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Predigt über <strong>Lukas</strong> <strong>19</strong>, <strong>41</strong>-<strong>48</strong>; 10. So. n. Trin.; 27. 07. 2008<br />
Pfr. i.R. Dr. Hans Horsch, Nöttingen<br />
„Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch<br />
auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen<br />
verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um<br />
dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden<br />
dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem<br />
andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden<br />
bist.<br />
Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen:<br />
Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es<br />
zur Räuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und<br />
Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten,<br />
und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an<br />
und hörte ihn.“<br />
Gemeinde Jesu!<br />
Israel macht regelmäßig auf sich aufmerksam.<br />
Es vergeht kaum ein Tag, an dem dieses<br />
kleine Land nicht in den Nachrichten<br />
vorkommt. Der Dauerkonflikt mit seinen arabischen<br />
Nachbarn lässt das Land nicht zur<br />
Ruhe kommen.<br />
Die Hauptstadt, Jerusalem, ist das Ziel<br />
heftiger Auseinandersetzungen. Sie ist das<br />
Spannungsfeld dreier Weltreligionen. Dennoch<br />
sind viele Besucher von Land und Leuten<br />
beeindruckt. Man kann dieses Volk nur<br />
verstehen, wenn man seine Geschichte berücksichtigt.<br />
Eine Besonderheit in Jerusalem ist die<br />
Klagemauer. Seit der Zerstörung des Tempels<br />
durch den römischen Feldherrn Titus (<br />
70 n. Chr. ) ist sie ein Ort der Klage u. des<br />
Gebetes. Aus aller Welt kommen die Juden<br />
nach Jerusalem um an der Klagemauer ihre<br />
Anliegen vor Gott zu bringen. Diese Steine<br />
erinnern uns daran, dass der Tempel ein Ort<br />
der Begegnung mit Gott gewesen ist.<br />
An diesem Sonntag gedenkt die Kirche in<br />
aller Welt der Zerstörung Jerusalems und<br />
des Tempels. Es ist der Ort, an dem sich<br />
auch Jesus des öfteren aufgehalten hat. Am<br />
Gedenktag stimmt man im Gottesdienst<br />
Trauerlieder an, liest Texte aus den Klageliedern<br />
Jeremias, und verzichtet auf Vergnügungen<br />
aller Art. Jerusalem ist der Ort<br />
des Leidens und Sterbens Jesu. Hier ist der<br />
Alte Bund abgebrochen und der Neue Bund<br />
eingesetzt worden. Der Name Jerusalem,<br />
verbunden mit der Person Jesu, bedeutet für<br />
uns Rettung, Erlösung und Hoffnung.<br />
Das Wissen um den Hintergrund der Gesamtgeschichte<br />
Israels ermöglicht es uns,<br />
einen konzentrierten Blick auf das Geschehen<br />
zu richten, welches uns in diesem Bibelwort<br />
beschrieben wird. Wir sehen gleichsam<br />
mit den Augen derer, die Jesus begleiten.<br />
Sie berichten uns: „ und als er nahe<br />
hinzukam, sah er die Stadt und weinte über<br />
sie“. Warum weint Jesus? Seine Tränen bilden<br />
den Kontrast zu dem vorangegangen<br />
Jubelzug seiner Jünger, die mit ihm – dem<br />
Messias – vom Ölberg kommend, in die<br />
Stadt gehen. Jesu Tränen deuten an, dass<br />
er das Schicksal Jerusalems mit dem eigenen<br />
Schicksal verflochten weiß. Er hat das,<br />
was in Jerusalem mit ihm und mit der Stadt<br />
passieren würde, vorausgesehen. In dieser<br />
Stadt hatte man sich dem Anspruch des<br />
Reiches Gottes, durch ihn vertreten, verschlossen.<br />
