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OLAF SCHOLZ Abschied von der Verteilungsgerechtigkeit 13 Thesen

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<strong>OLAF</strong> <strong>SCHOLZ</strong><br />

<strong>Abschied</strong> <strong>von</strong> <strong>der</strong> <strong>Verteilungsgerechtigkeit</strong><br />

<strong>13</strong> <strong>Thesen</strong><br />

Erstens: Die Bedingungen für Gerechtigkeit verän<strong>der</strong>n sich<br />

Die Frage, wie eine Politik <strong>der</strong> Gerechtigkeit auszusehen hätte, wurde<br />

im (westlichen) Nachkriegsdeutschland vor allem als die Frage <strong>der</strong><br />

gerechten Verteilung des Zuwachses an Wohlstand und Einkommen<br />

diskutiert - also als <strong>Verteilungsgerechtigkeit</strong>. Diese Perspektive wird<br />

den aktuellen Herausfor<strong>der</strong>ungen nicht mehr gerecht. Wir brauchen<br />

einen umfassen<strong>der</strong>en Begriff <strong>von</strong> Gerechtigkeit. Immer mehr<br />

Menschen erkennen, dass am Status quo orientierte Vorstellungen<br />

immer weniger gut dazu beitragen, Gerechtigkeit zu bewahren und<br />

neu zu schaffen. Wir haben es mit neuen und gewandelten<br />

Problemlagen zu tun: Die Globalisierung, <strong>der</strong> allmähliche (manchmal<br />

auch rasante) <strong>Abschied</strong> vom Industriezeitalter und die Entstehung<br />

einer wissensintensiven Wirtschaft, <strong>der</strong> demografische Wandel, die<br />

verfestigte Massenarbeitslosigkeit, Tendenzen <strong>der</strong> sozialen Exklusion<br />

und Entmischung unserer Gesellschaft, ihr Zerfall in strukturelle<br />

Insi<strong>der</strong> und Outsi<strong>der</strong> sowie die Krise <strong>der</strong> öffentlichen Haushalte - das<br />

alles verbindet sich zu einem beispiellosen Problemgemenge, dem<br />

eine am sozialstaatlichen Status quo <strong>der</strong> alten Bundesrepublik<br />

orientierte Politik nicht mehr gewachsen ist. Je<strong>der</strong> vor allem auf die<br />

Verwaltung und Zuteilung vorhandener materieller Bestände setzende<br />

Gerechtigkeitsbegriff droht unter diesen Umständen <strong>von</strong> den<br />

fortwährenden Verän<strong>der</strong>ungsprozessen ad absurdum geführt zu<br />

werden. Klar ist heute, dass kein Wandel und keine Verän<strong>der</strong>ung, kein<br />

Aufbruch und keine Erneuerung in <strong>der</strong> gegenwärtigen Verfassung<br />

unseres Gemeinwesens auf jeden Fall ungerecht wären. Wir müssen<br />

neue Wege einschlagen - aber welche?<br />

Zweitens: Was ist gerecht?<br />

Dem sozialdemokratischen Menschenbild entspricht nur ein<br />

Verständnis <strong>von</strong> Gerechtigkeit, das den Bezug zur Freiheit immer im<br />

Blick behält. Gerecht ist, was Menschen in die Lage versetzt, ihr<br />

Leben so zu gestalten, wie sie es selbst gerne gestalten möchten.<br />

Deshalb bedingen sich Freiheit und Gerechtigkeit wechselseitig: Eine<br />

Politik, die Menschen dauerhaft in Abhängigkeit bringt, sie<br />

entmündigt o<strong>der</strong> ihnen ihre Selbstachtung nimmt, ist we<strong>der</strong> gerecht<br />

noch freiheitlich. Gerecht ist in diesem Sinne also eine Politik, die<br />

immer wie<strong>der</strong> die Voraussetzungen dafür schafft und erneuert, dass<br />

