Beitrag Subjektfinanzierung lesen (PDF 48 KB) - Agile
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<strong>Subjektfinanzierung</strong> von IV - Leistungen<br />
Positionspapier von AGILE Behinderten-Selbsthilfe<br />
Schweiz<br />
Dezember 2002<br />
Ausgangslage<br />
Die Invalidenversicherung IV bezahlt jährlich rund 1.8 Mia. Franken im Rahmen der<br />
Artikel 73 und 74 des Invalidenversicherungsgesetzes IVG an Institutionen, welche<br />
Dienstleistungen für Menschen mit einer Behinderung anbieten. Dabei handelt es<br />
sich vorwiegend um Betriebsbeiträge/Defizitdeckungsgarantien an Wohnheime,<br />
Sonderschulen und geschützte Werkstätten (Art. 73) sowie um Beratungsstellen,<br />
Bildungsinstitute und Ausbildungsinstitute für Fachpersonal. Mit rund weiteren 4 Mia<br />
Franken beteiligen sich andere Kostenträger (vorwiegend die Kantone) an der<br />
Finanzierung von Institutionen gemäss Art. 73 IVG. Alle diese Beiträge werden als<br />
kollektive Beiträge direkt, d.h. so genannt objektorientiert, an die anbietende<br />
Institution ausgeschüttet. Die behinderte Person, zwar selber Kunde des Anbieters,<br />
sieht somit aber nie das Geld für die Kosten, die er bzw. sie auslöst. In der Regel<br />
kann die behinderte Person auch nicht frei wählen, von wem er oder sie eine<br />
Dienstleistung beanspruchen will, weil nur gerade die von der IV anerkannten<br />
Institutionen diese Dienstleistungen überhaupt anbieten. Diese Umstände stehen<br />
dem Grundsatz nach Selbstbestimmung und Integration diametral gegenüber.<br />
Seit ein paar Jahren wird als Alternative zu dieser Objektfinanzierung die so<br />
genannte <strong>Subjektfinanzierung</strong> diskutiert. In einer konsequent ausgestalteten Form<br />
geht dieser Ansatz davon aus, dass die behinderte Person von der IV die finanziellen<br />
Mittel, die sie zur Bewältigung der behinderungsbedingten Mehrkosten braucht, zur<br />
Verfügung gestellt bekommt und sich die entsprechenden Dienstleistungen auf dem<br />
freien Markt selber einkauft. Sie entscheidet beispielsweise selber, ob sie mit diesen<br />
Geldern einen Heimplatz kaufen will oder sich damit eine eigene Wohnung mit den<br />
zusätzlich notwendigen Hilfestellungen organisieren will.<br />
AGILE hat sich während längerer Zeit und in verschiedenen Schritten mit dem<br />
Thema der <strong>Subjektfinanzierung</strong> auseinandergesetzt 1 und legt im folgenden ein<br />
Positionspapier mit folgenden Inhalten vor:<br />
1. Terminologie<br />
2. <strong>Subjektfinanzierung</strong> - unkritischer Kniefall vor dem Neoliberalismus?<br />
3. Erwartungen an eine <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
4. Befürchtungen bei einer <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
5. Wer sind die Bezugsberechtigten<br />
6. Welches sind die Leistungsbereiche?<br />
7. Schlussfolgerungen<br />
1 S. dazu Anhang
2<br />
1. Terminologie<br />
Unter <strong>Subjektfinanzierung</strong> verstehen wir die Ausrichtung von finanziellen Mitteln<br />
direkt an die behinderte Person. Gemeint sind die Mittel zur Finanzierung<br />
behinderungsbedingter Mehrkosten in allen Lebensbereichen. Diese Mittel sollen<br />
nicht mehr länger an die leistungserbringende Institution (z.B. an ein Wohnheim)<br />
ausgerichtet werden, sondern direkt an die Leistungsbezüger und -bezügerinnen.<br />
Diese kaufen ihre benötigten Leistungen (z.B. Pflege und Betreuung) selber ein und<br />
bestimmen so deren Preis, Umfang und Qualität, aber auch den Leistungserbringer<br />
und den Zeitpunkt, wann eine Leistung erbracht werden soll. Im Vordergrund steht<br />
