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Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

Richard L. Fellner<br />

Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s<br />

Vorwort<br />

Warum verfasst ein systemischer Psychotherapeut eine Abhandlung<br />

über die Psychoanalyse?<br />

Weil sie die "Mutter" <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen (westlichen) Psychotherapie ist. Ob-<br />

5 wohl die Systemische Familientherapie methodisch und theoretisch weit<br />

von diesen Wurzeln entfernt ist und ihren eigenen, erfolgreichen Weg beschritten<br />

hat (<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit gewidmet),<br />

stellt die Psychoanalyse nach wie vor eine wertvolle theoretische<br />

Basis und Bereicherung für die alltägliche therapeutische Praxis,<br />

10 aber auch zum Verständnis <strong>de</strong>r innerpsychischen Vorgänge allgemein<br />

dar. Die analytischen Theorien sind faszinierend und bereichernd, und<br />

machen das, was die Innenschau im Zuge einer Psychotherapie (welcher<br />

Metho<strong>de</strong> auch immer) zeigt und auf<strong>de</strong>ckt, verstehbarer und vor allem<br />

auch in Begrifflichkeiten fassbarer – was eine ganz wesentliche Voraus-<br />

15 setzung für psychische Verarbeitung, Lernen und weiterführen<strong>de</strong> Selbsterkenntnis<br />

ist.<br />

Auch heute ist es sinnvoll und für ein tieferes Verständnis <strong>de</strong>s eigenen<br />

Seelenlebens hilfreich, die Grundlagen <strong>de</strong>r Psychoanalyse zu kennen,<br />

wenn auch die (klassisch angewandte) Metho<strong>de</strong> selbst mittlerweile über-<br />

20 holt, ja in manchen Bereichen sogar unzeitgemäß anmutet. Insbeson<strong>de</strong>re<br />

in <strong>de</strong>n verfeinerten Techniken und Anwendungsbereichen wie psychoanalytischer<br />

Sozialtherapie, <strong>de</strong>r psychoanalytischen Kin<strong>de</strong>rtherapie, <strong>de</strong>r<br />

psychoanalytischen Gruppentherapie und <strong>de</strong>r psychoanalytischen Psychotherapie<br />

hat sie nach wie vor ihre Be<strong>de</strong>utung. Auch von ihrem histori-<br />

25 schen Stellenwert als "Mutter" <strong>de</strong>r unzähligen, direkt o<strong>de</strong>r indirekt aus ihr<br />

hervorgegangenen mo<strong>de</strong>rnen Therapiemetho<strong>de</strong>n her verdient sie es, näher<br />

betrachtet zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Als Basis <strong>de</strong>s Textes dienten diverse von mir verfasste Arbeiten und Aufsätze<br />

zur Psychoanalyse sowie einer von Arthur Brühlmeier. Er hat mir<br />

30 freundlicherweise – und ich möchte ihm an dieser Stelle nochmals meinen<br />

ausdrücklichen Dank dafür aussprechen - gestattet, meine Abhandlung<br />

auf seiner ebenfalls sehr umfassen<strong>de</strong>n Arbeit zur Psychoanalyse<br />

<strong>Freud</strong>s aufzubauen. Ich habe diese dann in Teilbereichen komplett überarbeitet,<br />

um das in meinen Archiven lagern<strong>de</strong> eigene Material zur Metho-<br />

35 <strong>de</strong> ergänzt und bin somit nun in <strong>de</strong>r Lage, eine aktualisierte, und insgesamt<br />

recht <strong>de</strong>taillierte Übersicht über die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Psychoanalyse zur<br />

Verfügung zu stellen.<br />

Ich hoffe beschei<strong>de</strong>n, dass sie Interessierten zu einem besseren Verständnis<br />

<strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> und ihrer Begrifflichkeiten und Psychotherapie-<br />

40 PatientInnen zu einer weiterführen<strong>de</strong>n Vernetzung <strong>de</strong>s in Ihrer Therapie<br />

Erfahrenen dienen möge – welche Metho<strong>de</strong> auch immer dort zur Anwendung<br />

kommen mag.<br />

dsp Richard L. Fellner Wien, im Mai 2004<br />

aus:<br />

http://www.psychotherapiepraxis.at/art/psychoanalyse/psychoanalyse.phtml<br />

1. EINLEITUNG ............................................................................................... 2<br />

1.1. WURZELN UND ENTWICKLUNG DER PSYCHOANALYSE .......................... 2<br />

1.2. DER BEGRIFF "PSYCHOANALYSE" ....................................................... 2<br />

1.3. GRUNDHYPOTHESEN .......................................................................... 2<br />

2. PERSÖNLICHKEITSMODELLE UND MENSCHENBILD .......................... 2<br />

2.1. DAS TOPOLOGISCHE MODELL .............................................................. 3<br />

2.1.1. Das Bewusstsein ................................................................... 3<br />

2.1.2. Das Vorbewusste .................................................................. 3<br />

2.2. DAS STRUKTUR-MODELL .................................................................... 3<br />

2.2.1. Das Es ................................................................................... 3<br />

2.2.2. Das Ich ................................................................................... 3<br />

2.2.3. Das Über-Ich .......................................................................... 3<br />

3. ZUGÄNGE ZUM UNBEWUSSTEN ............................................................ 4<br />

3.1. HYPNOSE ........................................................................................... 4<br />

3.2. DEUTUNG VON FEHLLEISTUNGEN ........................................................ 4<br />

3.3. FREIE ASSOZIATION ............................................................................ 4<br />

3.4. DEUTUNG VON SYMPTOMEN UND VERHALTENSWEISEN ....................... 4<br />

3.5. TRAUMDEUTUNG ................................................................................. 4<br />

3.6. PROJEKTIVE TESTS ............................................................................ 4<br />

4. TRIEBLEHRE .............................................................................................. 4<br />

4.1. LIBIDO ................................................................................................ 5<br />

5. DIE ABWEHRMECHANISMEN .................................................................. 5<br />

5.1. VERDRÄNGUNG .................................................................................. 5<br />

5.2. REGRESSION ...................................................................................... 6<br />

5.3. RATIONALISIERUNG ............................................................................. 6<br />

5.4. PROJEKTION ....................................................................................... 6<br />

5.5. INTROJEKTION .................................................................................... 6<br />

5.6. IDENTIFIKATION ................................................................................... 7<br />

5.7. KONVERSION ...................................................................................... 7<br />

5.8. REAKTIONSBILDUNG ........................................................................... 7<br />

5.9. KOMPENSATION .................................................................................. 7<br />

5.10. AUTOAGGRESSION ........................................................................ 7<br />

5.11. SUBSTITUTION ............................................................................... 8<br />

5.12. REALITÄTSLEUGNUNG / VERLEUGNUNG ......................................... 8<br />

5.13. SUBLIMIERUNG .............................................................................. 8<br />

5.14. VERSCHIEBUNG ............................................................................ 8<br />

5.15. UNGESCHEHEN MACHEN ............................................................... 8<br />

5.16. FLUCHT IN DIE GESUNDHEIT .......................................................... 8<br />

6. DIE PSYCHOSEXUELLE ENTWICKLUNG ............................................... 8<br />

6.1. ORALE PHASE .................................................................................... 9<br />

6.2. ANALE PHASE ................................................................................... 10<br />

6.3. PHALLISCHE PHASE .......................................................................... 10<br />

6.3.1. Ödipuskomplex .................................................................... 11<br />

6.4. LATENZZEIT ...................................................................................... 11<br />

6.5. GENITALE PHASE: PUBERTÄT, ADOLESZENZ, ERWACHSENENSEXUALITÄT<br />

........................................................................................................ 12<br />

7. DIE TRAUMDEUTUNG ............................................................................. 12<br />

7.1. ZWECK UND WESEN DES TRAUMES ................................................... 12<br />

7.2. LATENTER UND MANIFESTER TRAUM, TRAUMDEUTUNG UND<br />

TRAUMARBEIT ................................................................................................... 12<br />

7.3. TRAUMQUELLEN ............................................................................... 14<br />

8. PSYCHOPATHOLOGIE UND THERAPIEZIELE ..................................... 14<br />

8.1. NEUROSEN ....................................................................................... 14<br />

8.2. PHOBIEN .......................................................................................... 15<br />

8.3. ZWANGSNEUROSEN .......................................................................... 15<br />

8.4. VON DER VIELFALT NEUROTISCHEN VERHALTENS .............................. 15<br />

9. DIE PSYCHOANALYTISCHE TECHNIK .................................................. 16<br />

9.1. GRUNDSÄTZLICHE ERWÄGUNGEN ..................................................... 16<br />

9.2. DER ANALYTISCHE VERTRAG ............................................................ 16<br />

9.3. HEILUNGSPLAN UND THERAPEUTISCHE BEZIEHUNG ........................... 16<br />

9.4. DIE PSYCHOANALYTISCHE DIALOGSTRUKTUR (SETTING).................... 16<br />

9.5. ÜBERTRAGUNG UND GEGENÜBERTRAGUNG ...................................... 16<br />

9.6. DIE HEILENDEN WIRKUNGEN ............................................................. 17<br />

9.7. BESONDERE SCHWIERIGKEITEN ........................................................ 17<br />

9.8. DER ABSCHLUSS DER THERAPIE ....................................................... 18<br />

10. METHODENVERGLEICH MIT DER SYSTEMISCHEN THERAPIE .. 18<br />

11. QUELLEN UND ERGÄNZUNGEN ...................................................... 19<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 1 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

45 1. Einleitung<br />

1.1. Wurzeln und Entwicklung <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />

Die Genese <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Metho<strong>de</strong> kann nur im historischen<br />

Kontext verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. So wer<strong>de</strong>n für Ellenberger(1) bereits bei <strong>de</strong>n<br />

Griechen erste Ansätze einer "Forschung nach <strong>de</strong>m Unbewussten" er-<br />

50 kennbar, aber auch schamanistische Techniken sowie gewisse Praktiken<br />

<strong>de</strong>s katholischen Exorzismus o<strong>de</strong>r Mesmer’s Magnetismus wer<strong>de</strong>n als<br />

wichtige methodische Vorläufer <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie erachtet.<br />

Sigmund <strong>Freud</strong> wur<strong>de</strong> am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg<br />

(Mähren) geboren, in <strong>de</strong>m sein Vater als Geschäftsmann tätig war.<br />

55 Die Familie übersie<strong>de</strong>lte 1860 nach Wien, wo <strong>Freud</strong> bis zur Besetzung<br />

Österreichs durch Hitler im Jahre 1938 lebte und wirkte. Er besuchte hier<br />

das Gymnasium, studierte Medizin und arbeitete von 1876 – 1882 als<br />

Assistent im physiologischen Laboratorium von Prof. Ernst Brücke, wo er<br />

sich vor allem mit <strong>de</strong>m Nervensystem nie<strong>de</strong>rer Fischarten beschäftigte.<br />

60 <strong>Freud</strong> setzte seine Arbeit später als Arzt im Allgemeinen Krankenhaus<br />

fort, begleitet von seinen Forschungen, insbeson<strong>de</strong>re über das Zentralnervensystem<br />

<strong>de</strong>s Menschen. Bald galt er in Wien als führen<strong>de</strong>r Neurologe<br />

(Nervenarzt). 1885 fuhr er nach Paris, um sich bei Professor Charcot,<br />

<strong>de</strong>r damals führen<strong>de</strong>n Kapazität auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r Neurologie,<br />

65 weiterzubil<strong>de</strong>n. Bei ihm lernte <strong>Freud</strong> die Hypnose kennen, die damals<br />

von <strong>de</strong>n meisten Psychiatern als Schwin<strong>de</strong>l betrachtet wur<strong>de</strong>, und in diesem<br />

Zusammenhang auch eine damals als Hysterie bezeichnete Krankheitsform,<br />

welche man in Paris mittels <strong>de</strong>r Hypnose mit einigem Erfolg<br />

behan<strong>de</strong>lte. <strong>Freud</strong> setzte die Hypnose zunächst gemeinsam mit Breuer<br />

70 primär zur Befreiung "verklemmter" Affekte ein, verzichtete aber im Laufe<br />

seiner Arbeit zunehmend auf diese suggestive Technik (Grün<strong>de</strong> hiefür<br />

waren u.a. gegen die Hypnose resistente Symptome, die Tatsache, daß<br />

nicht alle Klienten ausreichend suggestibel sind, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> nur umgangen<br />

wer<strong>de</strong>n und einige mehr).<br />

75 Er kehrte 1886 nach Wien zurück und entwickelte als Inhaber einer eigenen<br />

Arztpraxis in einer mehrjährigen, anstrengen<strong>de</strong>n Forscherarbeit die<br />

Psychoanalyse. Die Hypnose ersetzte er dabei zunächst durch die Techniken<br />

• <strong>de</strong>r freien Assoziation,<br />

80 • <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstandsanalyse sowie<br />

• <strong>de</strong>r "Couch-Technik" (zwecks Erleichterung <strong>de</strong>r Übertragung<br />

od. Regression)<br />

als wesentlichste Verfahren. 1896 wur<strong>de</strong> erstmals von ihm <strong>de</strong>r Begriff<br />

"Psychoanalyse" verwen<strong>de</strong>t - in dieser Zeit wird auch die Geburt <strong>de</strong>r mo-<br />

85 <strong>de</strong>rnen Psychotherapie angesetzt. Über Jahrzehnte hinweg verdiente er<br />

<strong>de</strong>n Unterhalt für seine achtköpfige Familie mit Psychoanalysen und<br />

schrieb abends an seinen theoretischen Abhandlungen.<br />

In Wien scharte <strong>Freud</strong> einen Kreis interessierter Ärzte um sich und grün<strong>de</strong>te<br />

mit ihnen (zu Beginn auch mit Adler) und in Zusammenarbeit mit<br />

90 Bleuler und C.G. Jung in Zürich die so genannte "Psychoanalytische<br />

Vereinigung". Er musste lange um <strong>de</strong>ren wissenschaftliche Anerkennung<br />

kämpfen und entwickelte dabei teils auch autoritäre und regelrecht fanatische<br />

Züge. Seine Schriften in<strong>de</strong>s zeichnen sich durch distanzierte wissenschaftliche<br />

Sachlichkeit und eine klassische Sprache aus.<br />

95 Nach <strong>de</strong>r Besetzung Österreichs durch Hitler, bereits schwer gezeichnet<br />

durch Gaumenkrebs (vermutlich eine Folge <strong>de</strong>s jahrzehntelangen Kettenrauchens<br />

von Zigarren) emigrierte <strong>Freud</strong> nach London, wo er 1939 starb.<br />

Die folgen<strong>de</strong> Übersicht über die Metho<strong>de</strong>n und Ansätze <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />

kann natürlich nur einen Abriß über die wichtigsten Aspekte bieten.<br />

100 Sein mittlerweile schon über 100 Jahre alter Ansatz wur<strong>de</strong> von <strong>Freud</strong><br />

selbst im Laufe <strong>de</strong>r Jahrzehnte mehrmals überarbeitet und auch seit seinem<br />

Tod erfuhr die Psychoanalyse eine Weiterentwicklung, Aspekte und<br />

Ansätze, die im letzten Teil dieser Arbeit aufgezeigt wer<strong>de</strong>n sollen. Der<br />

Ansatz <strong>de</strong>r Psychoanalyse war damals völlig neu und revolutionär. Er er-<br />

105 öffnete völlig neue Sichtweisen und weiterführen<strong>de</strong> Denkansätze hinsichtlich<br />

<strong>de</strong>r Heilungsmöglichkeiten für <strong>de</strong>n Menschen. Der daraus folgen<strong>de</strong>,<br />

intensive Diskurs innerhalb <strong>de</strong>r psychoanalytischen Vereinigung,<br />

aber auch <strong>de</strong>r Umgang von <strong>Freud</strong> mit seinen Kritikern führte sodann zu<br />

fortlaufen<strong>de</strong>n Abspaltungen vom "Stamm" Psychoanalyse, immer weite-<br />

110 ren Neuentwicklungen und Ansätzen. Klassische Beispiele hierfür sind<br />

Alfred Adler (Individualpsychologie), Carl Gustav Jung (Analytische Psychologie),<br />

L. Szondi (Schicksalsanalyse), Ludwig Binswanger und<br />

Medard Boss (Daseinsanalyse), Arthur Janov (Primärtherapie) sowie alle<br />

(teilweise marxistisch ausgerichteten) Richtungen <strong>de</strong>r Neo-<br />

115 Psychoanalyse wie z. B. Erich Fromm und Harald Schultz-Hencke.<br />

Die psychoanalytische Theorie ist außeror<strong>de</strong>ntlich komplex und in Teilbereichen<br />

selbst für Fachleute schwer verstehbar. Selbst C.G. Jung flehte<br />

<strong>Freud</strong> nach Jahren <strong>de</strong>r Zusammenarbeit in einem Brief an, er möge ihm<br />

doch erklären, was er eigentlich mit ‘Libido’ meine. Eine abrisshafte Dar-<br />

120 stellung <strong>de</strong>r Psychoanalyse kann daher in je<strong>de</strong>m Falle nur stark vereinfachend<br />

erfolgen und die Arbeit lediglich <strong>de</strong>n Anspruch erheben, eine Einführung<br />

in das psychoanalytische Denken zu geben.<br />

1.2. Der Begriff "Psychoanalyse"<br />

Der Begriff ‘Psychoanalyse’ wird heute in drei Be<strong>de</strong>utungen verwen<strong>de</strong>t:<br />

125 • als tiefenpsychologische Forschungsmetho<strong>de</strong> ("<strong>Freud</strong> gewann<br />

seine psychologischen Erkenntnisse durch Psycho[-<br />

]Analyse.")<br />

• als Inbegriff <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Lehre ("Die Psychoanalyse misst<br />

<strong>de</strong>r Sexualität eine fundamentale Be<strong>de</strong>utung zu.")<br />

130 • als Heilmetho<strong>de</strong> (Therapie-Form) ("Als Psychotherapie-<br />

Metho<strong>de</strong> wird Psychoanalyse empfohlen.")<br />

1.3. Grundhypothesen<br />

Unter einer Hypothese wird eine grundlegen<strong>de</strong> Annahme verstan<strong>de</strong>n,<br />

welche als unbewiesen zu gelten hat, auf welcher aber weitere theoreti-<br />

135 sche Aussagen aufgebaut sein können.<br />

a) Grundlegend für die Psychoanalyse ist die Annahme <strong>de</strong>r ganzen Tiefenpsychologie,<br />

dass es ‘das Unbewusste’ gibt, einen Bereich also, zu<br />

<strong>de</strong>m das Individuum praktisch kaum einen Zugang hat, <strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>ssen<br />

Handlungen stark beeinflusst o<strong>de</strong>r bestimmt (<strong>de</strong>terminiert).<br />

140 Die Annahme eines Unbewussten mit so weit reichen<strong>de</strong>n Wirkungen versetzt<br />

<strong>de</strong>m Glauben <strong>de</strong>s Rationalismus, dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich<br />

vernünftig zu han<strong>de</strong>ln weiß und mittels vernünftigem Han<strong>de</strong>ln auch eine<br />

vernünftige Welt aufbauen kann, einen argen Stoß. Es verwun<strong>de</strong>rt daher<br />

nicht, dass <strong>Freud</strong> damals mit seiner Annahme bei vielen Wissenschaftern<br />

145 und Theoretikern auf Ablehnung stieß.<br />

b) Die zweite grundlegen<strong>de</strong> Hypothese besagt, dass psychisches Geschehen<br />

grundsätzlich kausal <strong>de</strong>terminiert ist, dass also das Psychische<br />

genauso wie das Organische und Mineralische <strong>de</strong>m Gesetz von Ursache<br />

und Wirkung unterworfen ist. Wür<strong>de</strong> man also sämtliche psychische Ur-<br />

150 sachen kennen, könnte man gemäß dieser Grundannahme je<strong>de</strong>s weitere<br />

Verhalten und psychische Geschehen mit Sicherheit voraussagen.<br />

<strong>Freud</strong> wur<strong>de</strong> im materialistischen Geist <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts erzogen<br />

und blieb diesem Denken weitgehend bis an sein Lebensen<strong>de</strong> treu. Er<br />

teilt insofern <strong>de</strong>n typisch materialistischen Reduktionismus, <strong>de</strong>r darin be-<br />

155 steht, dass das Geistige auf das Psychische, das Psychische auf das<br />

Organische und das Organische auf das Mineralische zurückgeführt wird.<br />

Leben, Psychisches und Geistiges sind <strong>de</strong>mnach letztlich insgesamt<br />

Ausflüsse <strong>de</strong>r Materie und können unmöglich unabhängig von dieser bestehen.<br />

Im Rahmen dieses Denkens ist z. B. die Vorstellung eines indivi-<br />

160 duellen Weiterlebens einer prinzipiell vom Körper lösbaren Seele nach<br />

<strong>de</strong>m physischen To<strong>de</strong> un<strong>de</strong>nkbar. Auch wi<strong>de</strong>rspricht diesem Denken<br />

grundsätzlich die Vorstellung, <strong>de</strong>r Mensch könne frei han<strong>de</strong>ln. Wie uns<br />

