethnischen Gruppen in mehreren<br />

Ländern hineingezogen zu werden.<br />

EINE SCHWIERIGE AUFGABE<br />

Die Entscheidung der Regierung in Belgrad,<br />

neben der Rückkehr als bestmöglicher<br />

Lösung <strong>die</strong> „Integration vor Ort“ zu unterstützen,<br />

ist lobenswert. Aber in einer Zeit,<br />

in der <strong>die</strong> Mittel für humanitäre Hilfe immer<br />

knapper werden und alle Länder in der<br />

Region um <strong>die</strong> ebenfalls begrenzten Mittel<br />

der Entwicklungshilfe konkurrieren, ist <strong>die</strong><br />

Aufgabe ein schwieriges Unterfangen, in<br />

einer Volkswirtschaft mit einer Arbeitslosigkeit<br />

von bis zu 70 Prozent Arbeitsplätze<br />

für alle zu schaffen sowie Bildungsmöglichkeiten,<br />

Wohnraum und aufwändige Versorgungsmöglichkeiten<br />

für viele ältere Flüchtlinge<br />

und Vertriebene bereitzustellen.<br />

Paradoxerweise hat sich in <strong>die</strong>ser neuen<br />

Ära der Liberalisierung <strong>die</strong> Lage der meisten<br />

Flüchtlinge wie auch der Bevölkerung insgesamt<br />

erst einmal verschlechtert, weil <strong>die</strong><br />

humanitäre Hilfe gekürzt wird, <strong>die</strong> Preise<br />

steigen und es noch keine Arbeitsplätze gibt.<br />

Die serbischen Flüchtlinge aus Kroatien<br />

stehen der dortigen Regierung trotz<br />

Ã<br />

9


| TITEL |<br />

Ã<br />

<strong>Der</strong> Einsatz von UNHCR: Wie alles begann.<br />

ihrer Versprechungen weiterhin<br />

skeptisch gegenüber, was <strong>die</strong> Aussichten<br />

auf ihre baldige Rückkehr verschlechtert.<br />

<strong>Der</strong> Hohe Flüchtlingskommissar<br />

der Vereinten Nationen sagte jüngst nach<br />

einem Besuch in Belgrad und Zagreb, dass<br />

viele Flüchtlinge der Meinung sind, in<br />

Kroatien „fehle der politische Wille“, sie<br />

willkommen zu heißen. „Dies ist immer<br />

noch ein Teil der vergangenen Tragö<strong>die</strong>“,<br />

sagte er.<br />

Und während <strong>die</strong> Kosovo-Albaner sich<br />

langsam von ihrem eigenen Exodus im Jahr<br />

1999 erholen, leben <strong>die</strong> 230.000 Serben,<br />

Roma und Angehörige anderer Minderheiten,<br />

<strong>die</strong> nach der Rückkehr der Albaner<br />

flohen oder vertrieben wurden, nun in<br />

Sammelunterkünften, Lagern oder Privathäusern<br />

in<br />

den an <strong>die</strong> Provinz angrenzenden<br />

Gebieten und sind über ihre rechtlich<br />

und wirtschaftlich unsichere Situation<br />

zunehmend frustriert.<br />

Ein paar Hundert hatten den Mut, zurückzukehren.<br />

Aber es gibt wenig Anlass<br />

zur Hoffnung, dass ihnen viele in absehbarer<br />

Zeit folgen werden. „Die Albaner<br />

kehrten innerhalb von zwei Monaten zurück“,<br />

sagt ein verärgerter Serbe. „Wir sind<br />

bereits seit zwei Jahren hier. Warum gibt es<br />

gute Regelungen für <strong>die</strong> Albaner und<br />

schlechte Regelungen für <strong>die</strong> Serben?“<br />

Im Vergleich zu der Hetzsituation unmittelbar<br />

nach der Rückkehr der Albaner,<br />

als Angehörige von Minderheiten offen<br />

bedroht, vertrieben, geschlagen und sogar<br />

getötet wurden, hat sich <strong>die</strong> Lage im Kosovo<br />

beruhigt. Ein leitender Mitarbeiter einer<br />

Flüchtlingsorganisation in Pristina: „Die Zeit,<br />

in der <strong>die</strong> Angehörigen von Minderheiten<br />

Freiwild waren und ihr Besitz zur Beschlagnahme<br />

oder Zerstörung freigegeben war,<br />

ist vorbei. Es gibt Licht am Ende des Tunnels,<br />

bei dem es sich vielleicht sogar nicht<br />

um einen entgegenkommenden Zug handelt.“<br />

Trotz <strong>die</strong>ser Einschätzung bleibt <strong>die</strong><br />

Sicherheitslage prekär. Bei einem Anschlag<br />

auf einen Bus wurden Anfang des Jahres<br />

elf Kosovo-Serben getötet. Orthodoxe<br />

Kirchen sind mit Stacheldraht umzäunt<br />

und werden von Soldaten der Schutztruppe<br />

KFOR mit gepanzerten Fahrzeugen bewacht.<br />

Minderheitenenklaven müssen<br />

genauso geschützt werden<br />

– seien es serbische<br />

Dörfer in den Bergen<br />

oder albanische<br />

Wohnblocks im serbisch<br />

dominierten<br />

Teil der Stadt<br />

Mitrovica.<br />

<strong>Der</strong> jugoslawische<br />

Präsident<br />

Vojislav<br />

Kostunica<br />

schwor, „es gibt<br />

keine einzige Tür, an <strong>die</strong><br />

ich nicht anklopfen werde“, um<br />

das Flüchtlingsproblem und andere<br />

Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.<br />

Auf einem Gipfeltreffen warnte er jüngst<br />

aber auch: „Die alte Geschichte von Gewalt<br />

und ,ethnischer Säuberung‘ auf dem <strong>Balkan</strong><br />

ist noch nicht vorbei.“<br />

In Bosnien ist <strong>die</strong> Zahl der zurückgekehrten<br />

Angehörigen von Minderheiten, <strong>die</strong><br />

eine der entscheidenden Messlatten für <strong>die</strong><br />

Beurteilung der Lage ist, ermutigend und in<br />

den letzten 18 Monaten auf fast 100.000 Ã<br />

Fortsetzung auf Seite 15<br />

UNHCR STEHT VOR DEM HEIKLEN BALANCEAKT, SICH FÜR DIE<br />

RÜCKFÜHRUNG DERJENIGEN, DIE ZURÜCKKEHREN WOLLEN,<br />

EINSETZEN UND GLEICHZEITIG DEN BLEIBEWILLIGEN BEI DER<br />

INTEGRATION VOR ORT HELFEN ZU MÜSSEN.<br />

10 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| TITEL |<br />

Die Großzügigkeit erwidern<br />

Eine Familie aus dem Kosovo erhielt eine unerwartete Gelegenheit, sich für<br />

<strong>die</strong> ihr erwiesene Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen.<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

Sie hielten in schwerer Zeit zusammen.<br />

Als serbische Truppen am 29. März<br />

1999 in das Dorf Zhegra eindrangen,<br />

erschossen sie sogleich einen<br />

Nachbarn von Mitant Zimani. 14 andere<br />

Dorfbewohner wurden ebenfalls getötet.<br />

Ihr selbst, ihrem Ehemann und ihren Kinder<br />

gelang dagegen <strong>die</strong> Flucht in <strong>die</strong> nahe<br />

gelegenen Berge. 30 Stunden waren sie unterwegs,<br />

bevor sie <strong>die</strong> Ehemalige Jugoslawische<br />

Republik Mazedonien erreichten<br />

und in Sicherheit waren.<br />

Auf der mazedonischen Seite der Grenze<br />

standen <strong>die</strong> Familie von Rexhep Murseli<br />

und ihre neun Kinder bereit. „Wir mussten<br />

ganz einfach helfen. Wir sind auch Albaner,<br />

und <strong>die</strong>se Menschen brauchten uns“, sagt<br />

sie. Sie nahmen <strong>die</strong> gesamte Familie von<br />

Mitant Zimani unter ihre Fittiche. „Wir haben<br />

zusammen gekocht und schliefen<br />

gemeinsam auf dem Fußboden“, fügt sie<br />

hinzu. „Das war keine große Sache. Es gab<br />

ja gar keine andere Möglichkeit.“<br />

1999 flohen fast eine Million Menschen<br />

aus dem Kosovo oder wurden aus der Provinz<br />

vertrieben. Die meisten von ihnen<br />

wurden von Familien in den angrenzenden<br />

Ländern Albanien und in der Ehemaligen<br />

Jugoslawischen Republik Mazedonien aufgenommen.<br />

Flüchtlinge wurden bereitwillig<br />

in deren Häusern untergebracht. Als<br />

Gegenleistung erhielten sie nur wenig Unterstützung<br />

von der internationalen Gemeinschaft.<br />

Humanitäre Organisationen wie UNHCR<br />

räumen ein, dass es ohne <strong>die</strong> Hilfsbereitschaft<br />

der privaten Haushalte nicht möglich<br />

gewesen wäre, so viele Menschen in so<br />

kurzer Zeit unterzubringen.<br />

Die Kosovaren blieben drei Monate bei<br />

ihren Gastgebern. Als das Schicksal sich zu<br />

ihren Gunsten wendete, kehrten sie unter<br />

dem Schutz von NATO-Truppen in ihre<br />

Dörfer zurück und begannen, ihre Häuser<br />

und ihr Leben neu aufzubauen.<br />

SICH ERKENNTLICH ZEIGEN<br />

Im Krieg kommt es immer wieder vor,<br />

dass Menschen in sehr großzügiger Weise<br />

anderen in Not helfen. Aber nur selten kann<br />

eine solche Großzügigkeit auf so spektakuläre<br />

und spiegelbildliche Weise wie im<br />

Fall <strong>die</strong>ser beiden Familien aus der Ehemaligen<br />

Jugoslawischen Republik Mazedonien<br />

und dem Kosovo erwidert werden.<br />

Als jüngst in der Ehemaligen Jugoslawischen<br />

Republik Mazedonien <strong>die</strong> Unruhen<br />

eskalierten, beschloss <strong>die</strong> Familie Murseli,<br />

ihren Wohnort zu verlassen und in der relativen<br />

Sicherheit des Kosovo Zuflucht zu suchen.<br />

Einige Mitglieder der Familie wählten<br />

den gleichen Weg über <strong>die</strong> Berge, den Mitant<br />

Zimani zwei Jahre zuvor benutzt hatte. Andere<br />

reisten über einen Grenzübergang aus.<br />

Die beiden Familien hatten lockeren Telefonkontakt<br />

zueinander gehalten, sich aber<br />

nie gegenseitig besucht.<br />

Jetzt machte sich <strong>die</strong> mazedonische Familie<br />

auf den Weg in das Dorf Zhegra.<br />

„Wir wussten nicht, dass sie kamen, bis<br />

es an der Tür klopfte und sie vor uns standen“,<br />

sagt Mitant Zimani.<br />

Für alle ist es keine einfache Situation.<br />

Insgesamt 25 Erwachsene und Kinder teilen<br />

sich vier kleine Zimmer. Wie zuvor wird<br />

gemeinsam gekocht, gegessen und geschlafen.<br />

Die mazedonischen Kinder besuchen<br />

<strong>die</strong> örtliche Schule, aber <strong>die</strong> Familie wird<br />

in <strong>die</strong> Ehemalige Jugoslawische Republik<br />

Mazedonien zurückkehren, wenn sich <strong>die</strong><br />

Lage jenseits der Grenze beruhigt hat.<br />

Sie haben vereinbart, dass sie einander<br />

künftig regelmäßig besuchen wollen – hoffentlich<br />

zu Urlaubszwecken und nicht infolge<br />

erneuter Kämpfe. B<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

11


U N H C R / M<br />

1994 wurde Gorazde als<br />

12 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| TITEL |<br />

Rückkehr in <strong>die</strong> Hölle<br />

Stadt bezeichnet, „in der nur <strong>die</strong> Toten glücklich sind“. Heute ist das anders.<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

Heute gehen <strong>die</strong> Menschen im Zentrum von Gorazde wieder im Fluss Drina schwimmen.<br />

. V A C C A / C S • B I H • 1 9 9 6<br />

An einem heissen Tag lagern mehrere hundert Menschen<br />

auf einer Insel aus Kies und Sand inmitten des<br />

Flusses Drina. Über ihnen ragen <strong>die</strong> bewaldeten Berge<br />

auf, von denen damals Tod und Zerstörung auf <strong>die</strong> Stadt<br />

herabregneten. Eine wackelige Fußgängerbrücke, <strong>die</strong> unterhalb<br />

der großen Straßenbrücke über den Fluss gespannt<br />

wurde, um Fußgängern bei der Überquerung Schutz vor<br />

Heckenschützen zu bieten, schwingt leise im Wind. Niemand<br />

benutzt sie mehr. Auf den Bürgersteigen hat eine<br />

Vielzahl von Straßencafés aufgemacht. Sie liegen in unmittelbarer<br />

Umgebung jenes Gebäudes im Zentrum, aus<br />

dem dort festsitzende Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen<br />

in verzweifelten Telexen Tag für Tag von der<br />

fortschreitenden Zerstörung der Stadt berichteten.<br />

Unter den Angriffen serbischer Truppen ging Gorazde<br />

während des Krieges in Bosnien beinahe zugrunde. Die Vereinten<br />

Nationen hatten <strong>die</strong> Stadt zur Schutzzone erklärt, aber <strong>die</strong> Belagerungstruppen<br />

ignorierten <strong>die</strong> internationale Gemeinschaft.<br />

Fast gelang es ihnen, <strong>die</strong> Stadt zu erstürmen. <strong>Der</strong> Friedensschluss<br />

erlöste <strong>die</strong> Einwohner.<br />

Heute versucht <strong>die</strong> Stadt inmitten tiefer Schluchten, hoher<br />