Menschen ihre eigenen Pläne verfolgen können.<br />

Drittens: Die SPD ist eine Emanzipationsbewegung


Historisch gesehen war die Sozialdemokratie viele Jahrzehnte lang das<br />

genaue Gegenteil einer statisch auf Bewahrung ausgerichteten Partei.<br />

Sie war zuallererst eine Emanzipationsbewegung in Zeiten<br />

fundamentaler sozialer Umbrüche und Verwerfungen im Zuge <strong>von</strong><br />

Industrialisierung und Urbanisierung. Wird Gerechtigkeit zeitgemäß<br />

thematisiert, kann sich die SPD auf diese Weise nicht nur ein<br />

gesellschaftspolitisches Offensivprojekt zurückerobern; sie kann<br />

damit auch symbolisch, kulturell und emotional den Anschluss an für<br />

sie selbst grundlegende, aber in den jüngsten Jahrzehnten eher in den<br />

Hintergrund getretene Phasen ihrer eigenen Geschichte<br />

zurückgewinnen.<br />

Viertens: Mehr Lebenschancen und mehr Teilhabe für mehr<br />

Menschen<br />

Die größten Herausfor<strong>der</strong>ungen des europäischen Sozialstaates sind<br />

neue Segregationstendenzen und neue Exklusion. Nicht erst seit den<br />

bedrückenden Ergebnissen <strong>der</strong> PISA-Studie wissen wir, dass die<br />

allgemeine soziale Aufwärtsdynamik in Deutschland zum Stillstand<br />

gekommen ist. Die SPD hat viele Jahrzehnte lang mit dem Anspruch<br />

gehandelt, bessere Chancen und ein besseres Leben für immer mehr<br />

Menschen in einer gerechteren Welt zu erkämpfen. Gerade<br />

Sozialdemokraten können sich deshalb auch heute nicht damit<br />

abfinden, dass individuelle Lebenschancen vorausbestimmt sind durch<br />

die soziale, regionale o<strong>der</strong> ethnische Herkunft. Die beiden<br />

Politikfel<strong>der</strong>, auf denen angesichts dieser Umstände zukünftig darüber<br />

entschieden wird, ob unsere Gesellschaft imstande ist, möglichst allen<br />

Menschen Teilhabechancen zu geben, heißen Bildung und Arbeit. Auf<br />

diesen Gebieten vor allem erweist sich <strong>der</strong> Gerechtigkeitsgrad unseres<br />

Gemeinwesens, auf diesen Gebieten müssen Sozialdemokraten heute<br />

ihrem emanzipatorischen Anspruch und Erbe gerecht werden.<br />

Fünftens: Der präventive und investive Sozialstaat<br />

Kern einer zukunftsorientierten sozialdemokratischen<br />

Gerechtigkeitspolitik muss eine präventive Sozialpolitik sein, welche<br />

die Befähigung und Ermächtigung <strong>der</strong> Menschen zu einem<br />

selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Leben in den Vor<strong>der</strong>grund<br />

stellt. Entscheidend ist hier die Einsicht, dass die Zukunft dem aktiven<br />

und aktivierenden Sozialstaat gehört, <strong>der</strong> gezielt in Menschen<br />

investiert, damit diese in Zeiten dynamischen Wandels als<br />

selbstbewusste Bürger ihr Leben gestalten können und nicht in den<br />

Klammergriff <strong>von</strong> Verhältnissen geraten, über die sie keine Kontrolle<br />

haben. Die Zukunft des europäischen Sozialmodells hängt weit<br />

weniger da<strong>von</strong> ab, ob weiterhin beispielsweise eine ganz bestimmte<br />

Rentenhöhe eingehalten werden kann, als da<strong>von</strong>, ob es gelingt,


effektive Mittel gegen die wachsende soziale Exklusion zu<br />

mobilisieren. Wir haben es hier, jedenfalls potentiell, mit einer sowohl<br />

volkswirtschaftlichen wie gerechtigkeitspolitischen Win-win-Situation<br />

zu tun. Einige an<strong>der</strong>e europäische Staaten haben es erfolgreich<br />

vorgeführt: Wo es gelingt, die Erwerbsquote nachhaltig zu steigern, da<br />

entstehen neue finanzielle Spielräume für den präventiven und<br />

investiven Sozialstaat. Wo umgekehrt kontinuierlicher Aufbau und<br />

beständige Erneuerung <strong>der</strong> Fertigkeiten <strong>von</strong> Menschen den Kern <strong>der</strong><br />