die Forderung nach einem selbstbestimmten Leben, welches die Wahlfreiheit<br />
zwischen verschiedenen Anbietern von Leistungen einschliesst. <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
ist somit nicht ein Ziel, sondern eine Massnahme auf das Ziel des selbstbestimmten<br />
Lebens hin.<br />
Mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Realitäten der verschiedenen Leistungsträger<br />
(in der Regel handelt es sich um die Sozialversicherungen IV, KV, UV und EL) muss<br />
hier unter dem Titel "Selbstbestimmung" unterschieden werden zwischen einer<br />
echten und einer unechten <strong>Subjektfinanzierung</strong>:<br />
Echte <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
Von einer echten <strong>Subjektfinanzierung</strong> reden wir, wenn die nachstehenden Kriterien<br />
zutreffen:<br />
• Die <strong>Subjektfinanzierung</strong> führt zu einem grösstmöglichen Mass an<br />
Selbstbestimmung der Leistungsbezüger und -bezügerinnen<br />
• Sie gewährleistet eine echte Wahlfreiheit der Leistungsbezüger und -<br />
bezügerinnen in Bezug auf:<br />
• Die Leistung selbst<br />
• Den Leistungserbringer<br />
• Den Preis und die Qualität der Leistung<br />
• Den Zeitpunkt der erbrachten Leistung<br />
• Die <strong>Subjektfinanzierung</strong> setzt eine individuelle Abklärung der Bedürfnisse voraus<br />
• Sie wird ursachenunabhängig ausgerichtet (z.B. unabhängig von der<br />
Behinderungsart oder von der Entstehung der Behinderung)<br />
Der finanzielle Bedarf für behinderungsbedingte Mehrkosten wird hier von der<br />
Versicherung nach bestimmten Kriterien zum voraus bemessen und gestützt auf<br />
diese individuelle Abklärung individuell in Form einer Pauschale (pro Monat oder<br />
Tag) ausgerichtet. Für diese Verfahrensart geeignet sind die Finanzierung von<br />
Leistungen der IV und die Beiträge weiterer Kostenträger wie Kantone und<br />
Gemeinden an behindertenspezifische Einrichtungen (Wohnheime, Sonderschulen,<br />
usw.) Die Bezüger und Bezügerinnen sind frei in der Verwendung dieses Betrages.<br />
Unechte <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
Neben der IV beteiligen sich andere Sozialversicherungen an den Kosten für<br />
behinderungsbedingte Mehrkosten. Es sind dies vorwiegend die Unfallversicherung<br />
und die Krankenkasse. Zwar werden deren Beiträge für gesetzlich normierte<br />
Leistungen von gesetzlich zugelassenen Leistungserbringern direkt an die<br />
betroffenen Patienten und Patientinnen ausgerichtet, aber erst nach erfolgter
Leistung. Bei diesen Leistungen handelt es sich weder um eine echte<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong>, welche selbstbestimmtes Leben und echte Wahlfreiheit<br />
ermöglichen würde (höchstens im Rahmen der gesetzlich zugelassenen<br />
Leistungserbringer), noch um eine Objektfinanzierung im eigentlichen Sinne. Wir<br />
bezeichnen die Finanzierung dieser Leistungen darum als unechte<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong>, die wir in der Folge nicht weiter zu berücksichtigen haben.<br />
3<br />
2. <strong>Subjektfinanzierung</strong> - unkritischer Kniefall vor dem<br />
Neoliberalismus?<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong> bedeutet demnach, die Gelegenheit zu haben, die gewünschte<br />
Leistung selber kaufen zu können, nach Möglichkeit sogar zwischen verschiedenen<br />
Anbietern wählen zu können. Das wiederum setzt voraus, dass überhaupt Angebote<br />
existieren, bzw. entstehen, nämlich dort, wo es sie heute naturgemäss noch gar nicht<br />
gibt. Es könnte jetzt der Verdacht aufkommen, die Forderung nach<br />