Berge und undurchdringlicher Wälder noch immer, wieder zu<br />

sich selbst zu finden. Im Gegensatz zu der ebenfalls berüchtigten<br />

Enklave Srebrenica im Norden wurde Gorazde nie eingenommen,<br />

und <strong>die</strong> muslimische oder bosniakische Bevölkerung hat<br />

<strong>die</strong> Stadt nie verlassen.<br />

FORTSCHRITTE UND PROBLEME<br />

Die Stadt ist ein Spiegel sowohl der Fortschritte als auch der<br />

Probleme, <strong>die</strong> seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von<br />

Dayton vor fast sechs Jahren in ganz Bosnien anzutreffen sind.<br />

Die Waffen schweigen, und <strong>die</strong> Menschen genießen wieder<br />

<strong>die</strong> kleinen Freuden des Lebens wie im Fluss zu schwimmen oder<br />

in einem Straßencafé zu sitzen. Die Gebäude wurden notdürftig<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

13


| TITEL |<br />

U N H C R / R . C H A L A S A N I / C S • B I H • 2 0 0 1<br />

instand gesetzt,<br />

und<br />

sogar zwei<br />

Ampeln<br />

funktionieren.<br />

Ein Teil<br />

der Agrarflächen,<br />

<strong>die</strong><br />

früher reiche<br />

Ernten an Pflaumen,<br />

Äpfeln<br />

und Birnen erbrachten,<br />

wird<br />

zum ersten Mal<br />

seit fünf oder sechs<br />

Jahren wieder bestellt.<br />

Es werden nur<br />

wenige sicherheitsrelevante<br />

Zwischenfälle<br />

registriert, und<br />

immer mehr Familien<br />

sind in das Gebiet<br />

zurückgekehrt.<br />

Albanische und serbische Familien lernen,<br />

wieder zusammenzuleben.<br />

Aber es gibt in Gorazde auch nach wie vor riesige Probleme.<br />

Die Fabriken, in denen vor dem Krieg Ersatzteile, Munition und<br />

Chemikalien hergestellt wurden, sind zerstört. Die Arbeitslosigkeit<br />

beträgt bis zu 80 Prozent, und internationale Organisationen sind<br />

buchstäblich <strong>die</strong> einzigen Arbeitgeber. In den Außenbezirken der<br />

Stadt liegen viele zerstörte Privathäuser verlassen<br />

da.<br />

Vor dem Krieg war Gorazde eine multiethnische<br />

Stadt. Heute leben dort fast nur Muslime.<br />

Maßgebliche Kräfte der serbischen Seite<br />

haben anfangs versucht, den Status quo der<br />

strikten Trennung der Gemeinschaften<br />

aufrechtzuerhalten und <strong>die</strong> Rückkehr von Serben<br />

in bosniakische Viertel im Stadtzentrum<br />

zu verhindern.<br />

DIE LETZTE CHANCE<br />

Dies ändert sich nun, weil alle Seiten zunehmend<br />

ungeduldig Fortschritte herbeisehnen<br />

und erkannt haben, dass unter verschärften Eigentumsgesetzen<br />

nicht mehr viel Zeit bleiben wird, um <strong>die</strong> Rückgabe von<br />

Wohneigentum aus der Vorkriegszeit zu beantragen oder Wohnraum<br />

zu verkaufen oder zu tauschen.<br />

„Je länger sie warten, desto mehr verlieren sie“, kommentierte<br />

ein einheimischer Mitarbeiter einer Hilfsorganisation den verstärkten<br />

Druck zur Rückkehr. „Mehr und mehr Menschen haben<br />

sich entschlossen, <strong>die</strong>se letzte Chance zu nutzen.“<br />

Das Dorf Bukve Miljanovici liegt hoch oben in den Bergen.<br />

„Je länger sie warten,<br />

desto mehr verlieren<br />

sie. Mehr und mehr<br />

Menschen haben<br />

sich entschlossen,<br />

<strong>die</strong> letzte Chance zu<br />

nutzen.“<br />

Tief unter uns schmiegt sich Gorazde in ein natürliches Becken.<br />

In der Nähe verlief während des Krieges <strong>die</strong> Front, und von hier<br />

war es ein Leichtes, <strong>die</strong> Stadt präzise mit Granaten zu beschießen.<br />

„Willkommen in der ersten multiethnischen Zeltstadt<br />

Bosniens“, begrüßt uns Muhamed Bukva überschwänglich.<br />

Während des Wiederaufbaus leben viele Rückkehrer<br />

überall im Land in von UNHCR bereitgestellten<br />

Zelten neben ihren zerstörten<br />

Häusern, sodass <strong>die</strong> Existenz einer „Zeltstadt“<br />

ein Synonym für den Fortschritt ist.<br />

Vor dem Krieg war <strong>die</strong>s ein ethnisch gemischtes<br />

Dorf, das während der Kämpfe vollständig<br />

verlassen wurde. Mittlerweile sind acht<br />

serbische, sieben bosniakische und zwei albanische<br />

Familien zurückgekehrt.<br />

<strong>Der</strong> Vater von Muhamed Bukva wurde nur<br />

hundert Meter von seinem wieder aufgebauten<br />

Haus entfernt mit automatischen Gewehren<br />

niedergeschossen, aber er sagt: „Das war keiner<br />

meiner Nachbarn, und wir können erfolgreich unsere Freundschaft<br />

und unser Dorf erneuern.“<br />

Und er fügt hinzu: „Selbst jedes Stück Schokolade, das wir<br />

bekommen, teilen wir miteinander.“ Seine serbischen Nachbarn<br />

nickten zustimmend. Vor dem Hintergrund anhaltender Unruhe<br />

auf dem <strong>Balkan</strong> könnte man Bukve Miljanovici leicht ignorieren.<br />

Aber solche nachbarschaftlichen Versuche, das schlimme Erbe<br />

des Krieges zu überwinden, sind <strong>die</strong> einzige realistische Hoffnung<br />

auf wirkliche Versöhnung. B<br />

14<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| TITEL |<br />

gestiegen. Udo Janz, stellvertretender<br />

UNHCR-Missionschef in Bosnien, meint,<br />

der Druck zurückzukehren, wächst. „In<br />

einer Beziehung ist <strong>die</strong> Rückkehr nicht aufzuhalten.<br />

Die Menschen sind es leid“, sagt<br />

er. „Sie wollen nur noch zurückkehren. Sie<br />

hören nicht mehr auf <strong>die</strong> unablässige Propaganda<br />

und möchten sich allen Schwierigkeiten<br />

zum Trotz ein neues Leben aufbauen.“<br />

Aber <strong>die</strong>se Schwierigkeiten sind nach<br />

wie vor riesengroß. In einer Region, <strong>die</strong> einmal<br />

auf ihre gemischte Bevölkerung stolz<br />

war, machen <strong>die</strong> Angehörigen von Minderheiten<br />

etwa 13 Prozent aller Rückkehrer<br />

aus. Ein tiefer Graben klafft weiterhin zwischen<br />

der Republika Srpska und der kroatisch-bosnischen<br />

Föderation. Verstockte Nationalisten<br />

träumen immer noch von ihrem<br />

eigenen Teilstaat oder einer Föderation mit<br />

Kroatien. Menschen, <strong>die</strong> in umstrittene Gebiete<br />

zurückkehren, drohen Schikanen und<br />

Gewalt bis hin zu Morden oder subtilere<br />

Formen der Ausübung von Zwang wie<br />

überhöhte Steuern, Benachteiligung auf<br />

dem Arbeitsmarkt oder Hindernisse beim<br />

Zugang ihrer Kinder zu Bildungseinrichtungen.<br />

Zudem wirkt es wie eine Ironie des<br />

Schicksals, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt,<br />

zu dem mehr Angehörige von Minderheiten<br />

zurückkehren, <strong>die</strong> Mittel für <strong>die</strong><br />

Unterstützung, mit der man <strong>die</strong> Tragfähigkeit<br />

ihrer Entscheidung verbessern<br />

könnte, immer knapper werden.<br />

HOFFNUNGEN UND BEFÜRCHTUNGEN<br />

So treten Widersprüche zutage: <strong>die</strong> mit<br />

der Rückkehr verbundenen Hoffnungen,<br />

Für Vertriebene gibt es 600 Sammelunterkünfte in Jugoslawien.<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

<strong>die</strong> Furcht, auf Dauer nicht zurückkehren<br />

zu können, <strong>die</strong> Leidenschaft und <strong>die</strong> anhaltenden<br />

Animositäten, das Durchhaltevermögen<br />

der Flüchtlinge und eine bewundernswert<br />

großzügige Geisteshaltung<br />

von Menschen, <strong>die</strong> sich materielle Freigebigkeit<br />

nicht leisten können.<br />

Sowohl der jugoslawische Rumpfstaat<br />

als auch Kroatien stehen am Scheideweg.<br />

In beiden wurde eine demokratische Regierung<br />

gebildet; beide haben ihre Beziehungen<br />

zur internationalen Gemeinschaft<br />

wieder aufgenommen und versprochen, <strong>die</strong><br />

Flüchtlingskrise rasch zu lösen. Sie haben<br />

Erwartungen geweckt, aber vorläufig ist<br />

alles erst einmal schlimmer geworden.<br />

In Serbien liegt <strong>die</strong> unter den Kriegsfolgen<br />

und einem weltweiten Embargo leidende<br />

Wirtschaft weiterhin am Boden. In<br />

manchen Gebieten beträgt <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit<br />

70 Prozent. Die Unterstützung<br />

vieler der schätzungsweise 390.000<br />

Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien und<br />

Herzegowina wurde schrittweise gekürzt.<br />

Auch UNHCR musste sein Budget von ursprünglich<br />

schätzungsweise 65 Millionen<br />

US-Dollar im Jahre 2000 auf 27 Millionen<br />

für 2002 zusammenstreichen.<br />

Slobodan Pupovac und seine Ehefrau<br />

Danka zählten zu den 60 Prozent der vor<br />

kurzem umworbenen Flüchtlinge, <strong>die</strong> sich<br />

dafür entschieden haben, das Angebot der<br />

Regierung zur Integration anzunehmen,<br />

statt nach Kroatien zurückzukehren, von<br />

wo sie 1995 geflohen waren. Das Problem<br />

verlangt von UNHCR einen heiklen Balanceakt:<br />

Das Amt muss sich für <strong>die</strong> Rückkehr<br />

derjenigen einsetzen, <strong>die</strong> zurückkehren<br />

wollen, und gleichzeitig den Bleibewilligen<br />

bei der Integration vor Ort<br />

helfen.<br />

Pupovac, ein kräftig gebauter Serbe,<br />

gelang es, bei seiner Flucht aus Kroatien<br />

einen Lkw und einen Traktor mitzunehmen.<br />

700 Kilometer quer durch Serbien<br />

legte <strong>die</strong> Familie in zwölf Tagen zurück.<br />

Schließlich ließ sie sich nahe Belgrad<br />

nieder. Er kaufte Land und begann, ein<br />

Haus zu bauen. Seinen Lkw verkaufte er<br />

Stück für Stück, um <strong>die</strong> neue <strong>Zukunft</strong> zu<br />

finanzieren.<br />

Unterkunft zu finden, ist eines der<br />

größten Probleme für entwurzelte<br />

Menschen. Die Trennlinie zwischen den<br />

serbisch und den kroatisch-muslimischen<br />

dominierten Teilen Sarajewos<br />

verlief bis zu einer jüngst erfolgten<br />

Korrektur buchstäblich mitten durch<br />

<strong>die</strong>sen Wohnblock.<br />

1997 wurde Pupovac von einem anderen<br />

Lkw überfahren und brach sich das Rückgrat.<br />

Seitdem ist er an den Rollstuhl gefesselt.<br />

Mit drei kleinen Kindern, einem<br />

kranken Schwiegervater und einem arbeitsunfähigen<br />

Ehemann hat Danka keine<br />

Zeit, einer anderen Arbeit nachzugehen.<br />

Sie haben ein paar Tiere, können sich aber<br />

nur dank der Hilfsbereitschaft der Nachbarn<br />

und mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen<br />

über <strong>Was</strong>ser halten.<br />

Die Familie entschloss sich, in Serbien<br />

zu bleiben, und Pupovac erhielt kürzlich<br />

<strong>die</strong> Staatsangehörigkeit. Wird er je nach<br />

Fortsetzung auf Seite 18 Ã<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•BIH•<strong>2001</strong><br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong> 15