<strong>Freud</strong>-Forscher mitteilen, kommt das Wort ‘Freiheit’ in <strong>Freud</strong>'s Werken<br />

insgesamt nur sieben Mal vor – und selbst das nur "en passant". Die<br />

165 Vermutung liegt nahe, dass für <strong>Freud</strong> die Unmöglichkeit wirklich freien<br />

Han<strong>de</strong>lns so selbstverständlich war, dass er nicht einmal auf die I<strong>de</strong>e<br />

kam, sich darüber theoretisch zu äußern.<br />

2. Persönlichkeitsmo<strong>de</strong>lle und Menschenbild<br />

Angesichts <strong>de</strong>r Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> ist es heute nicht mehr<br />

170 möglich, von <strong>de</strong>m Menschenbild <strong>de</strong>r Psychoanalyse zu sprechen – dieses<br />

variiert vielmehr nach <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ologischen Position <strong>de</strong>s Analytikers.<br />

Das Menschenbild von Sigmund <strong>Freud</strong>, <strong>de</strong>m »Vater <strong>de</strong>r Psychoanalyse«,<br />

war in <strong>de</strong>r Philosophie <strong>de</strong>s Humanismus und <strong>de</strong>r Aufklärung verwurzelt,<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 2 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

allerdings wur<strong>de</strong> diese Philosophie durch ihn ("Die Menschheit hat ge-<br />

175 wusst, dass sie Geist hat; ich musste ihr zeigen, dass es auch Triebe<br />

gibt") selbst beeinflusst. <strong>Freud</strong>s Menschenbild impliziert einen "psychischen<br />

Apparat", ist also zum Teil als mechanistisch zu bezeichnen.<br />

Der Mensch zeichnet sich durch elementare, im Unbewussten gegrün<strong>de</strong>te<br />

Triebregungen aus, die auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher<br />

180 Bedürfnisse zielen und quasi <strong>de</strong>n "Urgrund" <strong>de</strong>r menschlichen Persönlichkeit<br />

bil<strong>de</strong>n. Auch heute wird in <strong>de</strong>r Psychoanalyse hierbei <strong>de</strong>r Sexualität<br />

eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beigemessen. Bedingt durch die Irrationalität<br />

<strong>de</strong>r Triebstruktur wird ein Determinismus angenommen, <strong>de</strong>r letztlich<br />

die menschliche Willensfreiheit in Frage stellt. Das Ich befin<strong>de</strong>t sich per-<br />

185 manent in einem Spannungsfeld zwischen Trieb-, Realitäts- und Gewissensansprüchen<br />

– <strong>Freud</strong> beschreibt das Ich als eine "Angststätte"(1) und<br />

betrachtet <strong>de</strong>n Menschen als Konfliktwesen – ständig überfor<strong>de</strong>rt beim<br />

Versuch, zwischen diesen Polaritäten zu vermitteln. In <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne erfolgt<br />

zusätzlich noch eine ständige Konfrontation mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ns-<br />

190 ten apokalyptischen Gefahren.<br />

Kunst, Religion, ja alle geistigen Produktionen sind lediglich Produkte <strong>de</strong>r<br />

Triebsublimierung und entsprechen <strong>de</strong>n analogen Kompromissbildungen<br />

beispielsweise <strong>de</strong>s Traumes und <strong>de</strong>r Neurose.<br />

Das Menschenbild ist jedoch auch heute noch nicht abgeschlossen, wird<br />

195 vielmehr bei je<strong>de</strong>r Analyse vom Analysan<strong>de</strong>n für sich neu er- o<strong>de</strong>r wenigstens<br />

bearbeitet (biografische Rekonstruktion) – was einen entsprechen<strong>de</strong>n<br />

Umgang <strong>de</strong>s Analytikers mit <strong>de</strong>ssen Gegenübertragung voraussetzt.<br />

So ist etwa gegenwärtig eine Weiterdifferenzierung zu einem<br />

höchst komplexen Personenbegriff festzustellen. Wichtig scheint es<br />

200 auch, das i<strong>de</strong>ologiekritische Potenzial <strong>de</strong>r Psychotherapie zu erwähnen<br />

(<strong>Freud</strong>, Reich!), da sie über einen ständigen Prozess immer neuer Entmystifizierungen<br />

zu einem immer offeneren Menschenbild führen kann.<br />

2.1. Das topologische Mo<strong>de</strong>ll<br />

Auf <strong>de</strong>r Suche nach Bereichen, in <strong>de</strong>nen sich psychisches Geschehen<br />

205 abspielt, <strong>de</strong>finierte <strong>Freud</strong> drei Schauplätze:<br />

2.1.1. Das Bewusstsein<br />

Was mit "Bewusstsein" gemeint ist, weiß je<strong>de</strong>r vermutlich aus eigenem<br />

Erleben. Eine genauere Charakterisierung dieses so geheimnisvollen<br />

Phänomens jedoch (nämlich, dass eine Wesenheit um ihre eigene Exis-<br />

210 tenz weiß und auch weiß, dass sie es weiß) erfor<strong>de</strong>rt sehr weit reichen<strong>de</strong><br />

philosophische Erwägungen, die <strong>de</strong>n Rahmen dieser Übersicht sprengen<br />

wür<strong>de</strong>n.<br />

2.1.2. Das Vorbewusste<br />

Unter <strong>de</strong>m Vorbewussten versteht <strong>Freud</strong> jenen Bereich von Inhalten, die<br />

215 zwar im Augenblick nicht bewusst, aber grundsätzlich (etwa durch "Konzentration")<br />

<strong>de</strong>m Bewusstsein zugänglich gemacht wer<strong>de</strong>n können, also<br />

das Gedächtnis, die Erinnerung, <strong>de</strong>n Sprachschatz und erworbene Fertigkeiten.<br />

2.1.3. Das Unbewusste<br />

220 Das Unbewusste ist jener Bereich, in <strong>de</strong>m sich Inhalte, die nicht ins Bewusstsein<br />

gelangt sind o<strong>de</strong>r kommen können, aber auch alles Verdrängte<br />

befin<strong>de</strong>t.<br />

Innerhalb <strong>de</strong>s Unbewussten lassen sich nach ihrer Herkunft zwei Anteile<br />

unterschei<strong>de</strong>n:<br />

225 • die ererbte biologische Grundausstattung <strong>de</strong>s Menschen, insbeson<strong>de</strong>re<br />

die biologischen Grundtriebe (Hunger, Durst, Sexualtrieb,<br />

etc.)<br />

• Wünsche, Strebungen, Vorstellungen, Erlebnisse etc., die im<br />

Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung irgendwann einmal bewusst waren,<br />

230 aber aus <strong>de</strong>m Bewusstsein verdrängt wur<strong>de</strong>n, weil sie mit<br />

Realitäts- und Erziehungsansprüchen in Konflikt gerieten.<br />

Das Unbewusste beeinflusst unsere Handlungen, unsere Denkvorgänge<br />

und Emotionen, setzt aber <strong>de</strong>m bewussten Versuch, sich an sie zu erinnern,<br />

Wi<strong>de</strong>rstand entgegen. Im Gegensatz zum Vorbewussten und Be-<br />

235 wussten haben die unbewussten psychischen Inhalte dadurch keinen direkten<br />

Zugang zum Bewusstsein, son<strong>de</strong>rn sie sind nur aus ihren Auswirkungen<br />

auf Bewusstseinsvorgänge (wozu z. B. die Fehlleistungen zählen)<br />

o<strong>de</strong>r durch bestimmte Techniken (z. B. Hypnose, Traum<strong>de</strong>utung<br />

u.a.) zu erschließen. Dazu später mehr.<br />

240 2.2. Das Struktur-Mo<strong>de</strong>ll<br />

<strong>Freud</strong> differenzierte später sein topografisches Mo<strong>de</strong>ll, als er nach <strong>de</strong>n<br />

Instanzen fragte, welche für psychisches Geschehen verantwortlich sind,<br />

also z. B.: Wer bewirkt was? Er betrachtete das Seelenleben als einen<br />

aus Einzelteilen zusammengesetzten Apparat (die Lehre vom psychi-<br />

245 schen Apparat ist eine <strong>de</strong>r grundlegendsten Anschauungen <strong>de</strong>r Psychoanalyse).<br />

<strong>Freud</strong> unterschei<strong>de</strong>t hierbei drei Instanzen:<br />

2.2.1. Das Es<br />

Das Es hat zwei Aspekte: zum einen ist es das natürlich Gegebene wie<br />

ererbte und konstitutionelle Anlagen, Geschlechtszugehörigkeit, Triebe<br />

250 und archaische Bil<strong>de</strong>r (bei Jung: Archetypen). Zum an<strong>de</strong>ren ist es das<br />

Auffangbecken von allem Verdrängten, das weiterhin aus <strong>de</strong>m Es heraus<br />

wirkt und psychisches Geschehen beeinflusst.<br />

Das Es ist mit einem Hexenkessel vergleichbar: einem Konglomerat von<br />

Triebregungen, Anlagen, Wünschen, Gefühlen, Strebungen ohne Logik,<br />

255 ohne Moral, ohne Sinn für Ordnung und Maß, ohne Rücksicht sogar auf<br />

die Selbsterhaltung, einzig <strong>de</strong>m Bestreben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung<br />

verpflichtet. Dieses vorherrschen<strong>de</strong> Prinzip <strong>de</strong>s Es wird als<br />

Primärvorgang bezeichnet, <strong>de</strong>ssen Ziel die unmittelbare Triebbefriedigung<br />

o<strong>de</strong>r Wunscherfüllung ist (Lustprinzip). Seine Arbeitsweise ist aus<br />

260 seinen ins Bewusstsein vordringen<strong>de</strong>n Abkömmlingen wie Träume, Tagträume,<br />

Halluzinationen, freie Assoziationen etc. ersichtlich.<br />

<strong>Freud</strong> stellte sich vor, dass <strong>de</strong>r Mensch bei <strong>de</strong>r Geburt ganz Es ist, und<br />

sich die bei<strong>de</strong>n Ich-Instanzen erst im Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung herausbil<strong>de</strong>n.<br />

Diese Vorstellung gilt heute allerdings als überholt - insbeson<strong>de</strong>re<br />

265 <strong>de</strong>r Säuglingsforschung verdanken wir Forschungsergebnisse, die ihr<br />

z.T. <strong>de</strong>utlich wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />

2.2.2. Das Ich<br />

Das Ich entwickelte sich aus <strong>de</strong>m Es und vermittelt zwischen Es (das<br />

ausschließlich <strong>de</strong>m Lustprinzip verpflichtet ist und von <strong>de</strong>m es darüber<br />

270 hinaus auch abhängig ist und beeinflusst wird), <strong>de</strong>m Über-Ich und <strong>de</strong>r<br />

äußeren Realität, die sich auf <strong>de</strong>m Realitätsprinzip grün<strong>de</strong>t. Meist sind<br />

mit <strong>de</strong>n Instrumenten <strong>de</strong>s Ich (Sinneswahrnehmung, die Motorik und alle<br />

bewussten Denk- und Willensvollzüge) aber nur Kompromisse möglich,<br />

die manchmal auch nur in neurotischer Form gelingen. Vorherrschen<strong>de</strong>s<br />

275 Prinzip <strong>de</strong>s Wachbewusstseins ist <strong>de</strong>r Sekundärvorgang, <strong>de</strong>ssen Ziel die<br />

Bewältigung von Problemen <strong>de</strong>r Realität zur mittelbaren Triebbefriedigung<br />

(Realitätsprinzip) und <strong>de</strong>ssen Gesetzmäßigkeiten die <strong>de</strong>s logischen<br />

Denkens sind. Dem Ich kommt auch die Aufgabe <strong>de</strong>r Selbsterhaltung zu,<br />

es ist ein Träger (Reservoir) <strong>de</strong>r psychischen Energie, <strong>de</strong>r Libido, und<br />

280 entschei<strong>de</strong>t, welche Objekte mit Libido besetzt wer<strong>de</strong>n (siehe Trieblehre).<br />

Im ersten topologischen Mo<strong>de</strong>ll wür<strong>de</strong> die Ich-Instanz das Bewusste und<br />

Vorbewusste umfassen.<br />

2.2.3. Das Über-Ich<br />

Beim Über-Ich han<strong>de</strong>lt es sich um die kontrollieren<strong>de</strong>, mahnen<strong>de</strong> und<br />

285 strafen<strong>de</strong> Instanz, also um das, was man gängig (aber doch zu wenig<br />

genau) als ‘Gewissen’ bezeichnet. Es entsteht im Zuge <strong>de</strong>s ödipalen<br />

Konflikts durch Introjektion elterlicher Gebote und Verbote. <strong>Freud</strong> sieht im<br />

Über-Ich also, vereinfacht gesagt, die Verinnerlichung von Normen und<br />

Werten <strong>de</strong>r Gesellschaft, vorwiegend vermittelt durch die elterliche Erzie-<br />

290 hung.<br />

Abgesehen von <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Strukturmo<strong>de</strong>lls (auch 'zweites topologischen<br />

Mo<strong>de</strong>ll' genannt) aus <strong>de</strong>m 1. topologischen Mo<strong>de</strong>ll besteht eine<br />

Verbindung zwischen bei<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen auch insofern, als alle drei Instanzen<br />

(Es, Ich, Über-Ich) alle drei psychischen Qualitäten (unbewusst, vor-<br />

295 bewusst, bewusst) annehmen können. Die Zuordnung von Instanzen und<br />

psychischen Qualitäten ist jedoch nicht ein<strong>de</strong>utig: das Verdrängte ist unbewusst,<br />

entstammt aber <strong>de</strong>m Ich (unakzeptierbare Wünsche und Vorstellungen).<br />

Das Über-Ich, das sich durch <strong>de</strong>n Erziehungseinfluss aus<br />

<strong>de</strong>m Ich entwickelt, ist ebenfalls teilweise unbewusst (z. B. unbewusste<br />

300 Schuldgefühle).<br />

Auf <strong>de</strong>r Basis all dieser Auffassungen formuliert <strong>Freud</strong> seine Vorstellung<br />

<strong>de</strong>r psychischen Gesundheit: ‘Psychisch korrekt’ sind <strong>de</strong>mnach solche<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 3 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

Handlungen, in welchem das Ich die Regungen aus <strong>de</strong>m Es, die Ansprüche<br />

<strong>de</strong>s Über-Ich und die Erfor<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Realität in Einklang zu brin-<br />

305 gen vermag.<br />

3. Zugänge zum Unbewussten<br />

Es liegt in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Unbewussten, dass es als solches nicht direkt<br />

beobachtbar ist. Man ist vielmehr auf <strong>de</strong>ssen Äußerungen angewiesen,<br />

<strong>de</strong>ren Deutungen dann Rückschlüsse auf das angenommene Unbewuss-<br />

310 te ermöglichen. Hierzu entwickelte <strong>Freud</strong> mehrere Metho<strong>de</strong>n:<br />

3.1. Hypnose<br />

<strong>Freud</strong> machte die grundlegen<strong>de</strong> Ent<strong>de</strong>ckung, dass ein Mensch durch<br />

Hypnose nicht bloß in seinen Willenshandlungen beeinflussbar ist, son<strong>de</strong>rn<br />

dass er im hypnotischen Trance-Zustand auch in <strong>de</strong>r Lage ist, sich<br />

315 an frühere Erlebnisse zu erinnern, von <strong>de</strong>nen er im Wachzustand nichts<br />

mehr weiß.<br />

Dabei zeigte sich sogar, dass die neurotischen Symptome (z. B. hysterische<br />

Anfälle) eine Zeit lang verschwan<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Klient zuvor gewisse<br />

belasten<strong>de</strong> Erlebnisse unter Einwirkung <strong>de</strong>r Hypnose wie<strong>de</strong>r erinnern<br />

320 und erzählen konnte. Daraus entstand dann ein wesentlicher Pfeiler <strong>de</strong>r<br />

Psychoanalyse: die Unschädlichmachung belasten<strong>de</strong>r und ins Unbewusste<br />

verdrängter frühkindlicher Erlebnisse durch <strong>de</strong>ren Bewusstmachung.<br />

Wie <strong>Freud</strong> allerdings feststellen musste, stellten sich die neurotischen<br />

325 Symptome nach einer gewissen Zeit wie<strong>de</strong>r ein, weshalb er <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n<br />

Konflikt nicht als gelöst betrachten konnte. Er gab darum die Anwendung<br />

<strong>de</strong>r Hypnose schon bald wie<strong>de</strong>r auf. Heute wird die Hypnose in<br />

einem Randbereich <strong>de</strong>r Psychoanalyse teilweise wie<strong>de</strong>r praktiziert und<br />

stellt als „Hypnotherapie“, wesentlich beeinflusst und weiterentwickelt von<br />

330 Therapeuten wie Milton H. Erickson, in vielen Län<strong>de</strong>rn sogar eine eigenständige,<br />

anerkannte Psychotherapiemetho<strong>de</strong> dar. Verfechter <strong>de</strong>r Hypnose<br />

bzw. Hypnotherapie werfen <strong>Freud</strong> vor, er habe die Technik <strong>de</strong>r<br />

Hypnose wohl zu wenig beherrscht und sie allzu vorschnell verworfen.<br />

3.2. Deutung von Fehlleistungen<br />

335 Wenn jemand statt "Ich hab Dich lieb" "ich hack Dich lieb" schreibt, sich<br />

also verschreibt, so ist dies nach <strong>Freud</strong>s Überzeugung kein belangloser<br />

Zufall, son<strong>de</strong>rn eine Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten, die Rückschlüsse<br />

auf entsprechen<strong>de</strong> unbewusste Gegebenheiten (Ängste, Triebansprüche,<br />

verdrängte Wünsche, Schuldgefühle, Aggressionen, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsge-<br />

340 fühle usf.) zulässt.<br />

Selbstverständlich sind Fehlleistungen nicht bloß im Bereiche <strong>de</strong>s<br />

Schreibens, son<strong>de</strong>rn bei allen gewohnheitsmäßigen Handlungen möglich.<br />

So kann man sich verhören, versprechen, verlaufen, verfahren, verwählen,<br />

vergreifen, verschlafen, o<strong>de</strong>r man kann etwas vergessen, verle-<br />

345 gen o<strong>de</strong>r (z. B. einen Zug o<strong>de</strong>r einen Termin) verpassen. Oft zeigt sich<br />

sogar, dass das Verunfallen einem unbewussten Motiv entspricht und als<br />

Fehlleistung betrachtet wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Diese <strong>Freud</strong>sche Auffassung ist heute zum Gemeingut gewor<strong>de</strong>n, recht<br />

häufig lässt sich nach Fehlleistungen <strong>de</strong>r stereotype Satz "<strong>Freud</strong> lässt<br />

350 grüßen" hören.<br />

Der psychoanalytisch gebil<strong>de</strong>te Mensch hat es sich angewöhnt, eigenen<br />

Fehlleistungen nachzugehen, weil sich meist interessante Ent<strong>de</strong>ckungen<br />

über Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten machen lassen. Die manchmal<br />

etwas vorwitzigen Feststellungen gegenüber Mitmenschen, <strong>de</strong>nen eine<br />

355 Fehlleistung passiert, lässt er dagegen zumeist bleiben.<br />

3.3. Freie Assoziation<br />

Es gehört zur grundlegen<strong>de</strong>n Vereinbarung zwischen <strong>de</strong>m Psychoanalytiker<br />

und <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, dass dieser alles, was ihm irgendwie ins<br />

Bewusstsein kommt, ausspricht, mag es noch so peinlich, unmoralisch,<br />

360 unsinnig und kindisch erscheinen ("Grundregel"). Tut er dies, so wird er<br />

die Erfahrung machen, dass sich sofort weitere Vorstellungen o<strong>de</strong>r Gedanken<br />

einstellen, die mit <strong>de</strong>m ersten in einem vielleicht vorerst nicht erkennbaren<br />

Zusammenhang stehen. Im Unbewussten sind folglich diese<br />

Vorstellungen miteinan<strong>de</strong>r verknüpft (assoziiert). Durch das freie Assozi-<br />

365 ieren wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mgemäß die Verknüpfungen von Inhalten im Unbewussten<br />

sichtbar, und es kann dann in <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>m Analytiker gemeinsam<br />

mit <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingen, tiefer liegen<strong>de</strong> Motive (Handlungs-<br />

Grün<strong>de</strong>) in ihrem Entstehen und ihrem Zusammenhang zu verstehen.<br />

3.4. Deutung von Symptomen und Verhaltensweisen<br />

370 Wenn sich jemand zwangsweise täglich Dutzen<strong>de</strong> von Malen die Hän<strong>de</strong><br />

wäscht, so spricht dieses neurotische Symptom aus Sicht <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />

eine recht <strong>de</strong>utliche Sprache: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch fühlt sich<br />

schuldig und möchte seine belasten<strong>de</strong>n Schuldgefühle auf eine – allerdings<br />

unnütze – Weise beseitigen. In ähnlicher Weise lassen sich viele<br />

375 neurotische Symptome <strong>de</strong>uten, sei dies z. B. das zwanghafte Zählen von<br />

Gegenstän<strong>de</strong>n, das krampfhafte Ringen nach Atem bei je<strong>de</strong>m zweiten<br />

o<strong>de</strong>r dritten Atemzug, Erröten beim Angesprochenwer<strong>de</strong>n, zwanghaftes<br />