Tätigkeit eines mo<strong>der</strong>nen Sozialinvestitionsstaates ausmachen, da<br />

werden zugleich die Voraussetzungen erfolgreichen Wirtschaftens<br />

erneuert. Der langfristig gerechte und ökonomisch erfolgreiche<br />

europäische Staat des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts wird deshalb kein Ort <strong>der</strong><br />

systematischen Verringerung sozialstaatlicher Leistungen sein.<br />

Insofern führt <strong>der</strong> gängige Streit um »weniger« o<strong>der</strong> »mehr«<br />

Sozialstaat in die Irre: Die Qualität <strong>von</strong> Gerechtigkeitspolitik ist (und<br />

war) niemals in erster Linie eine Frage <strong>der</strong> Quantität sozialer<br />

Transfers.<br />

Sechstens: Bildung ist Gerechtigkeit - Gerechtigkeit ist Bildung<br />

Nichts ist heute so gerecht, wie die entschlossene Ausweitung <strong>von</strong><br />

Bildungschancen und Bildungszugängen auf allen Ebenen <strong>der</strong><br />

Gesellschaft. Auch weiterhin muss <strong>der</strong> Sozialstaat im Bedarfsfall<br />

»nacheilend« schützen und sichern. Unter<br />

Gerechtigkeitsgesichtspunkten noch weitaus wichtiger aber ist es, die<br />

Ursachen <strong>von</strong> Arbeitslosigkeit und sozialer Exklusion präventiv zu<br />

vermeiden, statt mit Transfers und Maßnahmen erst dann<br />

einzugreifen, wenn <strong>der</strong> soziale »Schadensfall« <strong>von</strong> Arbeitslosigkeit,<br />

gesellschaftlicher Marginalisierung o<strong>der</strong> Exklusion bereits eingetreten<br />

ist. Wer früh den Bildungsanschluss verliert, hat heute und in Zukunft<br />

kaum noch Chancen auf volle gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb ist<br />

es so wichtig, dass wir den Sozialstaat als präventiven und investiven<br />

Sozialstaat erneuern. Weil Bildung in Zukunft <strong>der</strong> Schlüssel zur<br />

gesellschaftlichen Teilhabe wird, muss im Zentrum je<strong>der</strong> »Strategie<br />

<strong>der</strong> sozialen Investitionen« in Menschen die Eröffnung und<br />

lebenslange Erneuerung <strong>von</strong> Bildungschancen stehen.<br />

Siebtens: Arbeit als zentrale Voraussetzung <strong>von</strong> Gerechtigkeit<br />

Unsere Gesellschaft ist auf Arbeit aufgebaut, ihr Wohlstand durch<br />

Arbeit geschaffen. Die SPD, entstanden als Arbeiterpartei, hat ihr<br />

kollektives Selbstbewusstsein und ihre Ansprüche stets über den Wert<br />

<strong>der</strong> Arbeit begründet. Zugleich bleibt Arbeit die wichtigste Quelle<br />

psychischer Stabilität und sozialer Identität; sie vermittelt Menschen<br />

Lebenssinn, verhilft ihnen zu Respekt und Selbstrespekt. Daran wird<br />

sich so schnell nichts än<strong>der</strong>n: Als Norm und als Realität bleibt


Erwerbsarbeit zentral für den Zusammenhalt und die Kultur unserer<br />

Gesellschaft. Das bedeutet umgekehrt zugleich, dass Arbeitslosigkeit,<br />

selbst wo sie nicht unmittelbar in die wirtschaftliche Verarmung führt,<br />

den Ausschluss aus dem Kernbereich gesellschaftlicher Teilhabe<br />

bedeutet. Gerade deshalb muss sozialdemokratische Politik<br />

nachdrücklich dem Ziel <strong>der</strong> Arbeit für alle verpflichtet bleiben. Wenn<br />