DER BALKAN<br />

| COVER STORY<br />

<strong>2001</strong><br />

|<br />

DEUTSCHLAND<br />

SCHWEIZ<br />

BOSNIEN<br />

UNHCR/A. HOLLMANN/CS•BIH•1994<br />

1<br />

Als in den neunziger Jahren<br />

der Krieg fast den gesamten<br />

<strong>Balkan</strong> erfasste, wurden<br />

mehrere Millionen Menschen entwurzelt.<br />

Viele suchten Zuflucht<br />

innerhalb der Grenzen ihres<br />

Herkunftslandes. Andere flohen in<br />

angrenzende Staaten oder wurden<br />

zu Flüchtlingen, vor allem in anderen<br />

Teilen Europas. Die bosnische<br />

Hauptstadt Sarajewo musste<br />

während <strong>die</strong>ser Zeit lange aus der<br />

Luft versorgt werden.<br />

ITALIEN<br />

SLOVENIEN<br />

LJUBLJANA<br />

ZAGREB<br />

BOSNIEN<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•BIH•<strong>2001</strong><br />

9In den letzten beiden<br />

Jahren nahm in Bosnien<br />

<strong>die</strong> Zahl der zurückgekehrten<br />

Angehörigen von Minderheiten<br />

deutlich zu. Diese<br />

serbischen Bauern leben in<br />

einem bosniakisch dominierten<br />

Gebiet. Wie viele Rückkehrer<br />

sind sie in von UNHCR<br />

bereitgestellten Zelten<br />

untergekommen, bis ihre<br />

Häuser wieder aufgebaut<br />

werden können.<br />

KROATIEN<br />

BOSNIEN-HERZEGOWINA<br />

9<br />

1<br />

SARAJEWO<br />

MONTE<br />

ROM<br />

TIRAN<br />

ADC/WORLDMAP<br />

WOHNRAUM<br />

UNHCR/R. WILKINSON/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

8<br />

<strong>Der</strong> Mangel an<br />

Wohnraum auf<br />

Grund der großen<br />

Kriegszerstörungen und<br />

Schwierigkeiten bei der<br />

Wiederinbesitznahme<br />

von Eigentum zählen zu<br />

den gravierendsten Problemen,<br />

<strong>die</strong> überwunden<br />

werden müssen.<br />

SCHUTZ<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

7Menschen, <strong>die</strong><br />

dort, wo sie<br />

leben, <strong>die</strong> ethnische<br />

Minderheit bilden,<br />

benötigen im Kosovo<br />

weiterhin Schutz. Im<br />

serbischen Nordteil<br />

von Mitrovica wohnende<br />

Albaner werden<br />

von französischen<br />

Soldaten geschützt<br />

und gelangen über<br />

eine streng bewachte<br />

Fußgängerbrücke<br />

über einen Fluss in<br />

den albanischen<br />

Südteil der Stadt.<br />

16 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| COVER STORY |<br />

MAZEDONIEN<br />

UNGARN<br />

UNHCR/H. CAUX/DP•MKD•<strong>2001</strong><br />

2<br />

Die jüngsten Kämpfe<br />

lieferten sich Regierungstruppen<br />

und albanische<br />

Guerilla-Einheiten in<br />

der Ehemaligen Jugoslawischen<br />

Republik Mazedonien.<br />

Rund 150.000 Menschen haben<br />

deshalb ihre Wohnorte<br />

verlassen.<br />

JUGOSLAWIEN<br />

3 Schätzungsweise<br />

1,3 Millionen<br />

Menschen<br />

in der Region<br />

konnten noch<br />

nicht an ihre<br />

früheren Wohnorte<br />

zurückkehren.<br />

Die<br />

größten Gruppen<br />

bilden 390.000<br />

Flüchtlinge und 230.000 vertriebene Kosovaren in<br />

Jugoslawien, zu denen <strong>die</strong>se älteren kroatischen Frauen<br />

zählen, und fast 560.000 Menschen in Bosnien und<br />

Herzegowina.<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

UKRAINE<br />

8<br />

4<br />

NEGRO<br />

NAA<br />

ALBANIEN<br />

BELGRAD<br />

JUGOSLAWIEN<br />

3<br />

6<br />

KOSOVO<br />

2<br />

5<br />

7<br />

MAZEDONIEN<br />

PRISTINA<br />

PRISTiNA<br />

SKOPJE<br />

SOFIA<br />

BULGARIEN<br />

RUMÄNIEN<br />

KOSOWO<br />

SERBIEN<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

UNHCR/R. WILKINSON/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

4Viele Flüchtlinge aus<br />

Kroatien würden sich<br />

gerne auf Dauer in<br />

Serbien ansiedeln. Nach<br />

und nach erhalten sie<br />

dauerhafte Unterkünfte<br />

oder bauen ihre eigenen<br />

Häuser wie <strong>die</strong>ser Flüchtling<br />

außerhalb von Belgrad.<br />

5Einige Serben sind<br />

in ausgewählte<br />

sichere Gebiete im<br />

Kosovo zurückgekehrt.<br />

Für <strong>die</strong> Rückkehr der<br />

großen Mehrheit ist <strong>die</strong><br />

Lage aber noch nicht<br />

sicher genug.<br />

GRIECHENLAND<br />

ROMA<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

6Die Roma und andere<br />

Minderheiten haben in den<br />

diversen Konflikten besonders<br />

gelitten. Tausende Angehörige von<br />

Minderheiten warten weiterhin auf<br />

eine Rückkehrmöglichkeit. Einige<br />

wenige wie <strong>die</strong>se Aschkali im Kosovo<br />

sind bereits zurückgekehrt und haben<br />

begonnen, ihre Häuser neu aufzubauen.<br />

TÜRKEI<br />

17


GUTE NACH-<br />

RICHTEN<br />

¬ Die Regierung in<br />

Belgrad hieß<br />

jüngst erstmals<br />

zurückkehrende<br />

Staatsangehörige<br />

willkommen, <strong>die</strong><br />

wie Hussein<br />

Abdijevic zur albanischen<br />

Volksgruppe<br />

zählen – eine<br />

wichtige politische<br />

Kehrtwendung.<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

à Kroatien zurückkehren wollen? „Nein“,<br />

antwortet er, ohne zu zögern. „Dort wurde<br />

alles zerstört. Meine Häuser wurden niedergebrannt.<br />

Warum sollte ich dorthin zurückgehen?“<br />

Wenig später gibt er jedoch zu:<br />

„Wenn alle zurückkehren, würden wir vielleicht<br />

auch darüber nachdenken.“ Diese ambivalente<br />

Haltung kam in vielen Gesprächen<br />

zum Ausdruck, <strong>die</strong> wir in der Region<br />

√Trajko und Divna<br />

Arsiare zählen zu<br />

den erst sehr<br />

wenigen Serben, ,<br />

<strong>die</strong> bislang in das<br />

Kosovo zurückgekehrt<br />

sind. √<br />

geführt haben. Zuerst ein entschiedenes<br />

„Nein“, dann doch ein „Vielleicht“– wenn sich<br />

<strong>die</strong> Situation in Kroatien verbessern sollte.<br />

Hinsichtlich des Sturzes von Slobodan<br />

Milosevic und der im Kosovo begangenen<br />

Verbrechen, <strong>die</strong> nach und nach ans Tageslicht<br />

kommen, zeigten sich <strong>die</strong> Flüchtlinge<br />

zwiespältig, ablehnend und feindselig. „Wir<br />

haben alle gehofft, dass nach der Auslieferung<br />

von Milosevic etwas geschieht“, sagt<br />

Pupovac. „Es ist auch etwas passiert: Die<br />

Strompreise sind drastisch gestiegen, und<br />

das Kindergeld wurde gekürzt.“ Ein anderer<br />

Flüchtling in Südserbien meint verärgert:<br />

„War Milosevic der einzige Kriegsverbrecher?<br />

<strong>Was</strong> ist mit den Albanern, den Kroaten<br />

und den Muslimen? Sie waren alle<br />

schuldig. Man hätte ihn nicht ausliefern<br />

Unterschiedliche Sicht…<br />

Die Suche nach der<br />

Tihomir Stanimorovic hat sich in Rage geredet: „Die internationale<br />

Gemeinschaft hat <strong>die</strong> Albaner innerhalb von<br />

zwei Monaten zurück an ihre Wohnorte gebracht. Wir sind<br />

jetzt schon zwei Jahre hier.“<br />

Die Rückkehr schien <strong>die</strong>sem Serben wie ein unerfüllbarer<br />

Traum. „Die Menschen können heute anscheinend problemlos<br />

zum Mond fliegen“, sagt er. „Aber hier auf dem <strong>Balkan</strong> können<br />

wir nicht einmal <strong>die</strong> paar Kilometer zurück an unsere früheren<br />

Wohnorte fahren.“<br />

Stanimorovic, seine Ehefrau und seine beiden Kinder verließen<br />

das Kosovo genau wie schätzungsweise 230.000 Serben, Roma und<br />

Angehörige anderer Gruppen Ende 1999, als <strong>die</strong> alliierten Truppen<br />

in <strong>die</strong> Provinz einmarschierten und ihnen <strong>die</strong> zuvor geflohenen<br />

oder vertriebenen Albaner auf dem Fuß folgten. Es war eine dramatische<br />

Wende des Schicksals für <strong>die</strong> Menschen in dem Gebiet. Wie<br />

Stanimorovic es darstellt, wurden sie von den NATO-Truppen<br />

bewusst vertrieben.<br />

Seinen Angaben zufolge hatten „Terroristen“ ihn eine Woche<br />

lang mit verbundenen Augen gefangen gehalten und geschlagen,<br />

bevor er wieder freigelassen wurde. Schließlich gelangte er bis zu<br />

<strong>die</strong>sem ehemaligen Motel am Stadtrand von Bujanovac in Südserbien,<br />

das in eine Sammelunterkunft für 130 Menschen umgewandelt<br />

wurde. Seit zwei Jahren leben <strong>die</strong> Bewohner dort.<br />

Ein paar Traktoren und Fahrzeuge, <strong>die</strong> sie mit sich nehmen<br />

konnten, sind in der Nähe geparkt. Jede Familie erhielt ein Zimmer<br />

oder ein winziges Chalet auf dem Motelgelände. Es gibt fließendes<br />

<strong>Was</strong>ser und Strom. Verglichen mit der Situation anderer entwurzelter<br />

Menschen in der Region und in anderen Teilen der Welt<br />

geht es ihnen nicht schlecht.<br />

Aber es herrschen ein nagender Groll und zunehmende Frustration<br />

im Motel Bujanovac. Die Bewohner gefallen sich in der Opferrolle.<br />

Die Waffen schweigen, und politische Veränderungen<br />

haben <strong>die</strong> Region erfasst, aber <strong>die</strong> vertriebenen Serben scheinen<br />

nicht davon zu profitieren.<br />

„Es sollte nicht eine Regelung für <strong>die</strong> Albaner und Bosniaken<br />

und eine andere Regelung für <strong>die</strong> Serben geben“, sagt Stanimorovic,<br />

dem <strong>die</strong> Rolle des Sprechers der Menschen im Motel auf den Leib<br />

geschnitten ist. Ein junges Mädchen in der Gruppe, <strong>die</strong> sich um<br />

uns versammelt hat, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Niemand<br />

singt so gut wie <strong>die</strong> Serben, und wir feiern auch <strong>die</strong> besseren<br />

Partys.“ Aber hier herrscht keine Partystimmung. „Die NATO ist<br />

an allem schuld“, beharrt er. Diese und ähnliche Aussagen sind<br />

von den vertriebenen Serben in der ganzen Region zu hören. „Hätten<br />

sie nicht eingegriffen, würden wir immer noch friedlich zusammenleben.<br />

Wir haben nichts Unrechtes getan. Es sind immer <strong>die</strong><br />

kleinen Leute, <strong>die</strong> es am schlimmsten erwischt.“<br />

WER SAGT DIE WAHRHEIT?<br />

Stanimorovics Heimatdorf Novo Selo liegt weniger als eine<br />

Fahrtstunde von Bujanovac entfernt. Vor dem Konflikt war es ein<br />

ethnisch gemischtes Dorf. Er behauptet, alle Häuser von Serben<br />

wären bei deren Flucht von Albanern niedergebrannt und „<strong>die</strong><br />

18 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

dürfen.“ Seine Nachbarn nickten zustimmend.<br />

Dusan Karapandze, seine Ehefrau und<br />

seine drei Kinder kehrten im letzten Jahr<br />

nach Kroatien zurück. Bei der Ankunft<br />

mussten sie feststellen, dass ein bosnischer<br />

Kroate ihr Haus im Dorf Majske Poljane in<br />

Besitz genommen hatte. Die Familie bezog<br />

einen kleinen Schuppen auf dem Grundstück<br />

und beantragte <strong>die</strong> Rückgabe ihres<br />

Hauses. „Wir warten immer noch auf eine<br />

Entscheidung“, sagt Karapandze.<br />

<strong>Was</strong> <strong>die</strong> Familie zusätzlich verbittert, ist<br />

