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Anorexia nervosa oder Magersucht - Rhein-Klinik

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<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> <strong>oder</strong> <strong>Magersucht</strong><br />

<strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

►Krankheitsbild<br />

►Grundlagen der Behandlung<br />

►Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten<br />

►Gestufte Behandlungskonzepte<br />

►Behandlungsziele<br />

►Beispiel eines Behandlungsverlaufes<br />

►Krankheitsbild<br />

Die <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> ist charakterisiert durch ein ausgeprägtes Untergewicht (weniger als 85% des nach Alter und<br />

Körpergröße zu erwartenden Gewichtes; ein BMI = Bodymaßindex unter 17,5 kg / m²). Unter dieser Erkrankung<br />

leiden meist junge Mädchen und Frauen, aber auch Männer können an <strong>Magersucht</strong> erkranken.<br />

In der ICD 10 ein (International Classification of Diseases) die Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten<br />

und verwandter Gesundheitsprobleme werden die Essstörungen folgendermaßen beschrieben:<br />

F50.-<br />

Essstörungen<br />

Exkl.: <strong>Anorexia</strong> o.a.A. (R63.0)<br />

Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler (R63.3)<br />

Fütterstörung im Kleinkind- und Kindesalter (F98.2)<br />

Polyphagie (R63.2)<br />

F50.0 <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong><br />

Die <strong>Anorexia</strong> ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten <strong>oder</strong> aufrechterhaltenen Gewichtsverlust<br />

charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende<br />

Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können<br />

ebenfalls betroffen sein. Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei die<br />

Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee<br />

besteht und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist<br />

Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen<br />

Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte<br />

Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der<br />

Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika.<br />

Exkl.: Appetitverlust ( R63.0 )<br />

Psychogener Appetitverlust ( F50.8 )<br />

F50.1 Atypische <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong><br />

Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> erfüllen, das gesamte klinische Bild<br />

rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können die Schlüsselsymptome wie deutliche Angst vor<br />

dem zu Dicksein <strong>oder</strong> die Amenorrhoe fehlen, trotz eines erheblichen Gewichtsverlustes und gewichtsreduzierendem<br />

Verhalten. Die Diagnose ist bei einer bekannten körperlichen Krankheit mit Gewichtsverlust<br />

nicht zu stellen.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> <strong>oder</strong> <strong>Magersucht</strong><br />

<strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

F50.2 Bulimia <strong>nervosa</strong><br />

Ein Syndrom, das durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der<br />

Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert ist. Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und<br />

Erbrechen <strong>oder</strong> Gebrauch von Abführmitteln. Viele psychische Merkmale dieser Störung ähneln denen der<br />

<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong>, so die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht. Wiederholtes Erbrechen kann zu<br />

Elektrolytstörungen und körperlichen Komplikationen führen. Häufig lässt sich in der Anamnese eine frühere<br />

Episode einer <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren nachweisen.<br />

Bulimie o.n.A.<br />

Hyperorexia <strong>nervosa</strong><br />

F50.3 Atypische Bulimia <strong>nervosa</strong><br />

Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Bulimia <strong>nervosa</strong> erfüllen, das gesamte klinische Bild<br />

rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können wiederholte Essanfälle und übermäßiger Gebrauch<br />

von Abführmitteln auftreten ohne signifikante Gewichtsveränderungen, <strong>oder</strong> es fehlt die typische<br />

übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht.<br />

F50.4 Essattacken bei anderen psychischen Störungen<br />

Übermäßiges Essen als Reaktion auf belastende Ereignisse, wie etwa Trauerfälle, Unfälle und Geburt.<br />

Psychogene Essattacken<br />

Exkl.: Übergewicht (E66.-)<br />

F50.5 Erbrechen bei anderen psychischen Störungen<br />

Wiederholtes Erbrechen bei dissoziativen Störungen (F44.-) und Hypochondrie (F45.2) und Erbrechen, das<br />

nicht unter anderen Zustandsbildern außerhalb des Kapitels V klassifiziert werden kann. Diese Subkategorie<br />

kann zusätzlich zu O21.- (exzessives Erbrechen in der Schwangerschaft) verwendet werden, wenn hauptsächlich<br />

emotionale Faktoren wiederholte Übelkeit und Erbrechen verursachen.<br />

Psychogenes Erbrechen<br />

Exkl.: Erbrechen o.n.A. ( R11 )<br />

Übelkeit ( R11 )<br />

F50.8 Sonstige Essstörungen<br />

Pica bei Erwachsenen<br />

Psychogener Appetitverlust<br />

Exkl.: Pica im Kindesalter ( F98.3 )<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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<strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

F50.9 Essstörung, nicht näher bezeichnet<br />

Krankheitsbild<br />

Magersüchtige Patientinnen führen die Gewichtsabnahme durch Fasten, Erbrechen, körperliche Aktivität sowie<br />

Einnahme von Abführmitteln, Appetitzüglern und Diuretika (harntreibende Mittel) herbei. Sie beschäftigen sich<br />

intensiv mit dem eigenen Gewicht, verleugnen das Untergewicht sowie ihre körperliche Schwäche und die Gefährlichkeit<br />

der Erkrankung. Häufig haben die Patientinnen ein Idealbild von völliger Unabhängigkeit und Autonomie.<br />

Sie verleugnen ihre eigenen seelischen und körperlichen Bedürfnisse nach Nähe und Nahrung sowie auch ihre Bedürfnisse<br />

nach Unterstützung, Versorgung und Hilfe. Deshalb zeigen sie häufig ein widersprüchliches Muster von<br />

hilfesuchenden und hilfeabweisenden Verhaltensweisen. Bei der Entstehung und der Aufrechterhaltung einer <strong>Magersucht</strong><br />

spielen psychische, biologische, gesellschaftliche und familiäre Faktoren in unterschiedlicher Weise zusammen.<br />

In jedem Einzelfall muss individuell geklärt werden, welche Faktoren eine Rolle spielen. Ablösungskonflikte<br />

vom Elternhaus, Schwierigkeiten im Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität, das herrschende Schönheits- und<br />

Schlankheitsideal, Selbstwertprobleme, Ängste vor anstehenden Entwicklungsschritten, insbesondere vor konflikthaften<br />

Auseinander-setzungen und Selbstbehauptung, Schwierigkeiten sich zu wehren und sich abzugrenzen können<br />

eine Rolle spielen.<br />

Etwa die Hälfte der Patientinnen erreicht eine Heilung, etwa ¼ ist nach der Behandlung gebessert, 10 % der Patientinnen<br />

weisen einen chronischen Verlauf mit dem Vollbild einer Anorexie auf.<br />

Selbst bei günstigem Verlauf dauert es im Schnitt 6 Jahre, bis es zu einer Heilung einer Anorexie kommt.<br />

Die Anorexie gehört immer noch zu den gefährlichsten Erkrankungen junger Mädchen und Frauen mit einer 10fach<br />

– gegenüber der Normalbevölkerung – erhöhten Wahrscheinlichkeit an der Erkrankung zu sterben.<br />

Allerdings ist <strong>Magersucht</strong> nicht gleich <strong>Magersucht</strong>: innerhalb der Gruppe der Anorexie-Patientinnen gibt es sehr<br />

unterschiedliche Krankheitsbilder und –verläufe, wobei insbesondere die Bereitschaft und Fähigkeit, Hilfe anzunehmen<br />

und die Teufelskreise der Erkrankung durchbrechen zu wollen, von ausschlaggebender Bedeutung ist.<br />