Kontrollieren, ob irgen<strong>de</strong>ine als wichtig gelten<strong>de</strong> Handlung (z. B. Wasser<br />

abdrehen, Licht ausschalten, Haustür zusperren) tatsächlich erfolgt ist,<br />

380 usf.<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>r Annahme, dass je<strong>de</strong> Verhaltensweise wenigstens<br />

teilweise aus <strong>de</strong>m Unbewussten <strong>de</strong>terminiert ist, ist je<strong>de</strong>s Verhalten zumin<strong>de</strong>st<br />

ein Stück weit als Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten zu betrachten<br />

und lässt sich <strong>de</strong>mzufolge als Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung benutzen.<br />

385 3.5. Traum<strong>de</strong>utung<br />

<strong>Freud</strong> bezeichnet die Traum<strong>de</strong>utung als die ‘via regia’ (<strong>de</strong>n königlichen<br />

Weg) zum Unbewussten. Ihr ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit gewidmet.<br />

3.6. Projektive Tests<br />

390 Mit <strong>de</strong>m ‘Assoziationsexperiment’ hatte C.G.Jung erstmals gezielt ein<br />

projektives Testverfahren entwickelt und angewen<strong>de</strong>t. Projektive Tests<br />

beruhen auf <strong>de</strong>r Annahme, dass Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten in die<br />

Wahrnehmung einfließen. Die Reize, welche <strong>de</strong>r Test vorgibt, sind bewusst<br />

offen und diffus gehalten, um <strong>de</strong>r Projektion – d.h. <strong>de</strong>r durch das<br />

395 Unbewusste gesteuerten Wahrnehmung – einen möglichst großen Spielraum<br />

zu lassen und damit mehr Erkenntnisse über das <strong>de</strong>r bewussten<br />

Wahrnehmung verborgene Unbewusste zu gewinnen.<br />

Der Psychologe o<strong>de</strong>r Therapeut liest dabei <strong>de</strong>m Proban<strong>de</strong>n zweimal eine<br />

Reihe von je 50 genormten Reizwörtern vor, die erfahrungsgemäß bei<br />

400 vielen Menschen mit psychischer Energie besetzt sind, und for<strong>de</strong>rt ihn<br />

auf, bei je<strong>de</strong>m Wort so schnell wie möglich zu sagen, welches an<strong>de</strong>re<br />

Wort ihm dazu einfällt. Anhand <strong>de</strong>r sog. ‘Störungsmerkmale’ wer<strong>de</strong>n jene<br />

Wörter festgestellt, welche beim Proban<strong>de</strong>n emotional beson<strong>de</strong>rs belastet<br />

sind. Als Störungsmerkmale gelten z. B. stark beschleunigte o<strong>de</strong>r ver-<br />

405 zögerte Reaktionen, Wortwie<strong>de</strong>rholungen, beson<strong>de</strong>re Kommentare, körperliche<br />

Reaktionen u.a.<br />

Die Jungianer haben sich bei diesem Test schon früh das psychogalvanische<br />

Experiment zunutze gemacht. Man stellte nämlich fest, dass bei<br />

je<strong>de</strong>r emotionalen Erregung die Schweißdrüsen aktiv wer<strong>de</strong>n, wodurch<br />

410 <strong>de</strong>r Hautwi<strong>de</strong>rstand sinkt und mehr Strom (z. B. von Finger zu Finger)<br />

fließen kann. Tatsächlich kann man feststellen, dass das Ampèremeter<br />

parallel zu <strong>de</strong>n oben genannten Störungsmerkmalen ausschlägt.<br />

4. Trieblehre<br />

Die Triebe sind jener Bereich, in welchem sich gewissermaßen das Or-<br />

415 ganische und das Psychische begegnen. Tatsächlich lassen sich z. B.<br />

<strong>de</strong>r Nahrungs-, Geschlechts- o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb durch Beeinflussung<br />

<strong>de</strong>s Organismus anregen o<strong>de</strong>r dämpfen. Für <strong>Freud</strong> war es darum selbstverständlich,<br />

das Triebleben als die Basis <strong>de</strong>s Psychischen zu betrachten.<br />

Diese Anschauung stand <strong>de</strong>nn auch in Übereinstimmung mit seiner<br />

420 damaligen Auffassung, dass die Motive <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns im Es verwurzelt<br />

und darum zumeist auch unbewusst sind.<br />

Es entsprach <strong>Freud</strong>s reduktionistischem Denken, dass er <strong>de</strong>r Überzeugung<br />

war, sämtliche Triebe ließen sich auf einen einzigen o<strong>de</strong>r allenfalls<br />

zwei Grundtriebe zurückführen. Der frühe <strong>Freud</strong> glaubte, einerseits im<br />

425 Sexualtrieb, an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>n Ich-Trieben (Selbsterhaltungsten<strong>de</strong>nzen)<br />

diese grundlegen<strong>de</strong>n Triebe zu erkennen, in jenem Bestreben also, <strong>de</strong>m<br />

Organismus einerseits größtmögliche Lust zu verschaffen und ihn an<strong>de</strong>rerseits<br />

zu erhalten. Mit <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Narzissmus (zu Deutsch am<br />

ehesten: Selbstverliebtheit) hat er dann auch <strong>de</strong>n Ich-Trieben einen libi-<br />

430 dinösen Charakter (-> Libido) zuerkannt.<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 4 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

<strong>Freud</strong> setzte sich zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts, einer Zeit ausgeprägtester<br />

Prü<strong>de</strong>rie, mit dieser Sexualisierung <strong>de</strong>s gesamten Seelenlebens<br />

harter Kritik aus. Heute scheint es aber, als hätten es sich die Kritiker<br />

<strong>Freud</strong>s etwas zu einfach gemacht, in<strong>de</strong>m sie zu wenig zur Kenntnis<br />

435 nahmen, dass <strong>Freud</strong> das Sexuelle an sich weiter fasste, als es außerhalb<br />

<strong>de</strong>r Psychoanalyse geschieht. So vertrat er die Auffassung, dass z. B.<br />

bereits das Saugen <strong>de</strong>s Säuglings an <strong>de</strong>r Mutterbrust eine "sexuelle"<br />

Handlung darstellt. Tatsächlich kann ein unvoreingenommener Betrachter<br />

unschwer feststellen, dass <strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>s Saugens beim Säugling ein<br />

440 wirklich lustvoller Vorgang ist und dass sich das kleine Kind auch sonst<br />

durch das Lutschen <strong>de</strong>r Finger o<strong>de</strong>r irgendwelcher Gegenstän<strong>de</strong> Lust<br />

verschafft. Die Begrifflichkeit "lustvollen Tuns" scheint hier allerdings treffen<strong>de</strong>r<br />

für das zu sein, was <strong>Freud</strong> mit <strong>de</strong>m Wort "sexuell" ausdrückte.<br />

[mehr..]<br />

445 <strong>Freud</strong> ergänzte seine Theorie später dadurch, dass er <strong>de</strong>m Lusttrieb <strong>de</strong>n<br />

sog. To<strong>de</strong>strieb (Destruktionstrieb, Aggressionstrieb) zur Seite stellte. Er<br />

sah nunmehr das menschliche Leben eingespannt zwischen die Pole <strong>de</strong>s<br />

‘Eros’ und <strong>de</strong>s ‘Thanatos’. Im Eros sah er das aufbauen<strong>de</strong>, im Thanatos<br />

das abbauen<strong>de</strong> Prinzip. So sah er z. B. beim Essen in <strong>de</strong>r Einverleibung<br />

450 <strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Lusttrieb, im Zerkauen <strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Aggressionstrieb<br />

am Werk. Auch <strong>de</strong>n Sexualakt betrachtete er als eine Verbindung<br />

bei<strong>de</strong>r Triebe. Das völlige Fehlen <strong>de</strong>s Aggressionstriebs äußerte sich<br />

dann als Impotenz, das Fehlen <strong>de</strong>s Eros hingegen als Sadismus bzw. –<br />

im Grenzfall – im Lustmord.<br />

455 Viele Vertreter <strong>de</strong>r Psychoanalyse – z. B. Fromm – folgten nicht dieser<br />

Annahme eines To<strong>de</strong>striebes. Bemerkenswert sind allerdings die Ähnlichkeiten<br />

zwischen <strong>Freud</strong>s Grundtrieben und <strong>de</strong>n Grunddualitäten vieler<br />

Religionen (Gut-Böse im Christentum, Eros-Thanatos in <strong>de</strong>r griechischen<br />

Mythologie, Shiva-Vishnu im Hinduismus, Yin-Yang im chinesischen Tao<br />

460 etc.)<br />

4.1. Libido<br />

<strong>Freud</strong> geht grundsätzlich davon aus, dass ‘die Psyche’ nicht etwa eine<br />

Wesenheit, son<strong>de</strong>rn ein Vorgang (ein Geschehen, ein Prozess), also etwas<br />

Dynamisches ist. Das dynamische Geschehen <strong>de</strong>r Psyche wird ge-<br />

465 mäß seiner Vorstellung durch die psychische Energie in Gang gehalten,<br />

die er als Libido bezeichnet. Die Libido steht grundsätzlich <strong>de</strong>m Ich zur<br />

Verfügung und fließt ihm "von <strong>de</strong>n Organen her" zu. In dieser Vorstellung<br />

lässt sich einmal mehr <strong>Freud</strong>s Bemühen erkennen, das Psychische auf<br />

das Organische zurückzuführen - für die westliche Wissenschaft damals<br />

470 noch ungewohnt, erfuhren diese Vorstellungen teils heftigen Wi<strong>de</strong>rspruch,<br />

heute, nach einer Öffnung für östliches Denken und durch Vorreiter<br />

wie Reich tiefer gehend erforscht, sind sie weitgehend akzeptiert.<br />

Die Libido kann grundsätzlich frei o<strong>de</strong>r gebun<strong>de</strong>n sein. Sachverhalte<br />

wer<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Menschen dadurch be<strong>de</strong>utsam, dass sich mit <strong>de</strong>ren Vor-<br />

475 stellung Libido verbin<strong>de</strong>t. <strong>Freud</strong> spricht davon, dass die ‘Objekte’ mit Libido<br />

‘besetzt’ wer<strong>de</strong>n. Zunächst richtet sich die Libido auf das eigene Ich,<br />

was <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s ‘primären Narzissmus’ ausmacht (Narziss war <strong>de</strong>r<br />

griechischen Mythologie zufolge ein Hirte, <strong>de</strong>r sich beim Anblick seines<br />

Spiegelbil<strong>de</strong>s im Wasser in sich selbst verliebte). Es entspricht in<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r<br />

480 gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, dass sich die Libido auf ‘Objekte’ richtet und sich<br />

mit ihnen verbin<strong>de</strong>t.<br />

Das erste ‘Objekt’, das das kleine Kind mit Libido besetzt, ist die Mutterbrust.<br />

Darunter ist zu verstehen, dass im Erleben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s die Mutterbrust<br />

zum ersten und be<strong>de</strong>utsamsten Objekt seiner Wahrnehmung wird.<br />

485 Im Verlaufe <strong>de</strong>r Entwicklung besetzt das Kind immer mehr Objekte mit<br />

Libido. Man kann sagen, dass ein Objekt mit um so mehr Libido besetzt<br />

ist, je stärker es mit gefühlvollem Erleben verbun<strong>de</strong>n ist.<br />

Wird die Libido in übertriebener Weise an das eigene Ich fixiert, so<br />

spricht <strong>Freud</strong> vom ‘sekundären Narzissmus’. Dies ist eine sehr ernste<br />

490 psychische Störung: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch bleibt völlig auf sich selbst<br />

bezogen und ist eigentlich asozial und liebesunfähig.<br />

Rein formal unterschei<strong>de</strong>t <strong>Freud</strong> bei je<strong>de</strong>m Trieb vier Kriterien: Quelle,<br />

Objekt, Ziel und Drang. Im Bereich <strong>de</strong>s Ernährungstriebes z. B. ist die<br />

Quelle das objektive Nahrungsbedürfnis, das Objekt die Nahrung, <strong>de</strong>r<br />

495 Drang die Stärke <strong>de</strong>s Hungergefühls und das Ziel die Stillung <strong>de</strong>s Hungers.<br />

Analoges gilt für die an<strong>de</strong>ren Triebe.<br />

5. Die Abwehrmechanismen<br />

Eine grundlegen<strong>de</strong> Überzeugung <strong>de</strong>r Psychoanalyse ist es, dass <strong>de</strong>r<br />

Mensch nicht ohne weiteres bereit o<strong>de</strong>r fähig ist, die Inhalte <strong>de</strong>s Es be-<br />

500 wusst wer<strong>de</strong>n zu lassen und sie somit auch als Teil <strong>de</strong>s eigenen Seelenlebens<br />

zu akzeptieren. Er hat vielmehr Mechanismen (Automatismen,<br />

d.s. automatisch und unbewusst ablaufen<strong>de</strong> Seelenvorgänge) entwickelt,<br />

die darauf abzielen, jene Impulse aus <strong>de</strong>m Es, die ihm aus irgendwelchen<br />

Grün<strong>de</strong>n (weil sie z. B. mit <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Über-Ichs o<strong>de</strong>r<br />

505 <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong>de</strong>r Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen sind)<br />

als nicht akzeptabel erscheinen o<strong>de</strong>r erscheinen könnten, gewissermaßen<br />

schon im Keime zu ersticken und sie auf diese Weise gar nicht ins<br />

Bewusste kommen zu lassen.<br />

Ich habe bei <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Aufzählung die Liste <strong>de</strong>r von <strong>Freud</strong> beschrie-<br />

510 benen Abwehrformen um einige <strong>de</strong>r von Kernberg (1976) zusammengefassten<br />

ergänzt.<br />

5.1. Verdrängung<br />

Die Verdrängung ist <strong>de</strong>r grundlegendste Abwehrmechanismus. Für sie<br />

gilt – ebenso wie für alle an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen, bei <strong>de</strong>nen Ver-<br />

515 drängung immer mit enthalten ist –, dass sie<br />

1. unbewusst passiert,<br />

2. <strong>de</strong>r Angst-Abwehr dient und<br />

3. eine Selbsttäuschung darstellt.<br />

Bei einer Verdrängung han<strong>de</strong>lt es sich um die unbewusste Unterdrü-<br />

520 ckung eines Triebbedürfnisses (z. B. Sexualtrieb o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb)<br />

o<strong>de</strong>r eines irgendwie belasten<strong>de</strong>n Impulses aus <strong>de</strong>m Es (z. B. Min<strong>de</strong>rwertigkeits-,<br />

Schuld-, Scham- o<strong>de</strong>r Angstgefühle). Eine Verdrängung<br />

steht folglich im Gegensatz zu einem entschlossenen, bewussten Triebverzicht<br />

und ermöglicht das Ausweichen vor einer bewussten Entschei-<br />

525 dung.<br />

Beispiel: Ein junger Mann, <strong>de</strong>r kurz vor <strong>de</strong>r Heirat steht, lernt einen an<strong>de</strong>ren<br />

Mann kennen, <strong>de</strong>r in ihm homoerotische Impulse auslöst. Die Wahrscheinlichkeit<br />

ist hoch, dass <strong>de</strong>r Impuls schon im Ansatz wie<strong>de</strong>r zurückgewiesen<br />

wird, also beim betroffenen Menschen gar nicht ins Bewusst-<br />

530 sein gelangt. Wür<strong>de</strong> er nämlich <strong>de</strong>n homoerotischen Impuls in voller<br />

Stärke bewusst erleben, wür<strong>de</strong> er große Ängste und Verunsicherung vor<br />

<strong>de</strong>m wichtigen Schritt <strong>de</strong>r Heirat auslösen. Er wird also folglich ruhig sein<br />

Ziel verfolgen und heiraten, unbehelligt von Ängsten und Zweifeln. Und<br />

doch kann man sich <strong>de</strong>r Erkenntnis nicht entziehen, dass seine Handlun-<br />

535 gen auf einer Selbsttäuschung beruhen.<br />

Auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Instanzen-Lehre (Es, Ich, Über-Ich)<br />

drängt sich nun die Frage auf, ‘wer’ <strong>de</strong>nn da eigentlich verdrängt. Verdrängen<strong>de</strong><br />

Instanz ist wohl das Ich (allenfalls unter <strong>de</strong>n Einwirkungen<br />

<strong>de</strong>s Über-Ich); da aber die Verdrängung unbewusst geschieht, ist es ei-<br />

540 gentlich <strong>de</strong>r unbewusste Anteil <strong>de</strong>s Ichs, <strong>de</strong>r verdrängend wirkt.<br />

<strong>Freud</strong> selbst war durchaus bereit, ein gewisses Ausmaß an Verdrängungen<br />

als vertretbar und psychisch nicht alarmierend zu betrachten, da sie<br />

eigentlich unvermeidlich sind. Es han<strong>de</strong>lt sich bei ihnen um einen Ausdruck<br />

jener neurotischen Züge, die je<strong>de</strong>r menschlichen Person in irgend-<br />

545 einer Weise anhaften. Zum Problem wer<strong>de</strong>n Verdrängungen, wenn sie<br />

ein großes Ausmaß angenommen haben, zentrale psychische Bereiche<br />

betreffen und sich hartnäckig je<strong>de</strong>r Bewusstmachung entziehen. In diesem<br />

Fall sind sie Ausdruck einer etablierten Neurose.<br />

Es gab in<strong>de</strong>s Psychoanalytiker im Gefolge von <strong>Freud</strong>, die je<strong>de</strong> Form von<br />

550 Verdrängung als Krankheitsanzeichen und auch als weiterhin krankmachend<br />

betrachten und sie <strong>de</strong>shalb mit allen zu Gebote stehen<strong>de</strong>n Mitteln<br />

auflösen wollten. Am konsequentesten war hier Arthur Janov mit <strong>de</strong>r sog.<br />

Primär- o<strong>de</strong>r ‘Urschrei’–Therapie, ganz wesentlich auch die körperorientierten<br />

Ansätze in <strong>de</strong>r Therapie, die versuchen, "Blocka<strong>de</strong>n" (gewisser-<br />

555 maßen auf körperlicher Ebene gebun<strong>de</strong>ne Verdrängungen) aufzulösen,<br />

wie etwa die Ansätze von Wilhelm Reich (einem <strong>de</strong>r wohl unkonventionellsten<br />

Schüler <strong>Freud</strong>s) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ssen Schüler Alexan<strong>de</strong>r Lowen (Bioenergetik).<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 5 von 19


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5.2. Regression<br />

560 Stellt sich <strong>de</strong>m Menschen in seinen Handlungen o<strong>de</strong>r Lebensbestrebungen<br />

irgen<strong>de</strong>in Hin<strong>de</strong>rnis entgegen, so gibt es – rein theoretisch – stets<br />

zwei Möglichkeiten: Entwe<strong>de</strong>r überwin<strong>de</strong>t er das Hin<strong>de</strong>rnis, o<strong>de</strong>r er scheitert.<br />

Die Psychoanalyse konnte <strong>de</strong>n Nachweis erbringen, dass <strong>de</strong>r<br />

Mensch im zweiten Fall in <strong>de</strong>r Regel nicht einfach zur Tagesordnung<br />

565 übergeht, son<strong>de</strong>rn als Antwort auf sein Frustrationserlebnis regrediert,<br />

d.h. eine Verhaltensweise äußert, die einer entwicklungsmäßig (genetisch)<br />

früheren Stufe entspricht. Die Regression ist insofern ein Abwehrmechanismus,<br />

als sie offenbar dazu dient, die mit <strong>de</strong>m Scheitern verbun<strong>de</strong>nen<br />

Min<strong>de</strong>rwertigkeits-, Schuld- und Angstgefühle nicht ins Bewusst-<br />

570 sein kommen zu lassen. Die bewusste Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit diesen<br />

belasten<strong>de</strong>n Inhalten wird gewissermaßen durch eine 'unreife' Ersatzhandlung<br />

zuge<strong>de</strong>ckt.<br />

Ein Beispiel:<br />

Ein Fußgänger geht in Gedanken versunken <strong>de</strong>n Gehweg entlang und<br />

575 läuft frontal in <strong>de</strong>n Sonnenschirm eines Straßencafés. In seinem<br />

Schmerz beschimpft er ihn als ‘verdammten Stecken’.<br />

Nun - kühlen Kopfes betrachtet, entbehrt seine Handlungsweise je<strong>de</strong>r<br />

Vernunft. Tiefenpsychologisch betrachtet aber ist sie verständlich: kleine<br />

Kin<strong>de</strong>r nehmen bekanntlich auch unbelebte Gegenstän<strong>de</strong> als belebt und<br />

580 beseelt wahr und sind darum – ohne dass dies in diesem frühen Alter als<br />

Regression bezeichnet wer<strong>de</strong>n dürfte – ohne weiteres bereit, z. B. <strong>de</strong>n<br />

Tisch als ‘böse’ zu beschimpfen und ihn zu schlagen, wenn sie ihren<br />

Kopf daran gestoßen haben. Wir nennen diese Erlebensweise animistisch<br />

(alles ist beseelt) o<strong>de</strong>r anthropomorph (alles hat menschliche Züge).<br />