Politik für mehr Erwerbsarbeit ein zentraler Beitrag zu Inklusion und<br />

Gerechtigkeit ist, dann muss die vordringlichste Aufgabe<br />

sozialdemokratischer Politik in den kommenden Jahrzehnten darin<br />

bestehen, sämtliche Register zu ziehen, um die Erwerbsquote zu<br />

erhöhen. We<strong>der</strong> unter ökonomischen noch unter<br />

gerechtigkeitspolitischen Gesichtspunkten können wir es zukünftig<br />

noch hinnehmen, dass Einzelne, Familien o<strong>der</strong> ganze soziale Gruppen<br />

systematisch in die Lage geraten (und in <strong>der</strong> Lage verharren), ihre<br />

Potentiale nicht ausschöpfen zu können.<br />

Unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Teilhabe und <strong>der</strong> Chancen ist selbst<br />

schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als<br />

transfergestützte Nichtarbeit. Natürlich ist jedem Menschen zu<br />

wünschen, dass er eine Arbeit ausüben kann, die seiner Qualifikation<br />

entspricht. Zugleich aber muss als Gebot <strong>der</strong> Gerechtigkeit gelten,<br />

dass Arbeitslose, die Leistungen aus Steuermitteln in Anspruch<br />

nehmen, prinzipiell zur Aufnahme je<strong>der</strong> Erwerbstätigkeit bereit sein<br />

müssen, die ihnen für an<strong>der</strong>e Bürger und Bürgerinnen zumutbar<br />

erscheint. Aus einem spezifischen individuellen Qualifikationsniveau<br />

lässt sich kein Recht auf eine bestimmte Arbeit ableiten.<br />

Achtens: Sozialstaat und Sozialversicherungsstaat<br />

Ein erweiterter Gerechtigkeitsbegriff bedeutet keineswegs das Ende<br />

des Sozialstaats. Im Gegenteil: Es bedeutet, die Prioritäten des<br />

Sozialstaates und damit die Verteilung seiner materiellen Ressourcen<br />

neu zu bestimmen. Selbstverständlich findet die heute notwendige<br />

Debatte über neue Prioritäten - Teilhabe und Vorbeugung statt<br />

Nachsorge - vor dem Hintergrund des existierenden Sozialstaates statt.<br />

Dieser hat bereits ein sehr weitgehendes Niveau <strong>der</strong> Umverteilung<br />

materieller Ressourcen und Einkommen erreicht. Auch deshalb sind<br />

Debatten über Umverteilung nicht mehr <strong>von</strong> zentraler Bedeutung.<br />

Allerdings dürfen wir uns nicht <strong>von</strong> Neoliberalen o<strong>der</strong> Konservativen,<br />

die über Teilhabe reden, in Wahrheit aber den Sozialstaat aufgeben<br />

wollen, den Blick für die Reformnotwendigkeiten und neue<br />

Perspektiven versperren lassen. Nur zur Klarstellung: Schon heute<br />

übersteigt <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne deutsche Sozialstaat die Regelungs- und<br />

Leistungsbereiche <strong>der</strong> klassischen beitragsfinanzierten<br />

Sozialversicherungssysteme bei weitem. Es ist zwar richtig, dass die<br />

großen Lebensrisiken <strong>der</strong> Bürger im Sozialstaatsmodell bismarckscher


Prägung durch Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung<br />

abgedeckt worden sind, weshalb in Deutschland oft nur diese Fel<strong>der</strong><br />

zur Sozialstaatlichkeit gezählt werden. Doch dieser enge Begriff vom<br />

Sozialstaat ist wenig hilfreich: An<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> finanzieren diese<br />

Leistungen durch Steuern, ohne deswegen notwendigerweise weniger<br />

sozialstaatlich zu sein.<br />

Umgekehrt finanzieren wir in Deutschland zahlreiche sozialstaatliche<br />

Leistungen aus dem allgemeinen Steueraufkommen, die an<strong>der</strong>swo<br />

unter Umständen gar nicht existieren. Angemessen weit verstanden,<br />

umfasst <strong>der</strong> deutsche Sozialstaat in Wirklichkeit eine Fülle<br />

steuerfinanzierter Tätigkeitsbereiche, die <strong>von</strong> fundamentaler<br />