Das Gericht war die Folge.<br />
Was geht im Herzen Jesu vor? Er nimmt<br />
tiefstes Anteil am Ergehen dieser Stadt. –<br />
Weinen können nur Liebende. Jesus kann<br />
Jerusalem nicht einfach abschreiben. Es<br />
gleichsam seinem Schicksal überlassen.<br />
Seine Tränen sind Ausdruck innerster Betroffenheit.<br />
Jesus leidet. Aus seinem Herzen<br />
ringt sich ein Wort, welches zu einer großen<br />
Herausforderung für uns, seine Nachfolger,<br />
geworden ist. Wir sollten uns die Zeit nehmen<br />
und darüber nachdenken, was uns ge-
sagt werden will, wenn wir aus Jesu Mund<br />
hören „ weil du die Zeit nicht erkannt hast, in<br />
der du heimgesucht worden bist“.<br />
Die Heimsuchungen Gottes lassen aufmerksam<br />
werden. Sie führen den Menschen<br />
zu Gott zurück. So sei mir die Frage erlaubt:<br />
Stehen nicht auch wir inmitten der Heimsuchungen<br />
Gottes? Wir sollten uns selbst gegenüber<br />
und Gott gegenüber zugeben, dass<br />
wir mannigfachen Grund für das Weinen<br />
Jesu geliefert haben. Wir sind Zeitzeugen<br />
eines beispiellosen geistlichen Niedergangs<br />
in unserem Land. Fassungslos stehen wir<br />
vor der Tatsache, dass so viele Personen<br />
unseres Herrn, Jesus Christus, ablehnen.<br />
Vor kurzem habe ich z.B. folgende Sätze<br />
gelesen: „Es gibt Gotteshäuser, die erneuert<br />
worden sind. Aber ihnen fehlt oft der wertvollste<br />
Schmuck: Menschen, die Gott in seinem<br />
Wort suchen und ihn in einmütiger<br />
Gemeinschaft anbeten. Die wahre Liebe zu<br />
den Stätten, an denen Gott uns begegnen<br />
will, ist selten geworden in unserem Land“.<br />
Ja, es ist uns längst bekannt. Die Folge<br />
dieser Mangelerscheinung im geistlichen<br />
Leben der Menschen ist ihre innere Verarmung.<br />
Im Gegensatz dazu stellen wir fest,<br />
dass immer mehr Ängste unsere Mitmenschen<br />
beunruhigen und belasten. Die<br />
Mauern der leeren Kirchen in unserem Land<br />
sind ein Apell an unsere Gewissen. In einer<br />
solchen Situation, die uns das Klagen lehrt,<br />
sollen wir uns daran erinnern, dass aus einer<br />
anklagenden Haltung leicht eine klagende<br />
Haltung werden kann. Ja, auch wir müssen<br />
wieder das Weinen lernen. Weinen über<br />
nicht erkannte Zeiten und Gelegenheiten.<br />
Weinen, über jeden Menschen, der Jesu Ruf<br />
zur Umkehr ablehnt. Tränen der Reue können<br />
oft heilsam sein.<br />
Jesu Tränen werden ihm zum Anlass zum<br />
Handeln. In einer ersten Reaktion geht er in<br />
den Tempel, also dahin, wo etwas nicht in<br />
Ordnung ist. Er beginnt die Händler auszutreiben,<br />
weil „dies Haus“ ein Bethaus sein<br />
soll. Jesus richtet sich gegen den Missbrauch<br />
des Tempels. Er ist gegen die Ausbeutung<br />
der Rechtlosen durch die Priester.<br />
War doch im Tempel eine Gruppe von Priestern<br />
tätig, die ihre Privilegien missbrauchten.<br />
Jesu verfolgt nur ein Anliegen. Dieser Ort,<br />
der Tempel, soll ein geheiligter Ort bleiben<br />
und hier soll Gottes Wille den Menschen<br />
verkündigt werden.<br />
Jesus selbst folgt seinem Auftrag. Weil er<br />
täglich im Tempel lehrte, hat er ganz bewusst<br />
das Volk auf das Geheimnis der Gottesherrschaft<br />
hingewiesen. Immer wieder<br />
versucht er sein Volk zur Umkehr zu bewegen.<br />
Doch man will ihm nicht folgen. Selbst<br />
die Führer des Volkes haben nur eines im<br />
Sinn: „ Sie trachten danach, wie sie ihn umbringen<br />
können“.<br />
Anhand dieser Geschichte sollen wir aufmerken<br />