585 Der beschriebene Fußgänger fiel infolge <strong>de</strong>r starken Frustration auf diese<br />

genetisch (entwicklungsmäßig) frühere Stufe zurück und konnte so – ohne<br />

dass er sich <strong>de</strong>ssen bewusst war, <strong>de</strong>nn all dies geschah unbewusst –<br />

einer rationalen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit seinen Min<strong>de</strong>rwertigkeits- und<br />

Angstgefühlen aus <strong>de</strong>m Wege gehen. Gefühlen, die zu verkraften offen-<br />

590 sichtlich wesentlich aufwendiger wären als die spontane Regression.<br />

Auch <strong>de</strong>r Griff zur Zigarette, zur Flasche o<strong>de</strong>r zu einer an<strong>de</strong>ren Droge,<br />

<strong>de</strong>r häufig in belasten<strong>de</strong>n Situationen erfolgt, kann als Regression verstan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n: als ein Zurücksinken ins erste Lebensjahr (-> Orale<br />

Phase), in <strong>de</strong>m sich das Kind durch Saugen, Lutschen o<strong>de</strong>r Einlullenlas-<br />

595 sen Lust verschafft.<br />

Neben diesen Regressionen, die als Inadäquate Abwehrmechanismen<br />

und insofern als neurotisch zu betrachten sind, gibt es eine Anzahl von<br />

regressiven Handlungen und Lebensvollzügen, die <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung<br />

<strong>de</strong>s psychischen Gleichgewichts dienen. Solche ‘legitimen’ Regressionen<br />

600 sind z. B. <strong>de</strong>r Schlaf, das sexuelle Erleben, das Spiel, das belanglose<br />

Blö<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r das Mitschreien im Fußballstadion. Der tiefenpsychologisch<br />

ausgerichtete Anthropologe neigt dazu, das psychische Geschehen als<br />

ein Wechselspiel zu betrachten, in welchem sich Licht und Schatten,<br />

Zielgerichtetheit und Laissez-faire, Rationales und Irrationales, Pflichter-<br />

605 füllung und Lustgewinn die Waage halten sollen. Dementsprechend sind<br />

ihm alle möglichen Formen <strong>de</strong>r Regression (die konkrete Wahl wäre da<br />

eine Frage <strong>de</strong>s persönlichen Stils..) <strong>de</strong>r nötige Ausgleich zum progressiven<br />

Verhalten: zur zielgerichteten, rationalen und <strong>de</strong>n gegebenen Ordnungen<br />

unterworfenen Lebensaktivität.<br />

610 5.3. Rationalisierung<br />

Bei <strong>de</strong>r Rationalisierung han<strong>de</strong>lt es sich um das verstan<strong>de</strong>smäßige<br />

Rechtfertigen eines Verhaltens, in<strong>de</strong>m die wahren, aber nicht eingestan<strong>de</strong>nen<br />

und vom Über-Ich nicht akzeptierten Motive (Beweggrün<strong>de</strong>) durch<br />

solche ersetzt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Menschen für sich selbst<br />

615 und die an<strong>de</strong>ren als annehmbar(er) erscheinen.<br />

Fragt man etwa jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich sozial sehr engagiert, weshalb er das<br />

tut, so wird man von ihm möglicherweise hören, er ziehe aus seiner<br />

'christlichen Grundhaltung' die Konsequenz. Das ist durchaus möglich, es<br />

könnten aber auch an<strong>de</strong>re Motive ausschlaggebend o<strong>de</strong>r doch zumin<strong>de</strong>st<br />

620 mitbeteiligt sein - so etwa das Bedürfnis, unbewusste Schuldgefühle zu<br />

kompensieren, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Drang, im Zentrum zu stehen, Anerkennung zu<br />

erhalten o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>njenigen, <strong>de</strong>nen man hilft, geliebt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Auch bei diesem Mechanismus ist es offensichtlich, dass Inhalte <strong>de</strong>s Es,<br />

die – wür<strong>de</strong>n sie bewusst erlebt – Unwohlgefühle erzeugen wür<strong>de</strong>n, au-<br />

625 tomatisch aus <strong>de</strong>m Bewussten verdrängt, also abgewehrt wer<strong>de</strong>n. Es<br />

zeigt sich hier einmal mehr, dass die Abwehrmechanismen <strong>de</strong>r Angstabwehr<br />

dienen.<br />

Die Rationalisierung ist vermutlich die verbreitetste Form <strong>de</strong>r Selbsttäuschung.<br />

In<strong>de</strong>m uns die Psychoanalyse darauf aufmerksam macht und<br />

630 uns auch auffor<strong>de</strong>rt, Rationalisierungen aufzulösen und uns <strong>de</strong>n wahren<br />

Motiven zu stellen, erweist sich diese psychologische Anthropologie als<br />

eine Lehre mit sehr hohem ethischen Anspruch. Sie läuft auf jene Auffor<strong>de</strong>rung<br />

hinaus, die einst über <strong>de</strong>m Tempeleingang in Delphi stand: Erkenne<br />

dich selbst!<br />

635 5.4. Projektion<br />

Bei <strong>de</strong>r Projektion wer<strong>de</strong>n unbewusste Triebimpulse, Wünsche, Schuldgefühle,<br />

Ängste, aber auch eigene Schwächen und Fehler auf ‘Objekte’<br />

in <strong>de</strong>r Außenwelt übertragen. Biblisch gesprochen: "Was siehst du <strong>de</strong>n<br />

Splitter im Auge <strong>de</strong>ines Bru<strong>de</strong>rs, und <strong>de</strong>n Balken im eigenen Auge siehst<br />

640 du nicht." Als Objekte kommen grundsätzlich einzelne Personen, Personengruppen,<br />

Gegenstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Situationen in Frage.<br />

Ein Mensch, <strong>de</strong>r von seinem Vater misshan<strong>de</strong>lt und unterdrückt wur<strong>de</strong>,<br />

kann z. B. dazu neigen, in je<strong>de</strong>r Situation, in <strong>de</strong>r Autorität o<strong>de</strong>r die For<strong>de</strong>rung<br />

nach Unterordnung im Spiel ist, das tyrannische Wirken <strong>de</strong>s Vaters<br />

645 zu sehen und sich dann in eine kämpferische Haltung zu begeben. Es ist<br />

dann, als wür<strong>de</strong> er stets je<strong>de</strong> Gelegenheit wahrnehmen, um – ersatzweise<br />

– gegen seinen Vater anzukämpfen.<br />

Projektionen auf Personengruppen sind die psychische Basis je<strong>de</strong>r Art<br />

von Rassenvorurteilen, Frem<strong>de</strong>n- und Gruppenhass. Situationen und<br />

650 Gegenstän<strong>de</strong>, die Projektionen auslösen können, sind z. B. ein laufen<strong>de</strong>r<br />

Motor, eine Uniform, ein Sonnenuntergang, ein großer Platz, ein Verkehrschaos<br />

und vieles mehr. In je<strong>de</strong>m Fall sieht <strong>de</strong>r Projizieren<strong>de</strong> im Gegenstand<br />

o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Situation mehr und an<strong>de</strong>res, als das, was diese ‘an<br />

sich’ be<strong>de</strong>uten, und reagiert darauf oft beson<strong>de</strong>rs emotional. Dadurch<br />

655 wird die erhebliche Erschwerung und Störung zwischenmenschlicher<br />

Kommunikation (die ja darauf beruht, dass wir i<strong>de</strong>ntische Begriffe haben)<br />

durch je<strong>de</strong> Form von Projektion nachvollziehbar. Man kann davon ausgehen,<br />

dass in je<strong>de</strong>m Streit, bei je<strong>de</strong>r heftigen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung Projektionen<br />

im Spiele sind. Eine psychologisch korrekte ‘Schlichtung’ dürfte<br />

660 darum niemals auf einen faulen Kompromiss hinauslaufen ("du hast ein<br />

bisschen recht und du auch"), son<strong>de</strong>rn muss bei je<strong>de</strong>m Teilnehmer die<br />

Bereitschaft erzeugen, sich seinen eigenen Projektionen zu stellen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Projektion wird somit eine Selbsttäuschung offenbar - man sieht<br />

das an<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nicht so, wie es o<strong>de</strong>r er "wirklich" ist, son-<br />

665 <strong>de</strong>rn so, wie man es o<strong>de</strong>r ihn unbewusst haben "möchte" (bzw. gewissermaßen<br />

sogar haben "muss"). Das ist auch in jenen Fällen so, wo Projektionen<br />

als durchaus angenehm erlebt wer<strong>de</strong>n, wie z. B. im Zustand<br />

großer Verliebtheit. In <strong>de</strong>r Regel sieht <strong>de</strong>r Verliebte die Angebetete als<br />

mehr o<strong>de</strong>r weniger fehlerfrei, wobei er allerdings ein Wunschbild (z. B.<br />

670 die positive Seite seiner Muttererfahrung) in die Geliebte projiziert. Der<br />

bekannte Spruch "Liebe macht blind" wäre <strong>de</strong>mgemäß in "Verliebtheit<br />

macht blind" zu korrigieren, <strong>de</strong>nn im Gegensatz zur Verliebtheit macht<br />

die wahre Liebe sehend, was Saint-Exupérys kleinen Prinzen <strong>de</strong>n bekannten<br />

Satz aussprechen ließ: "Man sieht nur mit <strong>de</strong>m Herzen gut".<br />

675 5.5. Introjektion<br />

Dies ist <strong>de</strong>r umgekehrte Vorgang <strong>de</strong>r Projektion: Es wer<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong> Anschauungen,<br />

Motive, Verhaltensweisen ins eigene Ich aufgenommen.<br />

Dabei geht es nicht um die legitimen Formen <strong>de</strong>s Lernens, son<strong>de</strong>rn um<br />

Imitationen, die <strong>de</strong>m eigenen Ich eigentlich fremd sind und <strong>de</strong>r Abwehr<br />

680 beispielsweise von Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühlen dienen sollen. Ein Beispiel<br />

dafür wäre etwa ein Musiker, <strong>de</strong>r in Erscheinungsbild und Gehaben ganz<br />

in die Rolle eines an<strong>de</strong>ren geschlüpft ist, welcher wirklich etwas kann und<br />

darum auch Erfolg hat. O<strong>de</strong>r etwa Menschen, die im Grun<strong>de</strong> ihres Herzens<br />

eigentlich eher konservativ sind, aber plötzlich ganz unvermittelt<br />

685 und im Gegensatz zu ihren übrigen Überzeugungen und ihrem wirklichen<br />

Leben progressive Ansichten zum besten geben o<strong>de</strong>r sich eine Trend-<br />

Frisur zulegen - offensichtlich aus <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch heraus,<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 6 von 19


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von gewissen Kreisen besser o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs, als sie sind, angenommen zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

690 5.6. I<strong>de</strong>ntifikation<br />

Wird nicht bloß ein einzelner Zug eines an<strong>de</strong>ren Menschen o<strong>de</strong>r eine<br />

einzelne isolierte I<strong>de</strong>e introjiziert, son<strong>de</strong>rn das ganze Wesen eines Menschen<br />

bzw. ein ganzes I<strong>de</strong>ensystem, so liegt eine I<strong>de</strong>ntifikation vor. So<br />

kennen wir etwa die starke I<strong>de</strong>ntifikation Pubertieren<strong>de</strong>r mit Idolen, die so<br />

695 weit gehen kann, dass sich ein Jugendlicher als "Superman" aus einem<br />

Hochhaus stürzt, um mit ausgebreitetem Cape ins Gewühl <strong>de</strong>r Straße<br />

hinabzuschweben (real geschehen).<br />

Ganz allgemein ist <strong>de</strong>r ‘Fan’ ein Mensch, <strong>de</strong>r sich mit irgen<strong>de</strong>twas o<strong>de</strong>r<br />

irgend jeman<strong>de</strong>m hochgradig i<strong>de</strong>ntifiziert hat. So hängt z. B. die Seelen-<br />

700 lage von Fußball-Fans erheblich vom Erfolg bzw. Misserfolg ‘ihres’ Klubs<br />

ab: gewinnt er, sind sie euphorisch, verliert er, sind sie <strong>de</strong>pressiv. In bei<strong>de</strong>n<br />

Fällen können sich die aufgestauten Gefühle in Form von Aggressionen<br />

entla<strong>de</strong>n: im ersten Fall entwickeln sich die Gefühle <strong>de</strong>r Überlegenheit<br />

zu Übermut, Arroganz und Angriffslust, im zweiten Fall entsteht aus<br />

705 <strong>de</strong>r erlittenen Schmach und <strong>de</strong>r damit verbun<strong>de</strong>nen Frustration ein Klima<br />

<strong>de</strong>r Rache und <strong>de</strong>r ungerichteten Wut.<br />

Differenziertere Menschen neigen eher dazu, sich mit I<strong>de</strong>ensystemen zu<br />

i<strong>de</strong>ntifizieren, seien dies politische o<strong>de</strong>r religiöse. Die I<strong>de</strong>ntifikation ist daran<br />

zu erkennen, dass mit vorgegebenen Formeln und Gedankengängen<br />

710 argumentiert und insbeson<strong>de</strong>re keinerlei Zweifel zugelassen wird. Der<br />

durch die I<strong>de</strong>ntifikation begrün<strong>de</strong>te Fanatismus entwickelt in extremen<br />

Fällen – analog zum Fan-Klub – ein Klima <strong>de</strong>r Gewalttätigkeit. Die Geschichte<br />

zeigt eindrücklich, dass viele politische und religiöse ‘Revolutionäre’,<br />

die stets von <strong>de</strong>r Heiligkeit ‘ihrer Sache’ restlos überzeugt waren,<br />

715 nicht vor Gewalttätigkeit und Brutalität zurückschreckten.<br />

In all diesen Formen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation tritt das Moment <strong>de</strong>r Selbsterhöhung<br />

<strong>de</strong>utlich zu Tage. Ihre Basis sind die unbewussten, im und aus <strong>de</strong>m<br />

Es wirken<strong>de</strong>n Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, die naturgemäß ängstigen und<br />

darum abgewehrt wer<strong>de</strong>n wollen. Diese Zusammenhänge hat Adler –<br />

720 freilich teils mit an<strong>de</strong>ren Begriffen – in das Zentrum seiner Betrachtungsweise<br />

gestellt. Die alltägliche Beobachtung zeigt sehr <strong>de</strong>utlich, dass insbeson<strong>de</strong>re<br />

solche Jugendliche zu überstarken I<strong>de</strong>ntifikationen – und damit<br />

zu Selbstverlust – neigen, <strong>de</strong>ren soziales Milieu nicht das Selbstwertgefühl<br />

stärkte, son<strong>de</strong>rn die Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle för<strong>de</strong>rte. Für Erzie-<br />

725 her sind darum überstarke I<strong>de</strong>ntifikationen, wie sie sich insbeson<strong>de</strong>re ab<br />

<strong>de</strong>r Pubertät zeigen, stets ein Gradmesser für die Ich-Schwäche eines<br />

jungen Menschen, es ist dann alles zu unternehmen, um <strong>de</strong>ssen Selbstwertgefühl<br />

zu stärken.<br />

Dass alle Abwehrmechanismen – und somit auch die I<strong>de</strong>ntifikation – <strong>de</strong>r<br />

730 Angstabwehr dienen, ersehen wir aus <strong>de</strong>n zahlreichen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />

sich Menschen, die extrem unterdrückt wur<strong>de</strong>n, mit ihren Unterdrückern<br />

i<strong>de</strong>ntifizierten und so eben vor ihnen keine Angst mehr haben mussten.<br />

Dies war nicht nur in <strong>de</strong>utschen Konzentrationslagern beobachtbar, in<br />

<strong>de</strong>nen Gefangene zu Gehilfen 'beför<strong>de</strong>rt' wur<strong>de</strong>n und sich dann als be-<br />

735 son<strong>de</strong>rs eifrige Quäler hervortaten, son<strong>de</strong>rn auch bei Patricia Hurst, <strong>de</strong>r<br />

amerikanischen Verlegerstochter, die von einer radikalen Gruppe entführt<br />

wur<strong>de</strong> und später mit ihnen an Banküberfällen teilnahm. Analoges geschah<br />

z. B. auch in Stockholm, als eine westliche Botschaft von einer<br />

Gruppe linksextremer Terroristen überfallen wur<strong>de</strong> und sich eine Geisel<br />

740 nachher <strong>de</strong>r RAF anschloss. Die psychologische Analyse <strong>de</strong>r damaligen<br />

Geschehnisse prägte <strong>de</strong>n seither für diesen Effekt verwen<strong>de</strong>ten Begriff<br />

"Stockholmsyndrom".<br />

Wie <strong>Freud</strong> aufzeigte, ist die I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater und<br />

<strong>de</strong>s Mädchens mit <strong>de</strong>r Mutter im Zuge <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />

745 ein entwicklungspsychologisch gesetzmäßiger Vorgang, <strong>de</strong>r dazu führt,<br />

dass die Kin<strong>de</strong>r die Norm- und Wertvorstellungen <strong>de</strong>r Eltern übernehmen<br />

und so auch in die Gesellschaft hineinwachsen. Wie sehr sich Jungen<br />

mitunter mit ihren Vätern i<strong>de</strong>ntifizieren, kann man gelegentlich hören,<br />

wenn je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n stärkeren, tüchtigeren, gescheiteren o<strong>de</strong>r reicheren Vater<br />

750 haben will.<br />

Konversion<br />

Als Konversion bezeichnet die Psychoanalyse <strong>de</strong>n Umschlag einer unerledigten<br />

Affektregung (Angst, Aggression, Wut, Ärger, Schuldgefühl,<br />

755 Triebwunsch etc.) ins Körperliche (Somatische). Beispiele sind etwa Erröten,<br />

Ohnmachtsanfälle, Herzklopfen, Migräne, Magenlei<strong>de</strong>n, Zittern usf.<br />

Deren Charakter als Abwehrmechanismus erweist sich aus <strong>de</strong>r Tatsache,<br />

dass wie<strong>de</strong>rum ins Es verdrängte (d.h. unbewusste) und von dort aus<br />

wirken<strong>de</strong> Affekte in ihrem Zustand <strong>de</strong>r Unbewusstheit belassen wer<strong>de</strong>n,<br />

760 weil es offenbar psychisch zu aufwendig wäre, sich ihnen zu stellen, und<br />

darum <strong>de</strong>ren Manifestation im Körper in Kauf genommen wird.<br />

5.7. Reaktionsbildung<br />

<strong>Freud</strong> ent<strong>de</strong>ckte, dass belasten<strong>de</strong> Affekte u.a. auch dadurch abgewehrt<br />

wer<strong>de</strong>n können, dass im bewussten Verhalten und Erleben eine gegen-<br />

765 sätzliche Verhaltensweise entwickelt wird.<br />

Übertriebene Reinlichkeit etwa kann eine Reaktionsbildung sein, bei <strong>de</strong>r<br />

die täglich viele Stun<strong>de</strong>n beanspruchen<strong>de</strong> Beseitigung von Schmutz und<br />

Unrat eine Möglichkeit darstellt, seine wirklich vorhan<strong>de</strong>ne Schmutzlust<br />

zu befriedigen. Analog dazu ist es auch möglich, dass ein religiöser o<strong>de</strong>r<br />

770 politischer ‘Sittenhüter’, <strong>de</strong>r überall gegen sexuelle Unsittlichkeit ankämpft,<br />

in diesem Tun eine Möglichkeit sieht, seine überstarken, aber<br />

verdrängten sexuellen Bedürfnisse ersatzweise zu befriedigen (in Österreich<br />

war etwa ein "Pornojäger" gerichtsbekannt, <strong>de</strong>r daheim mehrere<br />

Räume mit zigtausen<strong>de</strong>n Pornovi<strong>de</strong>os und -Magazinen "zu Beweiszwe-<br />

775 cken" angefüllt hatte). Und dass Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Feuerwehr gelegentlich<br />

<strong>de</strong>m Anblick brennen<strong>de</strong>r Häuser nicht unabgeneigt sind, wissen wir nicht<br />

erst, seit sich mehrerenorts Feuerwehrmänner als Brandstifter betätigten.<br />

Es muss aber <strong>de</strong>utlich davor gewarnt wer<strong>de</strong>n, nun je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>rartige Verhalten<br />

einfach als Reaktionsbildung zu betrachten. Ein solcher Abwehr-<br />

780 mechanismus liegt meist nur dann vor, wenn die Intensität <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n<br />

Handlungsmotive sehr übersteigert und <strong>de</strong>mentsprechend nicht <strong>de</strong>r<br />

Realität angemessen sind.<br />

5.8. Kompensation<br />

Wie bereits oben i. B. auf die Adler’sche Individualpsychologie erläutert<br />

785 wur<strong>de</strong>, neigt <strong>de</strong>r Mensch dazu, sich <strong>de</strong>m bewussten Erleben psychischer<br />

Mängel dadurch zu entziehen, dass er Verhaltensweisen äußert, von <strong>de</strong>nen<br />

er annimmt, dass sie ihm beson<strong>de</strong>re Geltung, Überlegenheit o<strong>de</strong>r<br />

Macht über an<strong>de</strong>re verschaffen. Als Regel kann gelten: je größer die<br />

Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, <strong>de</strong>sto stärker die erfor<strong>de</strong>rliche Kompensation.<br />