Bedeutung dafür sind, dass eine inklusive, gerechte Gesellschaft in<br />

Deutschland möglich ist und möglich bleibt. Zum Sozialstaat zählt<br />

beispielsweise das gesamte Bildungswesen, zählt die<br />

Ausbildungsför<strong>der</strong>ung <strong>von</strong> Schülern, Studenten o<strong>der</strong> Gesellen, zählen<br />

Leistungen für Familien wie das Mutterschaftsgeld und das<br />

Kin<strong>der</strong>geld, zählen Wohngeld und die För<strong>der</strong>ung des sozialen<br />

Wohnungsbaus, ebenso Rehabilitationsleistungen o<strong>der</strong><br />

Unterhaltsleistungen für Behin<strong>der</strong>te, zum Sozialstaat gehört die<br />

Grundsicherung für Rentner.<br />

Zum Sozialstaat zählen schließlich die steuerfinanzierten Leistungen<br />

für Arbeitslose, also Arbeitslosen- und Sozialhilfe (künftig<br />

Arbeitslosengeld II).Die Steuerfinanzierung sozialstaatlicher<br />

Leistungen gewährleistet, dass die als Voraussetzung gerechter<br />

Teilhabe für alle notwendige Umverteilung stattfinden kann. Weil<br />

dabei aus gerechtigkeitspolitischer Perspektive entscheidend ist, dass<br />

stärkere Schultern größere Lasten tragen, werden die Bezieher hoher<br />

Einkommen zurecht an <strong>der</strong> Finanzierung staatlicher Aufgaben<br />

überproportional beteiligt. So haben etwa im Jahr 2001 die zehn<br />

Prozent <strong>der</strong> Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen mehr als<br />

die Hälfte (53,5 Prozent) des gesamten Aufkommens <strong>der</strong><br />

Einkommenssteuer gezahlt.<br />

Neuntens: Gerechtigkeit und Ökonomie<br />

Mehr denn je wird es in Zukunft um <strong>der</strong> wirtschaftlichen Wohlfahrt<br />

dieser Gesellschaft willen darauf ankommen, möglichst sämtliche <strong>der</strong><br />

so genannten Humanressourcen zu mobilisieren und damit zugleich<br />

dafür zu sorgen dass autonome, eigenverantwortliche, freie Menschen<br />

ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können. Wo die<br />

Erwerbsbiografien immer weniger stetig verlaufen, wo Bildung zum<br />

entscheidenden Kriterium <strong>der</strong> individuellen Beschäftigungsfähigkeit<br />

wird, da wird die Existenz eines Sozialstaates wichtiger denn je für


den Einzelnen wie für den Zusammenhalt <strong>der</strong> Gesellschaft insgesamt.<br />

Der funktionierende und effiziente Sozialstaat ist keine »Prämie« für<br />

bereits errungene wirtschaftliche Erfolge, kein Luxus, den man sich<br />

nur in besseren Zeiten leisten konnte. Richtig organisiert, ist <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>ne Sozialstaat vielmehr die entscheidende Voraussetzung dafür,<br />

dass <strong>der</strong> ökonomische Erfolg unserer Gesellschaft überhaupt möglich<br />

ist - und möglich bleibt. Der Sozialstaat muss so umgestaltet werden,<br />

dass er wirtschaftliche Dynamik nicht erschwert und den Zugang<br />

möglichst vieler zu Bildung und Arbeit nicht behin<strong>der</strong>t. Nur ein auf<br />

Prävention und Chancengleichheit setzen<strong>der</strong> Sozialstaat kann unter<br />

den verän<strong>der</strong>ten ökonomischen und gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen Gerechtigkeit gewährleisten. Unter dieser<br />