►Grundlagen der Behandlung<br />

Das zentrale Problem in der Behandlung von Patientinnen mit <strong>Magersucht</strong> ist es, die oft hilflos mit ihrer Familie<br />

verstrickte Patientin und ihre Familie dafür zu gewinnen, einen Weg zu suchen und zu finden, sowohl Essverhalten<br />

und Gewicht zu normalisieren als auch die Probleme und Konflikte in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft konsequent<br />

zu bearbeiten und anzugehen. Die Forschung und die klinische Erfahrung (und der gesunde Menschenverstand)<br />

zeigen eindeutig, dass die Psychotherapie Hand in Hand gehen muss mit einer Gewichtszunahme und einer<br />

Normalisierung des Essverhaltens.<br />

Magersüchtige Patientinnen sind häufig innerlich zerrissen und voller Widersprüche.<br />

In ihnen tobt häufig ein verzweifelter Kampf zwischen Anteilen, die leben, lieben, arbeiten und genießen wollen,<br />

die sich zu einer selbständigen, selbstbewussten Persönlichkeit, die sowohl zu Nähe als auch zu Auseinandersetzungen<br />

im Umgang mit den Mitmenschen in der Lage ist, entwickeln wollen und einem mehr <strong>oder</strong> weniger bewussten<br />

verzweifelten, ängstlichen, traurigen, oft auch rachsüchtigen und destruktiven, misstrauischen Anteil, der Angst<br />

hat vor den anstehenden Entwicklungsschritten, der sich vielleicht sogar verweigert, jede Hilfe und Unterstützung<br />

ablehnt und das Leben und die Liebe fürchtet <strong>oder</strong> hasst.<br />

Dieser innere Konflikt in den Patientinnen führt häufig zu einem widersprüchlichen Verhalten im Umgang mit Angehörigen<br />

und Ärzten und Therapeuten.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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Diese sehen einen Menschen, der einerseits über seinen körperlichen Zustand und die Gefühle, die er dadurch auslöst,<br />

extreme Hilflosigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Fürsorge und den Wunsch zu helfen auslöst, der aber andererseits<br />

verbal, seine Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit betont und die Gefahren der Erkrankung verleugnet, das<br />

krankhafte Essverhalten verheimlicht und Hilfsangebote nicht <strong>oder</strong> in widersprüchlicher Weise wahrnimmt, häufig<br />

nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ <strong>oder</strong> im Extremfall: „Du hast keine<br />

Chance, nutze sie!“.<br />

Unsere therapeutische Strategie ist es nun, uns mit dem gesunden Anteil zu verbünden, mit ihm zu verhandeln, so<br />

lange, bis wir einen klaren, stimmigen, für die Patientin und uns annehmbaren therapeutischen Auftrag mit klaren,<br />

gemeinsam abgestimmten Zielen als Grundlage für die Behandlung haben.<br />

Therapie ist ein Prozess der selbstgewählten und selbstbestimmten Entwicklung, den ein Arzt <strong>oder</strong> Therapeut unterstützen<br />

kann, indem er dem Patienten hilft, sich mit seinen Widersprüchen und Konflikten auseinander zu setzen,<br />

sich besser zu verstehen und Fähigkeiten zu entwickeln, um anstehenden Entwicklungsaufgaben zu meistern.<br />

In der Regel geht es bei diesen Entwicklungsaufgaben z.B. um Ablösungsprozesse von den Eltern, um die Fähigkeit,<br />

sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen und zusammenzuraufen, sich abzugrenzen, zu wehren, sich zu<br />

behaupten, sich auf Liebesbeziehungen einzulassen, sich in Liebesbeziehungen hingeben zu können, ohne sich zu<br />

verlieren, eine sichere Geschlechtsidentität zu entwickeln, und es geht darum, eine berufliche Identität zu entwickeln<br />

und sich im Lebenskampf behaupten zu können.<br />

Häufig verwechseln die Patientinnen auf Grund schlechter Erfahrungen Kontrolle und Fürsorge. Sie wünschen sich<br />

unbewusst Unterstützung und Hilfe, fürsorgliche Anteilnahme, erleben dies aber bewusst als Kränkung <strong>oder</strong> sehr<br />

schnell als Fremdbestimmung, gegen die sie sich wehren müssen.<br />

►Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten<br />

Für Patientinnen, die unter einem lebensbedrohlichen Untergewicht leiden und dennoch die Notwendigkeit einer<br />

Behandlung verleugnen, sieht der Gesetzgeber vor, dass eine Behandlung auch gegen ihren Willen erfolgen kann,<br />

wenn eine akute Selbstgefährdung vorliegt. Ansonsten sind uns Ärzten und Therapeuten die Hände gebunden, eine<br />

Therapie gegen den Willen des Patienten ist nicht möglich.<br />

Hier ist es sinnvoll, zwischen Maßnahmen, die der sozialen Kontrolle dienen und therapeutischen Maßnahmen zu<br />

unterscheiden:<br />

Eine Zwangsbehandlung als Ausdruck sozialer Kontrolle auf dem Boden entsprechender Gesetze (PsychKG,<br />

Vormundschaft) sieht unsere Gesellschaft vor, wenn Menschen sich <strong>oder</strong> andere in Lebensgefahr bringen.<br />

Eine solche Behandlung gegen den Willen der Patientin ist in der <strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong> nicht möglich.<br />

Therapie setzt voraus, dass die Patientin sich entschieden hat, sich bei der Überwindung ihrer Krankheit helfen<br />

zu lassen und uns dafür einen Auftrag gibt.<br />

► Gestufte Behandlungskonzepte<br />

Auch wenn es eine konsequente Behandlung letzten Endes immer eine Kombination von Psychotherapie und Unterstützung<br />

bei der Überwindung der Essstörung voraussetzt (Siehe unten: Warum erfordert eine konsequente<br />

Psychotherapie einer <strong>Magersucht</strong> auch eine Bereitschaft der Patientin, gleichzeitig eine Normalisierung ihres Gewichtes<br />

anzustreben?) so haben wir doch die Erfahrung gemacht, dass es notwendig und sinnvoll ist, langsam aber<br />

sicher Schritt für Schritt vorzugehen.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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Deshalb haben wir ein mehrstufiges Behandlungskonzept entwickelt, dass dem Motivationsstand der Patientin<br />

Rechnung trägt und gewährleistet, dass diese in jeder Phase der Behandlung nur selbstverantwortliche und selbstbestimmte<br />

Entwicklungsschritte vollzieht.<br />

A) Ambulante Voruntersuchung<br />

Die ambulante Voruntersuchung dient der Abstimmung der Erwartungen der Patientin und unserer Behandlungsmöglichkeiten,<br />

-grenzen, -ziele und -bedingungen.<br />

Bei dieser lebensbedrohlichen Erkrankung und der oft verzweifelten Hilflosigkeit aller Beteiligten möchten wir die<br />

Hemmschwelle für eine Kontaktaufnahme so niedrig wie möglich gestalten.<br />

Deshalb überlassen wir es der Patientin, ob sie selbst <strong>oder</strong> ein Familienangehöriger mit ihrem Einverständnis einen<br />

Termin in unserer Ambulanz vereinbart.<br />

Die Patientin kann nach ihrem Gutdünken alleine <strong>oder</strong> auch mit ihrer Familie <strong>oder</strong> mit ihrem Partner zu diesem<br />

Vorgespräch kommen.<br />

Auch die Eltern einer magersüchtigen Patientin, die sich noch nicht entschließen kann, Hilfe in der zu <strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

suchen, können mit uns ein Beratungsgespräch vereinbaren, um zu erörtern, wie sie die Patientin zu einer Zusammenarbeit<br />

bzw. einem ersten Gespräch gewinnen können.<br />

Im Rahmen unseres analytisch-systemischen Ansatzes ist es unser Anliegen, dass alle Beteiligten – die Patientin,<br />

ihre Familie – wenn möglich und gewünscht – und das Behandlungsteam – zu einem guten Team zusammenwachsen,<br />

das sich gegenseitig bei der schwierigen Aufgabe, diese Erkrankung zu überwinden, unterstützt.<br />