790 Es gibt grundsätzlich keine Verhaltensweise, die nicht zur Kompensation<br />

gebraucht wer<strong>de</strong>n kann. So kann ein Musiker auf <strong>de</strong>m Podium musizieren,<br />

um an<strong>de</strong>re mit seiner Kunst zu erfreuen o<strong>de</strong>r um sich im Zentrum<br />

<strong>de</strong>s Interesses zu sonnen. Häufig sind Kompensationen aber von <strong>de</strong>n<br />

‘echten’ Motiven nicht zu trennen, und es ist anzunehmen, dass in fast<br />

795 allen Verhaltensweisen ein mehr o<strong>de</strong>r weniger großer Anteil an Kompensationsbedürfnis<br />

mitschwingt.<br />

Eine erhebliche Selbsttäuschung stellt die Kompensation insofern dar,<br />

als man ihre Funktion, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle abzuwehren, ja nicht erkennt<br />

und offensichtlich auch nicht bereit ist, seine eigenen Grenzen un-<br />

800 befangen zu sehen und anzuerkennen. Häufig entsteht in Bezug auf die<br />

betreffen<strong>de</strong>n Menschen dann <strong>de</strong>r unweigerliche Eindruck, sie lebten in<br />

einer Art "Scheinrealität".<br />

5.9. Autoaggression<br />

Einer <strong>de</strong>r möglichen Grün<strong>de</strong> für Autoaggression besteht darin, dass je-<br />

805 mand eine nicht eingestan<strong>de</strong>ne und nicht akzeptierbare Aggression gegen<br />

an<strong>de</strong>re in Aggression gegenüber <strong>de</strong>r eigenen Person verwan<strong>de</strong>lt.<br />

Dies mag etwa vorliegen, wenn sich eine Sekretärin nach einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit <strong>de</strong>m Chef selbst die Haare rauft o<strong>de</strong>r ohrfeigt, obwohl<br />

sie sich lieber auf <strong>de</strong>n Chef stürzen wür<strong>de</strong>. Da jedoch eine solche Hand-<br />

810 lung – so angemessen sie ihrem Es auch erscheinen mag – ihre Existenzgrundlage<br />

gefähr<strong>de</strong>n könnte, wird die ursprüngliche Aggression in<br />

eine Autoaggression verwan<strong>de</strong>lt.<br />

Es ist anzunehmen, dass <strong>de</strong>r Masochismus, zeige er sich sexuell o<strong>de</strong>r in<br />

selbstquälerischem Engagement für die an<strong>de</strong>ren, nicht bloß eine Mög-<br />

815 lichkeit ist, um verdrängte Schuldgefühle zu kompensieren, son<strong>de</strong>rn auch<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 7 von 19


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um verdrängte Aggressionen auszuleben. So steckt wohl in je<strong>de</strong>r sexuell<br />

masochistischen Handlung verdrängter Sadismus.<br />

In <strong>de</strong>r christlichen Mystik hat die Autoaggression – in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Kasteiung<br />

und <strong>de</strong>r Selbstgeißelung – eine aus tiefenpsychologischer Sicht<br />

820 eher zwiespältige Tradition. Ins gleiche Kapitel gehört die Geißler-<br />

Bewegung <strong>de</strong>s ausgehen<strong>de</strong>n Mittelalters, wo ganze Züge ‘frommer’<br />

Menschen das Land durchquerten, dabei offen ihre Sündhaftigkeit bekannten<br />

und sich selbst und ihre Bußgenossinnen und –genossen blutig<br />

peitschten. Dass damit ‘Schuld getilgt’ wer<strong>de</strong>n sollte, war lediglich die of-<br />

825 fizielle Begründung für ein wohl schlicht Schuldgefühle abwehren<strong>de</strong>s,<br />

womöglich sogar masochistisches Verhalten.<br />

5.10. Substitution<br />

Eine Substitution liegt vor, wenn ein ursprüngliches Triebobjekt durch ein<br />

Ersatzobjekt ersetzt wird. Insofern ist die Autoaggression eine spezielle<br />

830 Form <strong>de</strong>r Substitution, <strong>de</strong>nn bei ihr wird ja nach <strong>de</strong>r obigen Erklärung ein<br />

Mitmensch als Objekt einer aggressiven Triebregung durch die eigene<br />

Person ersetzt.<br />

Eine verbreitete Form <strong>de</strong>r Substitution ist <strong>de</strong>r Fetischismus, etwa <strong>de</strong>r sexuelle<br />

Umgang mit Unterwäsche von Personen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Ge-<br />

835 schlechts, Stiefeln o<strong>de</strong>r Füßen. Aber auch Ess- o<strong>de</strong>r Trunk-Sucht, die<br />

sich gelegentlich einstellen, wenn die sexuellen Bedürfnisse unbefriedigt<br />

bleiben müssen, können als Substitution betrachtet wer<strong>de</strong>n. Eine Substitution<br />

liegt auch vor, wenn ein vom unerfreulichen Umgang mit <strong>de</strong>r Ehefrau<br />

her frustrierter Lehrer seine aufgestauten Aggressionen an seinen<br />

840 Schülern ausagiert. Die in unserer Kultur häufig anzutreffen<strong>de</strong>n Süchte<br />

vereinsamter Menschen, etwa <strong>de</strong>r, ganze Scharen von Katzen o<strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>n<br />

zu verhätscheln, dürfte ebenfalls in diese Kategorie fallen.<br />

5.11. Realitätsleugnung / Verleugnung<br />

Realitätsleugnung liegt vor, wenn bestimmte be<strong>de</strong>utsame Tatbestän<strong>de</strong><br />

845 vom Ich ignoriert bzw. nicht wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, weil die bewusste<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihnen als zu belastend erlebt wird. So kommt es<br />

beispielsweise immer wie<strong>de</strong>r vor, dass ein Mensch die Seitensprünge<br />

seines Partners Mannes nicht wahrnimmt, obwohl sonst je<strong>de</strong>rmann davon<br />

weiß und ausreichen<strong>de</strong> Anzeichen dafür vorliegen. An<strong>de</strong>re, typische<br />

850 Beispiele sind <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>smissbrauch o<strong>de</strong>r sonstige Gewaltformen im<br />

Familienverband, diverse Formen von Essstörungen, o<strong>de</strong>r aber auch,<br />

wenn jemand die Anzeichen einer Krankheit übersieht und <strong>de</strong>n Arzt erst<br />

aufsucht, wenn es dafür eigentlich bereits zu spät ist.<br />

Realitätsleugnungen sind meist überall dort festzustellen, wo ein Weltbild<br />

855 o<strong>de</strong>r vorgefasste Meinungen ins Wanken kommen könnten. Hierzu gehört<br />

etwa auch die Brutalität <strong>de</strong>r Nazis im Dritten Reich o<strong>de</strong>r die Kriegsverbrechen<br />

<strong>de</strong>r Amerikaner (Einsatz von Uranwaffen im Kosovokrieg,<br />

Entzug <strong>de</strong>r Menschenrechte an teils schuldlos Inhaftierten in<br />

Guatanamo-Bay im Zuge <strong>de</strong>s Irankriegs 2002, Agent-Orange-Einsatz im<br />

860 Vietnam etc.). Die Vorstellung und Folgen einer Mitschuld <strong>de</strong>r als „Gute“<br />

dargestellten Machthaber war offenbar zu belastend, weshalb es einfacher<br />

war, sie auszublen<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r erwiesenen Realität keine<br />

Kenntnis zu nehmen. Dies kann soweit gehen, dass selbst objektive Realitäten<br />

ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n (etwa, als die Fotos von Folterungen durch<br />

865 US-Soldaten im Irakkrieg von einigen interviewten US-Bürgern als 'Spaßfotos<br />

unserer Jungs' umge<strong>de</strong>utet wur<strong>de</strong>n). Wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Menschen wollen<br />

nichts von <strong>de</strong>r Bedrohung <strong>de</strong>r Menschheit durch <strong>de</strong>n Raubbau in <strong>de</strong>n<br />

Regenwäl<strong>de</strong>rn, durch die Übernutzung <strong>de</strong>r Meere, durch die Vergiftung<br />

<strong>de</strong>r Bö<strong>de</strong>n mittels Kunstdünger o<strong>de</strong>r durch unsichere Kernkraftwerke hö-<br />

870 ren. Kassandra war schon <strong>de</strong>n Griechen vor Troja lästig. Häufig hat man<br />

jene, die wirkliche Gefahren voraussahen und warnten, mit <strong>de</strong>m Satz "Du<br />

malst <strong>de</strong>n Teufel an die Wand" heimgeschickt. Niemand lässt sich gerne<br />

in seinen vorgefassten Meinungen durch Realitäten, die seinen eigenen<br />

Bil<strong>de</strong>rn wi<strong>de</strong>rsprechen, behelligen. Mit Realitätsverleugnung lebt es sich<br />

875 gewissermaßen einfacher – je<strong>de</strong>nfalls eine gewisse Zeit lang.<br />

5.12. Sublimierung<br />

Bei <strong>de</strong>r Sublimierung han<strong>de</strong>lt es sich um die Fähigkeit, für <strong>de</strong>n Verzicht<br />

auf verpönte (abgelehnte) Triebe bzw. Wünsche eine ausgleichen<strong>de</strong> Entschädigung<br />

hervorbringen zu können. So kann z. B. eine zölibatär leben-<br />

880 <strong>de</strong> Pianistin ihre Libido gewissermaßen verwan<strong>de</strong>ln und sie ganz in <strong>de</strong>n<br />

Dienst ihrer musikalischen Gestaltung stellen. O<strong>de</strong>r jemand kann durch<br />

persönliche Frustrationen sehr aggressiv gestimmt sein - statt dass er<br />

seine Wut aber an irgend jeman<strong>de</strong>m ausagiert, stürzt er sich in die Arbeit<br />

und stellt dann nach ein paar Stun<strong>de</strong>n fest, dass er in kurzer Zeit etwas<br />

885 geschaffen hat, wozu er sich zuvor kaum in <strong>de</strong>r Lage fühlte. Mit an<strong>de</strong>ren<br />

Worten: bei <strong>de</strong>r Sublimierung wird die psychosexuelle Energie (Libido)<br />

neutralisiert und für differenziertere soziale o<strong>de</strong>r kulturelle Leistungen<br />

eingesetzt.<br />

Ob es sich bei <strong>de</strong>r Sublimierung um ein Reifekriterium o<strong>de</strong>r einen Ab-<br />

890 wehrmechanismus han<strong>de</strong>lt, darüber existieren unterschiedliche Meinungen.<br />

Je<strong>de</strong>nfalls haftet ihr – im Gegensatz zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen<br />

– kein negativer Anstrich an. Auch von einer Selbsttäuschung<br />

kann nicht gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn wenn sich die Libido, die ursprünglich<br />

z. B. einer sexuellen Befriedigung dienstbar sein könnte, tatsächlich<br />

895 ‘verwan<strong>de</strong>lt’, so zeigt dies eben, dass es zum Wesen <strong>de</strong>s Menschen gehört,<br />

auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r psychischen Energie sozial und kulturell differenziertere<br />

Leistungen hervorbringen zu können.<br />

Mit Blick auf die Möglichkeit <strong>de</strong>r Sublimierung wird somit die oft gehörte<br />

Behauptung, sexuelle Enthaltsamkeit sei grundsätzlich schädlich und<br />

900 mache einen Menschen ‘verklemmt’, durch die Psychoanalyse zumin<strong>de</strong>st<br />

in dieser verallgemeinern<strong>de</strong>n Formulierung wi<strong>de</strong>rlegt. Die von christlichen,<br />

buddhistischen, hinduistischen und vielen an<strong>de</strong>ren Religionen<br />

empfohlene sexuelle Enthaltsamkeit (mit <strong>de</strong>m Ziel, alle Energien für die<br />

spirituelle Entwicklung zur Verfügung zu haben) fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Möglichkeit<br />

905 <strong>de</strong>r Sublimierung sogar ihre tiefenpsychologische Legitimation.<br />

5.13. Verschiebung<br />

Unter Verschiebung wird die Lösung <strong>de</strong>r Verknüpfung von Affekt und<br />

Vorstellung verstan<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Affekt an eine vom Über-Ich weniger<br />

bedrohte Vorstellung gekoppelt wird.<br />

910 Als typisches Beispiel mag ein weiteres Mal sexueller Missbrauch dienen.<br />

Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wur<strong>de</strong>n, empfin<strong>de</strong>n<br />

häufig Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Oftmals wird viele Jahre<br />

lang eine Verschiebung vorgenommen, in <strong>de</strong>m solche Frauen sich etwa<br />

ihre Schmerzen so erklären, dass diese eben "bei mir ja immer schon da<br />

915 waren" o<strong>de</strong>r durch "höhere Empfindlichkeit" verursacht wären. Auf diese<br />

Weise kann es vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, sich mit <strong>de</strong>r furchtbaren Vorstellung,<br />

von einem nahestehen<strong>de</strong>n Familienmitglied bis ins Innerste verletzt wor<strong>de</strong>n<br />

zu sein, konfrontieren zu müssen.<br />

5.14. Ungeschehen machen<br />

920 Darunter wird <strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Kompensation einer abgelehnten Handlung<br />

durch eine darauffolgen<strong>de</strong> mit entgegengesetztem Inhalt verstan<strong>de</strong>n.<br />

Auch dieser Abwehrmechanismus wird zu <strong>de</strong>n unreifen (auf einem niedrigen<br />

Niveau <strong>de</strong>r Ich-Organisation ansetzen<strong>de</strong>n) Abwehrformen gezählt.<br />

925 Je<strong>de</strong>m von uns ist wohl ein Erlebnis mit einem Kind bekannt, das sich<br />

plötzlich ohne erkennbaren Grund "beson<strong>de</strong>rs brav" verhielt. Meist stellte<br />

sich danach heraus, dass es kurz davor etwas beson<strong>de</strong>rs "Schlimmes"<br />

angestellt hatte... Wobei in diesem speziellen Fall das "Ungeschehen<br />

machen" einerseits vorbewusst <strong>de</strong>n Betroffenen gegenüber erhofft wird,<br />

930 und <strong>de</strong>r eigentliche Abwehrmechanismus unbewusst greift – und zum<br />

Ziel hat, die Handlung <strong>de</strong>m eigenen Über-Ich gegenüber zu "neutralisieren".<br />

5.15. Flucht in die Gesundheit<br />

Hierbei ist die Angst vor <strong>de</strong>r Psychotherapie größer als ein etwaiger se-<br />

935 kundärer Krankheitsgewinn durch Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Symptomatik.<br />

Die Symptomatik verschwin<strong>de</strong>t plötzlich völlig, allerdings zumeist nur für<br />

eine sehr kurze Zeitspanne, da die eigentlichen Ursachen allein natürlich<br />

nur mit enormem Energieaufwand kompensiert wer<strong>de</strong>n konnten und das<br />

nicht dauerhaft möglich ist.<br />

940 6. Die psychosexuelle Entwicklung<br />

Nach<strong>de</strong>m <strong>Freud</strong> <strong>de</strong>n Sexualtrieb als die Basis <strong>de</strong>s Seelenlebens postuliert<br />

und die psychische Energie als Libido gefasst hatte, war es eigentlich<br />

nur logisch, die Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen vom Säugling bis ins Erwachsenenalter<br />

vorwiegend im Hinblick auf die Entwicklung <strong>de</strong>s Sexual-<br />

945 triebs und <strong>de</strong>s sexuellen Erlebens zu betrachten. Die Ergebnisse <strong>de</strong>r<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 8 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

Entwicklungspsychologie, die von zahllosen Psychologen erarbeitet wur<strong>de</strong>n,<br />

wer<strong>de</strong>n dadurch keinesfalls gegenstandslos, son<strong>de</strong>rn <strong>Freud</strong> hat diese<br />

(insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Ansatz Hartmanns) vielmehr durch seine Sicht <strong>de</strong>r<br />

psychosexuellen Entwicklung um einen weiteren Aspekt angereichert.<br />

950 Viele Psychologen (etwa René Spitz, Erich Erikson, Mahler u.a.) haben<br />

ihre systematischen Beobachtungen bzw. Experimente auf die Basis <strong>de</strong>r<br />

<strong>Freud</strong>schen Theorie gestellt.<br />

Die grundlegen<strong>de</strong> Aussage <strong>Freud</strong>s besteht in <strong>de</strong>r Behauptung, die Sexualität<br />

erwache nicht erst – wie früher allgemein angenommen – mit <strong>de</strong>r<br />

955 Pubertät, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch sei bereits vom ersten Lebenstag an <strong>de</strong>s<br />

sexuellen Erlebens fähig und auch darum bemüht, es sich zu verschaffen.<br />

Diese Aussage wur<strong>de</strong> zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts – im sog. viktorianischen<br />

Zeitalter, das sich durch beson<strong>de</strong>re Prü<strong>de</strong>rie auszeichnete –<br />

als skandalös betrachtet, so dass an einem Kongress <strong>de</strong>utscher Ärzte<br />

960 (um 1910) <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> – nach<strong>de</strong>m jemand <strong>de</strong>n Vorschlag gemacht<br />

hatte, man möge sich in einem Kongress mit <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Lehre befassen<br />

– empört in die Versammlung schrie: "Meine Herren, das ist keine<br />

Sache für die Medizin, das ist eine Sache für die Polizei!" ...<br />

Psychoanalytisch wird Sexualität jedoch eigentlich als das bezeichnet,<br />

965 was <strong>de</strong>m Lustgewinn aus körperlichen Funktionen dient (z. B. Nahrungsaufnahme:<br />

Reizung <strong>de</strong>r Mundschleimhaut). Die von <strong>Freud</strong> vorgenommene<br />

Be<strong>de</strong>utungserweiterung inkludiert <strong>de</strong>s weiteren auch alle zärtlichen<br />

Regungen - nimmt also i<strong>de</strong>ntische Wurzeln <strong>de</strong>r sinnlich-körperlichen und<br />

<strong>de</strong>r zärtlichen Strömungen <strong>de</strong>s Sexuallebens an. <strong>Freud</strong> unterschei<strong>de</strong>t al-<br />

970 so scharf zwischen <strong>de</strong>n Begriffen "sexuell" und "genital" - <strong>de</strong>r erstere Begriff<br />

umfasst, wie im folgen<strong>de</strong>n aufgezeigt, auch viele Tätigkeiten, die mit<br />

<strong>de</strong>n Genitalien nichts zu tun haben. [mehr..]<br />

Sucht man nach Beziehungen bei<strong>de</strong>r Definitionen zum "konventionellen"<br />

Sexualleben, ist es (da Sexualität dabei nicht mehr vom Reifungszustand<br />

975 <strong>de</strong>r Keimdrüsen abhängt) nur folgerichtig, solche sexuellen Tätigkeiten<br />

schon früh im Leben zu suchen und ihre weitere Entwicklung zu verfolgen.<br />

Hier fin<strong>de</strong>n sich dann etwa Vornahmen zur Reizung <strong>de</strong>r Mund- und<br />

Lippenschleimhaut, <strong>de</strong>r Analschleimhaut, <strong>de</strong>r Glans Penis und <strong>de</strong>r Klitoris<br />

sowie <strong>de</strong>r Vaginalschleimhaut, die sich allesamt schon im frühen<br />

980 Kindheitsalter beobachten lassen und als Ausdrücke infantiler Sexualität<br />

bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Hierbei wer<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> Grundannahmen getroffen:<br />

• Unterschiedliche Körperregionen (sog. erogene Zonen) wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />

einzelnen Entwicklungsstadien mit Libido-Energie (Sexualenergie) besetzt<br />

985 • zu einer Spannungsreduktion (Abfuhr von libidinöser Energie) führen<br />

sowohl <strong>de</strong>r normale physiologische Gebrauch sowie die künstliche<br />

Reizung dieser Körperregionen, es entstehen "Lustgefühle". So führt z.<br />

B. das Saugen an <strong>de</strong>r Mutterbrust sowie das Daumenlutschen bei<strong>de</strong> zu<br />

einem Lustgewinn.<br />

990 • das Luststreben ist weitgehend "autoerotisch", d.h., es beschränkt sich<br />

auf die Selbstreizung <strong>de</strong>r erogenen Zonen.<br />

<strong>Freud</strong> glaubte, drei frühkindliche Phasen <strong>de</strong>r Sexualentwicklung feststellen<br />

zu können, gefolgt von <strong>de</strong>r sog. Latenzzeit und <strong>de</strong>r darauf folgen<strong>de</strong>n<br />

Pubertät bzw. Adoleszenz, die ins Erwachsenenalter überleitet. Die ein-<br />

995 zelnen Phasen <strong>de</strong>r psychosexuellen Entwicklung wur<strong>de</strong>n dabei nach <strong>de</strong>r<br />

jeweils dominieren<strong>de</strong>n erogenen Zone benannt:<br />

1. Lebensjahr: Orale Phase<br />

2./3. Lebensjahr: Anale Phase<br />

4./7. Lebensjahr: Phallische Phase<br />

1000 7./11. Lebensjahr: Latenzzeit<br />

12./16. Lebensjahr: Pubertät<br />

17./21. Lebensjahr: Genitale Phase / Adoleszenz<br />

Diese Altersangaben sind jedoch mit großer Vorsicht zu behan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>nn<br />

sie variieren je nach Milieu, Geschlecht und individuellen Voraussetzun-<br />

1005 gen und sind darüber hinaus <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>l unterworfen.<br />