<strong>die</strong> Tatsache, dass der Hausbesetzer nicht<br />

dort lebt, sondern angeblich in Deutschland<br />

arbeitet, und Karapandze wegen Hausfriedensbruch<br />

angezeigt wurde, als er in<br />

seinem eigenen Haus angetroffen wurde.<br />

Ähnliche Absurditäten gibt es zur Genüge.<br />

Einem serbischen Rückkehrer in<br />

Nordkroatien wurde <strong>die</strong> Wiederinbesitznahme<br />

seines Hauses verweigert, weil ein<br />

anderer kroatischer Hausbesetzer dort<br />

seinen Hund untergebracht hatte.<br />

In Jugoslawien gibt es 600 Sammelunterkünfte<br />

in früher als Fabriken, Hotels,<br />

Turnhallen oder Büros genutzten Gebäu- Ã<br />

Wahrheit darüber, was während des Krieges wirklich geschah, bleibt schwierig.<br />

Brunnen in Anwesenheit amerikanischer Soldaten vergiftet“ worden.<br />

Nach den Gesprächen mit den geflohenen Serben fahren wir<br />

nach Novo Selo. Die Häuser im Besitz von Serben sind nach wie<br />

vor Ruinen. Fernseher, vor sich hin rostende Herde und angesengte<br />

Sofas liegen in den Trümmern. Eine Schar Gänse watschelt<br />

vorüber. Die KFOR hat in der Nähe einen Schießübungsplatz eingerichtet,<br />

und Geschützfeuer dröhnt durch das Tal und <strong>die</strong> Berge.<br />

Die Wahrheit ist jedoch schwierig herauszufinden, denn jede<br />

Seite hat eine eigene Sicht der Dinge.<br />

„Er kann gerne zurückkommen“, meint ein albanischer Kleinbauer<br />

achselzuckend, der nur ein paar hundert Meter vom Haus des<br />

Serben entfernt wohnt. „Warum auch nicht?“<br />

Es ist <strong>die</strong> Art von oberflächlicher Antwort, <strong>die</strong> man hier ständig<br />

bekommt. Sie erschwert es, <strong>die</strong> wahren Gefühle der Menschen und<br />

<strong>die</strong> Gesamtstimmung in jeder Teilregion des <strong>Balkan</strong>s zu ergründen.<br />

Im weiteren Gesprächsverlauf verschieben sich <strong>die</strong> Akzente.<br />

„Die Serben haben unsere Moschee niedergebrannt, bevor sie von<br />

hier weggingen“, berichtet der Bauer. „Dieser Kerl hat ihnen<br />

geholfen. Er war einer ihrer Anführer. Sein Sohn kämpfte hier<br />

und in Bosnien auf Seiten der Serben.“<br />

<strong>Der</strong> Bauer und seine Familienangehörigen geben ihre Zurückhaltung<br />

immer weiter auf. Die Serben, behaupten sie, haben in<br />

Wirklichkeit ihre eigenen Häuser niedergebrannt, bevor sie fortgingen,<br />

um <strong>die</strong> Brandstiftungen später den Albanern in <strong>die</strong> Schuhe<br />

zu schieben. Eine halbe Stunde später wäre ein zurückkehrender<br />

Stanimorovic nicht mehr besonders willkommen: „Wenn er sich<br />

Serbische Familien aus dem Kosovo warten in einer Sammelunterkunft<br />

auf <strong>die</strong> Möglichkeit, zurückkehren zu können.<br />

Aber das Dorf, in dem sie früher lebten, wurde zerstört.<br />

hierher wagt, wird sich <strong>die</strong> Polizei seiner annehmen müssen.“ Aber<br />

<strong>die</strong> albanische Familie fügt auch hinzu: „Seine Ehefrau könnte immer<br />

noch friedlich hier leben.“<br />

Die Wiederherstellung guter Beziehungen zwischen Nachbarn<br />

in Dörfern wie Novo Selo bleibt eine Voraussetzung für dauerhafte<br />

Stabilität auf dem <strong>Balkan</strong>, aber <strong>die</strong> Gefühle der Menschen sind<br />

ständigen Schwankungen unterworfen. B<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

19


Ãden.<br />

40.000 Menschen sind dort untergebracht.<br />

Häufig sind es <strong>die</strong> sehr Alten und<br />

Gebrechlichen, <strong>die</strong> nirgendwo anders hin<br />

können. Die Bedingungen differieren sehr<br />

stark von überfüllten Schlafsälen mit kaum<br />

Komfort zur vorübergehenden Unterbringung<br />

bis zu einfachen, aber sauberen<br />

Familienunterkünften. Auch <strong>die</strong> Stimmung<br />

der Bewohner <strong>die</strong>ser Sammelunterkünfte<br />

schwankt zwischen Gleichgültigkeit und<br />

Wut.<br />

Juplja Stena (Hohler Stein) nahe Belgrad<br />

ist ein ehemaliges Ferienzentrum für Kinder<br />

inmitten bewaldeter Hügel. Manche<br />

Bosnier leben bereits seit zehn Jahren hier.<br />

„Drei Mitglieder meiner Familie einschließlich<br />

meines Ehemanns sind hier<br />

gestorben“, berichtet eine ältere Frau und<br />

fügt hinzu: „Aber meine Enkelkinder wurden<br />

ebenfalls hier geboren.“<br />

„Als wir Mostar (in Bosnien) 1992 verließen,<br />

hatte ich einen noch warmen Brotlaib<br />

bei mir“, sagt sie. „Sonst nichts. Als wir<br />

hier eintrafen, dachten wir, wir würden bald<br />

zurückkehren. Jetzt gibt es keine Hoffnung<br />

mehr, zumindest nicht für uns Ältere. Es<br />

gibt keinen einzigen Tag, an dem ich nicht<br />

weine“, sagt sie und beginnt zu schluchzen.<br />

„Für mich gibt es keine Freude mehr und<br />

keine <strong>Zukunft</strong>.“<br />

Je länger <strong>die</strong> Menschen in Sammelunterkünften<br />

bleiben, wo sie nur ein Mindestmaß<br />

an Unterstützung erhalten, desto apathischer,<br />

aber auch desto abhängiger werden<br />

sie. Viele Langzeitflüchtlinge haben einfach<br />

nicht mehr <strong>die</strong> Willenskraft, Entscheidungen<br />

zu treffen. Manche Flüchtlinge zögern<br />

beispielsweise, <strong>die</strong> jugoslawische Staatsangehörigkeit<br />

anzunehmen, weil sie dann ihre<br />

Sammelunterkunft verlassen und für sich<br />

selbst sorgen müssten.<br />

VERSTÖRT UND ZORNIG<br />

In der Pension Belgrad und anderen<br />

Sammelunterkünften in Südserbien treffen<br />

wir Vertriebene aus dem Kosovo an. Sie<br />

leben noch nicht so lange im Ausland wie<br />

<strong>die</strong> bosnischen Flüchtlinge und sind verstört<br />

und zornig.<br />

„Hunderte Behördenvertreter und Journalisten<br />

sind hier gewesen. Sie haben sich<br />

unsere Geschichten angehört und Fotos von<br />

uns gemacht, aber nichts ist geschehen“,<br />

sagt eine Frau in der Pension Belgrad, bevor<br />

sie sich auf dem Absatz umdreht und weggeht.<br />

In einer umgerüsteten Turnhalle in<br />

der Stadt Vranje, in der etwa 120 Menschen<br />

untergebracht sind, schlägt dem Besucher<br />

Feindseligkeit entgegen. „<strong>Was</strong> ist mit den<br />

1.300 Serben geschehen, <strong>die</strong> im Kosovo ent-<br />

20 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| TITEL |<br />

S. SALGADO<br />

führt wurden?“ fragt einer der Bewohner.<br />

„Niemand hat ihre Leichen gefunden.“<br />

„Warum sollten wir an den Wahlen teilnehmen?“<br />

meint ein anderer mit Blick auf<br />

den bevorstehenden Urnengang im Kosovo<br />

im November. „Sie werden nicht für uns<br />

durchgeführt, sondern für <strong>die</strong> Albaner.“<br />

Kurze Zeit später wird der Besucher schroff<br />

aufgefordert, <strong>die</strong> Sammelunterkunft zu verlassen.<br />

Als <strong>die</strong> Albaner im Sommer 1999 in das<br />

Kosovo zurückströmten, verließen <strong>die</strong><br />

Serben aus Angst vor Rache <strong>die</strong> Provinz.<br />

Mehrere Tausend in Serbien lebende Albaner,<br />

<strong>die</strong> mit dem Konflikt direkt nichts<br />

zu tun hatten, wurden in <strong>die</strong> zunehmenden<br />

Spannungen hineingezogen. Sie entschieden<br />

sich für <strong>die</strong> Umsiedlung in das Kosovo.<br />

Es war eine kaum beachtete Entwicklung<br />

parallel zum Hauptstrang der Ereignisse –<br />

nur ein kleines Steinchen in dem irrwitzigen<br />

Mosaik der damaligen Flüchtlings-,<br />

Vertriebenen- und Migrationsbewegungen.<br />

Nun haben auch <strong>die</strong>se Menschen begonnen,<br />

zurückzukehren, und zum ersten<br />

Mal hat <strong>die</strong> Regierung in Belgrad, <strong>die</strong> bislang<br />

immer für ihre ethnische Politik gescholten<br />

wurde, <strong>die</strong> Rückkehr einer großen<br />

Minderheit offen begrüßt. „Hier wurde ein<br />

Konflikt vermieden. Die Situation hätte<br />

leicht in ein totales Chaos mit mehreren<br />

zehntausend Vertriebenen ausarten können“,<br />

sagt UNHCR-Mitarbeiter Bill Tall,<br />

während er beobachtet, wie <strong>die</strong> ersten 99<br />

Rückkehrer Busse besteigen, <strong>die</strong> sie zu<br />

ihren abgelegenen Bauernhöfen in den umliegenden<br />

Bergen bringen sollen. Natürlich<br />

handelt es sich auch um eine kalkulierte<br />

politische Geste. Indem <strong>die</strong> Regierung in<br />

Belgrad <strong>die</strong> Angehörigen ihre eigenen Minderheiten<br />

zur Rückkehr ermutigt, <strong>bringt</strong><br />

sie sich in eine bessere Position, <strong>die</strong> Rückkehr<br />

der Kosovo-Serben fordern zu können.<br />

Doch selbst mit Unterstützung der<br />

Regierung und Polizeischutz sehen <strong>die</strong> Albaner<br />

in Serbien einer schwierigen <strong>Zukunft</strong><br />

entgegen. Ihre Häuser wurden geplündert.<br />

„Als ich von hier fortging, habe ich zuletzt<br />

das Vieh freigelassen“, sagt Hussein Abdijeviq<br />

mit einem Blick auf <strong>die</strong> Überbleibsel<br />

seines Hauses und das malerische Tal, in<br />

JE LÄNGER DIE MENSCHEN IN<br />

SAMMELUNTERKÜNFTEN BLEIBEN, DESTO APATHISCHER,<br />

ABER AUCH DESTO ABHÄNGIGER WERDEN SIE.<br />

© S SALGADO/BIH•1995<br />

dem seine Tiere verschwunden waren. Die<br />

Türen und Fenster wurden geraubt. Matratzen<br />

und Schulhefte liegen auf dem Fußboden.<br />

Eine Wand ist mit serbischen und<br />

albanischen militaristischen Parolen beschmiert.<br />

Im Hof liegt ein mutwillig unbrauchbar<br />

gemachtes Kinderfahrrad.<br />

Hussein erhielt ein paar Hilfsgüter,<br />

einen Ofen, Decken und ein paar Lebensmittelrationen<br />

mit auf den Weg und machte<br />

sich darauf gefasst, erst einmal im Freien<br />

zu übernachten. „Ich muss hier alles sauber<br />

machen, bevor meine Ehefrau eintrifft“,<br />

grinst er breit. „Ich bin sehr froh und gleichzeitig<br />

sehr traurig. <strong>Was</strong> soll ich sagen? Das<br />

ist mein Zuhause, und ich bin wieder hier.“<br />

Ähnliche Szenen spielen sich in den umliegenden<br />

Tälern ab. (Doch selbst Geschichten<br />

mit gutem Ausgang müssen nicht von<br />

Dauer sein. Kurze Zeit später erschossen<br />

bewaffnete Unbekannte zwei örtliche Polizisten<br />

und verletzten zwei andere. <strong>Der</strong> Vorfall<br />

droht <strong>die</strong> Rückkehr und <strong>die</strong> Stabilität<br />

der gesamten Region zu gefährden.)<br />

EIN „MEHRHEITSPROBLEM“<br />

Im Kosovo haben <strong>die</strong> Albaner, <strong>die</strong> noch<br />

vor zwei Jahren selbst Flüchtlinge waren,<br />

eindeutig <strong>die</strong> Oberhand. Hingegen werden<br />

<strong>die</strong> Serben und <strong>die</strong> Angehörigen anderer<br />

Minderheiten offenkundig diskriminiert.<br />

Fortsetzung auf Seite 24 Ã<br />

MUSLIMISCHE ÜBERLEBENDE AUS SREBRENICA<br />

Es war <strong>die</strong> schlimmste Gräueltat in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nachdem<br />

serbische Truppen 1995 <strong>die</strong> muslimische Enklave Srebrenica eingenommen hatten, töteten sie<br />

systematisch mehr als 7.000 bosnische Männer und männliche Jugendliche. Anfang <strong>2001</strong> kehrten<br />

unter dem Schutz bewaffneter amerikanischer Soldaten mehrere tausend Muslime zu einer Gedenkfeier<br />

zurück. <strong>Der</strong> Grundstein eines Mahnmals wurde zur Erinnerung an <strong>die</strong> Opfer gelegt. Einige<br />