Wir bieten auch eine ambulante Gruppe an für Patientinnen, die auf eine Behandlung in der <strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong> warten,<br />

und Patientinnen, die diese hinter sich haben und auf einen ambulanten Therapieplatz warten. Das Ziel dieser<br />

Gruppe ist es, die Übergänge ambulant-stationär-ambulant zu erleichtern. Durch den Austausch der „neuen“ und<br />

der „alten“ Patientinnen kann eine noch unschlüssige Patientin sich ein Bild machen, ob unser Behandlungsansatz<br />

ihr zusagt <strong>oder</strong> nicht. Es handelt sich um eine „gemischte“ Gruppe mit Patientinnen mit verschiedenen Krankheitsbildern.<br />

Die Teilnahme an dieser ambulanten Gruppe kann in dem ambulanten Vorgespräch vereinbart werden.<br />

B) 1-2 wöchige Behandlung<br />

Für Patientinnen, die hochgradig ambivalent sind, die von Angehörigen <strong>oder</strong> Ärzten zu uns geschickt werden und<br />

noch keinerlei Motivation in sich spüren, ihr Essverhalten zu normalisieren und sich der Auseinandersetzung der<br />

äußeren und inneren Konflikte zu stellen, bieten wir eine 1-2 wöchige Behandlung an:<br />

Eine „Schnupperwoche“ für die Patientin, die es ihr erlaubt, sich ein Bild von unseren Behandlungsangeboten zu<br />

machen und eine diagnostische Woche für uns, die es uns erlaubt, einzuschätzen, ob wir mit unserem Konzept und<br />

unseren Möglichkeiten und Grenzen dieser Patientin angemessen helfen können.<br />

Behandlungsrahmen:<br />

Die Patientin wird vom Stationsarzt, Oberarzt und Chefarzt untersucht. Sie wird über unsere Behandlungskonzepte<br />

informiert. Sie informiert uns über ihre Vorstellungen und wir versuchen zu einer gemeinsamen Linie zu kommen.<br />

Die Patientin erhält durch Teilnahme an den Einführungsgruppen der Pflege( sie vermittelt die notwendigen Informationen<br />

über die Abläufe auf der Station) sowie an den Visiten, der Großgruppe (eine einmal wöchentlich stattfindende<br />

Gruppe der Patienten mit Stationsteam unter der Leitung von Chef- <strong>oder</strong> Oberärztin, in der aktuelle Probleme<br />

auf der Station besprochen werden), der Infogruppe (eine einmal wöchentlich stattfindende Gruppe unter<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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der Leitung von Chef- <strong>oder</strong> Oberärztin in der Themen „rund um Psychosomatik und Psychotherapie“ erörtert werden)<br />

und der Stationsversammlungen (hier werden unter Leitung der Pflege organisatorische Fragen geregelt) und<br />

insbesondere auch durch den Austausch mit Mitpatienten die Möglichkeit, sich ein Bild von unserem Behandlungskonzept<br />

zu machen. Die Pflegekräfte begleiten und unterstützen sie in der Bezugspflege.<br />

Darüber hinaus kann die Patientin sich bei der Stationspflegeleiterin und der Diätassistentin – gegebenenfalls auch<br />

im Rahmen unserer pflegerischen Essstörungsgruppe, in der einmal pro Woche alle Patientinnen mit Essstörungen,<br />

die Stationspflegeleiterin, die Diätassistentin und /<strong>oder</strong> ein Mitarbeiter der Küche und der Hauswirtschaft die konkreten<br />

Fragen der Nahrungszusammenstellung erörtern - über unsere Möglichkeiten, sie bei einer sinnvollen Ernährung<br />

zu unterstützen, informieren.<br />

Oft ist auch ein Familiengespräch sehr sinnvoll, in dem bisherige Lösungsversuche und die Möglichkeiten der Familie,<br />

eine positive Entwicklung, die allen Familienmitgliedern gut tut, zu unterstützen, besprochen werden.<br />

Wir bieten gerne so genannte „lösungsorientierte systemische“ Paar- <strong>oder</strong> Familiengespräche an, in denen es darum<br />

geht, zu untersuchen, wie ein Paar <strong>oder</strong> eine Familie gemeinsam gute Lösungen suchen und finden kann und<br />

wie Angehörige die Patientin unterstützen können, ohne sich selbst zu überfordern <strong>oder</strong> ihre berechtigten Interessen<br />

aus dem Auge zu verlieren.<br />

C) 4-6-wöchige Behandlung<br />

Patientinnen, die „eigentlich“ Hilfe suchen, aber noch keine konkreten therapeutischen Ziele und Aufträge haben,<br />

sowohl im Hinblick auf ihr Gewicht als auch im Hinblick auf ihre seelischen und zwischenmenschlichen Probleme<br />

bieten wir eine zeitlich klar begrenzte 4-6-wöchige Behandlung an.<br />

Behandlungsrahmen:<br />

Für Patientinnen, deren Angst vor einer Gewichtszunahme <strong>oder</strong> einer Psychotherapie so groß ist, dass sie<br />

sich eine Unterstützung bei der Normalisierung ihres Essverhaltens und ihres Gewichtes sowie bei der Lösung<br />

ihrer seelischen und zwischenmenschlichen Probleme noch nicht vorstellen können, beinhaltet diese Behandlung<br />

Einzelgespräche, Bezugspflegegespräche und die Teilnahme an den Stationsangeboten (Visiten,<br />

Großgruppe, Infogruppe) ohne Verpflichtung zur Gewichtszunahme.<br />

Voraussetzung ist selbstverständlich, dass die Patientin sich nicht in einem kritischen Ernährungszustand, der<br />

unbedingt der „Auffütterung“ bedarf, befindet.<br />

Themen der Einzelgespräche, Bezugspflegegespräche, der oft sinnvollen Familiengespräche und last not least<br />

der Gespräche mit den Mitpatienten sind die Fragen:<br />

Wofür ist die <strong>Magersucht</strong> gut? Welche wichtige Funktion hat sie in dem seelischen und zwischenmenschlichen<br />

Haushalt der Patientin? Welche vermeintlichen „Gefahren“ sind mit einer Gesundung verbunden? Vor<br />

welchen ängstigenden Entwicklungsschritten schützt die <strong>Magersucht</strong> die Patientin? Wie könnte ein stimmiger<br />

Gesundungsprozess im weiteren Verlauf gestaltet werden, wie könnten sinnvolle Aufträge und Ziele im<br />

Rahmen einer weiteren stationären Behandlung, die dann auch die Normalisierung des Essverhaltens und<br />

des Gewichtes anstrebt, definiert werden?<br />

Für Patientinnen, die etwas weniger Angst haben und bereit und in der Lage sind, sich auf erste Erfahrungen<br />

mit stationärer Psychotherapie einzulassen, sich aber noch nicht in der Lage fühlen, sich auf eine konsequente<br />

Gewichtszunahme einzulassen, beinhaltet diese Behandlung die oben aufgeführten Inhalte und Bedingungen<br />

sowie zusätzlich die Teilnahme an den Kleingruppen - eine Kombination aus Gesprächsgruppen und sog.<br />

nonverbalen Gruppen (Konzentrative Bewegungstherapie und Kunsttherapie) (tiefenpsychologisch fundierte<br />