Prämisse aber sind die europäischen Sozialstaatsmodelle - bei allen<br />

Unterschieden - dem Gegenmodell <strong>von</strong> individueller Risikovorsorge<br />

plus privater Caritas weiterhin überlegen.<br />

Zehntens: Mut zur Verän<strong>der</strong>ung<br />

Zweifellos stehen <strong>der</strong> zeitgemäßen Erneuerung <strong>der</strong><br />

sozialdemokratischen Gerechtigkeitspolitik im Sinne neuer<br />

Lebenschancen, neuer Ermächtigung, neuer ökonomischer Effizienz<br />

und neuer Inklusion Hin<strong>der</strong>nisse gegenüber: erfolgsgewöhnte<br />

Mentalitäten, gewachsene Gewohnheiten, als selbstverständlich<br />

erachtete Besitzstände. Aber dieser Weg muss jetzt beschritten<br />

werden. Als Partei <strong>der</strong> Zuwachsverteilung hat die SPD überhaupt nur<br />

dann und nur solange eine Chance, wie es tatsächlich Zuwächse zu<br />

verteilen gibt. Ist dies nicht <strong>der</strong> Fall, wird Sozialdemokraten erst recht<br />

dann Versagen vorgeworfen, wenn sie an Versprechen festhalten, die<br />

sie aus objektivem Mangel an Mitteln überhaupt nicht mehr halten<br />

können. Schon aus diesem Grund muss sich die SPD auf ein neues<br />

(und zugleich altes, weil in ihrer Geschichte angelegtes)<br />

Gerechtigkeitskriterium mit größerer Zukunftsträchtigkeit<br />

verständigen - das ist die Chance auf Teilhabe an Bildung und Arbeit.<br />

Ein in diesem Sinne erneuerter, gerechter Sozialstaat ist ein zentrales<br />

Projekt <strong>der</strong> Sozialdemokratie.<br />

Elftens: Die Solidarische Mitte und ihre Partei.<br />

Mit welchen Gruppen in unserer Gesellschaft kann die SPD ein<br />

erfolgreiches Bündnis für Neue Gerechtigkeit eingehen? Zuweilen<br />

verstellt das berechtigte Bewusstsein <strong>der</strong> ungebrochenen Kontinuität<br />

sozialdemokratischer Geschichte und Grundwerte heute den Blick<br />

darauf, wie sehr sich unsere Partei und ihre Wählerschaft in den<br />

abgelaufenen Jahrzehnten verän<strong>der</strong>t haben - weil sich unser Land<br />

dramatisch gewandelt hat. Heute existiert zwar die Arbeiterschaft als<br />

kulturell einheitliche Gruppe nicht mehr. Doch natürlich gibt es auch


heute noch all jene Gruppen, die sich früher - übrigens voller Stolz -<br />

als »kleine Leute« bezeichnet hätten. So wird es auch in Zukunft sein.<br />

Diese Gruppen waren, sind Teil <strong>der</strong> hart arbeitende Mitte unserer<br />

Gesellschaft. Sie sind the people who work hard and play by the rules.<br />

Viele Kin<strong>der</strong> und Enkel <strong>der</strong> sozialdemokratischen Arbeiterschaft <strong>der</strong><br />

Vergangenheit haben studiert und vormals als »bürgerlich« geltende<br />

Berufe ergriffen. Ob als Rechtsanwältinnen o<strong>der</strong> Lehrer, Ingenieure<br />

o<strong>der</strong> Architektinnen: Heute sind es nicht zuletzt auch die<br />

Nachkommen <strong>von</strong> »kleinen Leuten«, die die solidarische Mitte<br />

unserer Gesellschaft verbreitern. Das ist das Ergebnis des großen<br />

Erfolgs einer an mehr Gerechtigkeit, mehr Teilhabe und mehr<br />

Chancen orientierten sozialdemokratischen Bildungs- und<br />

Gesellschaftspolitik in den vergangenen Jahrzehnten. Von selbst aber<br />

bleibt die Solidarische Mitte nicht solidarisch, auch ihre Haltung hat<br />

Voraussetzungen. Deshalb müssen Sozialdemokraten immer wie<strong>der</strong><br />

neu im Stande sein, dieses gesellschaftliche Bündnis zu erneuern.<br />

Gerade weil sie zur Solidarität mit den Schwächeren in unserer<br />

Gesellschaft bereit ist, erhebt die Solidarische Mitte heute den<br />

berechtigten Anspruch auf das effektive und zielgenaue Funktionieren<br />

sozialstaatlich organisierter Gerechtigkeitspolitik. Wer Steuern zahlt,<br />

muss erwarten können, dass in <strong>der</strong> Schule seiner Kin<strong>der</strong> die<br />