Wochen später wurde der serbische General Radislav Krstic für seine Beteiligung an dem Massaker<br />

wegen Völkermord zu 46 Jahren Haft verurteilt. Die Waffen schweigen seit vielen Jahren, aber <strong>die</strong><br />

Stadt wird heute überwiegend von Serben bewohnt – ein bleibendes Vermächtnis des Krieges.<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

21


| TITEL |<br />

Das Rad, das<br />

niemals quietscht<br />

Die Reintegration von Minderheiten ist langwierig und war<br />

bis jetzt nur in begrenztem Maße erfolgreich.<br />

Als <strong>die</strong> NATO-Truppen ins Kosovo kamen, dachte ich,<br />

der Albtraum wäre vorüber“, sagt Ragip Kovaqi kopfschüttelnd.<br />

„Aber <strong>die</strong> Dinge ändern sich für uns im Kosovo<br />

nur langsam. Ich baue mein Haus wieder auf, aber ich kann mir<br />

noch immer nur eine Mahlzeit am Tag leisten, wenn meine Kinder<br />

genug zu essen haben sollen.“<br />

Ragip gehört zur Minderheit der Aschkali, <strong>die</strong> eng mit den<br />

Roma und den Kosovo-Ägyptern verwandt<br />

sind. Während des Kosovo-Konflikts<br />

im Jahre 1999 musste seine Sippe in<br />

<strong>die</strong> Berge fliehen. In ihrer Abwesenheit<br />

wurden ihre Häuser im Dorf Batlava<br />

dem Erdboden gleichgemacht.<br />

Letztes Jahr wurden sie aufgefordert,<br />

zurückzukehren und im Rahmen der<br />

internationalen Bemühungen zum Wiederaufbau<br />

des Kosovo ihre Häuser neu<br />

zu errichten. Grainna O’Hara, UNHCR-<br />

Mitarbeiterin, bezeichnet das Projekt<br />

vorsichtig als „Rückkehr in Raten“. <strong>Der</strong><br />

Begriff könnte auf weite Teile des <strong>Balkan</strong><br />

angewendet werden.<br />

Nicht alle Familien sind zurückgekehrt.<br />

<strong>Der</strong> Wiederaufbau ist nur langsam<br />

vorangekommen, und es gibt keine<br />

Garantie, das er jemals abgeschlossen<br />

werden kann. Ragip bewarb sich um<br />

eine Stelle bei der Polizei. Ohne Erfolg.<br />

Angeblich diffamierten ihn feindselig<br />

gesinnte Nachbarn.<br />

STÄNDIGE OPFER VON<br />

DISKRIMINIERUNG<br />

Als Beweis für <strong>die</strong> tiefen Gräben, <strong>die</strong><br />

in der gesamten Region weiterhin klaffen,<br />

liegt ein Grab wie eine bedrückende<br />

Mahnstätte nur wenige Meter von der<br />

Baustelle entfernt. Ragips Bruder war<br />

während des Konflikts ebenfalls in <strong>die</strong><br />

Berge geflohen, aber als er versuchte, in<br />

das Dorf zurückzukehren, wurde er auf<br />

der Stelle von serbischen Polizisten erschossen.<br />

Das Grab ist mit frischen Blumen<br />

geschmückt.<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

Minderheiten wurden zu<br />

allen Zeiten Opfer von<br />

Schikanierung und Diskriminierung.<br />

Das war auch<br />

in den neunziger Jahren<br />

nicht anders.<br />

„Ich bin mir überhaupt nicht sicher, was <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong> bringen<br />

wird“ sagt Ragip.<br />

Diese Minderheiten leben seit Jahrhunderten auf dem <strong>Balkan</strong>.<br />

Dennoch sind sie zu allen Zeiten Opfer von Schikanierung und<br />

Diskriminierung geworden. In den Unruhen der neunziger Jahre<br />

in Bosnien, Kroatien und im Kosovo war das nicht anders.<br />

Die jüngsten Reintegrationsbemühungen sind nur langsam<br />

vorangekommen und waren nur begrenzt<br />

erfolgreich.<br />

Die Roma-Gemeinschaft in Mitrovica<br />

im Kosovo gehörte zu den wohlhabendsten<br />

in der gesamten Region. 6.000 Menschen<br />

lebten in modernen zwei- und dreigeschossigen<br />

Gebäuden, bevor sie im Juni<br />

buchstäblich „ausgeräuchert“ wurden.<br />

Die Menschen mussten fliehen, um rachgierigen<br />

Albanern zu entkommen, <strong>die</strong><br />

sie beschuldigten, sich auf <strong>die</strong> Seite der<br />

serbischen Behörden geschlagen zu haben.<br />

Roma Makalla ist bis heute eine<br />

schwelende leere Ruine. Gebäude wurden<br />

mit Brandbomben beworfen. Andere<br />

wurden Stein für Stein abgetragen. Die<br />

Plünderer schafften das Baumaterial mit<br />

Schubkarren davon, um es für ihre eigenen<br />

Häuser zu verwenden. Gleichzeitig<br />

versperrten sie damit den Eigentümern<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit, ihre Häuser wieder aufzubauen.<br />

Als jüngst <strong>die</strong> Frage einer Rückführung<br />

der Roma nach Mitrovica zur Debatte<br />

gestellt wurde, kam man zu der<br />

Einschätzung, dass damit aus Sicherheitsgründen<br />

zurzeit noch ein zu hohes<br />

Risiko verbunden wäre.<br />

In Städten wie Gnjilane im Kosovo<br />

entgingen <strong>die</strong> Häuser von Roma der Zerstörung.<br />

Es haben sich darin jedoch Serben<br />

oder Albaner niedergelassen, <strong>die</strong> aus<br />

ihren eigenen Häusern vertrieben wurden.<br />

Bei <strong>die</strong>ser anscheinend nie endenden<br />

„Reise nach Jerusalem“ um freien Wohnraum<br />

gelangten einige Roma in das Lager<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

22 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


Eine einst blühende Roma-Gemeinschaft in Mitrovica wurde zerstört. Mehrere tausend Roma leben in Sammelunterkünften<br />

und Lagern und warten auf den Tag, an dem sie zurückkehren können.<br />

Salvatore in Südserbien. Die „glücklichen“ 145 Roma leben in rostfarbigen<br />

umgerüsteten Containern. Eine Familie mit zehn Personen<br />

bewohnt ein „Zimmer“ von fünfeinhalb mal fünfeinhalb<br />

Metern. Zum Schlafen haben sie ein Bett und ansonsten übereinander<br />

gelegte Teppiche auf dem Fußboden. An einer Wand<br />

des Containers hängt ein Webteppich mit dem Konterfei von Elvis<br />

Presley. „Einer der Helden meiner Jugend“, sagt <strong>die</strong> Mutter.<br />

Die „Unglücklichen“ hausen in wackeligen Konstruktionen<br />

aus Plastikplanen und Karton, <strong>die</strong> häufig keine Türen haben und<br />

bei Regen unter <strong>Was</strong>ser stehen.<br />

Es gibt keine Arbeit, und ein Stück Brennholz kostet den Gegenwert<br />

von 2,50 Euro.<br />

Uns schlägt ein Hagel von Klagen entgegen. „Wir haben keine<br />

Arbeit, keine Lebensmittel, keine <strong>Zukunft</strong>. Meine Tochter liegt im<br />

Sterben. Ich werde versuchen, sie am Leben zu halten, aber wenn<br />

sie stirbt, gebe ich sie bei Ihnen im Büro ab“, sagt ein junger Mann.<br />

„Es herrscht Frieden, aber für uns gibt es noch immer keine Hoffnung“,<br />

fügt ein anderer hinzu.<br />

Eine ungewöhnliche Begebenheit mischt sich in <strong>die</strong> Erinnerungen<br />

an <strong>die</strong>se bedrückende Szenerie. In einer Ecke des Geländes<br />

zieht ein von Roma umgebener, gut gekleideter Mann Gebühren<br />

ein. Auf Nachfrage gibt er an, Mitarbeiter der örtlichen<br />

Mobilfunkgesellschaft zu sein. Buchstäblich jeder der dort Versammelten<br />

besitzt ein Mobiltelefon. Die Älteren halten damit<br />

Kontakt zum Kosovo, und <strong>die</strong> Jüngeren telefonieren einfach von<br />

einer zur anderen Ecke des Lagers, das seit so langer Zeit ihr<br />

Zuhause bildet.<br />

LANGSAM UND ZÖGERLICH<br />

Dies sind Menschen, deren Stimmen nirgendwo gehört werden<br />

und <strong>die</strong> von keinem maßgeblichen Politiker etwas zu erwarten<br />

haben. Ein Roma-Sprecher bezeichnet sie als “das Rad, das niemals<br />

quietscht“ und dem niemand Aufmerksamkeit widmet.<br />

Vor dem Krieg lebten in Pristina sehr viele Roma. Aber <strong>die</strong><br />

meisten flohen oder wurden gezwungen, nach Serbien oder in<br />

temporäre Unterkünfte wie das Lager Plemetina umzuziehen,<br />

eine frühere Wohnbaracke für Arbeiter des Elektrizitätswerks<br />

am Stadtrand. „Menschen mit dunkler Hautfarbe trauen sich nicht<br />

in <strong>die</strong> Stadt hinein“, sagt ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation.<br />

Doch werden Maßnahmen unternommen, damit <strong>die</strong> Roma wieder<br />

in <strong>die</strong> Stadt zurückkehren können. Ihre Häuser werden instand<br />

gesetzt. Ein Spielplatz, ein Abwasserprojekt und der Bau einer<br />

Straße sind geplant. Diese werden nicht nur den Roma, sondern<br />

allen Bewohnern zugute kommen. Einige prominente Vertreter<br />

der Albaner haben Kontakt zu den Minderheiten aufgenommen,<br />

und ihre eigenen Sprecher haben im örtlichen Fernsehen Interviews<br />

gegeben. Aber <strong>die</strong> Reintegration ist eine langwierige Aufgabe.<br />

Die Rückführung einer einzigen Familie kann ein ganzes<br />

Jahr der Vorbereitung erfordern, <strong>die</strong> dennoch binnen Sekunden<br />

zunichte gemacht werden können.<br />

So lange hatte es gedauert, ein Umfeld zu schaffen, dass Roma-<br />

Familien im letzten Jahr überzeugte, der Rückkehr in das Drenica-<br />

Tal zuzustimmen. Zwei Tage, nachdem drei Männer und ein Jugendlicher<br />

zurückgekehrt waren, wurden ihre Leichen neben<br />

ihren Zelten aufgefunden. <strong>Der</strong> Vorfall ließ allen Angehörigen<br />

von Minderheiten auf dem <strong>Balkan</strong> das Blut in den Adern gefrieren.<br />

„Dies war ein Modellprojekt für <strong>die</strong> Rückkehr, und es brauchte<br />

nur wenige Augenblicke, um es zu zerstören“, sagt Grainna O’Hara.<br />

„Wir sind uns der Risiken bewusst, aber <strong>die</strong> Menschen möchten<br />

an ihre früheren Wohnorte zurückkehren. Wir können nicht einfach<br />

alles aufgeben, selbst nach Vorfällen wie <strong>die</strong>sem, oder?“<br />

Dies bleibt eines der schwierigsten Dilemmas auf dem <strong>Balkan</strong><br />

in der heutigen Zeit. B<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

23


| TITEL |<br />

UNHCR/R. CHALASANI/CS•YUG•<strong>2001</strong><br />

Ethnische Minderheit benötigen im Kosovo weiterhin Schutz – unabhängig davon,<br />

ob es sich um Albaner, Serben oder Roma handelt. Britische Soldaten und ein<br />

UNHCR-Mitarbeiter sprechen mit einem serbischen Bauern über <strong>die</strong> Sicherheitslage.<br />