subjektfinanzierten Leistungen würden sich unkritisch an einem neoliberalen Konzept<br />
orientieren, das besagt, dass sich überall und von selber ein Markt auftut, wenn eine<br />
Nachfrage besteht. Aber auch hier gilt: die Ziele Selbstbestimmung und Wahlfreiheit<br />
gehen einem wie auch immer verstandenen ökonomischen Ansatz vor. Wir werden<br />
weiter unten zeigen, dass sich längst nicht alle Leistungsbereiche gleichermassen<br />
oder überhaupt dazu eignen, subjektfinanziert zu werden. Wir betonen nochmals: es<br />
geht nicht um <strong>Subjektfinanzierung</strong> um jeden Preis, sondern wir betrachten die<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong> von behinderungsbedingten Mehrkosten in einigen<br />
Leistungsbereichen als geeignete Massnahme, den Betroffenen möglichst viel<br />
Selbstbestimmung in Form von Wahlfreiheiten zu gewähren.<br />
3. Erwartungen an eine <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
Ganz allgemein stellen wir fest, dass eine Versachlichung der Diskussion<br />
stattgefunden hat, weil nicht mehr Begriffe wie "Subjekt" und "Objekt" in den<br />
Vordergrund gestellt werden, sondern vielmehr das Postulat nach selbstbestimmtem<br />
Leben und nach echter Wahlfreiheit. Und solche Ziele sind mit der<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong> als Massnahme besser zu erreichen als mit Beiträgen an<br />
Institutionen.<br />
Wahrung der Menschenrechte<br />
Eng mit der <strong>Subjektfinanzierung</strong> verbunden ist der Aspekt der Menschenrechte: jeder<br />
Mensch hat das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und ist durch ein<br />
Diskriminierungsverbot geschützt. Unter diesem Blickwinkel stellt die<br />
Fremdbestimmung durch die Objektfinanzierung eine Verletzung der<br />
Menschenrechte dar, weil die freie Wahl zur Gestaltung des eigenen Lebens wegfällt<br />
- eine Ungleichbehandlung von behinderten Menschen auf Grund ihrer Behinderung.<br />
Erhöhung der Selbstbestimmung<br />
Die <strong>Subjektfinanzierung</strong> erhöht massgeblich den Grad der Selbstbestimmung, eines<br />
zentralen Anliegens der Selbsthilfe. Wer auf Grund der finanziellen Mittel und eines<br />
existierenden Angebotes selber entscheiden kann, welche Dienstleistungen er oder<br />
sie zur Bewältigung und Ausgestaltung des Lebens in Anspruch nehmen will, verfügt<br />
eindeutig über mehr freien Spielraum, als wenn nur ein staatlich verordnetes Angebot
4<br />
besteht. Es ist auch unbestritten, dass die freie Wahl zwischen Sonderlösung und<br />
Normalfall (z.B. Schule, Wohnen) eine integrierende Wirkung zeigt, weil dadurch der<br />
Normalfall überhaupt erst möglich wird.<br />
Wahlfreiheit<br />
Häufig haben Behinderte gar keine Möglichkeiten, zwischen verschiedenen<br />
Dienstleistungen auszuwählen. Entweder existiert nur gerade ein Anbieter einer<br />
bestimmten Leistung mit einer Art Monopolstellung (die durch die Objektfinanzierung<br />
aufrechterhalten wird), oder alternative Möglichkeiten wie z.B. Pflege durch den<br />
Freundeskreis werden nicht finanziert. Die <strong>Subjektfinanzierung</strong> ermöglicht es, die<br />
finanziellen Mittel den eigenen Bedürfnissen entsprechend einzusetzen und die<br />
notwendigen Dienstleistungen je nach Angebot und Qualität einzukaufen.<br />
Schaffung eines freien Marktes<br />
Diese Erwartung steht vor dem Hintergrund, dass die <strong>Subjektfinanzierung</strong> die<br />
Existenz verschiedener Angebote, aus denen ausgewählt werden kann, voraussetzt.<br />
Es macht wenig Sinn, wenn eine behinderte Person Geld in die Hand gedrückt<br />