Gruppenverfahren, die im verbalen Austausch und mit Hilfe körperorientierter <strong>oder</strong> kunsttherapeutischer<br />

Ansätze die Auseinandersetzung mit innerseelischen, körperlichseelischen und zwischenmenschlichen<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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Problemen, sowie die Entwicklung von Fähigkeiten gut mit sich und anderen umzugehen und die Aktivierung<br />

eigener Ressourcen fördern ) sowie ggfs. Skillsgruppe (Skills sind nützliche Fertigkeiten zur Regulierung von<br />

Stress, Emotionen, Selbstwert und zwischenmenschlichen Interaktionen).<br />

D) 8-10wöchige Behandlung<br />

Erst wenn<br />

die Patientin sich überzeugt hat, dass unser Therapieangebot das geeignete ist, um ihr zu helfen, die anstehenden<br />

Entwicklungsschritte zu meistern,<br />

sie uns einen eindeutigen Auftrag gibt, sie bei der seelischen und körperlichen Stabilisierung zu unterstützen,<br />

sie unsere Bedingung einer kontinuierlichen Gewichtszunahme von 500 g pro Woche akzeptiert<br />

sie zu einer aktiven Teilnahme an einem psychotherapeutischen Einzel- und Gruppentherapieprozess, ggfs.<br />

auch mit Familientherapie bereit ist,<br />

sie bereit ist, konsequent ihr selbstschädigendes, einen therapeutischen Prozess verunmöglichendes Verhalten<br />

wie Hungern, Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln und Diuretika zu unterlassen und unsere Hilfe und<br />

Unterstützung bei der Unterlassung dieses Verhaltens anzunehmen,<br />

ist eine kombinierte psychosomatische Behandlung mit ärztlicher, pflegerischer und diätetischer Unterstützung<br />

einer geregelten Nahrungsaufnahme, störungsspezifischen Essstörungsgruppen, physiotherapeutischen Maßnahmen<br />

und psychotherapeutischen Verfahren (Einzel- und Gruppentherapie, Konzentrative Bewegungstherapie,<br />

Kunsttherapie, Familientherapie) in unserer Abteilung sinnvoll.<br />

Diese erfolgt in einem 8-10wöchigen Rahmen.<br />

Wenn in diesem Zeitraum keine ausreichende Stabilisierung möglich ist (z.B. weil die bei 500g/Woche in 10 Wochen<br />

mögliche Gewichtszunahme von 5 kg nicht ausreicht, um ein ausreichendes stabiles Gewicht (BMI von 18) zu<br />

erzielen) und der körperlich-seelische Zustand der Patientin noch nicht stabil genug für eine ambulante Behandlung<br />

ist, kann eine stationäre Intervallbehandlung, also mehrere stationäre Behandlungen in sinnvollen Abständen, die<br />

im Einzelfall bestimmt werden müssen, indiziert sein.<br />

Wichtig ist uns<br />

dass die Patientin zu jedem Zeitpunkt der Behandlung das klare, eindeutige Gefühl hat, dass sie die Auftraggeberin<br />

ist und entscheidet, ob sie den nächsten Schritt mit uns gehen will <strong>oder</strong> ob sie sich entscheidet, ihren<br />

Weg – in welcher Weise auch immer- alleine weiterzugehen.<br />

dass WIR die Verantwortung haben für ein medizinisch-therapeutisches, hochwertiges Angebot in einem für<br />

uns als sinnvoll und nützlich erachteten Rahmen und daran geknüpften Bedingungen, um dieses Angebot in<br />

Anspruch nehmen zu können. Dieses Angebot kann sinnvolle Veränderungen und Entwicklungen lediglich anregen.<br />

dass DIE PATIENTIN sich darüber im Klaren ist, dass nur sie wissen kann, was gut für sie ist und dass sie die<br />

Verantwortung für Veränderung <strong>oder</strong> Nicht-Veränderung und ihre Entwicklung hat.<br />

Wenn unsere Patientin uns einen klaren Auftrag erteilt, unsere Bedingungen akzeptiert und mit uns gut definierte<br />

therapeutische Ziele aushandelt, werden wir uns nach bestem Wissen, Gewissen und Kräften bemühen,<br />

sie und ihre Familie bei dem sicher anstrengenden und schwierigen Genesungsprozess zu unterstützen.<br />

Mit dieser Vorgehensweise wollen wir unfruchtbare Machtkämpfe vermeiden. Wir lassen uns ganz bewusst<br />

nicht in eine Interaktion verwickeln, in der wir zu wissen glauben, was gut für die Patientin sei (ein Muster, zu<br />

dem diese leicht einlädt, indem sie Sorge und Angst, sowie das Bedürfnis zu helfen, bei ihrem Gegenüber<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

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auslöst) sondern machen ein Angebot, das die Patientin darauf überprüfen kann, ob es für sie gut ist. Wir<br />

zeigen ihr damit unsere Möglichkeiten aber auch unsere Grenzen auf.<br />

Dieses Behandlungssetting ist geeignet für Patientinnen, die sowohl motiviert sind, bis zu einem normalen<br />

BMI zuzunehmen, als auch Veränderungen in ihren Einstellungen und Verhaltensänderungen im Umgang mit<br />

sich selbst und ihren Mitmenschen anzustreben. Diese Patientinnen haben sich entschieden, ihr selbstzerstörerisches<br />

Essverhalten aufzugeben und sich von uns helfen zu lassen, dieses Essverhalten und ihr Gewicht zu<br />

normalisieren, indem sie kontinuierlich ca. 500g pro Woche zunehmen.<br />

Patientinnen, die zu einer 8-10wöchige Behandlung bereit, haben verstanden, dass Therapie das Ziel hat,<br />

dass der Patient versteht und umsetzt, was er tun kann, damit es ihm in der Auseinandersetzung mit seinem<br />

Umfeld besser geht! Sie sind bereit, sich in den Therapien aktiv einzubringen, um die eigenen Ressourcen<br />

und die schwierigen Beziehungs- und Bewältigungsmuster kennen zu lernen und den Mut zu finden, in der<br />

Auseinandersetzung mit Team und Mitpatienten die eigenen Ressourcen einzusetzen und bekömmlichere<br />

Beziehungs- und Bewältigungsmuster zu entwickeln.<br />

Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer ambulanten und einer stationären Behandlung besteht darin,<br />

dass im stationären Rahmen mehrere Behandlungsansätze kombiniert werden können: Einzel- und Gruppentherapie,<br />

Skillsgruppen, Paar- und Familientherapie, physikalische Therapie und ggfs. medikamentöse Behandlung.<br />

Während in der ambulanten Psychotherapie die im Gespräch zwischen Therapeut und Patient gewonnenen<br />

Erkenntnisse und Erfahrungen direkt in dem möglicherweise schwierigen familiären und beruflichen Umfeld<br />

umgesetzt werden müssen, wird in der stationären Behandlung ein Übungsfeld, eine „Spielwiese“ „mitgeliefert“<br />

mit ständigem „Coaching“ durch ein erfahrenes Team und Austausch mit den Mitpatienten.<br />

Behandlungsrahmen:<br />

Wir schließen mit unseren Patientinnen, die uns den Auftrag zu dieser Behandlung geben, einen schriftlichen Vertrag,<br />

in dem eine wöchentliche Gewichtszunahme (in der Regel 500g) und ein Zielgewicht (in der Regel in 10 Wochen)<br />

+5 kg vereinbart werden.<br />

Die Behandlung umfasst sowohl eine aktive Unterstützung bei der Normalisierung der Essgewohnheiten und der<br />