Auch sind insbeson<strong>de</strong>re die drei frühkindlichen Phasen weniger als ein<br />

‘Hintereinan<strong>de</strong>r’ als ein ‘Hinzukommen’ zu betrachten, in<strong>de</strong>m nämlich die<br />

vorausgehen<strong>de</strong>n typischen Verhaltensweisen nicht etwa völlig verschwin<strong>de</strong>n,<br />

son<strong>de</strong>rn durch neue überlagert wer<strong>de</strong>n.<br />

1010 Orale Phase<br />

Objektlosigkeit, Anstreben ständiger Homöostase; hin zu Objektbildung<br />

und Entwicklung <strong>de</strong>s Urvertrauens<br />

<strong>Freud</strong> bezeichnet Körperregionen, <strong>de</strong>ren Reizung als beson<strong>de</strong>rs lustvoll<br />

erlebt wird, als ‘erogene Zonen’. Unter <strong>de</strong>m Eindruck, dass ein Neugebo-<br />

1015 renes beim Saugen ganz offensichtlich ein beson<strong>de</strong>rs großes Wohlbehagen<br />

erlebt und es gewissermaßen ganz in seinem Saugen aufgeht,<br />

schrieb er: "Das Wonnesaugen ist mit voller Aufzehrung <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit<br />

verbun<strong>de</strong>n, führt entwe<strong>de</strong>r zum Einschlafen o<strong>de</strong>r selbst zu einer<br />

motorischen Reaktion in einer Art von Orgasmus.". Das Lusterlebnis<br />

1020 beim Saugen wur<strong>de</strong> also als sexuelles Erleben beschrieben. Die erste<br />

erogene Zone während <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres ist also <strong>de</strong>r Mund, weshalb<br />

<strong>Freud</strong> diese Zeit als ‘orale Phase’ (oral = mündlich) bezeichnete. Im weiteren<br />

Sinne betrachtete er die ganze Haut als erogene Zone, d.h. – negativ<br />

ausgedrückt – das Lusterleben hat sich noch nicht auf die Reizung <strong>de</strong>r<br />

1025 Genitalorgane konzentriert.<br />

<strong>Freud</strong> erkannte, dass das Aufnehmen, das Einverleiben von irgen<strong>de</strong>twas<br />

als eine grundlegen<strong>de</strong> Lebensgebär<strong>de</strong> (Modalität) verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

kann, die zeitlebens von zentraler Be<strong>de</strong>utung ist. Er war <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />

dass die bestimmte Art, wie das Kind das Einverleiben während<br />

1030 <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres erlebt, das gesamte Verhältnis <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n<br />

Menschen zur Modalität <strong>de</strong>s Einverleibens und Aufnehmens prägt. Erlebt<br />

z. B. ein Säugling, dass er immer zuerst sehr lange und intensiv schreien<br />

muss, bis er seinen plagen<strong>de</strong>n Hunger stillen und saugen kann, so entsteht<br />

dadurch eine gestörte Beziehung zu allem, was im Leben irgendwie<br />

1035 mit Aufnehmen – z. B. auch mit Lernen – zu tun hat. Solche Menschen<br />

wer<strong>de</strong>n oft durch das Grundgefühl gepeinigt, immer zu kurz zu kommen,<br />

was sich in allen möglichen Formen von Gier äußern kann. Diese Haltung<br />

kann auch die Grundlage für viele Formen von Sucht sein: im Rauchen<br />

und Trinken ist die orale Gebär<strong>de</strong> ganz offensichtlich, aber auch je-<br />

1040 <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Rauschzustand (z. B. durch an<strong>de</strong>re Drogen) kann verstan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n als Versuch, sich einlullen zu lassen, d.h. in jenen frühkindlichen<br />

Zustand <strong>de</strong>r Geborgenheit und <strong>de</strong>s Noch-keine-Verantwortung-tragen-<br />

Müssens zurücksinken zu können. Oral gestörte Menschen haben oft<br />

entwe<strong>de</strong>r etwas 'Aufsaugen<strong>de</strong>s' an sich (sie klammern sich beispielswei-<br />

1045 se in ungesun<strong>de</strong>r Weise an alle Mitmenschen und haben wenig Sinn für<br />

ein gewisses Distanzbedürfnis <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren), o<strong>de</strong>r sie verweigern reflexartig<br />

alles Neue, das sie stets als Bedrohung empfin<strong>de</strong>n, und sagen in<br />

einer krankhaften Selbstbewahrungsten<strong>de</strong>nz chronisch nein.<br />

Die Psychoanalyse – nicht zuletzt im Gefolge von Erikson und Spitz –<br />

1050 betont immer wie<strong>de</strong>r die große Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres für die<br />

gesun<strong>de</strong> Lebensentwicklung und zeigt auf, dass ein Mensch, <strong>de</strong>r sich in<br />

<strong>de</strong>r oralen Phase von <strong>de</strong>n Eltern, insbeson<strong>de</strong>re von <strong>de</strong>r Mutter, angenommen<br />

und emotional geborgen fühlt und <strong>de</strong>r die Grun<strong>de</strong>rfahrung<br />

macht, dass seine Bedürfnisse mit aller Selbstverständlichkeit befriedigt<br />

1055 wer<strong>de</strong>n, das sog. Urvertrauen ausbil<strong>de</strong>t (Erikson formulierte später: „das<br />

Kind lernt anzunehmen, was ihm gegeben wird“). Das Urvertrauen begrün<strong>de</strong>t<br />

für das ganze Leben eine Grundgestimmtheit, die dazu ermutigt,<br />

sich <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Lebens gegenüber positiv einzustellen und<br />

sein Wirken als sinnvoll zu erleben. Fühlt sich hingegen das Kind abge-<br />

1060 lehnt, muss es auf eine geregelte Pflege und Ernährung durch die Mutter<br />

verzichten, wird es gar vernachlässigt o<strong>de</strong>r geschlagen, erfährt es zu wenig<br />

o<strong>de</strong>r keinen natürlichen Körperkontakt mit <strong>de</strong>n Eltern, so entwickelt<br />

sich das sog. Urmisstrauen, eine Grundgestimmtheit <strong>de</strong>s Pessimismus,<br />

die zu chronischer Verweigerung, zu Versagertum und zur Selbstableh-<br />

1065 nung führt.<br />

Das 1. Lebensjahr ist auch jene Zeit, in welcher <strong>de</strong>r primäre Narzissmus<br />

– <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>r völligen Auf-sich-selbst-Gerichtetheit <strong>de</strong>r Libido – zu<br />

Gunsten von Objekt-Bildungen überwun<strong>de</strong>n wird. Als erstes Objekt, welches<br />

<strong>de</strong>r Säugling mit Libido besetzt, gilt <strong>Freud</strong> die Mutterbrust. Im Erle-<br />

1070 ben, dass sie nicht immer verfügbar ist, entwickelt sich im Kind das Gefühl<br />

einer Trennung zwischen ihm selbst und <strong>de</strong>r Welt. Gleichzeitig entsteht<br />

aber auch eine tief sitzen<strong>de</strong> ambivalente (doppelwertige) Beziehung<br />

zur Mutter, <strong>de</strong>nn einerseits erfährt das Kind die Mutter ja als nährend (die<br />

Bedürfnisse befriedigend), an<strong>de</strong>rerseits als versagend (die Bedürfnisbe-<br />

1075 friedigung verweigernd). Eine ähnlich ambivalente Beziehung bil<strong>de</strong>t sich<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 9 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

später auch zum Vater, weshalb die Elternbeziehung grundsätzlich als<br />

ambivalent und somit als problembehaftet zu betrachten ist. So lässt sich<br />

die häufig von schwierigen Ablösungskonflikten gekennzeichnete Pubertät<br />

auch als Prozess verstehen, dass das Kind, das nun immer weniger<br />

1080 auf die Nährung durch die Eltern angewiesen ist, die von <strong>de</strong>n Eltern unterschiedlichen<br />

Bedürfnisregungen stärker zulassen und verfolgen will.<br />

Das "Eigene" wird dann vor allem in <strong>de</strong>m wahrgenommen, was unterschiedlich<br />

zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Eltern ist.<br />

Der amerikanische Psychoanalytiker René Spitz hat sich in beson<strong>de</strong>rer<br />

1085 Weise mit <strong>de</strong>m 1. Lebensjahr beschäftigt. So stellte er fest, dass das<br />

‘Frem<strong>de</strong>ln’ im Alter von ca 8 Monaten (Spitz bezeichnete dies als ‘Acht-<br />

Monate-Angst’) darauf beruht, dass das Kind jetzt in <strong>de</strong>r Lage ist, verschie<strong>de</strong>ne<br />

Gesichter voneinan<strong>de</strong>r zu unterschei<strong>de</strong>n, wogegen es früher<br />

offensichtlich alle Antlitze als diejenigen <strong>de</strong>r Mutter interpretierte.<br />

1090 Im Zuge seiner Forschungen befasste sich Spitz beson<strong>de</strong>rs mit <strong>de</strong>m Zusammenhang<br />

zwischen <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>r Mutter und <strong>de</strong>ssen Auswirkungen<br />

auf das Kind, wobei er 6 verschie<strong>de</strong>ne problematische Einstellungen<br />

<strong>de</strong>r Mutter zum Muttersein o<strong>de</strong>r zum Kind feststellte, welche bei<br />

diesem zu teils erheblichen psychischen Schädigungen führen können:<br />

1095 1. unverhüllte Ablehnung<br />

2. ängstlich übertriebene Besorgnis<br />

3. in Ängstlichkeit verwan<strong>de</strong>lte unbewusste Feindseligkeit<br />

4. ständiges Schwanken zwischen Verwöhnen und Feindseligkeit<br />

5. zyklische Stimmungsschwankungen <strong>de</strong>r Mutter (Launenhaftigkeit)<br />

1100 6. kompensierte Feindseligkeit (z. B. durch Verwöhnen)<br />

Berühmt gewor<strong>de</strong>n sind die Spitz’schen Untersuchungen von Kin<strong>de</strong>rn einerseits<br />

in einem Waisenhaus, wo diese durch häufig wechseln<strong>de</strong> Wärterinnen<br />

betreut wur<strong>de</strong>n und in einer sehr reizarmen Umwelt (weiß und steril)<br />

lebten, und an<strong>de</strong>rerseits in einem Frauengefängnis, in welchem sich<br />

1105 die Mütter ganz ihren Kin<strong>de</strong>rn widmen und sie selber stillen und pflegen<br />

konnten. Er stellte sehr <strong>de</strong>utliche Entwicklungsunterschie<strong>de</strong> fest: Die<br />

Kin<strong>de</strong>r im Frauengefängnis gediehen wun<strong>de</strong>rbar, waren selten krank,<br />

entwickelten eine überdurchschnittliche Intelligenz und waren – wie man<br />

so sagt – ‘putzmunter’. Bei <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn im Waisenhaus hingegen musste<br />

1110 er nicht nur häufige Erkrankungen, son<strong>de</strong>rn auch ziemlich viele To<strong>de</strong>sfälle<br />

feststellen, und mehr o<strong>de</strong>r weniger alle Kin<strong>de</strong>r fielen durch verschie<strong>de</strong>ne<br />

Störungen und Anzeichen gehemmter Entwicklung auf. Er bemerkte,<br />

dass Kin<strong>de</strong>r, die von klein auf in Spitälern aufwachsen und einer reizarmen,<br />

sterilen Umwelt sowie einer gewissen Massenabfertigung beim Füt-<br />

1115 tern und Trockenlegen ausgesetzt sind, dieselben Symptome zeigen wie<br />

die untersuchten Kin<strong>de</strong>r im Waisenhaus und bezeichnete daher das beschriebene<br />

Krankheitsbild als ‘Hospitalismus’. Beson<strong>de</strong>rs gefähr<strong>de</strong>t sind<br />

davon insbeson<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r, die zwischen <strong>de</strong>m 6. Lebensmonat und 3<br />

Jahren hospitalisiert sind. Sie zeichnen sich oft durch Kontaktarmut, Apa-<br />

1120 thie, verzögertes Gehen- und Sprechenlernen, soziale Anpassungsschwierigkeiten,<br />

intellektuelle Entwicklungsrückstän<strong>de</strong>, gesteigerte<br />

Krankheitsanfälligkeit, erhöhte Sterblichkeit, Passivität, Interesselosigkeit<br />

und stereotype Bewegungen aus.<br />

Als Spätfolgen treten die bekannten und zu Teil schon erwähnten Aus-<br />

1125 wirkungen einer gestörten oralen Phase auf: Süchte, Zurückschrecken<br />

vor Lebensaufgaben, Gierigkeit, mangeln<strong>de</strong> Initiative, übergroße Bedürftigkeit<br />

nach Zuwendung und Liebe.<br />

6.1. Anale Phase<br />

Ausweitung und Überschreitung <strong>de</strong>s symbiotischen Bereiches, Selbstbe-<br />

1130 stimmung von Nähe und Distanz, Entwicklung hin zu Objektkonstanz und<br />

Selbstkonstanz<br />

Zwischen 1. und 3. Lebensjahr verlagert sich die Bedürfnisbefriedigung<br />

auf die anale Zone: die anale und urethrale Muskulatur wird trainiert, das<br />

Kind lernt, "zurückzuhalten" und "auszustoßen". Es kann nun seit einiger<br />

1135 Zeit sitzen, und die Eltern setzen es, um nicht unnötig lang Win<strong>de</strong>ln waschen<br />

zu müssen, von Zeit zu Zeit aufs Töpfchen. Das Kind ist nun zunehmend<br />

in <strong>de</strong>r Lage, die Darmentleerung willentlich zu steuern, d.h. <strong>de</strong>n<br />

Kot entwe<strong>de</strong>r zurückzuhalten o<strong>de</strong>r loszulassen. Offensichtlich ermöglicht<br />

ihm dies eine neue Weise <strong>de</strong>s Lustgewinns: Kin<strong>de</strong>r dieses Alters benut-<br />

1140 zen ihren Kot mit ungebändigter Lust als Mo<strong>de</strong>lliermasse, bemalen damit<br />

auch Bett und Wän<strong>de</strong> und stopfen ihn auch ohne weiteres in <strong>de</strong>n Mund.<br />

Analog zur oralen Modalität erkennt <strong>Freud</strong> in diesem konkreten körperlichen<br />

Vorgang gewissermaßen das Grundmo<strong>de</strong>ll einer allgemeinen Lebensgebär<strong>de</strong>:<br />

<strong>de</strong>r Modalität <strong>de</strong>s Besitzens und Hergebens. Tatsächlich<br />

1145 stellt sich <strong>de</strong>m Menschen als einem Wesen, das aufnimmt und einverleibt,<br />

logischerweise auch die Aufgabe, zu entschei<strong>de</strong>n, was und wie viel<br />

behalten und was ausgeschie<strong>de</strong>n (losgelassen) wer<strong>de</strong>n soll. Das betrifft<br />

materielle Güter genauso wie psychische Verhaftungen und geistige<br />

‘Besitztümer’. Nach Ansicht <strong>de</strong>r Psychoanalyse wird das Verhältnis zu<br />

1150 diesen Lebensaufgaben in <strong>de</strong>r frühen Kindheit emotional grundgelegt,<br />

und zwar eben im körperlichen Erleben eines Vorgangs, <strong>de</strong>r gewissermaßen<br />

das Grundmo<strong>de</strong>ll ist für alles an<strong>de</strong>re, wo auch Behalten o<strong>de</strong>r<br />

Hergebenmüssen bzw. Hergeben-Wollen zur Diskussion steht.<br />

In diesem Zusammenhang weist die Psychoanalyse auf eine gewisse<br />

1155 Wesensverwandtschaft zwischen Fäkalien und materiellem Besitz hin.<br />

So sagt man etwa von einem Geizhals, er ‘hocke auf seinem Geld’, arme<br />

Menschen wünschen sich einen ‘Geldscheißer’, im Märchen vom Tischlein-Deck-dich<br />

"scheißt" <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>sel auf <strong>de</strong>n Befehl ‘briklebrit!’ tatsächlich<br />

Goldstücke, und wenn jemand um Geld betrogen wur<strong>de</strong>, ist er "be-<br />

1160 schissen" wor<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Freud</strong> weist darauf hin, dass das Kind mit seiner nun entstehen<strong>de</strong>n Fähigkeit<br />

<strong>de</strong>r Kontrolle über die Defäkation zum Erlebnis <strong>de</strong>r Macht über die<br />

Eltern kommt – also tatsächlich auch selbst etwas außerhalb seiner<br />

selbst kontrollieren zu können. Bei<strong>de</strong>s sind auch wesentliche Grundpfei-<br />

1165 ler für Grundgefühle wie Autonomie und Selbstbewusstsein. Insofern es<br />

seine Macht genießt, keimen im Kind erste Gefühle <strong>de</strong>s Sadismus auf,<br />

weshalb <strong>Freud</strong> diese Phase auch als ‘anal-sadistische’ Phase bezeichnet.<br />

Man könnte somit sagen: Psychische Themen, welche in <strong>de</strong>r analen<br />

Phase gefühlshaft grundgelegt wer<strong>de</strong>n, sind das Verhältnis zum Besitz,<br />

1170 zur Macht, zum Behalten und Hergeben und damit auch zur Ordnung.<br />

Störungen in <strong>de</strong>r analen Phase führen logischerweise zu Störungen in<br />

<strong>de</strong>n oben erwähnten Bereichen. Es bil<strong>de</strong>n sich Geiz o<strong>de</strong>r Verschwendungssucht,<br />

chaotisches Gebaren o<strong>de</strong>r übertriebene Ordnungsliebe, Eigensinn<br />

und zwanghaftes Verhalten heraus.<br />

1175 Kluge Eltern lassen <strong>de</strong>r Schmutzlust <strong>de</strong>r Kleinen in <strong>de</strong>r analen Phase <strong>de</strong>n<br />

ihr gebühren<strong>de</strong>n Raum, in<strong>de</strong>m sie ihnen Fingerfarben geben und sie im<br />

Garten mit nassem Sand und nasser Er<strong>de</strong> so richtig herummatschen lassen.<br />

Unkluge Eltern versuchen mit lieblosem Druck, ihre Kin<strong>de</strong>r so früh<br />

wie möglich ‘sauber’ zu bekommen, um damit ihren eigenen Ehrgeiz zu<br />

1180 befriedigen ("Wissen Sie, Frau Müller, unsere Lisa ist schon seit 4 Monaten<br />

sauber!“). Der Wunsch nach Selbstständigkeit gerät nun ständig in<br />

Konflikt mit <strong>de</strong>n Anpassungsfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Umwelt - um hier eine zufrie<strong>de</strong>nstellen<strong>de</strong><br />

Lösung zu ermöglichen, müssen diese also so formuliert<br />

wer<strong>de</strong>n, dass sie vom Kin<strong>de</strong> angenommen wer<strong>de</strong>n können.<br />

1185 Alle sog. Zwangsneurosen haben ihren Ursprung in dieser Phase. Im<br />

Hinblick auf diesen Zusammenhang spricht die Psychoanalyse von einem<br />

‘analen Charakter’ und meint damit einen Menschen, <strong>de</strong>r überkontrolliert<br />

ist, zu fixen I<strong>de</strong>en neigt, sich nirgends anpassen kann, stets recht<br />

haben muss und gewiss nicht ‘Fünfe gera<strong>de</strong> sein lassen’ kann.<br />

1190 6.2. Phallische Phase<br />

Stabilisierung <strong>de</strong>r Selbstkonstanz und Entwicklung <strong>de</strong>r Geschlechteri<strong>de</strong>ntität,<br />

bei positiver Auflösung <strong>de</strong>s ödipalen Konflikts: Bildung und Konsolidierung<br />

<strong>de</strong>s Über-Ich, wodurch <strong>de</strong>r Übergang von einem mehr dyadischen<br />

zu einem triadischen Beziehungsmuster vollzogen wer<strong>de</strong>n können<br />

1195 sollte.<br />

In <strong>de</strong>r phallischen Phase verlagert sich die erogene Zone auf die Genitalien.<br />

Dass <strong>Freud</strong> diesen Lebensabschnitt generell nach <strong>de</strong>m männlichen<br />

Glied (Phallus) benennt, haben ihm Frauen natürlich immer wie<strong>de</strong>r übel<br />

genommen. Seine Verteidigung, dass sich in <strong>de</strong>r embryonalen Entwick-<br />

1200 lung die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane lange nicht unterschei<strong>de</strong>n<br />

und sich später das, was beim Knaben zum Phallus wird,<br />

beim Mädchen zur Klitoris entwickelt, irritiert dann noch mehr, <strong>de</strong>nn daraus<br />

leitet sich – setzt man eine rein quantitative Sichtweise an – die Ansicht<br />

ab, die Frau sei, sexuell betrachtet, ein unvollkommener Mann. Die<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 10 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

1205 Sache wird dann noch problematischer, wenn <strong>Freud</strong> feststellt, dass die<br />

Kin<strong>de</strong>r dieses Alters ihre unterschiedliche Geschlechtlichkeit ent<strong>de</strong>cken<br />