erhält, wenn sie dann doch keine Wahl hat. Das beinhaltet die Erwartung, dass sich<br />
dort, wo nicht bereits vorhanden, ein Markt entwickeln würde, der ein möglichst<br />
vielfältiges Dienstleistungsprogramm entwickelt und anbietet. Im Sinne von<br />
„Behinderte sind Experten in Sachen Behinderung“ könnten Behinderte selber zu<br />
behindertengerechten Anbietern/Arbeitgebern und somit auch zu ihren eigenen<br />
Kunden werden. Der freie Markt würde somit sowohl die Preisgestaltung wie auch<br />
die Qualität der Produkte und Dienstleistungen regulieren.<br />
Wie bereits in Kapitel 2 angeführt, hat AGILE berechtigte Zweifel an diesem z.T. allzu<br />
euphorisch aufgenommenen neoliberalen Ansatz. Wir sind davon überzeugt, dass es<br />
sehr gut abzuwägen gilt, welche Leistungsbereiche eine wirkliche Marktsituation zu<br />
schaffen fähig sind. Nach unserer Meinung wird das nur bei Dienstleistungen möglich<br />
sein, welche eine so grosse Nachfrage aufweisen, um ökonomisch Bestand zu<br />
haben, und dies bei mindestens gleich guter Qualität wie die der heute<br />
objektfinanzierten Angebote.<br />
Effizienzsteigerung dank Wettbewerb<br />
Objektfinanzierte Angebote sind einheitlichen, in der Regel teuren und durch die<br />
Anbieter definierten Standards und Qualitätskriterien unterworfen und brauchen sich<br />
mangels Konkurrenz an veränderte Bedingungen nicht anzupassen. Der freie Markt<br />
in seiner Reinform reagiert auf Veränderungen (z.B. verändertes Konsumverhalten,<br />
neue Bedürfnisse) sehr empfindlich und vor allem flexibler. Überleben werden<br />
preiswerte Angebote mit trotzdem hoher Qualität, welche von den Bezügern und<br />
Bezügerinnen bestimmt wird.<br />
Auch hier gelten aus unserer Sicht die gleichen Vorbehalte wie beim Kapitel zuvor.<br />
Der freie Markt kann nur so wie beschrieben funktionieren, wenn es ihn auch wirklich<br />
gibt. Das bedeutet, dass jene Leistungsbereiche, welche die Anforderungen an<br />
Vielfalt und Qualität nicht zu erfüllen vermögen, dem Experiment <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
nicht ausgesetzt werden dürfen.<br />
Behinderte in die soziale Verantwortung einbinden<br />
Über viele Behinderte wird durch Drittpersonen verfügt, wie sie zu leben haben,<br />
welche Schulen sie besuchen können oder wo sie Arbeit finden. Damit wird ihnen
auch die Grundlage für ihre Eigenverantwortung genommen. <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
bedeutet, selber Entscheide treffen zu dürfen und damit an der sozialen<br />
Verantwortung eines jeden Menschen teilzuhaben.<br />
5<br />
4. Befürchtungen bei einer <strong>Subjektfinanzierung</strong><br />
Neuer Wind für die Diskussion um das lebenswerte Leben<br />
Eine Folge der <strong>Subjektfinanzierung</strong> besteht in der Tatsache, dass grosse<br />
Kostentransparenz entsteht. Eine bedarfsgerechte Berechnung der<br />
behinderungsbedingten Bedürfnisse einer behinderten Person zeigt auf Franken und<br />
Rappen genau die durch die Behinderung verursachten Kosten auf. Bei<br />
schwerstbehinderten Menschen dürften das Beträge in einer Höhe sein, die dazu<br />
geeignet sind, in gewissen menschenverachtenden Kreisen die Diskussion um das<br />
„lebenswerte“ und „nutzlose“ Leben anzuheizen. Unter vorgehaltener Hand geschieht<br />
das zwar schon heute, die Kostentransparenz im Behindertenwesen wäre aber<br />
geradezu Öl ins Feuer dieser Debatte.<br />
Diesem Argument hält AGILE entgegen, dass diese Diskussion auch ohne die<br />
Einführung einer <strong>Subjektfinanzierung</strong> in gewissen Leistungsbereichen geführt wird<br />