Gewichtszunahme durch ärztliche, pflegerische und diätetische Maßnahmen mit störungsspezifischen Essstörungsgruppen<br />

als auch eine intensive Psychotherapie mit Einzelgesprächen, Kleingruppen (analytisch-systemische<br />

verbale Gruppen, Konzentrative Bewegungstherapie <strong>oder</strong> Kunstgruppen) Großgruppen, Infogruppen, Skillsgruppe,<br />

bei Motivation und Bedarf Familiengespräche. (zur Erläuterung der Verfahren siehe oben)<br />

Bei Patientinnen, bei denen traumatische Erfahrungen, wie sexuelle Gewalterfahrungen bei der Essstörung eine<br />

Rolle spielen, kann auch eine traumaspezifische Behandlung mit EMDR (für weitere Informationen siehe z.B.<br />

www.emdr-institut.de indiziert sein.<br />

Diese erfordert allerdings als Voraussetzung eine weitgehende Stabilisierung der Symptomatik und die Fähigkeit,<br />

Emotionen und Spannungen zu regulieren.<br />

Hier erweist sich oft unsere Skillsgruppe nach DBT (Dialektisch behaviorale Therapie) als hilfreich. In der Skills-<br />

Gruppe lernen die Patienten Fertigkeiten und Fähigkeiten kennen zum Thema Achtsamkeit, Umgang mit Gefühlen,<br />

Selbstwert, Stresstoleranz und zwischenmenschliche Fertigkeiten. Grundlage der Gruppenarbeit ist die Erstellung<br />

von Spannungsprotokollen und das Entdecken sowie die Übung individueller Skills zur Reduktion von Anspannungszuständen<br />

einerseits und Verhinderung von Anspannungszuständen und daraus resultierendem dysfunktionalem<br />

Verhalten andererseits.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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<strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

Störungsspezifische Essstörungsgruppen:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Die Patientinnen nehmen an einer wöchentlichen therapeutischen, einer pflegerischen und einer Selbsthilfe-<br />

Essstörungsgruppe (ohne therapeutische <strong>oder</strong> pflegerische Leitung) teil. An diesen Essstörungsgruppen<br />

nehmen Patientinnen mit allen Formen von Essstörungen teil: <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong>, Bulimie, Binge-Eating-<br />

Störung.<br />

In der therapeutischen Essstörungsgruppe wird eine lösungsorientierte Auseinandersetzung mit der Essstörung<br />

gefördert.<br />

Sie hat den Fokus: was ist diese Woche im Umgang mit der Essstörung gut gelaufen, worauf bin ich stolz,<br />

was könnte hilfreich für die anderen sein?<br />

Und was war schwierig, wo brauche ich noch Unterstützung von den anderen Experten? (die Mitpatienten<br />

und das Team).<br />

In der pflegerischen Essstörungsgruppe essen die Patientinnen einmal pro Woche gemeinsam mit unserer<br />

Stationspflegeleiterin. Es gibt eine Nachbesprechung und Abstimmung zwischen ihr, der Patientin, der Küche<br />

und der Hauswirtschaft. Der Fokus liegt auf dem konkreten Unterstützungsbedarf.<br />

In der von den Patientinnen selbst geleiteten „Selbsthilfegruppe“ werden die Themen vertieft.<br />

Durch die Kombination dieser drei Gruppen wird das Spannungsfeld von Autonomiebestrebungen und<br />

dem mehr <strong>oder</strong> weniger verleugneten Wunsch nach Unterstützung abgebildet und genutzt.<br />

Dadurch wird beständig die Botschaft transportiert: die Überwindung der <strong>Magersucht</strong> setzt sowohl eigene<br />

Entwicklungsschritte als auch die Hilfe anderer voraus..<br />

Auch Rivalität und Konkurrenz wie sie häufig zwischen magersüchtigen Patientinnen auftreten können:<br />

„Spieglein Spieglein an der Wand, wer ist die Dünnste im ganzen Land“ - werden in der Essstörungsgruppe<br />

frühzeitig angesprochen und bearbeitet.<br />

Besonders wichtig ist, dass durch die Zusammenarbeit in den störungsspezifischen Gruppen auf der<br />

Station ein „Netzwerk“ gegenseitiger Unterstützung entsteht.<br />

Weitere unterstützende Maßnahmen:<br />

<br />

<br />

Die Patientinnen führen eine Gewichtskurve, in dem die vereinbarte Gewichtszunahme einen oberen grünen<br />

Bereich und einen unteren roten Bereich bei Unterschreitung der vereinbarten Gewichtszunahme<br />

markiert. So wird die Entwicklung für die Patientin und das Team deutlich visualisiert<br />

Die Patientinnen werden täglich gewogen. Grund für diese Maßnahme ist die Überlegung, dass es nicht das<br />

eigentliche Ziel ist, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, sondern der Patientin zu helfen, sich kontinuierlich<br />

gesund und ausreichend zu ernähren. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass weniger häufige Gewichtskontrollen<br />

dazu führen können, dass die Patientinnen einige Tage in der Woche ihr magersüchtiges<br />

Essverhalten zeigen, um dann durch zusätzliche Kalorienzufuhr in den Tagen vor den Wiegen das gewünschte<br />

Gewicht zu erzielen.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> <strong>oder</strong> <strong>Magersucht</strong><br />

<strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

<br />

In Einzelfällen, wenn wir das Gefühl haben, dass der Anteil, der die Behandlung durch Rückfälle in das<br />

Symptomverhalten sabotieren will, noch sehr virulent ist, versuchen wir durch eine konsequente Grenzsetzung<br />

diese Dynamik zu erschweren. Da wir wissen, dass die Patientinnen sehr viel Kompetenz haben, ihr<br />

Gewicht sehr zielgenau zu steuern, gehen wir davon aus, dass sie sich entschieden haben, ihr magersüchtiges<br />

Verhalten vorerst nicht aufzugeben, wenn sie mehr als 7 Tage an einem Stück, <strong>oder</strong> insgesamt 14 Tage<br />

im roten Bereich liegen.<br />

Dann erfolgt die Entlassung - mit der Möglichkeit, jederzeit wiederzukommen, wenn die Motivationslage<br />

sich geändert hat.<br />

Warum erfordert eine konsequente Psychotherapie einer <strong>Magersucht</strong> auch eine Bereitschaft der Patientin,<br />

gleichzeitig eine Normalisierung ihres Gewichtes anzustreben?<br />

Zunächst einmal hat die Forschung der letzten Jahre gezeigt, dass die Kombination von Psychotherapie und Unterstützung<br />

bei der Normalisierung des Essverhaltens die besten Erfolge zeigt.<br />

Es gibt aber auch gewichtige und einleuchtende, therapeutisch fundierte Überlegungen für eine Behandlungsstrategie,<br />

die als Voraussetzung für die Psychotherapie einer <strong>Magersucht</strong> die Bereitschaft, kontinuierlich zuzunehmen,<br />

fordert:<br />

Hungern, sich zu Tode hungern, stellt ein extrem selbstschädigendes Verhalten dar.<br />

Die Patientinnen delegieren sozusagen - mehr <strong>oder</strong> weniger bewusst - die Fürsorge, die Sorge und die Verantwortung<br />

für ihren Körper an ihre Angehörigen und Ärzte.<br />

Solange dieses selbstzerstörerische Muster der Verantwortungsabgabe bestehen bleibt, ist ein selbstbestimmter<br />

Therapieprozess mit dem Ziel gesünderer Einstellungen und Verhaltensweisen nicht möglich.<br />

Unfruchtbare Machtkämpfe zwischen besorgten Ärzten und Eltern und der sich auf ihr Selbstbestimmungsrecht<br />

berufenden Patientin, ihr selbstzerstörerisches Verhalten beizubehalten, sind unausweichlich.<br />