(sie spielen in diesem Alter oft ‘Doktorspiele’ und befriedigen so ihre<br />

Neugier<strong>de</strong> bzw. ihre Lust, sich an<strong>de</strong>ren zu zeigen: Voyeurismus und Exhibitionismus)<br />

und dann das Mädchen sieht, dass ihm etwas fehlt, das<br />

1210 <strong>de</strong>r Vater o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Knabe hat. <strong>Freud</strong> vertritt nämlich die Ansicht, dass im<br />

Mädchen - selbstverständlich unbewusst - eine Verärgerung darüber entsteht,<br />

dass ihm etwas fehlt, und er nennt dieses Gefühl <strong>de</strong>n ‘Penisneid’.<br />

Der Knabe in<strong>de</strong>s hat zu solchem Neid keinen Anlass, son<strong>de</strong>rn beginnt –<br />

was man tatsächlich sehr oft beobachten kann – in diesem Alter mit sei-<br />

1215 nem Glied zu imponieren (Imponiergehabe). <strong>Freud</strong> erfuhr in seinen zahlreichen<br />

Analysen, die er mit männlichen Klienten durchführte, dass damals<br />

offensichtlich <strong>de</strong>n meisten Knaben von ihren sittenstrengen Erzieherinnen<br />

und Erziehern gedroht wur<strong>de</strong>, man wür<strong>de</strong> ihnen das Glied abschnei<strong>de</strong>n,<br />

wenn sie weiterhin damit spielten. <strong>Freud</strong> glaubte, dass ein<br />

1220 Knabe, belastet mit dieser Drohung, tatsächlich annimmt, dass z. B. seine<br />

Schwester o<strong>de</strong>r seine Mutter früher noch einen Phallus hatten, ihn<br />

aber eben durch Kastration einbüßten. Dem Penisneid <strong>de</strong>s Mädchens<br />

entspricht seitens <strong>de</strong>s Knaben somit die – ebenfalls unbewusste – ‘Kastrationsangst’.<br />

1225 So wie in <strong>de</strong>r oralen Phase das Saugen zum Urmo<strong>de</strong>ll wird für alles, was<br />

im ganzen Leben irgendwie mit Einverleiben zu tun hat, und so wie in <strong>de</strong>r<br />

analen Phase das Behalten o<strong>de</strong>r Hergeben <strong>de</strong>r Exkremente die emotionale<br />

Gestimmtheit betreffend Besitzen und Loslassen (Hergeben, Ausgeben)<br />

präformiert, so wird die Art und Weise, wie das Kind in <strong>de</strong>r phalli-<br />

1230 schen Phase die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s eigenen Geschlechts erlebt, ganz allgemein<br />

zum Urmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Dominanzverhaltens. Eine allgemeine Haltung<br />

<strong>de</strong>s Kampfs gegen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rerseits auch <strong>de</strong>r Unterwerfung unter das<br />

an<strong>de</strong>re Geschlecht ist zumeist auf Störungen in <strong>de</strong>r phallischen Phase<br />

zurückzuführen.<br />

1235 6.2.1. Ödipuskomplex<br />

Im Zuge <strong>de</strong>r Verlagerung <strong>de</strong>s sexuellen Interesses auf die Genitalien und<br />

<strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Zweigeschlechtlichkeit <strong>de</strong>s Menschen spielt sich in<br />

<strong>de</strong>r phallischen Phase nach <strong>Freud</strong> ein zentrales unbewusstes Geschehen<br />

ab, das er <strong>de</strong>n Ödipuskomplex nennt. Diese Benennung bezieht sich<br />

1240 auf jene griechische Sage, wonach es das tragische Geschick von König<br />

Ödipus war, seine eigene Mutter zu ehelichen, ein – wenn auch unwillentlich<br />

begangenes – Verbrechen, das <strong>de</strong>r unglückliche König dadurch<br />

zu sühnen hoffte, dass er sich selbst die Augen ausstach. Der Ödipuskomplex<br />

spielt in <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Psychoanalyse eine zentrale Rolle. Es<br />

1245 geht dabei um die Beziehung zwischen Kind und Eltern, primär um die<br />

Beziehung zwischen <strong>de</strong>m Kind und <strong>de</strong>m gegengeschlechtlichen Elternteil.<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n sei hier <strong>de</strong>r unbewusste Vorgang beschrieben, so wie<br />

er sich beim Knaben ereignet, beim Mädchen geschieht dies ungefähr<br />

spiegelbildlich:<br />

1250 Der Junge entwickelt während <strong>de</strong>r phallischen Phase <strong>de</strong>n unbewussten<br />

Triebwunsch, sich mit <strong>de</strong>r Mutter geschlechtlich zu vereinigen. Der Vater<br />

wird daher als Rivale betrachtet, <strong>de</strong>r Sohn fantasiert (stets unbewusst),<br />

dieser könnte sich durch Kastration rächen: Kastrationsangst stellt sich<br />

ein. Im Zuge dieser Rivalität entwickelt <strong>de</strong>r Knabe gegenüber <strong>de</strong>m Vater<br />

1255 auch To<strong>de</strong>swünsche, was in ihm – neben <strong>de</strong>r bereits beschriebenen<br />

Angst – tief sitzen<strong>de</strong> Schuldgefühle auslöst. Es gilt nun bei<strong>de</strong>s, die Ängste<br />

und die Schuldgefühle, abzuwehren, und dies geschieht mit <strong>de</strong>m oben<br />

beschriebenen Abwehrmechanismus <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation. In<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r<br />

Knabe mit <strong>de</strong>m Vater i<strong>de</strong>ntifiziert, setzt er sich gewissermaßen an seine<br />

1260 Stelle und muss ihn damit einerseits nicht mehr fürchten und hat an<strong>de</strong>rerseits<br />

Anteil an <strong>de</strong>ssen Vorrechten gegenüber <strong>de</strong>r Mutter. Die geglückte<br />

I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater bezeichnet <strong>Freud</strong> als ‘Lösung<br />

<strong>de</strong>s Ödipuskomplexes’. Sie hat sehr be<strong>de</strong>utsame Folgen, <strong>de</strong>nn im Zuge<br />

dieser I<strong>de</strong>ntifikation übernimmt <strong>de</strong>r Knabe die Norm- und Wertvorstellun-<br />

1265 gen <strong>de</strong>s Vaters und – so <strong>Freud</strong> – damit auch <strong>de</strong>r Gesellschaft. Diese<br />

introjizierten Norm- und Wertvorstellungen stellen dann das dar, was<br />

<strong>Freud</strong> als ‘Über-Ich’ bezeichnet.<br />

Beim Mädchen geht es sich darum, dass es lernt, die Penislosigkeit zu<br />

akzeptieren. Gelingt ihm das, so kann es sich – analog zum Jungen –<br />

1270 leicht mit <strong>de</strong>r Mutter i<strong>de</strong>ntifizieren und so auch seine eigene ‘Geschlechtsrolle’<br />

annehmen. Kann es die Penislosigkeit nicht akzeptieren,<br />

so führt dies nach psychoanalytischer Erkenntnis zum ‘Männlichkeitskomplex’,<br />

<strong>de</strong>m krankhaften Bestreben, so zu sein wie <strong>de</strong>r Mann.<br />

Gestörte eheliche Beziehungen, die Abwesenheit eines Elternteils o<strong>de</strong>r<br />

1275 Fehlreaktionen eines Elternteils gegenüber <strong>de</strong>m Kind können die Ursache<br />

dafür sein, dass die I<strong>de</strong>ntifikation nicht gut gelingt, und es ist <strong>Freud</strong>s<br />

Überzeugung, dass ein schlecht o<strong>de</strong>r nicht gelöster Ödipuskomplex die<br />

Hauptursache für viele neurotische Störungen darstellt. Die Bearbeitung<br />

<strong>de</strong>s Ödipuskomplexes steht daher in einer klassischen <strong>Freud</strong>schen Ana-<br />

1280 lyse zumeist im Mittelpunkt.<br />

Ein nicht o<strong>de</strong>r schlecht gelöster Ödipuskomplex wirkt sich erfahrungsgemäß<br />

problematisch in <strong>de</strong>r späteren Partnerbeziehung aus. Männer suchen<br />

dann häufig – je nach<strong>de</strong>m, wie sie die Mutter in jener Zeit erfahren<br />

haben – entwe<strong>de</strong>r eine viel ältere Partnerin o<strong>de</strong>r entwickeln grundsätzlich<br />

1285 Angst vor einer gegengeschlechtlichen Partnerschaft. Frauen neigen<br />

zum Kampf gegen <strong>de</strong>n Mann und alles Männliche o<strong>de</strong>r Väterliche (man<br />

spricht dann etwa von einer ‘kastrieren<strong>de</strong>n Frau’) o<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n sich<br />

ebenfalls mit einem viel älteren Partner.<br />

Eine häufig vorkommen<strong>de</strong> Konstellation bei gestörten elterlichen Bezie-<br />

1290 hungen etwa ist folgen<strong>de</strong>: <strong>de</strong>r Vater neigt dazu, <strong>de</strong>n Werbungen <strong>de</strong>r<br />

Tochter (die auch während <strong>de</strong>r Schulzeit und in <strong>de</strong>r Pubertät andauern)<br />

auf eine ungesun<strong>de</strong> Weise entgegenzukommen, in<strong>de</strong>m er sich einerseits<br />

einen erotischen Ersatz für das sucht, was er bei <strong>de</strong>r eigenen Gattin nicht<br />

erhält, an<strong>de</strong>rerseits setzt er aber immer wie<strong>de</strong>r – will er mit Moral und<br />

1295 Gesetz nicht in Konflikt kommen – auch schroffe Grenzen. Das führt dazu,<br />

dass die Tochter nicht nur <strong>de</strong>n Vater sehr ambivalent erfährt, son<strong>de</strong>rn<br />

auch von <strong>de</strong>r Mutter instinktiv als Rivalin empfun<strong>de</strong>n und darum von ihr<br />

meist abgelehnt wird, was das problematische und geheime Bündnis mit<br />

<strong>de</strong>m Vater weiter verstärkt. In ihren späteren Partnerschaften pflegt dann<br />

1300 eine solche Tochter ihre Vaterbeziehung in <strong>de</strong>n Partner zu projizieren.<br />

Das be<strong>de</strong>utet vorerst einmal, dass sie in ihm <strong>de</strong>n Vater sucht, aber im<br />

Sexualleben sehr bald mit Schuldgefühlen (in <strong>de</strong>r Vater-Projektion erscheint<br />

ihr die sexuelle Beziehung zum Partner unbewusst als Inzest)<br />

und entsprechen<strong>de</strong>r Verweigerung reagiert. Ferner hat sie ja <strong>de</strong>n Vater<br />

1305 als eine Person erlebt, die wechselnd anzieht und zurückstößt, und nun<br />

wird sie vom Zwang tyrannisiert, dieses Anziehen und Zurückstoßen<br />

beim Partner zu wie<strong>de</strong>rholen und damit Macht auf ihn auszuüben.<br />

Schließlich läuft dies alles darauf hinaus, als ob sich die solcherart psychisch<br />

lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Tochter an <strong>de</strong>n Männern, die sich mit ihr partnerschaft-<br />

1310 lich einlassen, für die vom Vater erlittenen Frustrationen gewissermaßen<br />

rächen möchte. Dies alles geschieht selbstverständlich unbewusst.<br />

6.3. Latenzzeit<br />

Festigung <strong>de</strong>s Primats <strong>de</strong>r Genitalität, I<strong>de</strong>ntitätsfindung, Festigung <strong>de</strong>r<br />

sozialen Rolle, Strukturierung <strong>de</strong>r Zukunftsperspektive<br />

1315 Nach psychoanalytischer Auffassung tritt etwa im Alter von 6-7 Jahren<br />

bis hin zur Pubertät das sexuelle Interesse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zurück. Die Sexualität<br />

ruht, verharrt in <strong>de</strong>r Latenz. Die Partialtriebe wer<strong>de</strong>n eher unterdrückt<br />

(z.T. sublimiert, also nichtsexuellen Zwecken zugeführt).All dies<br />

zeigt sich u.a. darin, dass sich z. B. in <strong>de</strong>r Schule die Kin<strong>de</strong>r fast selbst-<br />

1320 verständlich geschlechtsspezifisch gruppieren, ja sich sogar betont vom<br />

an<strong>de</strong>ren Geschlecht distanzieren. Aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Knaben sind dann<br />

die Mädchen "blöd", und aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Mädchen die Jungen "dumm"<br />

(o<strong>de</strong>r ähnliches).<br />

Hier ist vielleicht eine Bemerkung am Platze, die für die gesamte <strong>Freud</strong>-<br />

1325 sche Theorie <strong>de</strong>r kindlichen Sexualentwicklung gelten kann: es stellt sich<br />

nämlich die Frage, wie sehr die von <strong>de</strong>r Psychoanalyse beobachteten<br />

Phänomene allgemein als zur Natur <strong>de</strong>s Menschen gehörend zu betrachten<br />

sind o<strong>de</strong>r aber aufgefasst wer<strong>de</strong>n können als Verhaltensweisen in einer<br />

ganz bestimmten gesellschaftlichen Situation. Angesichts <strong>de</strong>r Tatsa-<br />

1330 che, dass heute ein Kind via Fernsehen (sofern es lange genug aufbleibt)<br />

mit allen möglichen Formen sexueller Praxis vertraut wer<strong>de</strong>n kann, viele<br />

Kin<strong>de</strong>r schon an <strong>de</strong>r Unterstufe fast ständig über Sexualität re<strong>de</strong>n und<br />

diesbezügliche Witze erzählen, darf man <strong>Freud</strong>s Theorie von <strong>de</strong>r Latenzzeit<br />

wohl zumin<strong>de</strong>st etwas relativieren.<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 11 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

1335 6.4. Genitale Phase: Pubertät, Adoleszenz,<br />

Erwachsenensexualität<br />

Ausbildung gereifter Genitalität, Selbstverantwortlichkeit, schöpferische<br />

Tätigkeit, »Meisterung <strong>de</strong>s Lebens« [Erikson] u.a.<br />

Die Pubertät ist im Wesentlichen jener Abschnitt in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s<br />

1340 jungen Menschen, in <strong>de</strong>m sich die kindliche Existenzweise in jene <strong>de</strong>s<br />

Erwachsenen umbil<strong>de</strong>t. Ein be<strong>de</strong>utsamer Aspekt dieser Umstrukturierung<br />

<strong>de</strong>r Persönlichkeit ist das Erreichen <strong>de</strong>r Geschlechtsreife. Beim Mädchen<br />

tritt sie mit <strong>de</strong>r ersten Menstruation ein, beim Knaben mit <strong>de</strong>r ersten Pollution<br />

(Samenerguss). <strong>Freud</strong> nennt diesen Stand <strong>de</strong>r Entwicklung ‘genita-<br />

1345 le’ Phase, das Ziel <strong>de</strong>r sexuellen Entwicklung ist erreicht.<br />

Die Geschlechtsreife führt in <strong>de</strong>r Regel auch zu einer verän<strong>de</strong>rten Einstellung<br />

gegenüber <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Geschlecht. Was sich zuvor oft <strong>de</strong>utlich<br />

abstieß, stößt sich oft bloß noch zum Schein ab (Pubertieren<strong>de</strong> suchen<br />

Streit mit gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen, um mit ihnen balgen zu<br />

1350 können) o<strong>de</strong>r zieht sich an.<br />

Die psychischen Verän<strong>de</strong>rungen, welche die Pubertät mit sich bringt,<br />

sind außeror<strong>de</strong>ntlich tiefgehend und vielfältig und betreffen die ganze<br />

Persönlichkeit.<br />

7. Die Traum<strong>de</strong>utung<br />

1355 <strong>Freud</strong>s erstmals in seinem berühmten Buch "Traumanalyse“ veröffentlichte<br />

Überlegungen zur Traum<strong>de</strong>utung trugen dazu bei, dass die Psychoanalyse<br />

<strong>de</strong>n Rahmen einer reinen Psychopathologie sprengte - er<br />

wur<strong>de</strong> von ihm als "Königsweg zum Unbewussten" erachtet. Obwohl die<br />

erste Auflage von <strong>Freud</strong>s Buch bei ihrem Erscheinen kaum beson<strong>de</strong>re<br />

1360 Beachtung fand, war sich <strong>Freud</strong> offensichtlich schon früh <strong>de</strong>r epochemachen<strong>de</strong>n<br />

Be<strong>de</strong>utung seines Buches bewusst: es erschien im Oktober<br />

1899, aber <strong>Freud</strong> datierte es auf 1900 voraus und setzte unter <strong>de</strong>n Titel<br />

das rebellische Motto "flectere si nequeo superos acheronta moveba"<br />

("Und können wir uns die Götter nicht geneigt machen, so lasst uns die<br />

1365 Unterweltlichen bewegen." – ein Zitat aus <strong>de</strong>r Antike). Neben <strong>de</strong>n ‘Drei<br />

Abhandlungen zur Sexualtheorie’ (1905), die er ebenfalls jeweils <strong>de</strong>m<br />

neuesten Stand seiner Theorieentwicklung anpasste, ist ‘Die Traum<strong>de</strong>utung’<br />

jenes Buch, <strong>de</strong>m er am meisten Sorgfalt ange<strong>de</strong>ihen ließ und das<br />

er selbst in acht jeweils verän<strong>de</strong>rten und <strong>de</strong>m neuesten Entwicklungs-<br />

1370 stand angepassten Auflagen erscheinen ließ.<br />

Im gesamten Buch ist <strong>Freud</strong>s Bemühen erkennbar, <strong>de</strong>n Traum als einen<br />

Prozess zu begreifen, <strong>de</strong>r nach bestimmten Regeln aufgebaut ist und <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>shalb, sobald man diese Regeln kennt, mehr o<strong>de</strong>r weniger ein<strong>de</strong>utig<br />

‘lesbar’ ist. Im Folgen<strong>de</strong>n sei <strong>de</strong>r Versuch gemacht, einige <strong>de</strong>r wichtigs-<br />

1375 ten Regeln und damit die <strong>Freud</strong>sche Auffassung <strong>de</strong>r Funktionsweise <strong>de</strong>s<br />

Traumes darzustellen.<br />

7.1. Zweck und Wesen <strong>de</strong>s Traumes<br />

Nach <strong>Freud</strong> kommt <strong>de</strong>m Traum zuerst einmal eine rein physiologische<br />

Be<strong>de</strong>utung zu: Er ist ‘<strong>de</strong>r Hüter <strong>de</strong>s Schlafs’. So ermöglicht er, Umwelt-<br />

1380 o<strong>de</strong>r organische Reize umzu<strong>de</strong>uten und in <strong>de</strong>n Schlaf einzubauen. Verbreitet<br />

ist <strong>de</strong>nn auch die Erfahrung, dass <strong>de</strong>r Wecker schellt und man<br />

dann von einem Pressluftbohrer o<strong>de</strong>r Ähnlichem träumt – und selig weiterschläft.<br />

Ähnliches kann passieren, wenn die gefüllte Blase zur Entleerung<br />

drängt und man dann träumt, man suche ein WC auf...<br />

1385 In psychologischer Hinsicht ist nach <strong>Freud</strong> <strong>de</strong>r Traum ganz allgemein<br />

"die (verklei<strong>de</strong>te) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches."<br />

Insofern <strong>de</strong>r Wunsch verdrängt ist, han<strong>de</strong>lt es sich folglich beim<br />

Traum um eine Manifestation <strong>de</strong>s Es. <strong>Freud</strong> geht davon aus, dass im<br />

Schlaf das Ich hochgradig geschwächt ist, d.h. dass die Libido von <strong>de</strong>r<br />

1390 Motorik und <strong>de</strong>r Sinneswahrnehmung weitgehend zurückgezogen ist.<br />

Das Es nützt gewissermaßen die Gunst <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> und dringt mit seinen<br />

Inhalten ins Traumbewusstsein und – via Rückerinnerung an <strong>de</strong>n Traum<br />

– ins Bewusste ein. Da aber das Ich während <strong>de</strong>s Schlafs bloß geschwächt,<br />

aber nicht völlig außer Funktion ist, stellt es sich gegen eine<br />

1395 unverhüllte Offenbarung <strong>de</strong>s Verdrängten aus <strong>de</strong>m Es und zwingt <strong>de</strong>n<br />

geheimnisvollen Regisseur <strong>de</strong>s Traums, <strong>de</strong>n unbewussten, verdrängten<br />

Wunsch zu verschleiern und ihn in solche Bil<strong>de</strong>r zu klei<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Bewussten<br />

aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s verdrängen<strong>de</strong>n Ichs als akzeptabel erscheinen.<br />

So gesehen, ist jener Traum, an <strong>de</strong>n wir uns beim Erwachen erin-<br />

1400 nern, nie genau das, was eigentlich das Es zum Ausdruck bringen wollte,<br />

son<strong>de</strong>rn stellt stets einen Kompromiss dar zwischen <strong>de</strong>m Es-Impuls und<br />