und die Behinderten und die Behindertenorganisationen ganz entschieden gegen die<br />
Gefahren solcher Auseinandersetzungen antreten müssen. Öffentlich und offensiv<br />
geschieht das wirkungsvoller als aus einer defensiven Haltung heraus.<br />
Markt spielt nicht mit<br />
Grosse Bedenken gehen dahin, dass der freie Markt im Dienstleistungsbereich für<br />
Behinderte sich nicht an die Regeln der reinen Lehre halten wird bzw. kann.<br />
Zumindest für Teilbereiche bestehen diesbezüglich grosse Zweifel. So beispielsweise<br />
bei der Entwicklung und Herstellung von teuren Hilfsmitteln, die der Nachfrage<br />
wegen nur in kleinen Auflagen produziert werden können. Ebenfalls Bedenken<br />
geäussert werden in Bezug auf unterschiedlich grosse Nachfragen in städtischen<br />
und ländlichen Gegenden (z.B. behindertengerechter Wohnungsbau). In diesen<br />
erwähnten Bereichen könnte die Regel, dass sich Nachfrage und Angebot selber<br />
regulieren, nicht spielen und möglicherweise gar dazu führen, dass unrentable<br />
Dienstleistungen abgebaut werden und damit überhaupt kein Angebot (mehr)<br />
besteht.<br />
Geschmälerter Zugang zum Spendenmarkt<br />
Viele Institutionen können heute ihre Dienstleistungen im bestehenden Ausmass nur<br />
dank einem ungehinderten Zugang zu einem grosszügigen Spendenmarkt erbringen.<br />
Eine <strong>Subjektfinanzierung</strong> muss systemgerechterweise von einer Vollkostenrechnung<br />
der Dienstleistung ausgehen und diese auch im vollen Umfang finanzieren. Damit<br />
entfällt der Spendenanteil zumindest zur Finanzierung der existenzsichernden und<br />
behinderungsbedingten Kosten. Die Spendefreudigkeit der Bevölkerung könnte<br />
allenfalls für Leistungen, die über die Deckung der Grundbedürfnisse hinausgehen,<br />
angegangen werden.<br />
Auch wenn das stimmt, verweist hier AGILE auf die Forderung, dass die<br />
Finanzierung der existenzsichernden und behinderungsbedingten Kosten nicht von<br />
der Barmherzigkeit der spendierenden Bevölkerung abhängen darf, sondern von der<br />
IV sichergestellt werden müsste. Die Einführung einer <strong>Subjektfinanzierung</strong> könnte im
Gegenteil einen erwünschten Effekt bewirken: Behinderte würden zur<br />
Existenzsicherung und für die behinderungsbedingten Mehrkosten von der IV<br />
Versicherungsleistungen im vollen Umfang erhalten und nicht weiter von der<br />
Barmherzigkeit und vom Goodwill der Bevölkerung abhängig sein.<br />
6<br />
Schwächung der organisierten Selbsthilfe, Atomisierung der Behinderten<br />
Es ist schon nahezu paradox: die Erfüllung eines wichtigen Anliegens der<br />
organisierten Selbsthilfe schwächt diese gleichzeitig. Wenn die Behinderten die<br />
Dienstleistungen zur Deckung ihrer Bedürfnisse auf dem freien Markt selbständig<br />
einkaufen können und die nötigen Mittel dazu erhalten, dürfte der Organisationsgrad<br />
der Behinderten sinken und damit eine Atomisierung der einzelnen Behinderten<br />
drohen.<br />
AGILE glaubt nicht an diese Schwächung, im Gegenteil. Wir sind überzeugt, dass<br />
das Erlernen eines selbstbestimmten Lebens und die Befreiung aus der<br />
Vormundschaft vieler Institutionen einen emanzipatorischen Prozess auslöst und<br />
viele Behinderte erst recht dazu motiviert, die eigenen Angelegenheiten ernsthaft in<br />
die eigenen Hände zu nehmen.<br />
Überforderung<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong> setzt den Willen und die Fähigkeit voraus, sehr viel<br />
Eigeninitiative zu entwickeln und Eigenverantwortung zu übernehmen. Gerade die<br />