Voraussetzung für einen selbstbestimmten Therapieprozess und ein tragfähiges Arbeitsbündnis ist die bewusste<br />

und klare Entscheidung, alles zu tun, um dieses selbstzerstörerische „Spiel“ zu beenden und dafür offen und ehrlich<br />

die notwendige Unterstützung des therapeutischen Teams in Anspruch zu nehmen.<br />

Ein weiterer Grund ist die Funktion der <strong>Magersucht</strong> in dem seelischen Haushalt der Patientinnen.<br />

Mit der <strong>Magersucht</strong> wird ein trügerisches Gefühl von Macht, von Triumph über den Körper (und die Angehörigen)<br />

erzeugt und Konflikte und ängstigende Gefühle und Bedürfnisse z.B. im Zusammenhang mit einem weiblichen Körper<br />

<strong>oder</strong> auch tiefliegende Gefühle der Verzweiflung , Trauer, Wut und Sehnsucht werden in den Hintergrund gedrängt<br />

<strong>oder</strong> ganz verdrängt.<br />

Erst die Aufgabe des Symptoms der <strong>Magersucht</strong> bzw. die Bereitschaft, die therapeutisch verlangten Grenzen und<br />

Bedingungen zu akzeptieren, kann die verdrängten Gefühle und Konflikte mobilisieren, sodass sie in der Behandlung<br />

erlebt, verstanden und bearbeitet werden können.<br />

► Behandlungsziele<br />

Das Ziel einer stationären Krankenhausbehandlung, die eine Behandlungsepisode in einem Gesamtbehandlungsplan,<br />

der je nach Bedarf ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlungseinheiten umfassen kann, darstellt,<br />

ist eine körperliche und seelische Stabilisierung mit den Mitteln des Krankenhauses.<br />

Diese sollte ausreichend sein, um der Patientin zu ermöglichen, den Prozess der Normalisierung ihres Essverhaltens<br />

nach der Entlassung mit Hilfe der in der Regel notwendigen ambulanten Psychotherapie fortzusetzen.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> <strong>oder</strong> <strong>Magersucht</strong><br />

<strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

Zu Beginn der Behandlung steht vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Erkrankung und den zu Grunde<br />

liegenden Problemen das Ziel der Klärung des Überweisungskontextes und der Motivation der Patientin.<br />

Klärung des Überweisungskontextes bedeutet, dass wir die Frage klären, wer will was von wem?<br />

Kommt die Patientin mit einem eigenen Wunsch und Auftrag <strong>oder</strong> ist sie mehr <strong>oder</strong> weniger gegen ihren Willen<br />

von Angehörigen <strong>oder</strong> behandelnden Ärzten in die <strong>Klinik</strong> geschickt worden? Wir stellen z.B. die Frage: Zu wie viel<br />

Prozent kommen Sie zu uns, weil Sie sich dazu entschieden haben und zu wie viel Prozent, weil ihre Eltern <strong>oder</strong> ihr<br />

Arzt, es von Ihnen erwarten?<br />

Klärung der Motivation bedeutet, dass wir uns ein genaues Bild machen müssen über die meist widersprüchliche<br />

Motivationslage der Patientin.<br />

Häufig tobt in ihr ein gnadenloser Kampf zwischen Kräften, die sich ein selbstbestimmtes und gesundes Leben wünschen<br />

und auf Hilfe und Unterstützung hoffen und Kräften, die aus Angst, Verzweiflung, Wut <strong>oder</strong> destruktiver Rache<br />

an der Symptomatik festhalten und keinerlei Hilfe zulassen wollen.<br />

Es gibt Patientinnen, die mit der Entscheidung zu uns kommen, aus den Teufelskreisen der Erkrankung aussteigen<br />

zu wollen und bereit sind, hier jede Hilfe und Unterstützung anzunehmen.<br />

Andere Patientinnen wiederum sind widersprüchlich und zerrissen, was sich bezüglich ihrer Motivation und ihres<br />

Wunsches nach Hilfe in einem „Wasch mich, aber mach mich nicht nass – Verhalten“ äußert.<br />

Hier müssen wir gemeinsam mit der Patientin einen Therapieplan entwickeln, der diesen Ängsten Rechnung trägt,<br />

aber auch die gewünschte Entwicklung ermöglicht.<br />

Im Folgenden lesen Sie die Aussagen von zwei magersüchtigen Patientinnen, die wir gebeten haben, die Gründe,<br />

die gegen eine Therapie sprechen bzw. verdeutlichen, wofür die <strong>Magersucht</strong> gut ist, aufzuschreiben.<br />

Frau H.T., 46 Jahre, seit 25 Jahren magersüchtig, schreibt:<br />

Gründe die gegen eine Therapie sprechen:<br />

1. Ich muss mein Symptom aufgeben und damit meine bisherigen Möglichkeiten die Welt zu ertragen.<br />

2. Das „Nein“, was ich bisher über die Körpersprache und mit mir selber ausgemacht habe, muss ich nun durch<br />

Auseinandersetzungen in die Beziehung bringen. Das erfordert von mir viel Kraft. Ich muss mich der Angst<br />

aussetzen, angegriffen und zurechtgewiesen zu werden, evtl. Für mein „Nein“ abgelehnt und allein gelassen<br />

zu werden.<br />

3. Mein „Nein“, zu Beziehungen kann ich nicht beibehalten, muss mich zumindest auf die Beziehungen mit dem<br />

Therapeuten einlassen, was alle Ängste von<br />

abgelehnt werden<br />

zu enttäuschen<br />

selber enttäuscht und verlassen werden<br />

zu dumm zu sein<br />

zugeben zu müssen, Fehler zu machen<br />

mich im anderen zu verlieren<br />

mich minderwertig zu fühlen<br />

nicht zu genügen<br />

den anderen auf die Nerven fallen<br />

mich als gierig und unersättlich zu erkennen<br />

in einen Streit zu geraten, den ich vernichtend erlebe<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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mich ausgeliefert fühlen<br />

Macht über mich zu verlieren<br />

mich mit der Unsicherheit auseinandersetzen – wie viel darf ich nehmen, was muss ich geben?<br />

verletzt zu werden<br />

für lästig und aufdringlich befunden zu werden<br />

zu langweilig und uninteressant zu sein<br />

mich zu blamieren<br />

mich zu schämen<br />

die Kontrolle zu verlieren<br />

Gefühle zu fühlen, die nicht erwidert werden.<br />

4. Ich muss den Teil in mir den ich verleugnet habe, den ich versucht habe, auszuhungern, begegnen, den Teil<br />

den ich an mir nicht mag und ihn auch noch in der Beziehung mit jemand anderen aushalten.<br />

5. Ich muss mir und anderen eingestehen, dass ich es nicht alleine schaffe, dass ich Hilfe brauche und muss<br />

auch dann dabei bleiben, wenn es besonders für meine Arbeitskollegen unbequem wird und sie mich verunsichern<br />

wollen.<br />

6. In meiner Schwäche liefere ich mich den Kollegen aus, was mich angreifbar, verletzbar und manipulierbar<br />

macht.<br />

7. Meine bisherige Art, wie ich mich und meine Umgebung wahrgenommen habe, könnte sich als Illusion herausstellen<br />

und mir den Grund unter den Füßen entziehen.<br />

8. Ich habe Angst vor den Veränderungen, weil ich nicht weiß, wohin sie mich führen. Das was ich hatte, war<br />

wenigstens vertraut und gab mir eine gewisse Sicherheit.<br />

9. Ich habe Angst in ein Raster gesteckt zu werden, das für mich nicht passt und mich einengt und festlegt.<br />

10. Die Spannungszustände könnten in der Therapie größer werden und ich kann nicht zu alten Methoden zurückgreifen.<br />