à Eine Zivilverwaltung der Vereinten Nationen<br />

namens UNMIK soll <strong>die</strong> instabile Provinz<br />

mit Unterstützung der KFOR-Truppen<br />

in <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong> führen, doch ist <strong>die</strong>se<br />

ungewiss. „Im Kosovo gibt es kein Minderheitenproblem“,<br />

sagt ein hochrangiger Mitarbeiter<br />

einer Hilfsorganisation. „Hier ist<br />

<strong>die</strong> Mehrheit das Problem“, fügt er hinzu<br />

und spielt damit auf <strong>die</strong> Haltung der Albaner<br />

gegenüber den Serben an.<br />

Hinter <strong>die</strong>ser pauschalen und vereinfachenden<br />

Feststellung stecken Tausende individueller<br />

Geschichten: von Serben, <strong>die</strong><br />

trotz der Feindseligkeit um sie herum geblieben<br />

sind, von den wenigen, <strong>die</strong> zurückgekehrt<br />

sind, von Albanern in der umgekehrten<br />

Situation, in Enklaven in Gebieten mit<br />

serbischer Mehrheit und von der überraschenden<br />

Ankunft von mehr als 80.000<br />

Flüchtlingen aus der Ehemaligen Jugoslawischen<br />

Republik Mazedonien (siehe Seite 11).<br />

Slivovo, ein Bezirk mit acht Dörfern, erinnert<br />

in seiner landschaftlichen Schönheit<br />

an kitschige Postkarten aus der Schweiz. Als<br />

hier 1999 vier Brüder von Angehörigen<br />

einer albanischen Bürgerwehr an einem<br />

Baum erhängt wurden, verließen <strong>die</strong> meisten<br />

serbischen Einwohner das Gebiet. Miro<br />

Pavic wollte sein Gemüse, seinen Weizen,<br />

seinen Mais, seine Obstbäume und sein Vieh<br />

nicht aufgeben und beschloss, zu bleiben.<br />

Schwedische Soldaten haben einen Kommandoposten<br />

am Fuß des Hügels errichtet,<br />

auf dem Pavics Bauernhof steht, und halten<br />

Wache auf den nahe gelegenen Berggipfeln.<br />

UNHCR hat eine Buslinie eingerichtet,<br />

mit der <strong>die</strong> wenigen Serben in<br />

dem Bezirk durch albanisch dominiertes<br />

Gebiet in <strong>die</strong> „Außenwelt“ gelangen können.<br />

Die Lage ist heikel. Dennoch gilt Slivovo<br />

als eines von knapp mehr als zehn Gebieten<br />

im Kosovo, <strong>die</strong> angeblich sicher genug sind,<br />

um frühere serbische Bewohner zur Rückkehr<br />

aufzufordern. Miro Pavic führt eine<br />

Liste aller geflohenen serbischen Familien<br />

und spricht sich nachdrücklich für ihre<br />

Rückkehr aus. „15 Familien sind zurückgekommen“,<br />

sagt er. Dieser Anfang ist ermutigend.<br />

Dennoch bezweifeln auch Mitarbeiter<br />

von Flüchtlingsorganisationen, dass<br />

<strong>die</strong> meisten der 230.000 Serben und Angehörigen<br />

anderer Minderheiten, <strong>die</strong> hier einmal<br />

lebten, in absehbarer Zeit zurückkehren<br />

werden.<br />

Die britische Regierung hat 15 Gewächshäuser<br />

gespendet, um einen weiteren Anreiz<br />

zur Rückkehr zu geben und zur Sicherung<br />

des Lebensunterhalts der Serben<br />

beizutragen. Pavic beklagte jedoch, <strong>die</strong> Enklave<br />

sei zu „einem vergoldeten Käfig“<br />

geworden. „Wir sitzen immer noch inmitten<br />

unseres Gemüses gefangen. Die Sicherheitslage<br />

hat sich im letzten Jahr verbessert,<br />

aber <strong>die</strong> Präsenz der schwedischen Soldaten<br />

ist weiterhin absolut unverzichtbar“, sagt<br />

er. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir<br />

ohne sie hier leben könnten.“<br />

KRISENHERD<br />

Das Gleiche gilt für Slobodanka Nojic,<br />

<strong>die</strong> Ehefrau eines Priesters an der orthodoxen<br />

Bischofskirche von Mitrovica. Die<br />

zweitgrößte Stadt im Kosovo ist de facto <strong>die</strong><br />

Frontlinie bei den Auseinandersetzungen<br />

zwischen den Albanern in den südlichen<br />

Stadtteilen und den Serben im Norden. Fanatismus<br />

und Hass werden nicht selten offen<br />

zur Schau gestellt. Eine Mitarbeiterin<br />

einer Hilfsorganisation fürchtet sich sogar,<br />

wenn es in der Stadt ruhig ist. „Ich habe<br />

ständig Angst, dass etwas passieren wird.<br />

Hier ist es zu ruhig. Die Stimmung ist unheimlich.“<br />

Die Bischofskirche liegt im Süden der<br />

Stadt inmitten der albanischen Viertel.<br />

Griechische Soldaten haben sie mit Stacheldraht,<br />

Sandsäcken und bewaffneten Mannschaftstransportfahrzeugen<br />

umgeben. Die<br />

Kirche ist offiziell geöffnet, aber nur wenige<br />

Menschen nehmen an den Gottes<strong>die</strong>nsten<br />

teil. Die Priester werden von Soldaten begleitet,<br />

wenn sie das Gelände verlassen.<br />

Slobodanka Nojic traut sich das nicht mehr.<br />

„Ich habe zu viel Angst“, sagt sie. „Wenn wir<br />

versuchen würden, das Gelände ohne Eskorte<br />

zu verlassen, würden wir entführt<br />

oder getötet. Wir würden mit Sicherheit nie<br />

mehr in <strong>die</strong>ses Haus zurückkehren.“<br />

Halit und Zadi Maxhuni stecken unter<br />

umgekehrten Vorzeichen in einer ähnlichen<br />

Situation. Sie leben als Albaner im<br />

serbisch dominierten Norden der Stadt.<br />

Halit Maxhuni ist beinahe blind. Auf dem<br />

Höhepunkt des Konflikts verbrachten sie<br />

ein ganzes Jahr in ihrer abgedunkelten Wohnung<br />

mit Decken vor den Fenstern. Abgesehen<br />

von zwei ihnen wohlgesinnten serbischen<br />

Nachbarn, <strong>die</strong> ab und zu für sie<br />

einkauften, war ein kleines Radio ihr einziger<br />

Kontakt zur Außenwelt.<br />

Als Halit Maxhuni sich jüngst endlich<br />

auf <strong>die</strong> Straße traute, um zum Friseur zu<br />

gehen, standen in der Nachbarschaft alle<br />

Serben auf ihren Balkons und beobachteten<br />

AUF DEM HÖHEPUNKT DES KONFLIKTS VERBRACHTEN SIE EIN GANZES JAHR<br />

IN IHRER ABGEDUNKELTEN WOHNUNG, MIT DECKEN VOR DEN FENSTERN.<br />

EIN KLEINES RADIO WAR IHR EINZIGER KONTAKT ZUR AUßENWELT.<br />

24 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| TITEL |<br />

ihn. Als seine Frau <strong>die</strong> Wohnung zum ersten<br />

Mal verließ, war sie überwältigt: „Zuerst<br />

hatte ich das Gefühl, alles um mich herum<br />

würde sich drehen. Aber dann sah ich den<br />

Himmel und <strong>die</strong> Sonne. Es war wunderbar.“<br />

RÜCKKEHR NACH TUROVI<br />

Im Jahre 1998 hieß es in der Zeitschrift<br />

FLÜCHTLINGE (Nr. 1, März/April 1999)<br />

über <strong>die</strong> Stadt Turovi in Bosnien: „Seit beinahe<br />

zwei Jahren steht UNHCR in zermürbenden<br />

Verhandlungen mit dem serbischen<br />

Bürgermeister von Trnovo wegen der Rückkehr<br />

von Minderheitenangehörigen nach<br />

Turovi. Als Gegenleistung für den Wiederaufbau<br />

von 20 muslimischen Häusern, so<br />

das Angebot von UNHCR, sollten 20 serbische<br />

Häuser, eine Schule und das Sägewerk<br />

instand gesetzt werden. Die Serben<br />

änderten jedoch ständig <strong>die</strong> Spielregeln –<br />

zunächst in der Frage, welche Häuser als<br />

Erste wieder aufgebaut werden sollten,<br />

dann mit Blick auf <strong>die</strong> Zahl der Nutznießer.<br />

Turovi ist ein verlassener Ort mit Ruinen<br />

unter Schichten aus Schnee und Müll“<br />

Es ist ein Zeichen des Fortschritts in<br />

Bosnien, dass sich heute ein anderes Bild in<br />

der Stadt bietet. 60 Häuser wurden wieder<br />

aufgebaut. Rote Ziegeldächer glänzen in der<br />

Sonne und vor den Fenstern blühen Blumen,<br />

obwohl das Leben immer noch hart<br />

ist. Die muslimischen Dorfbewohner sind<br />

überwiegend ältere Menschen, es gibt zu<br />

wenig Vieh, und <strong>die</strong> meisten, <strong>die</strong> hier leben,<br />

sind in einer ähnlichen Lage wie Mustafa<br />

und Sevda Dedovic, <strong>die</strong> mit einer Rente von<br />

umgerechnet 55 Euro auskommen müssen.<br />

Als <strong>die</strong>ses Ehepaar von seinen Kriegserfahrungen<br />

und seiner Freude, endlich<br />

heimkehren zu können, berichtet, kommt<br />

überraschend Mustafas Bruder, dessen Ehefrau<br />

und ihre beiden Söhne, <strong>die</strong> im selben<br />

Dorf gelebt hatten, aber irgendwann nach<br />

Schweden geflohen waren, zu Besuch.<br />

„Heute meint es das Leben gut mit uns“,<br />

sagt Mustafa, obwohl sein Bruder es im<br />

Krieg leichter gehabt hat.<br />

Zuko Rasim, ein anderer Muslim, kehrte<br />

in <strong>die</strong> Stadt Trnovo zurück, <strong>die</strong> während<br />

des Krieges von den Serben beherrscht<br />

wurde. Er hatte weniger Glück. Als er seine<br />

Bäckerei wieder eröffnete, kauften anfangs<br />

auch viele Serben bei ihm ein. Aber Hardliner<br />

in der Kommunalverwaltung intervenierten,<br />

indem sie seine Kunden verjagten<br />

und übermäßig hohe Kommunalabgaben<br />

von ihm forderten. Selbst <strong>die</strong><br />

Kinder von der anderen Straßenseite begannen,<br />

sein Geschäft zu meiden, obwohl es<br />

dort so gut riecht. „Ich nehme an, sie versuchen<br />

einfach, mich aus der Stadt zu vertreiben“,<br />

sagt Zuko.<br />

SCHWIERIGER KANN ES NICHT SEIN<br />

Das Panorama im Drina-Tal gehört zu<br />

den schönsten in Europa. Hier gibt es tiefe<br />

Schluchten und urtümliche Wälder, und<br />

in den Höhenlagen blühen gelbe, violette,<br />

weiße und rosafarbene Wildblumen. Das<br />

Gebiet um <strong>die</strong> Stadt Visegrad war besonders<br />

hart umkämpft, bevor <strong>die</strong> serbischen<br />

Truppen <strong>die</strong> Muslime vertrieben.<br />

Heute ist es Schauplatz eines außergewöhnlichen<br />

Rückkehrversuchs. Hoch an<br />

einem Berghang rumpelt ein roter Renault<br />

aus den fünfziger Jahren über einen fast<br />

zugewachsenen Weg. Nur eine kurze Strecke<br />

entfernt liegt vollkommen von Blattwerk<br />

zugedeckt das zerstörte Dorf Dubocica. Cato<br />

Feridjz fährt vorsichtig den Hang hinunter,<br />

vorbei an bröckelnden Mauern und ein paar<br />

verwitterten Palisadenzäunen.<br />

Er hat Schwierigkeiten, sein altes Haus<br />

zu finden, entdeckt aber schließlich ein silberfarbenes<br />

Tablett in den nun deutlich erkennbaren<br />

Ruinen. „Meine Mutter wurde<br />

hier erschossen. Ermordet“, berichtet er.<br />

„Sie war 80 Jahre alt. Sie haben das Haus<br />

niedergebrannt.“<br />

Er zeigt auf einen Obstbaum. „Slibowitz“,<br />

ein örtlicher Pflaumenbranntwein,<br />

sagt er stolz. Er pflückt eine Wildblume,<br />

zerreibt sie zwischen den Fingern und erklärt<br />

dann: „Tee.“ Das Einzige, was auf<br />

<strong>die</strong>sem Berg noch funktioniert, ist ein Rohr,<br />

aus dem Quellwasser in einen Zuber läuft.<br />

Cato zieht seine Kleidung aus und springt<br />

in das eiskalte Nass. „Mein <strong>Was</strong>ser“, sagt er<br />

stolz.<br />

Er und <strong>die</strong> anderen Männer, <strong>die</strong> sich auf<br />

den Weg zu <strong>die</strong>sem Dorf gemacht haben,<br />

haben nur ein paar Decken und Lebensmittel<br />

erhalten. Aber sie sind entschlossen,<br />

in den Ruinen zu bleiben, und das Dorf wieder<br />

aufzubauen.<br />

Schwieriger kann es nirgendwo sein. An<br />

Orten wie <strong>die</strong>sen entscheidet sich <strong>die</strong> Rückkehr<br />

auf den <strong>Balkan</strong>. Wenn <strong>die</strong>se Dorfbewohner<br />

mit fast nichts in den Händen <strong>die</strong><br />

Unbilden auf dem Berg überleben, <strong>die</strong><br />

Feindseligkeit der in der Nähe wohnenden<br />

Serben überwinden sowie ihre Häuser und<br />

ihre Existenz neu aufbauen können, dann<br />

besteht Hoffnung für <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong>. B<br />