Fremdbestimmung und Bevormundung, wie sie oft in Institutionen (Heime,<br />
Werkstätten, Beratungsstellen) vorkommt, haben aber häufig diese<br />
Selbstverantwortung mehr gebremst als gefördert. Ein grosser Teil der Behinderten<br />
wird lernen müssen, diese Selbstverantwortung im Rahmen einer<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong> wahrzunehmen. Damit die <strong>Subjektfinanzierung</strong> aber nicht zu<br />
einer elitären Finanzierungsform für ein paar wenige Behinderte mit grossem<br />
Selbstbewusstsein wird, werden die Behindertenorganisationen - unter andern auch<br />
AGILE - Unterstützungsangebote schaffen müssen, wo diese Emanzipation erlernt<br />
werden kann.<br />
5. Wer sind die Bezugsberechtigten ?<br />
AGILE ist der Meinung: alle Menschen mit einer Behinderung. Wir möchten<br />
ausdrücklich davor warnen, bezugsberechtigte Behinderungsgruppen zu bilden und<br />
damit neue Diskriminierungen zu schaffen. Auch bei unmündigen oder entmündigten<br />
Behinderten sehen wir keine grösseren Problem. Hier verweisen wir darauf, dass<br />
Eltern oder Vormund auch nichtbehinderter Kinder oder Erwachsener<br />
treuhänderische Funktionen für die ihnen anvertrauten Menschen ausüben. Es ist<br />
nicht einzusehen, warum dies bei behinderten Menschen anders sein soll. Klar ist,<br />
dass das Geld immer der behinderten Person gehört und auch bei einer Verwaltung<br />
durch Dritte immer für die subjektfinanzierte Leistung verwendet werden muss.<br />
Das Gleiche zu sagen gibt es auch bei Personen, die nicht in der Lage sind, Geld<br />
selber zu verwalten, jedoch nicht bevormundet sind (z.B. psychisch Beeinträchtigte).<br />
Der hier diskutierte Personenkreis dürfte sich aber auf eine geringe Anzahl<br />
beschränken, denn diese Menschen müssen ja auch heute Lösungen zur Verwaltung<br />
ihrer Finanzen finden.
7<br />
6. Welche Leistungsbereiche kommen für eine Subjekfinanzierung in<br />
Frage?<br />
Geht man nur von einer technischen und administrativen Machbarkeit aus, kommen<br />
für eine <strong>Subjektfinanzierung</strong> grundsätzlich alle wesentlichen und anschliessend<br />
angeführten Leistungsbereiche in Frage, die zur Bewältigung der Behinderung<br />
Mehrkosten ausmachen:<br />
• Pflege und Betreuung<br />
• Haushaltsführung<br />
• Bildung (Schule, Berufsbildung, Fort- und Weiterbildung)<br />
• Kommunikation<br />
• Mobilität<br />
• Arbeit<br />
• Freizeit<br />
• Beratung<br />
• Interessenvertretung<br />
Das will aber noch nicht heissen, dass sich auch alle Bereiche gleich gut dafür<br />
eignen. Unter Berücksichtigung der Beurteilung der verschiedenen Erwartungen und<br />
Befürchtungen (Kap. 3 und 4) ergibt sich aus Sicht von AGILE eine Priorisierung der<br />
verschiedenen Lebens- und damit Leistungsbereiche und somit auch einer<br />
Einführung einer <strong>Subjektfinanzierung</strong>. Zur Erstellung dieser Prioritätenliste helfen uns<br />
die folgenden drei Fragen:<br />
1. Welche Bereiche sind bei einer <strong>Subjektfinanzierung</strong> geeignet, die Ziele der<br />
Selbstbestimmung und der Wahlfreiheit in hohem Ausmass zu erreichen?<br />
2. In welchen Bereichen ist der individuelle Bedarf zum voraus (mindestens für eine<br />
bestimmte Zeitspanne, z.B. 1 Jahr) so quantifizierbar, dass einzelfallgerechte,<br />
subjektorientierte Pauschalen entrichtet werden können?<br />
3. Welche Leistungen würden bei einer <strong>Subjektfinanzierung</strong> mit grosser<br />
Wahrscheinlichkeit verschwinden, weil der dafür notwendige Markt nicht<br />
entstehen würde?<br />