Toilettenspülung funktioniert; wer Steuern zahlt, erwartet zu Recht,<br />

dass staatliche Bildungsangebote brauchbare Kenntnisse und neue<br />

Chancen vermitteln. Wenn aus Einsicht und Überzeugung gewährte<br />

Solidarität missbraucht o<strong>der</strong> überfor<strong>der</strong>t wird, dann wird diese<br />

Solidarität irgendwann nicht mehr gewährt. Immer wie<strong>der</strong> die<br />

Bedingungen dafür herzustellen, dass diese Mitte zur Solidarität bereit<br />

und fähig bleibt, ist eine Schlüsselbedingung <strong>der</strong> zukünftigen<br />

Mehrheitsfähigkeit unserer Partei.<br />

Zwölftens: Die »Neue Mitte« politisch begreifen<br />

Mit dem Begriff <strong>der</strong> »Neuen Mitte« beschrieb einst Willy Brandt das<br />

neue Bündnis <strong>von</strong> Sozialdemokratie und liberalem Bürgertum:<br />

Gerechtigkeit und solidarische Mitte im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t Bürgertum.<br />

Mit <strong>der</strong> Bundestagswahl 1998 ist die Neue Mitte noch einmal populär<br />

geworden. Mit dem Begriff verbunden war <strong>der</strong> richtige Versuch,<br />

soziale und politischen Verän<strong>der</strong>ungsprozesse prägnant zu benennen<br />

sowie die Grundlage einer erfolgreichen und mo<strong>der</strong>nen<br />

sozialdemokratischen Strategie zu legen. Allerdings wurde diese Neue<br />

Mitte in <strong>der</strong> Vergangenheit bisweilen zu sehr soziologisch, zu wenig<br />

politisch verstanden: Sowohl neoliberale wie linke Kritiker haben sie<br />

schnell für deckungsgleich mit <strong>der</strong> Wählerbasis <strong>der</strong> FDP gehalten.<br />

Demgegenüber gehört zur Solidarischen Mitte ganz dezidiert ein


politisches Bekenntnis: Wer <strong>von</strong> ihr spricht, beschreibt die Allianz <strong>der</strong><br />

Tüchtigen in unserer Gesellschaft, die zugleich für ein inklusives<br />

Gemeinwesen eintreten. Der Begriff <strong>der</strong> Solidarischen Mitte<br />

kennzeichnet die politische Haltung <strong>der</strong>jenigen Menschen in<br />

Deutschland, welche die SPD als Wählerinnen und Wähler gewinnen<br />

kann - und muss. Zusammen sind sie das erneuerte Bündnis für<br />

Gerechtigkeit.<br />

Dreizehntens: Das sozialdemokratische Versprechen im 21.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

Wahlen werden in Deutschland mit Hilfe <strong>von</strong> Wählerkoalitionen<br />

gewonnen. Nur wenn die SPD Unterstützung in allen Teilen <strong>der</strong><br />

Solidarischen Mitte erfährt, wird sie langfristig erfolgreich sein.<br />

Naturwüchsig kommen solche Bündnisse aber nicht zustande. Sie<br />

müssen immer wie<strong>der</strong> begründet werden. Das ist für unsere Partei<br />

aber nicht so neu: Die vielen »kleinen Leute« <strong>von</strong> einst waren<br />

gemeinsam stark - und das hat sie zum Nutzen unseres Landes groß<br />

gemacht. Besinnt sich die SPD ihrer Wurzeln als solidarische<br />

Emanzipationsbewegung, wird sie das sozialdemokratische<br />

Versprechen <strong>der</strong> Gerechtigkeit im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t mit neuem Leben<br />

erfüllen.

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