UNHCR/R. WILKINSON/CS•BIH•<strong>2001</strong><br />

Muslime bei der Ankunft in ihrem Heimatdorf hoch über dem Drina-Tal.<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

25


| ERITREA |<br />

UNHCR/S. BONESS/CS•ERI•<strong>2001</strong><br />

ENDLICH...<br />

DIE RÜCKKEHR EINER DER GRÖSSTEN UND<br />

AM LÄNGSTEN BESTEHENDEN<br />

FLÜCHTLINGSGEMEINSCHAFTEN BEGINNT<br />

26 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| ERITREA |<br />

Von Newton Kanhema<br />

und Wendy Rappeport<br />

Nach drei Jahrzehnten auf dem Weg nach Hause.<br />

Mzilal Kidane Maasho<br />

umarmt und küsst ihre<br />

langjährigen Nachbarn.<br />

Die Enkelkinder um sie<br />

herum weinen, und auch<br />

ihr laufen <strong>die</strong> Tränen über <strong>die</strong> Wange. Ihr<br />

Ehemann Kidane Maasho schluchzt ebenfalls<br />

hemmungslos, doch seine Stimme ist<br />

fest: „Ich habe 20 Jahre auf <strong>die</strong>sen Tag<br />

gewartet, und ich habe keine Angst zurückzukehren.<br />

Es ist traurig, dass ich meine<br />

Freunde verlassen muss, aber ich gehe<br />

zurück in das Land, das Gott den Eritreern<br />

gegeben hat.“<br />

Das ältere Ehepaar hat zwiespältige<br />

Gefühle. Einerseits naht das Ende guter<br />

Freundschaften, <strong>die</strong> unter den härtesten<br />

Lebens- und gefühlsmäßigen Bedingungen<br />

entstanden waren, <strong>die</strong> man sich nur<br />

vorstellen kann. Andererseits freuen sie sich<br />

auf <strong>die</strong> bevorstehende Rückkehr in ein<br />

Herkunftsland, das sich in der Zwischenzeit<br />

drastisch verändert hat, das sie aber<br />

niemals vergessen haben.<br />

Bis zu 500.000 Menschen flohen<br />

während des erbittert geführten, 30 Jahre<br />

währenden Krieges in den Sudan, nachdem<br />

Äthiopien im Jahre 1962 Eritrea am Horn<br />

von Afrika besetzt hatte.<br />

Die Maashos verließen Eritrea vor 20<br />

Jahren, nachdem <strong>die</strong> äthiopische Luftwaffe<br />

ihr Dorf unablässig bombar<strong>die</strong>rt hatte und<br />

13 Nachbarn von äthiopischen Soldaten<br />

getötet worden waren.<br />

Sie entkamen durch <strong>die</strong> Wüste. Vor sich<br />

her trieben sie eine winzige Herde mit 20<br />

Stück Vieh, Eseln und Ziegen. Einige Tiere<br />

waren in der glühenden Hitze zusammengebrochen,<br />

bevor <strong>die</strong> Familie <strong>die</strong> relative<br />

Sicherheit im Sudan erreichte, wo sie<br />

sich zu den anderen Eritreern gesellten, <strong>die</strong><br />

schließlich eine der größten und am längsten<br />

bestehenden Flüchtlingsgemeinschaften<br />

überhaupt bildeten.<br />

Das Leben in <strong>die</strong>sem Teil Afrikas ist sehr<br />

hart. <strong>Der</strong> aus der Wüste kommende heiße<br />

Wind fegt über eine raue Landschaft hinweg,<br />

in der es so gut wie keine Bäume oder<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