Die Beantwortung dieser Fragen ergibt für AGILE die folgende, vorläufige Bilanz:<br />
Priorität 1: Assistenz (Pflege, Betreuung, Haushaltsführung)<br />
Der ganze Bereich der Assistenzleistungen kann im Sinne der gesellten Fragen zu<br />
Gunsten einer <strong>Subjektfinanzierung</strong> betrachtet werden (bei den Assistenzleistungen<br />
schliessen wir auch Assistenz im Rahmen von Arbeit, Bildung und Freizeit ein). Ganz<br />
abgesehen, dass hier der grösste Handlungsbedarf besteht, kann die Zielerreichung<br />
nicht bestritten werden. Der individuelle Bedarf kann in der Regel zuverlässig<br />
prognostiziert werden, wesentliche Abweichungen davon treten nicht sehr häufig auf.<br />
Die Nachfrage nach Assistenzleistungen wird gross genug sein, um einen Markt<br />
entstehen zu lassen, der übrigens heute teilweise bereits existiert (SPITEX u.ä.). Als<br />
Problem erweisen könnte sich der Umstand, dass sich auf dem freien Markt gar nicht
genügend Assistenzanbietende befinden. Trotz dieser möglichen Gefahr ist AGILE<br />
der Meinung, hier unbedingt aktiv zu werden.<br />
8<br />
Priorität 2: Bildung<br />
Hier könnte Gleiches gesagt werden wie beim Bereich der Assistenz. Im Gegensatz<br />
zu Assistenz stellt Bildung jedoch kein regelmässig wiederkehrendes Bedürfnis dar,<br />
ist aber zumindest für eine bestimmte Zeit voraussehbar. Ob in allen<br />
Bildungsbereichen (Schule, Berufsbildung, Fort- und Weiterbildung) und für alle<br />
Bildungsbedürfnisse wirklich ein Markt entstehen könnte, müsste mit Pilotprojekten -<br />
initiiert von der Selbsthilfe - untersucht werden.<br />
Priorität 3: Kommunikation und Mobilität,<br />
Wir bezweifeln überhaupt nicht, dass frei verfügbare Mittel für Kommunikations- und<br />
Mobilitätsbedürfnisse den Grad der Selbstbestimmung erhöhen. Jedoch dürfte es<br />
schwierig sein, einen regelmässigen Bedarf im voraus zu definieren und somit einen<br />
Betrag festzulegen. Dazu kommt die Frage nach dem Umfang dieser Leistung: wer<br />
bestimmt schlussendlich, wer z.B. wofür wie viele Fahrten mit einem<br />
Behindertenfahrdienst machen kann oder wer wofür wie viele Dolmetschereinsätze<br />
beanspruchen darf? Hinzu kommt, dass bei konsequenter, subjektbezogener<br />
Finanzierung in diesen beiden Bereichen die kollektiven Beiträge der IV an<br />
Behindertenfahrdienste und Dolmetschereinsätze gestrichen werden müssten. Wir<br />
sind überzeugt, dass in diesem Falle die Gefahr sehr gross wäre, dass diese<br />
Dienstleistungen auf dem freien Markt keine grossen Überlebenschancen hätten.<br />
AGILE sieht in einer <strong>Subjektfinanzierung</strong> dieser Bereiche keinen überzeugenden<br />
Nutzen, sondern v.a. schwerwiegende Nachteile und Gefahren.<br />
Priorität 4: Beratung und Interessenvertretung<br />
Eine <strong>Subjektfinanzierung</strong> in diesen beiden Bereichen hätte die Folge, dass<br />
Behinderte dafür einen Betrag erhalten würden, den sie dann - freiwillig - zur<br />
Finanzierung von Beratungsstellen und Organisationen zur Vertretung der<br />
Behinderteninteressen einsetzen müssten. Rein theoretisch zwar denkbar, in der<br />
Realität aber nicht vorstellbar. Wer gibt schon freiwillig und ohne Not Geld für etwas<br />
aus, das er oder sie vielleicht später einmal in Anspruch nimmt? AGILE ist jedoch<br />
überzeugt, dass es kompetente Beratungsstellen für verschiedene Belange<br />
(Rechtsfragen, frauenspezifische Fragen, usw.) wie auch behindertenspezifische und<br />
-übergreifende Interessenvertretung braucht und deren Existenz nicht mutwillig<br />
einem Systemwechsel geopfert werden dürfen.<br />
Priorität 5: Freizeit und Arbeit<br />