und unser eigenes Verhältnis, Gott<br />
gegenüber, bedenken. Wir stehen vor der<br />
Herausforderung, den Willen Gottes zu erkennen<br />
und ihn zu erfüllen. Wir erleben jedoch<br />
oft genug das Gegenteil von dem, was<br />
uns im Wort Gottes gesagt wird. Wir merken<br />
es immer dann, wenn dieses Wort uns in die<br />
Entscheidung ruft. Unser alter Adam gibt<br />
Raum dem Widerspruch, dem Ungehorsam.<br />
Nach dem neuen Menschen können wir<br />
aber dem Wort Gottes folgen und sind seinem<br />
Wort im Gehorsam ergeben. In unserem<br />
Handeln sind wir gar nicht so weit von<br />
den Menschen entfernt, die zur Zeit Jesu<br />
weder auf sein Wort gehört haben noch seinem<br />
Rufen gefolgt sind.<br />
Das ist der Grund, warum wir unserem<br />
eigenen geistlichen Schicksal gegenüber<br />
sehr aufmerksam bleiben sollten. Auch uns<br />
gilt das apostolische Wort, welches uns davor<br />
warnt, nur auf die eigene Gerechtigkeit<br />
zu vertrauen. So hat der Apostel Paulus das<br />
Schicksal der Juden vor Augen wenn er in<br />
seinem Brief an die Römer schreibt: „Meines<br />
Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu<br />
Gott für sie ( die Juden ), dass sie gerettet<br />
werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie<br />
Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht.<br />
Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht,<br />
die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit<br />
aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit<br />
Gottes nicht untertan“. Der Apostel<br />
fühlt sich verantwortlich gegenüber den<br />
Menschen aus dem Judentum. Sie haben<br />
die Zeit nicht erkannt, in der sie heimgesucht<br />
worden sind. Des Apostels Ringen um<br />
seine Brüder aus dem Judentum ist vorbildlich<br />
für uns.
Der heutige Sonntag will uns daran erinnern,<br />
dass auch wir ein Verpflichtung gegenüber<br />
dem jüdischen Volk haben. Wir haben<br />
den Auftrag, das Evangelium unseren jüdischen<br />
Brüdern zu bezeugen. Wir dürfen die<br />
uns geschenkte Zeit für die Erfüllung dieser<br />
Aufgabe nutzen. Wir, die wir von der frohen<br />
Botschaft, dem Evangelium von Jesus<br />
Christus, herkommen, wir wissen, dass Jesus<br />
Christus der wahre Tempel Gottes ist. In<br />
ihm, dem Sohn, hat Gott uns Menschen das<br />
Geheimnis seiner Herrschaft enthüllt. Jesus<br />
Christus ist der von den Juden so heiß erwartete<br />
Messias. Er ist unser Heiland und<br />
Herr. Er hat uns Christen beauftragt, das<br />
Zeugnis von seiner Herrschaft niemandem<br />
vorzuenthalten. So haben wir den Juden<br />
gegenüber eine große Verpflichtung.<br />
Für das Leben der Kirchen in der Welt ist<br />
es wichtig, sich um das Zeugnis des Evangeliums<br />
unter den Juden zu bemühen. Nur<br />
durch dieses Zeugnis ist wahrer Friede unter<br />
den Menschen möglich. Wir dürfen mit unserer<br />
kleinen Kraft teilhaben an diesem großartigen<br />
Auftrag. Auch durch unsere Bereitschaft,<br />
die Mission unter den Juden finanziell<br />
zu unterstützen. Das einzige Motiv unseres<br />
Handelns sollte sein, dass jeder<br />
Mensch, der die Botschaft des Evangeliums<br />
hört, dem Messias, dem Heiland der Welt<br />
begegnet. Jesus zu begegnen, heißt, den<br />
Frieden mit sich selbst und den Frieden mit<br />
Gott zu finden. Um unseres Zeugnisses willen<br />
werden Menschen zu Gott umkehren<br />
und ihn als Vater anbeten und preisen.<br />
Amen