Wo bleibe ich damit?<br />

11. Ich werde von einem Menschen so abhängig, das ich nur noch von einer Stunde zur anderen lebe und das<br />

Leben dazwischen als schrecklich leer erlebe.<br />

12. Ich tue mich schwer damit, dass ich Dinge die in der Therapie aufgerissen werden, solange mit mir herumtragen<br />

muss, um sie erst in der nächsten Stunde loswerden zu können.<br />

13. Weiß der Therapeut, was er tut? Es kann auch schief gehen.<br />

14. Es wird wehtun!!!<br />

15. Ich muss das Risiko eingehen, ihm zu vertrauen, ohne zu wissen, was dabei herauskommt.<br />

16. Ich muss einen Seelenstriptease vollbringen, was mit viel Scham und Angst verbunden ist.<br />

17. Werde ich diesmal wieder in etwas verstrickt, was sich nur in einem zerstörerischen Befreiungsakt lösen<br />

lässt?<br />

18. Ich muss mich vermehrt Auseinandersetzungen stellen.<br />

19. Mit der Entwicklung meines Willens werden jede Menge Ängste auftauchen.<br />

20. Man kann mir als „Gesunde“ noch mehr aufladen, wenn ich es nicht schaffe „Nein“ zu sagen.<br />

21. Ohne meine „Essstörung“ fehlt mir die äußere Kontrolle über meinen inneren Seelenzustand. Es wird damit<br />

für mich viel schwerer greifbar.<br />

22. In der Therapie kann ich meine bisherige Strategie, die Dinge heimlich und für mich alleine zu erledigen, nicht<br />

beibehalten. Mit dem Offenlegen sind sie für andere auch viel leichter zu enttarnen. Etwas offen auszutragen,<br />

bedeutet auch immer kritisiert werden zu können, bedeutet auch einen Klaps auf die Finger zu bekommen,<br />

zurechtgewiesen und gerügt zu werden.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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23. Ich muss mich mit meinen Gefühlen zeigen, was Scham und neue Ängste auslösen kann. Die Gefühle könnten<br />

mich überschwemmen, aber genauso gut könnten auch gar keine da sein, was in mir das Gefühl entstehen<br />

ließe, dem Anderen unnötige Zeit gestohlen zu haben.<br />

Diese Patientin hat sich schließlich für eine Therapie entschieden und hat ihr Gewicht langsam aber sicher auf Normalgewicht<br />

gesteigert.“ Und das bei einer schon 25 Jahre andauernden „chronifizierten“ <strong>Magersucht</strong>!<br />

Die 20-jährige K. S. schreibt:<br />

Wozu ist die <strong>Magersucht</strong> gut?<br />

„Fangen wir bei der Familie an: Durch meine Essstörung haben wir für uns entdeckt, wie wertvoll wir füreinander<br />

sind. Wir unternehmen Ausflüge zusammen, sehen uns Filme an usw., wobei es von allen Beteiligten mit Begeisterung<br />

aufgenommen wird, statt von einem aufgezwungen zu sein.<br />

Meine Eltern haben sich im Kampf gegen den „gemeinsamen Feind“ angenähert.<br />

Mama fing an, nicht nur mir, sondern auch ihr Verhalten zu hinterfragen. Ich fühle mich nun in meinen Problemen<br />

ernst genommen. Sie werden nicht mehr als Hirngespinste betrachtet.<br />

Papa kümmert sich mehr um das Familienleben.<br />

So fürchte ich innerlich, dass, sobald ich ein Normalgewicht erreiche, dieses Gefühl der Kostbarkeit des Familienlebens<br />

zurückgeht. Es kann ja folgendes sein: Ich brauche meine Eltern weniger als Unterstützung und lasse mich<br />

seltener blicken. Mein Vater flüchtet wieder an seinen Fernseher, meine Mutter versinkt in Selbstmitleid und<br />

macht mir wieder andauernd Vorwürfe, und mein Bruder hängt nur mit den Kumpels herum.<br />

Durch meine <strong>Magersucht</strong> habe ich meine Eltern dazu gezwungen, mir ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, mehr<br />

Anlehnung und Rat anzubieten.<br />

Ihre Aufmerksamkeit und ihr Beistand ist etwas, das ich mir innerlich immer gewünscht habe.<br />

Ich habe mich nach außen hin aber genau gegensätzlich verhalten: Schroff, abweisend, verschlossen, weil ich mich<br />

vor der damit verbundenen Nähe fürchtete.<br />

So bekomme ich den Beistand, ohne mich öffnen zu müssen <strong>oder</strong> darum zu bitten. Das fällt schwer, denn damit<br />

würde ich zeigen, wie abhängig ich bin…<br />

Deshalb fürchte ich, dass ich ohne Essstörung von den Eltern nicht mehr unterstützt werde; da ich nicht danach<br />

frage und Distanz signalisiere.<br />

Die <strong>Magersucht</strong> ist ferner dazu da, dass ich mir selber jeden Tag aufs Neue beweisen kann, dass mein Ehrgeiz und<br />

meine Disziplin noch da sind. Es sind Eigenschaften, über die ich mich gerne definiere und bei denen ich jedoch in<br />

ständiger Angst und Unsicherheit lebe, dass sie verschwinden, sobald ich aufhöre, sie jeden Tag auf die Probe zu<br />

stellen.<br />

Ich fürchte, dass, sobald die Begrenzung des Essens vorbei ist, mein Essverhalten ins Gegenteil umschlägt – Frustessen.<br />

Dies ist auch ein Gespenst der Vergangenheit.<br />

Mir hat das Leben bis jetzt keine Freude bereitet. Ich war immer in der Planung und immer in Sorgen und Gedanken<br />

und nie in der Gegenwart. Ich habe Phasen der Antriebslosigkeit, in denen alles sinnlos erscheint, und die<br />

Hilflosigkeit und Wut, deren ich mir selbst nicht bewusst war, mussten irgendwie zum Ausdruck kommen. Dann<br />

habe ich gehungert.<br />

Wenn ich nicht mehr hungere, muss ich mich dieser Freudlosigkeit stellen.<br />

Ich hungere, wenn ich mich schlecht fühle. Oft habe ich Schwierigkeiten, mich mitzuteilen, habe ein starkes Mitteilungsbedürfnis.<br />

Es staut sich auf. Ich hungere, um das Empfinden dumpf zu stellen.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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Ich hungere, um mir einen Tag mit weniger Aktion zu gönnen. Meine Hauptangst ist, wenn ich normalgewichtig bin,<br />

würde kein Grund mehr bestehen, auf meinen Körper zu hören und aufzupassen.<br />

Wie geht es mir? Das wäre egal, ich bin „normal“, muss also „normal“ funktionieren.<br />

Ich habe die <strong>Magersucht</strong> gebraucht, um auf mich hören zu lernen“.<br />

Es hat sich uns bewährt, nicht unreflektiert und ohne sorgfältige Abstimmung der „armen magersüchtigen Patientin“<br />

helfen zu wollen und zu wissen, was für sie gut ist, - das führt in der Regel nur zu Widerstand, Trotz und Verweigerungsverhalten<br />

(nicht nur bei magersüchtigen Patientinnen, sondern bei den meisten Menschen!), sondern<br />

sorgfältig und respektvoll zu klären, ob die Patientin uns einen Auftrag geben will, der auch uns sinnvoll und durchführbar<br />

erscheint – <strong>oder</strong> nicht.<br />

Die Behandlungsziele sind demnach gestuft:<br />

- Klärung der Motivation eine konsequente körperlich-seelische Entwicklung anzustreben,<br />