Hier stellt sich zuerst einmal die Frage, was denn hier subjektfinanziert werden soll.<br />
Behinderungsbedingte Mehrkosten im Bereich Freizeit haben mit Kommunikation<br />
und Mobilität zu tun, weshalb wir auf dieses Kapitel (Priorität 3) verweisen. Im<br />
Bereich Arbeit könnten allenfalls Beiträge an geschützte Werkstätten zur Diskussion<br />
stehen. Aber es wird wohl kaum jemand im Ernst postulieren, dass Behinderte die<br />
Betriebsbeiträge subjektorientiert erhalten, um diese in einen Topf zu werfen und
9<br />
anschliessend sich selber und die Betreuerinnen zu entlöhnen. AGILE sieht in diesen<br />
Bereichen überhaupt kein Handlungsfeld.<br />
7. Schlussfolgerungen<br />
Die <strong>Subjektfinanzierung</strong> von IV-Leistungen erscheint AGILE als ein taugliches<br />
Finanzierungssystem für verschiedene IV - Leistungen mit dem Ziel, behinderten<br />
Menschen selbstbestimmtes Leben und Wahlfreiheit zu ermöglichen.<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong> stellt für AGILE jedoch kein eisernes Prinzip dar, das es um<br />
jeden Preis zu realisieren gilt. <strong>Subjektfinanzierung</strong> ist bloss eine Massnahme auf die<br />
erwähnten Ziele hin, weshalb eine Umsetzung bei jedem Leistungsbereich auf diese<br />
Ziele und nicht auf den Systemwechsel selbst hin geprüft werden muss. Nach<br />
Abwägung von Vorteilen und Nachteilen, aber auch in Erwägung lauernder<br />
Gefahren, kommt AGILE zum Schluss, dass die Bereiche Assistenz und Bildung<br />
vordringlich weiter bearbeitet werden müssen: sie halten den meisten<br />
Überprüfungskriterien in Form der gestellten Fragen stand, und der Handlungsbedarf<br />
ist nachgewiesen. Dies ganz speziell auch unter dem Aspekt laufender<br />
Gesetzesarbeiten (4. IVG-Revision und Behinderten-Gleichstellungsgesetz), welche<br />
in den Bereichen Assistenzentschädigung und schulische Integration nur<br />
ungenügende Massnahmen für ein selbstbestimmtes Leben von behinderten<br />
Menschen vorsehen. In allen andern Lebensbereichen sieht AGILE entweder<br />
vorläufig keinen Handlungsbedarf oder ortet gar schwerwiegende Nachteile.
10<br />
Anhang: Was bis jetzt geschah?<br />
• AGILE-Tagung unter dem Titel "Invalidenversicherung - von der Objekt- zur<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong>" im März 1999. Diese Tagung verhalf dazu, Vor- und<br />
Nachteile, Erwartungen und Befürchtungen zu diskutieren, erste Ideen zur<br />
konkreten Umsetzung zu sammeln und unterschiedliche Positionen<br />
kennenzulernen.<br />
• Das anlässlich dieser Tagung entstandene Positionspapier (1. Entwurf) wurde in<br />
den Organen von AGILE (Vorstand, PräsidentInnenkonferenz, Sozialpolitische<br />
Kommissionen) diskutiert und ein 2. Entwurf in eine breite Vernehmlassung<br />
geschickt.<br />
• Tagung von AGILE und ZSL zur Finanzierung der Langzeitpflege von<br />
Behinderten im April 2000.<br />
• Lancierung verschiedener Motionen (erarbeitet von AGILE und ZSL, eingereicht<br />
von Ch. Goll und M.F. Suter) im Parlament zu Teilaspekten der<br />
<strong>Subjektfinanzierung</strong> im Jahre 2000.<br />
• Abschluss des Assistenzexperimentes von Pro Infirmis, MS- Gesellschaft und<br />
AGILE im Herbst 2000<br />
• AGILE- Tagung zur 4. IVG-Revision, insbesondere zu Forderungen an die<br />
Assistenzentschädigung im März 2001.<br />
• August 2001: Überarbeitung des 3. Entwurfs des Positionspapiers mit Vertretern<br />
und Vertreterinnen verschiedener Behindertenorganisation<br />
• November 2002: Schlussfassung der Position von AGILE zur <strong>Subjektfinanzierung</strong>