27


| ERITREA |<br />

ABER ES WAR IMMER EIN LEBEN AM RAND DES ERTRÄGLICHEN.<br />

DER BODEN EIGNETE SICH NICHT FÜR DEN ACKERBAU, UND DIE KARGE LANDSCHAFT<br />

GAB NICHT EINMAL BRENNHOLZ HER.<br />

UNHCR/W. RAPPEPORT/CS•ERI•<strong>2001</strong><br />

Ein Gebet vor der Abfahrt<br />

Ankunft in Tesseney<br />

auch nur Sträucher gibt. Es ist einer der<br />

heißesten Orte auf der Erde mit Tagestemperaturen<br />

von weit über 40 Grad, auf <strong>die</strong><br />

jeweils bitterkalte Nächte folgen.<br />

Anfangs verdingte Maasho sich als<br />

Handlanger auf dem Bau in der Grenzstadt<br />

Kassala. Dort ver<strong>die</strong>nte er umgerechnet 2,50<br />

Euro pro Woche. Dennoch musste <strong>die</strong> Familie<br />

Stück um Stück ihr Vieh verkaufen,<br />

um überleben zu können. Schließlich wurden<br />

sie von den örtlichen Behörden gezwungen,<br />

in eines der zahlreichen Lager<br />

umzuziehen, <strong>die</strong> in dem Gebiet eingerichtet<br />

worden waren. Im Lager Wad Sherife erhielten<br />

sie Nahrungsmittelrationen, <strong>die</strong> das<br />

Überleben sicherten, und ein kleines Stück<br />

Land. Aber es war immer ein Leben am<br />

Rand des Erträglichen. <strong>Der</strong> Boden eignete<br />

sich nicht für den Ackerbau, und <strong>die</strong> karge<br />

Landschaft gab nicht einmal Brennholz her.<br />

Zum Kochen mussten sie daher winzige<br />

Mengen Holzkohle kaufen, wann immer<br />

sie ein paar Cent gespart hatten.<br />

Auf dem kleinen Stück Land, das man<br />

ihnen zugewiesen hatte, bauten sie zwei<br />

Lehmhütten und eine Außentoilette. Mit<br />

viel Geduld und Mühe sammelten sie nach<br />

und nach kürzere Stöcke, um das Grundstück<br />

mit einem provisorischen Zaun zu<br />

umgeben. Ein Mindestmaß an Privatsphäre<br />

und Sicherheit sind wichtig in dem lauten<br />

Gewirr eines riesigen Flüchtlingslagers, in<br />

dem fast alle Not leiden und es immer<br />

wieder zu Verbrechen wie Vergewaltigungen<br />

kommt.<br />

EIN NEUES LEBEN<br />

Es gab keine Arbeit, sodass das Leben<br />

von apathisch machender Langeweile und<br />

Warten geprägt war. In <strong>die</strong>sem deprimierenden<br />

Umfeld schlossen <strong>die</strong> Maashos<br />

Freundschaften und zogen sieben Kinder<br />

groß. Als sie älter wurden, gingen <strong>die</strong><br />

Kinder fort – in <strong>die</strong> eritreische Armee, nach<br />

Kenia oder nach Saudi-Arabien. Einige verschwanden<br />

in der immer größer werdenden<br />

Flüchtlingsdiaspora und verloren den<br />

Kontakt zu ihren Eltern. Ein Sohn kehrte<br />

Anfang <strong>die</strong>ses Jahres „heim“ nach Eritrea.<br />

Ein anderer starb vor nur wenigen Monaten.<br />

Die Maashos wurden im Exil langsam<br />

alt. Immer mehr waren sie auf <strong>die</strong> Großzügigkeit<br />

von zwei verheirateten Töchtern<br />

angewiesen, <strong>die</strong> in einer nahe gelegenen<br />

Stadt lebten und ihnen Geld für Holzkohle<br />

und Lebensmittel zusteckten.<br />

Während sich das Leben in solchen<br />

Lagern nur um eines, nämlich das blanke<br />

Überleben, dreht, steht <strong>die</strong> Außenwelt<br />

nicht still. Eritrea erlangte 1993 auf friedlichem<br />

Wege <strong>die</strong> Unabhängigkeit von Äthiopien.<br />

Flüchtlinge verließen <strong>die</strong> Lager, um in<br />

ihr Herkunftsland zurückzukehren oder<br />

in anderen Ländern ein neues Leben anzufangen.<br />

Als sich <strong>die</strong> politische Lage in der Region<br />

stabilisierte, begann UNHCR als vorbereitende<br />

Maßnahme für eine mögliche<br />

Rückführung mit der Registrierung der<br />

Flüchtlinge, von denen einige seit mehr als<br />

30 Jahren von Zuhause fort waren. Die<br />

Maashos zählten zu den Ersten, <strong>die</strong> sich in<br />

<strong>die</strong> Listen eintrugen.<br />

Aber wieder kam ein Krieg dazwischen,<br />

der neue Flüchtlingsströme in <strong>die</strong> Lager<br />

brachte. Als Äthiopien und Eritrea sich<br />

gegenseitig so zermürbt hatten, dass eine<br />

Pattsituation entstanden war, mussten <strong>die</strong><br />

28 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| ERITREA |<br />

Pläne für <strong>die</strong> Rückführung vorläufig<br />

aufgegeben werden. In dem Konflikt starben<br />

so viele Menschen und ihr Tod wurde<br />

so bedenkenlos in Kauf genommen, dass er<br />

an das Massensterben in den Schlachten<br />

des Ersten Weltkrieges erinnerte. Insgesamt<br />

forderte der Konflikt, der schließlich<br />

im Juni letzten Jahres beigelegt wurde,<br />

mehrere zehntausend Menschenleben.<br />

Im Mai begann UNHCR schließlich<br />

doch mit der Rückführung zumindest eines<br />

Teils der mehr als 170.000 noch immer im<br />

Sudan lebenden Eritreer. Trotz einkalkulierter<br />

Unterbrechungen in der Regenzeit<br />

entschloss sich das Amt, in <strong>die</strong>sem Jahr<br />

zu mir und meiner Familie“, teilt der alte<br />

Mann mit Hilfe eines Dolmetschers mit.<br />

Als Letztes sagt er: „Bevor ich in den Sudan<br />

kam [ein streng islamisches Land, in<br />

dem Alkoholgenuss verboten ist], habe ich<br />

immer gerne ein Bier getrunken. Jetzt freue<br />

mich schon auf das erste Bier nach meiner<br />

Rückkehr.“<br />

WIEDER ZU HAUSE<br />

Die eritreische Stadt Tesseney ist ein<br />

Durchgangspunkt für viele Rückkehrer.<br />

Sie werden nicht selten feierlich willkommen<br />

geheißen, stehen aber vor einer<br />

schwierigen <strong>Zukunft</strong>. Eritrea ist eines der<br />

ärmsten Länder auf der Welt und hat kaum<br />

Mittel übrig, um Menschen zu unterstützen,<br />

<strong>die</strong> mit leeren Händen zurückkehren.<br />

Abgesehen von dem brutalen Klima wurde<br />

<strong>die</strong> Infrastruktur in dem jahrelangen Krieg<br />

zerstört. Viele Flüchtlinge haben weder Unterkunft<br />

noch Strom- und <strong>Was</strong>serversorgung<br />

oder Grund und Boden, um Landwirtschaft<br />

zu betreiben.<br />

Neben den aus dem Sudan zurückkehrenden<br />

Flüchtlingen beginnen auch<br />

schätzungsweise 1,1 Millionen Eritreer, <strong>die</strong><br />

durch den Krieg mit Äthiopien zu Binnenvertriebenen<br />

wurden, an ihre früheren<br />

Wohnorte zurückzukehren, was <strong>die</strong> Behörden<br />

vor weitere Probleme stellt.<br />

Für den Augenblick sind jedoch alle<br />

<strong>die</strong>se Unwägbarkeiten vergessen. Im Gegensatz<br />

zur Abfahrt im Sudan war bei der<br />

Ankunft eine Tochter der Maashos zugegen<br />

und hatte zwei Zimmer für sie gemietet.<br />

„Ich danke meinem Gott, dass er<br />

mich so lange am Leben erhalten hat, um<br />

<strong>die</strong>sen Tag erleben zu können“, sagt Kidane<br />

Maasho. „Ich bin alt und schwach, aber ich<br />

habe es endlich nach Hause geschafft.“<br />

Seine Ehefrau fügt hinzu: „Wir sind alt, und<br />

wir wollen uns ausruhen. Wir haben unsere<br />

Pflichten erfüllt.“<br />

Ein Neffe kam mit seinen Kindern per<br />

Flugzeug aus den USA zu Besuch, und <strong>die</strong><br />

Maashos nahmen <strong>die</strong> zehnstündige Busfahrt<br />

in <strong>die</strong> eritreische Hauptstadt Asmara<br />

UNHCR/S. BONESS/CS•ERI•<strong>2001</strong><br />

UNHCR/S. BONESS/CS•ERI•<strong>2001</strong><br />

UNHCR/S. BONESS/CS•ERI•<strong>2001</strong><br />

Formalitäten<br />

Neubeginn<br />

mehr als 60.000 Eritreer in Konvois auf<br />

dem schwierigen Landweg zurückzuführen.<br />

Diese Konvois sollen bis Ende 2002<br />

fortgesetzt werden.<br />

„Wir wollten immer zurückkehren. Wir<br />

haben auf <strong>die</strong>se Gelegenheit gewartet, seitdem<br />

wir hier leben“, sagt Kidane Maasho<br />

in den letzten Minuten vor der Abfahrt.<br />

Andere Eritreer haben Einheimische geheiratet,<br />

vor Ort Arbeit gefunden oder <strong>die</strong><br />

Bereitschaft zur Rückkehr verloren, weil<br />

sie nicht den Mut aufbringen, in ein Land<br />

zurückzufahren, von dem sie heute nur<br />

noch wenig wissen.<br />

Keines der Kinder der Maashos war bei<br />

der Abfahrt zugegen, doch drei Enkelkinder<br />

waren gekommen, um auf Wiedersehen<br />

zu sagen. „<strong>Der</strong> Sudan war sehr gut<br />

auf sich, um ihn zum ersten Mal nach 17<br />

Jahren wieder zu sehen. Andere Freunde<br />

und Verwandte kamen sie besuchen.<br />

Das Ehepaar bezog ein Zimmer auf dem<br />

Gelände einer Kirche mit einem Blick über<br />

Quellen mit angeblicher Heilwirkung. Beider<br />

Augen werden schlechter. Jeden Morgen<br />

schließen sie sich den Pilgern an, um<br />

in den Quellen zu baden und für eine<br />

Heilung im Frühjahr zu beten.<br />

Die Rückkehrbeihilfe von 2.000 Nakfa<br />

(200 Euro) ist fast aufgebraucht, und das<br />

Ehepaar wird zurück in den Westen ziehen,<br />

nachdem Mzilal Kidane Maasho operiert<br />

worden ist. Trotz <strong>die</strong>ser unsicheren <strong>Zukunft</strong><br />

ist das Ehepaar optimistisch und glücklich.<br />

Und, „ja“, sagte Kidane, „das erste Bier<br />

war kalt, und es schmeckte köstlich“. B<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

29


| MENSCHEN UND LÄNDER |<br />

© D. VENTURELLI/DP•ITA•<strong>2001</strong><br />

Pavarotti „and friends„ beim jährlichen Konzert in Modena, bei dem 1,8 Millionen<br />

Euro für afghanische Flüchtlingskinder in Pakistan eingenommen wurden.<br />

Nansen-Preis für Pavarotti<br />

Für seine Bemühungen, <strong>die</strong> internationale<br />

Aufmerksamkeit auf <strong>die</strong> Not<br />

entwurzelter Afghanen in Pakistan zu<br />

lenken, wurde dem italienischen Tenor<br />

Luciano Pavarotti der Nansen-Preis verliehen.<br />

Die nach dem norwegischen Polarforscher<br />

und ersten Hohen Flüchtlingskommissar<br />

benannte Auszeichnung<br />

wird seit 1954 jedes Jahr an Personen oder<br />

Organisationen vergeben, <strong>die</strong> sich in herausragender<br />

Weise für Flüchtlinge eingesetzt<br />

haben. Zu den früheren Preisträgern<br />

zählen Eleanor Roosevelt, König Juan<br />

Carlos I. von Spanien, Ärzte ohne Grenzen,<br />

der frühere tansanische Präsident Julius<br />

Nyerere und <strong>die</strong> Bevölkerung Kanadas. B<br />

Bootsflüchtling mit hohem Amt betraut<br />

Als Zehnjähriger verbrachte er zwölf<br />

Tage fast ohne Nahrung und<br />

Trinkwasser an Bord eines überfüllten<br />

und leckenden Bootes. Als <strong>die</strong> vietnamesischen<br />

Flüchtlinge Malaysia erreichten,<br />

wurde ihr Boot beschossen und<br />

zurück aufs Meer gedrängt. Selbst nachdem<br />

der Jugendliche und seine Familie<br />

<strong>die</strong> USA erreicht hatten, war ihnen das<br />

Glück nicht immer hold. Sie ver<strong>die</strong>nten<br />

ihren Lebensunterhalt als Erdbeerpflücker,<br />

aber der Ausbruch des Vulkans<br />

Mount St. Helens im Jahre 1980 zerstörte<br />

erneut ihre Lebensgrundlagen. Kürzlich<br />

wurde der 33 Jahre alte Viet D. Dinh<br />

vom amerikanischen Senat mit 96:1<br />

Stimmen zum Assistant Attorney General<br />

und Leiter des Office of Legal<br />

Policy ernannt. Das Amt ist für <strong>die</strong> Planung,<br />

Entwicklung und Koordination<br />

wichtiger rechtspolitischer Initiativen<br />

zuständig. „Mit seiner Sichtweise und<br />

seinem Intellekt wird er uns bei unseren<br />

Bemühungen, dem Recht Achtung zu<br />

verschaffen, wertvolle Dienste leisten“,<br />

sagt der amerikanische Justizminister<br />

John Ashcroft über den ehemaligen<br />

vietnamesischen Flüchtling.<br />

COPYRIGHT<br />

Neue Leitung<br />

<strong>Der</strong> erfahrene tunesische Beamte und<br />

Diplomat Kamel Morjane wurde zum<br />

neuen beigeordneten Hohen Flüchtlingskommissar<br />

der Vereinten Nationen ernannt. Morjane<br />

war 20 Jahre bei dem Amt tätig, ehe er<br />

den Posten als Vertreter Tunesiens bei den<br />

Vereinten Nationen in Genf übernahm. Zuletzt<br />

war er Sonderbeauftragter des UN-<br />

Generalsekretärs in der Demokratischen Republik<br />

Kongo. Mit seiner Ernennung wurde<br />

<strong>die</strong> Umstrukturierung der Leitung der Organisation<br />

abgeschlossen. Anfang des Jahres hatte<br />

der frühere niederländische Ministerpräsident<br />

Ruud Lubbers das Amt des Hohen<br />

Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen<br />

angetreten, und Mary Ann Wyrsch, <strong>die</strong><br />

damalige Leiterin der US-Einwanderungsund<br />

Einbürgerungsbehörde, war zur Stellvertretenden<br />

Hohen Flüchtlingskommissarin<br />

ernannt worden. B<br />

Flüchtlingsweltmeisterschaft<br />

Die somalischen Gewinner der ersten<br />

Fußballweltmeisterschaft von Flüchtlingen.<br />

Die Veranstaltung war als <strong>die</strong> wahrscheinlich<br />

erste Fußballweltmeisterschaft<br />

von Flüchtlingen angekündigt. 14<br />

Flüchtlings-Mannschaften aus Ländern wie<br />

Afghanistan, Somalia, Sri Lanka, dem Sudan<br />

und Äthiopien nahmen an dem achtwöchigen<br />

Turnier in London teil. „Fußball kann auf bewundernswerte<br />

Weise Grenzen überwinden“,<br />

sagt John Barnes, einer der bekanntesten Fußballspieler<br />

Englands und einer der Schirmherren<br />

des sportlichen Wettkampfs. „Ich habe auf<br />

Auslandsreisen gesehen, wie Fußball dazu beitragen<br />

kann, Straßenkindern und ehemaligen<br />

Kindersoldaten ein Selbstwertgefühl zu vermitteln.“<br />

Einige der Mannschaften werden<br />

jetzt ständig in örtlichen Ligen spielen können.<br />

Im Finale schlug das Team Somalias im Elfmeterschießen<br />

<strong>die</strong> Angolaner mit 4:3. Zahlreiche<br />

Fernsehsender einschließlich BBC und CNN<br />

berichteten ausführlich über das Spiel. B<br />

30 FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong>


| ERLESENES |<br />

CARTOON: REPRODUCED WITH PERMISSION<br />

„Die alte Geschichte von Gewalt und<br />

,ethnischer Säuberung‘ auf dem <strong>Balkan</strong><br />

ist noch nicht vorbei.“<br />

<strong>Der</strong> jugoslawische Präsident Vojislav Kostunica kürzlich auf einem Gipfeltreffen<br />

„<strong>Der</strong> Hai ist weg, aber es gibt<br />

immer noch einige Piranhas<br />

im <strong>Was</strong>ser.“<br />

<strong>Der</strong> bosnische Außenminister<br />

Zlatko Lagumdzija, als er von der<br />

Auslieferung von Slobodan Milosevic<br />

nach Den Haag erfuhr.<br />

FFF<br />

„Aus den Konflikten des letzten<br />

Jahrzehnts gibt es immer<br />

noch mehr als eine Million<br />

Vertriebene auf dem <strong>Balkan</strong>.<br />

Das Letzte, was <strong>die</strong> Region<br />

braucht, sind neue Flüchtlinge.“<br />

<strong>Der</strong> Hohe Flüchtlingskommissar<br />

der Vereinten Nationen Ruud<br />

Lubbers zum Konflikt in Mazedonien.<br />

FFF<br />

„Es ist ein Tag, den wenige<br />

sich vorstellen konnten. Man<br />

wird sich daran erinnern –<br />

nicht, weil an <strong>die</strong>sem Tag<br />

Rache geübt, sondern weil<br />

der Gerechtigkeit Genüge<br />

getan wurde. Es ist ein Sieg<br />

der Rechenschaft über <strong>die</strong><br />

Straflosigkeit.“<br />

UN-Generalsekretär zur Auslieferung<br />

von Milosevic an den Internationalen<br />

Gerichtshof zur<br />

Verfolgung von Kriegsverbrechen<br />

im ehemaligen Jugoslawien.<br />

FFF<br />

„Wir sind zusammen hier eingerückt,<br />

wir werden auch zusammen<br />

abziehen.“<br />

<strong>Der</strong> amerikanische Präsident<br />

George Bush bei einem Besuch im<br />

Kosovo zur Bekräftigung des anhaltenden<br />

militärischen US-Engagements<br />

in der Region.<br />

FFF<br />

„Ein neues Jahrhundert hat<br />

begonnen, aber wir müssen<br />

offene Feuer anzünden wie<br />

<strong>die</strong> Indianer. Das Essen, das<br />

wir bekommen, werfen wir<br />

den Schweinen vor.“<br />

Ein entwurzelter Serbe aus dem<br />

Kosovo, der in einer Sammelunterkunft<br />

in Serbien lebt.<br />

FFF<br />

„Zuerst hatte ich das Gefühl,<br />

alles um mich herum würde<br />

sich drehen. Aber dann sah<br />

ich den Himmel und <strong>die</strong> Sonne.<br />

Es war wunderbar.“<br />

Die Reaktion einer älteren Frau<br />

aus dem Kosovo, <strong>die</strong> nach einem<br />

Jahr zum ersten Mal ihre verdunkelte<br />

Wohnung verlassen<br />

hatte.<br />

FFF<br />

„Je länger sie warten, desto<br />

mehr verlieren sie. Mehr und<br />

mehr Menschen haben sich<br />

entschlossen, <strong>die</strong>se letzte<br />

Chance zu nutzen.“<br />

Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation<br />

in Bosnien über<br />

Flüchtlinge, <strong>die</strong> zurückkehren<br />

und ihr Wohneigentum wieder in<br />

Besitz nehmen möchten.<br />

FFF<br />

„Wir wussten nicht, dass<br />

sie kamen, bis es an der Tür<br />

klopfte und sie vor uns<br />

standen.“<br />

Eine Frau aus dem Kosovo zur<br />

Ankunft einer Familie, <strong>die</strong> vor den<br />

jüngsten Unruhen in Mazedonien<br />

geflohen war. Die mazedonische<br />

Familie hatte <strong>die</strong> Kosovaren aufgenommen,<br />

als <strong>die</strong>se vor zwei<br />

Jahren zu Flüchtlingen geworden<br />

waren.<br />

FFF<br />

„Für uns endete an <strong>die</strong>sem<br />

Tag <strong>die</strong> Zeitrechnung.“<br />

Eine Frau, <strong>die</strong> 22 männliche Familienangehörige<br />

verlor, bei den<br />

Feierlichkeiten zum Gedächtnis<br />

an das Massaker von Srebrenica<br />

in Bosnien, der schlimmsten<br />

Gräueltat in Europa seit dem<br />

Zweiten Weltkrieg.<br />

FFF<br />

„Wir sind das Rad, das nie<br />

quietscht.“<br />

Ein Roma-Sprecher über den<br />

fehlenden Einfluss der Roma-<br />

Minderheit auf <strong>die</strong> Politik.<br />

FLÜCHTLINGE NR. 3/<strong>2001</strong><br />

31

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!