- Klärung der Lebensziele und Therapieziele, Abstimmung klarer und widerspruchsfreier Aufträge.<br />

- Klärung der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Gewichtszunahme.<br />

Wenn die Voraussetzung gut abgestimmter Therapieziele und Therapieaufträge erfüllt ist, kann die psychotherapeutische<br />

Arbeit im engeren Sinne mit folgenden Zielen beginnen:<br />

Erforschung der individuellen lebensgeschichtlich bedingten Muster des Umgangs mit Gefühlen, Bedürfnissen,<br />

Wünschen, Konflikten, Belastungen, Erwartungen, Anforderungen<br />

Vermittlung seelisch-körperlicher Zusammenhänge und Wechselwirkungen<br />

Auseinandersetzung mit und Verarbeitung von belastenden Lebenserfahrungen<br />

Verbesserung der Gefühl- und Körperwahrnehmung<br />

Wahrnehmung der Belastungsgrenzen<br />

Abbau von überfordernden Leistungsidealen<br />

Verbesserung der Entspannungsfähigkeit<br />

Verbesserung der Fähigkeit, Hilfe annehmen zu können, Schwächen und Hilfsbedürftigkeit als Teil einer Persönlichkeit,<br />

die immer sowohl Stärken als auch Schwächen hat, selbstverständlich zu akzeptieren<br />

Verbesserung von Kommunikation, Abgrenzung- und Konfliktfähigkeit<br />

►Beispiel eines Behandlungsverlaufes:<br />

Eine 22 jährige Patientin, in Ausbildung zur Bürokauffrau, Frau A. litt seit 6 Jahren unter einer Anorexie. Sie war<br />

1,60m groß, wog 40 kg, d.h. der Bodymaßindex wies mit 15.6 auf das deutliche Untergewicht hin (Normalbereich<br />

18,5.24, 9).<br />

Sie kam zur ambulanten Erstuntersuchung in Begleitung ihrer Mutter. Die Patientin selbst erschien abweisend, einsilbig,<br />

unzugänglich und zeigte kein Interesse an einer stationären Behandlung. Die Mutter war verzweifelt, hilflos.<br />

Alle bisherigen Bemühungen der Eltern und des Hausarztes waren erfolglos geblieben.<br />

Wir informierten die Patientin ausführlich über unsere Behandlungsvorstellungen, insbesondere darüber, dass wir<br />

sorgfältig mit ihr jeden Behandlungsschritt abstimmen werden und die Behandlung nur dann durchführen, wenn<br />

wir von ihr einen stimmigen Auftrag erhalten und schlugen ihr einen 1-2wöchigen „unverbindlichen“ Aufenthalt in<br />

der <strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong> vor.<br />

Darauf konnte sich die Patientin einlassen.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> <strong>oder</strong> <strong>Magersucht</strong><br />

<strong>Rhein</strong>-<strong>Klinik</strong><br />

Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie<br />

Dieser einwöchige Aufenthalt führte dazu, dass die Patientin sich grundsätzlich eine Behandlung bei uns vorstellen<br />

konnte. Allerdings waren ihre Vorstellungen über ihre Ziele noch sehr widersprüchlich und ihre Fähigkeit und Bereitschaft,<br />

sich auf einen konstruktiven Entwicklungsprozess einzulassen, noch wenig entwickelt.<br />

Wir vereinbarten deshalb mit ihr eine weitere stationäre Behandlung von ca.6 Wochen.<br />

In diesem zeitlich klar begrenzten Aufenthalt luden wir sie ein, mit uns untersuchen, welche mehr <strong>oder</strong> weniger<br />

bewussten Gründe, sie für ihr magersüchtiges Verhalten hat und welche Befürchtungen sie mit einem Gesundungsprozess<br />

verbindet.<br />

Ziel dieser zeitlich klar begrenzten Behandlung war es auch, Frau A. erleben zu lassen, wie stationäre Psychotherapie<br />

die zwischenmenschlichen Prozesse in der Stationsgemeinschaft nutzt, um die Zusammenhänge zwischen<br />

Symptomen und innerseelischen und zwischenmenschlichen Problemen deutlich zu machen und die Fähigkeiten zu<br />

fördern, diese zu lösen.<br />

Das Behandlungsangebot für Frau A. umfasste therapeutische Einzelgespräche, eine Betreuung durch eine Bezugspflegekraft,<br />

Anwendungen in der Physikalischen Therapie mit Massagen und Krankengymnastik sowie Großgruppen,<br />

Infogruppen und Stationsversammlungen.<br />

Frau A. nahm dann auch die Möglichkeit eines Familiengesprächs mit den Eltern und ihrer Schwester in Anspruch.<br />

Am Ende dieses Aufenthaltes wog Frau A 43 kg, das entspricht einem Bodymaßindex von 16,8.<br />

Frau A. hatte eine stimmige Motivation für eine Psychotherapie, die auch die körperliche Stabilisierung und Normalisierung<br />

des Gewichtes einschließt, entwickelt.<br />

Sie fühlte sich gefestigt genug, ihr Gewicht zu halten, sah sich aber noch nicht in der Lage, selbstständig eine weitere<br />

notwendige Gewichtszunahme zu erreichen.<br />

Frau A. begann eine ambulante Psychotherapie bei einer Therapeutin mit Erfahrungen mit Essstörungen und folgte<br />

unserer Empfehlung einer wöchentlichen Vorstellung und Gewichtskontrolle bei ihrem Hausarzt, der ihre Therapeutin<br />

regelmäßig über die Gewichtsentwicklung informierte.<br />

Nach ca. einem halben Jahr hatte sie noch ein halbes Kilo zugenommen und fühlte sich in den Auseinandersetzungen<br />

in der Familie etwas sicherer.<br />

Sie schreckte aber nach wie vor einer Partnerschaft, die sie sich eigentlich ersehnte, aber der sie sich nicht so recht<br />

gewachsen fühlte, zurück. Auch in ihrer Ausbildung als Bürokauffrau litt sie noch unter Versagensängsten und ihrer<br />

Neigung, Konflikten aus dem Weg zu gehen.<br />

In Abstimmung mit ihrer Therapeutin stellten wir die Indikation für eine weitere stationäre Behandlung von 10 Wochen.<br />

Frau A., die Vertrauen in das Behandlungsteam und die Behandlungsmethoden entwickelt hatte, konnte sich sehr<br />

motiviert auf die Behandlung einlassen. Mit Unterstützung der Essgruppen, ihres Stationsarztes und ihrer Bezugspflege<br />

– und den Mitpatienten! gelang es ihr, kontinuierlich zuzunehmen. Am Ende der Behandlung wog sie 48 kg,<br />

dies entspricht einem BMI von 18,7. In den Einzel- und Gruppentherapien sowie in der Skillsgruppe setzte sie sich<br />

intensiv mit den durch die körperlichen Veränderungen und die zwischenmenschlichen Erfahrungen von Nähe und<br />

Auseinandersetzung ausgelösten Gefühle und Konflikte auseinander, stärkte ihre zwischenmenschlichen und kommunikativen<br />

Fähigkeiten, verbesserte ihre Beziehung zu sich selbst und entwickelte zunehmend zuversichtliche<br />

Zukunftsperspektiven.<br />

Im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung setzte sie sowohl die ambulante Psychotherapie als auch<br />

die regelmäßigen Gewichtskontrollen bei ihrem Hausarzt fort.<br />

Stand: 14.05.2013<br />

Bearbeitende: Dr. Eduard Häckl<br />

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