<strong>de</strong>r Gegenwehr <strong>de</strong>s Ich. Das Ich waltet <strong>de</strong>mzufolge beim Zustan<strong>de</strong>kommen<br />

eines konkreten Traumbil<strong>de</strong>s als Zensor.<br />

<strong>Freud</strong>s Ansicht, je<strong>de</strong>r Traum sei eine unbewusste Wunscherfüllung, wur-<br />

1405 <strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r angezweifelt. Auf Anhieb scheinen zwar jene Träume,<br />

welche <strong>de</strong>r Träumer als sehr belastend empfin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>n Kritikern recht zu<br />

geben. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich aber einwen<strong>de</strong>n, dass ja<br />

nicht <strong>de</strong>r manifeste, son<strong>de</strong>rn eben <strong>de</strong>r latente Traum die Wunscherfüllung<br />

darstellt und dass die Zensur durch das Ich in einzelnen Fällen of-<br />

1410 fenbar <strong>de</strong>rart groß ist, dass <strong>de</strong>r verdrängte Es-Wunsch eine gera<strong>de</strong>zu<br />

gegensätzliche Gestalt annehmen muss, um sich manifestieren zu können.<br />

Darüber hinaus entspricht es durchaus <strong>de</strong>r psychoanalytischen Auffassung,<br />

dass im Es die skurrilsten Wünsche, die <strong>de</strong>r Selbsterhaltung<br />

vollkommen entgegenstehen, vorhan<strong>de</strong>n sein können. Wer kennt nicht z.<br />

1415 B. die Angst, man könnte sich selbst plötzlich in die Tiefe stürzen wollen,<br />

wenn er von einer sehr hohen Brücke hinunterschaut. Diese Angst ist nur<br />

verständlich, weil im Es offensichtlich solche Wünsche lauern. Auch autoaggressive<br />

Wünsche mit <strong>de</strong>m Zwecke <strong>de</strong>r Abwehr von Schuldgefühlen<br />

können zu sehr belasten<strong>de</strong>n Traumbil<strong>de</strong>rn führen.<br />

1420 Damit ist aber <strong>de</strong>r Zweifel an <strong>Freud</strong>s Position nicht aus <strong>de</strong>r Welt geschafft<br />

– immerhin könnte es ja sein, dass zwar ein großer Teil, aber<br />

eben doch nicht alle Träume Wunscherfüllungen darstellen. Am ehesten<br />

lässt sich noch Jungs Ansatz, <strong>de</strong>r Traum habe stets eine kompensatorische<br />

Funktion, gleiche also aus, was im bewussten Leben nicht ausge-<br />

1425 lebt wer<strong>de</strong>n könne, mit <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Behauptung in Einklang bringen.<br />

Denn das Bedürfnis, ungelebte Seiten <strong>de</strong>r Persönlichkeit im Traum ersatzweise<br />

zu leben, kann sehr wohl generell als Wunscherfüllung <strong>de</strong>klariert<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

7.2. Latenter und manifester Traum, Traum<strong>de</strong>utung und<br />

1430 Traumarbeit<br />

Jenen Traumgedanken, <strong>de</strong>r im Es vorhan<strong>de</strong>n ist und sich im Träumen<br />

darstellen möchte, nennt <strong>Freud</strong> <strong>de</strong>n latenten Traum. Jenen Trauminhalt,<br />

<strong>de</strong>r durch die Einwirkung <strong>de</strong>r Ich-Zensur entstellt wur<strong>de</strong>, bezeichnet<br />

<strong>Freud</strong> als manifesten Traum. Wenn also jemand einen Traum erinnert<br />

1435 o<strong>de</strong>r erzählt, so han<strong>de</strong>lt es sich dabei stets um <strong>de</strong>n manifesten Traum.<br />

Der latente Traum kann erst sekundär, etwa via Traum<strong>de</strong>utung, ent<strong>de</strong>ckt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Traum<strong>de</strong>utung ist folglich die Umkehrung jenes Prozesses, <strong>de</strong>r die<br />

Umwandlung <strong>de</strong>s latenten in <strong>de</strong>n manifesten Traum bewerkstelligte.<br />

1440 <strong>Freud</strong> nennt diesen Verwandlungsprozess, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Traumgedanken in<br />

die visuellen und akustischen Bil<strong>de</strong>r umsetzt, Traumarbeit. Es ist folglich<br />

ganz einfach: die Traumarbeit macht aus <strong>de</strong>m latenten Traum <strong>de</strong>n manifesten,<br />

und die Traum<strong>de</strong>utung geht diesen Weg wie<strong>de</strong>r zurück und ent<strong>de</strong>ckt<br />

im manifesten Traum <strong>de</strong>n ursprünglichen latenten Traum.<br />

1445 Um die weiteren Begriffe leichter erklären zu können, hier ein Beispiel für<br />

einen möglichen manifesten Traum:<br />

Ein Lehrer träumt, er fahre mit einem rostigen VW zur Schule, überfahre<br />

unterwegs ein Huhn, wer<strong>de</strong> dann von <strong>de</strong>n Schülern nicht wie gewohnt<br />

freundlich begrüßt, son<strong>de</strong>rn tätlich angegriffen, gehe dann seine Mappe<br />

1450 suchen, die er im Auto vergessen habe, dieses habe sich aber unter<strong>de</strong>ssen<br />

in einen dreibeinigen Ofen verwan<strong>de</strong>lt, aus <strong>de</strong>m schwarzer Rauch<br />

aufsteige, und wie er ins Schulzimmer zurückkehren wolle, sei dieses<br />

plötzlich eine Kirche, in welcher die Frau <strong>de</strong>s Schulabwarts die Messe lese.<br />

1455 In diesem manifesten Traum fin<strong>de</strong>t sich eine Fülle von Elementen: Lehrer,<br />

Autofahren, VW, Rost, Schule, Huhn, Huhn überfahren usf. ‘Den<br />

Traum <strong>de</strong>uten’ heißt nun, einen Traumgedanken zu fin<strong>de</strong>n, in welchem<br />

alle diese Elemente eine Entsprechung haben, für die sie als Stellvertreter<br />

gelten können. Sollte sich z. B. herausstellen, dass mit <strong>de</strong>m rostigen<br />

1460 VW die leichte körperliche Invalidität <strong>de</strong>s Lehrers ausgedrückt ist, dass<br />

das überfahrene Huhn seine eigene Frau be<strong>de</strong>utet, mit <strong>de</strong>r er in unglücklicher<br />

Ehe lebt, und dass es sich bei seinen Schülern um seine eigenen<br />

Kin<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt, die ihn kürzlich aufgefor<strong>de</strong>rt haben, mit seiner Gemahlin<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 12 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

ins reine zu kommen usf., so liegen hier Beispiele von Elementen aus<br />

1465 <strong>de</strong>m latenten Traum vor.<br />

Die grundlegendste Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist folglich die Einkleidung eines<br />

Gedankens bzw. <strong>de</strong>r einzelnen Elemente eines Traumgedankens in<br />

Bil<strong>de</strong>r, die in irgen<strong>de</strong>inem erkennbaren Zusammenhang mit <strong>de</strong>n latenten<br />

Traumelementen stehen. Der Zusammenhang kann im Wesen <strong>de</strong>r Sache<br />

1470 selbst liegen. Wenn jemand von ‘in die Schule gehen’ träumt, kann damit<br />

ganz allgemein die Lebensschule gemeint sein. Solche Deutungen sind<br />

im Allgemeinen einfach, und auch <strong>de</strong>r Außenstehen<strong>de</strong> kann sich an <strong>de</strong>r<br />

Deutungsarbeit beteiligen. Sehr oft aber ist <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen<br />

<strong>de</strong>m latenten und <strong>de</strong>m manifesten Traumelement in <strong>de</strong>r konkreten Le-<br />

1475 bensgeschichte <strong>de</strong>s Träumers begrün<strong>de</strong>t. So kann sich z. B. herausstellen,<br />

dass <strong>de</strong>r Träumer in obigem Beispiel die Frau <strong>de</strong>s Schulhausabwarts<br />

letzten Sonntag in <strong>de</strong>r Kirche sah und dass ihm seine Frau ‘die Leviten<br />

las’, und es ist klar, dass man erst dann einen wirklichen Zugang zum<br />

Traum fin<strong>de</strong>t, wenn man vom Träumer diese Erlebnisse mitgeteilt be-<br />

1480 kommt. Das ist <strong>de</strong>r Grund weshalb <strong>Freud</strong> nichts von reinen Fremd<strong>de</strong>utungen<br />

hielt, und seine Analysan<strong>de</strong>n zu je<strong>de</strong>m einzelnen Element <strong>de</strong>s<br />

manifesten Traumes frei assoziieren ließ (dieser Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r freien Assoziation<br />

wur<strong>de</strong> dann z. B. von Jung entgegengehalten, dass dadurch eigentlich<br />

nicht <strong>de</strong>r Traum ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn dass – via freie Asso-<br />

1485 ziation – in aller Regelmäßigkeit bloß die neurotischen Züge <strong>de</strong>s Träumers<br />

sichtbar wer<strong>de</strong>n; diese wür<strong>de</strong>n sich nämlich beim freien Assoziieren<br />

stets zeigen, ganz gleich, von welchen Bil<strong>de</strong>rn, Begriffen o<strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong>n<br />

man ausgehe).<br />

Im Rahmen dieses Verwan<strong>de</strong>lns von latenten Traumelementen in mani-<br />

1490 feste Traumbil<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>t <strong>Freud</strong> fünf spezielle Formen <strong>de</strong>r Traumarbeit:<br />

1. <strong>Freud</strong> stellte fest, dass in <strong>de</strong>r Regel nicht – wie im obigen konstruierten<br />

Beispiel – ein Element aus <strong>de</strong>m manifesten Traum jeweils einem an<strong>de</strong>ren<br />

Element im latenten Traum entspricht, son<strong>de</strong>rn dass sich mehrere<br />

1495 Elemente <strong>de</strong>s latenten Traumes in einem einzigen Element <strong>de</strong>s manifesten<br />

Traumes vertreten lassen können. Auch das Umgekehrte ist möglich:<br />

dass nämlich ein einziges Element <strong>de</strong>s latenten Traumes in mehreren<br />

Elementen <strong>de</strong>s manifesten Traumes vorkommt. <strong>Freud</strong> nennt diesen Vorgang<br />

<strong>de</strong>r Traumarbeit Verdichtung. Es könnte also sein, dass ‘<strong>de</strong>s Leh-<br />

1500 rers Gemahlin’ (Element <strong>de</strong>s latenten Traums) sowohl im Huhn als auch<br />

im Ofen und in <strong>de</strong>r Frau <strong>de</strong>s Schulhausabwarts ihre Entsprechung im<br />

manifesten Traum fin<strong>de</strong>t und dass an<strong>de</strong>rerseits im manifesten Traumelement<br />

‘rostiger VW’ die körperlichen Beschwer<strong>de</strong>n, die unerquickliche<br />

Situation am Arbeitsplatz und das angeschlagene Image beim Volk<br />

1505 (Volkswagen) gleichzeitig ausgedrückt sind.<br />

2. Eine zweite Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verschiebung. Es han<strong>de</strong>lt<br />

sich dabei um eine Gewichtsverlagerung hinsichtlich <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utsamkeit<br />

eines Elements. So kann auf Anhieb in unserem Beispiel z. B. <strong>de</strong>r rauchen<strong>de</strong><br />

Ofen als sehr wichtig erscheinen, aber bei einer genauen Analy-<br />

1510 se mag sich herausstellen, dass z. B. das Detail, dass er genau drei Beine<br />

hat, sehr wichtig ist.<br />

3. Eine weitere Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verkehrung ins Gegenteil.<br />

So kann jemand träumen, dass er seine Sekretärin schlägt, und die Analyse<br />

zeigt dann, dass er sich unbewusst genau das Gegenteil wünscht<br />

1515 (was immer das im jeweiligen Fall be<strong>de</strong>uten mag).<br />

4. Des weiteren scheint sich <strong>de</strong>r Traumregisseur einen Spaß daraus zu<br />

machen, <strong>de</strong>m Wortlaut einer Sache eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beizumessen.<br />

So kann jemand von einem Mantel träumen, und gemeint ist <strong>de</strong>r<br />

Mann, o<strong>de</strong>r jemand träumt von Klassenkamera<strong>de</strong>n Peter Bischof, und<br />

1520 gemeint ist <strong>de</strong>r Bischof Petrus, nämlich <strong>de</strong>r Papst und damit die Beziehung<br />

zur Kirche und zur Religion. Und wenn jemand träumt, er reise gen<br />

Italien, so dürfte dies tatsächlich mit <strong>de</strong>n Genitalien im Zusammenhang<br />

stehen. Es lässt sich häufig die Erfahrung machen, dass uns <strong>de</strong>r ‘Traumregisseur’<br />

(wer und was das immer sei) viele solche Deutungen anbietet,<br />

1525 sobald ‘er gemerkt’ hat, dass wir bei <strong>de</strong>r Deutung darauf achten.<br />

5. Schließlich vertritt <strong>Freud</strong> die Ansicht, dass bestimmten Gegenstän<strong>de</strong>n<br />

feststehen<strong>de</strong> Symbole zugeordnet wer<strong>de</strong>n können. So schreibt <strong>Freud</strong>,<br />

nach<strong>de</strong>m er auf die Viel<strong>de</strong>utigkeit von Traumelementen hingewiesen und<br />

sich gegen eine starre Anwendung <strong>de</strong>r Traumsymbole verwahrt hat:<br />

1530 "Der Kaiser und die Kaiserin (König und Königin) stellen wirklich zumeist<br />

die Eltern <strong>de</strong>s Träumers dar, Prinz o<strong>de</strong>r Prinzessin ist er selbst. Dieselbe<br />

hohe Autorität wie <strong>de</strong>m Kaiser wird aber auch großen Männern zugestan<strong>de</strong>n,<br />

darum erscheint in manchen Träumen z. B. Goethe als Vatersymbol.<br />

Alle in die Länge reichen<strong>de</strong>n Objekte, Stöcke Baumstämme,<br />

1535 Schirme (<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Erektion vergleichbaren Aufspannens wegen!), alle<br />

länglichen und scharfen Waffen: Messer, Dolche, Piken, wollen das<br />

männliche Glied vertreten. Ein häufiges, nicht recht verständliches Symbol<br />

<strong>de</strong>sselben ist die Nagelfeile (<strong>de</strong>s Reibens und Schabens wegen?). –<br />

Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen <strong>de</strong>m Frauen-<br />

1540 leib, aber auch Höhlen, Schiffe und alle Arten von Gefäßen. Zimmer im<br />

Traume sind zumeist Frauenzimmer, die Schil<strong>de</strong>rung ihrer verschie<strong>de</strong>nen<br />

Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gera<strong>de</strong> nicht irre.<br />

Das Interesse, ob das Zimmer ‘offen’ o<strong>de</strong>r ‘verschlossen’ ist, wird in diesem<br />

Zusammenhange leicht verständlich. Welcher Schlüssel das Zim-<br />

1545 mer aufsperrt, braucht dann nicht ausdrücklich gesagt zu wer<strong>de</strong>n; die<br />

Symbolik von Schloss und Schlüssel hat Uhland im Lied vom ‘Grafen<br />

Eberstein’ zur anmutigsten Zote gedient. – Der Traum, durch eine Flucht<br />

von Zimmern zu gehen, ist ein Bor<strong>de</strong>ll- o<strong>de</strong>r Haremstraum. Er wird aber,<br />

wie H. Sachs an schönen Beispielen gezeigt hat, zur Darstellung <strong>de</strong>r Ehe<br />

1550 (Gegensatz) verwen<strong>de</strong>t. – Eine interessante Beziehung zur infantilen Sexualforschung<br />

ergibt sich, wenn <strong>de</strong>r Träumer von zwei Zimmern träumt,<br />

die früher eines waren, o<strong>de</strong>r ein ihm bekanntes Zimmer einer Wohnung<br />

im Traume in zwei geteilt sieht o<strong>de</strong>r das Umgekehrte. In <strong>de</strong>r Kindheit hat<br />

man das weibliche Genitale (<strong>de</strong>n Popo) für einen einzigen Raum gehal-<br />

1555 ten (die infantile Kloakentheorie) und erst später erfahren, dass diese<br />

Körperregion zwei geson<strong>de</strong>rte Höhlungen und Öffnungen umfasst. –<br />

Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen, und zwar<br />

sowohl aufwärts wie abwärts, sind symbolische Darstellungen <strong>de</strong>s Geschlechtsaktes.<br />

– Glatte Wän<strong>de</strong>, über die man klettert, Fassa<strong>de</strong>n von<br />

1560 Häusern, an <strong>de</strong>nen man sich – häufig unter starker Angst – herablässt,<br />

entsprechen aufrechten menschlichen Körpern, wie<strong>de</strong>rholen im Traum<br />

wahrscheinlich die Erinnerung an das Emporklettern <strong>de</strong>s kleinen Kin<strong>de</strong>s<br />

an Eltern und Pflegepersonen. Die ‘glatten’ Mauern sind Männer; an <strong>de</strong>n<br />

‘Vorsprüngen’ <strong>de</strong>r Häuser hält man sich nicht selten in <strong>de</strong>r Traumangst<br />

1565 fest. – Tische, ge<strong>de</strong>ckte Tische und Bretter sind gleichfalls Frauen, wohl<br />

<strong>de</strong>s Gegensatzes wegen, <strong>de</strong>r hier die Körperwölbungen aufhebt. ‘Holz’<br />

scheint überhaupt nach seinen sprachlichen Beziehungen ein Vertreter<br />

<strong>de</strong>s weiblichen Stoffes (Materie) zu sein. Der Name <strong>de</strong>r Insel Ma<strong>de</strong>ira<br />

be<strong>de</strong>utet im Portugiesischen: Holz. Da ‘Tisch und Bett’ die Ehe ausma-<br />

1570 chen, wird im Traum häufig <strong>de</strong>r erstere für das letztere gesetzt und, soweit<br />

es angeht, <strong>de</strong>r sexuelle Vorstellungskomplex auf <strong>de</strong>n Esskomplex<br />

transponiert. – Von Kleidungsstücken ist <strong>de</strong>r Hut einer Frau sehr häufig<br />

mit Sicherheit als Genitale, und zwar <strong>de</strong>s Mannes, zu <strong>de</strong>uten. Ebenso<br />

<strong>de</strong>r Mantel, wobei es dahingestellt bleibt, welcher Anteil an dieser Sym-<br />

1575 bolverwendung <strong>de</strong>m Wortlaut zukommt. In Träumen <strong>de</strong>r Männer fin<strong>de</strong>t<br />

man häufig die Krawatte als Symbol <strong>de</strong>s Penis, wohl nicht nur darum,<br />

weil sie lange herabhängt und für <strong>de</strong>n Mann charakteristisch ist, son<strong>de</strong>rn<br />

auch, weil man sie nach seinem Wohlgefallen auswählen kann, eine<br />

Freiheit, die beim Eigentlichen dieses Symbols von <strong>de</strong>r Natur verwehrt<br />

1580 ist. Personen, die dieses Symbol im Traume verwen<strong>de</strong>n, treiben im Leben<br />

oft großen Luxus mit Krawatten und besitzen förmliche Sammlungen<br />

von ihnen. – Alle komplizierten Maschinerien und Apparate <strong>de</strong>r Träume<br />

sind mit großer Wahrscheinlichkeit Genitalien – in <strong>de</strong>r Regel männliche –,<br />

in <strong>de</strong>ren Beschreibung sich die Traumsymbolik so unermüdlich wie die<br />

1585 Witzarbeit erweist. Ganz unverkennbar ist es auch, dass alle Waffen und<br />

Werkzeuge zu Symbolen <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n:<br />

Pflug, Hammer, Flinte, Revolver, Dolch, Säbel usw. – Ebenso sind viele<br />

Landschaften <strong>de</strong>r Träume, beson<strong>de</strong>rs solche mit Brücken o<strong>de</strong>r mit bewal<strong>de</strong>ten<br />

Bergen, unschwer als Genitalbeschreibungen zu erkennen. Ma-<br />

1590 linowski hat eine Reihe von Beispielen gesammelt, in <strong>de</strong>nen die Träumer<br />

ihre Träume durch Zeichnungen erläuterten, welche die darin vorkommen<strong>de</strong>n<br />

Landschaften und Räumlichkeiten darstellen sollten. Diese<br />

Zeichnungen machen <strong>de</strong>n Unterschied von manifester und latenter Be<strong>de</strong>utung<br />

im Traume sehr anschaulich. Während sie, arglos betrachtet,<br />

1595 Pläne, Landschaften und <strong>de</strong>rgleichen zu bringen scheinen, enthüllen sie<br />

sich einer eindringlicheren Untersuchung als Darstellung <strong>de</strong>s menschli-<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 13 von 19


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chen Körpers, <strong>de</strong>r Genitalien usw. und ermöglichen erst nach dieser Auffassung<br />

das Verständnis <strong>de</strong>s Traumes. Auch darf man bei unverständlichen<br />

Wortneubildungen an Zusammensetzung aus Bestandteilen mit se-<br />

1600 xueller Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>nken. – Auch Kin<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>uten im Traume oft nichts<br />

an<strong>de</strong>res als Genitalien, wie ja Männer und Frauen gewohnt sind, ihr Genitale<br />

liebkosend als ihr ‘Kleines’ zu bezeichnen. Den ‘kleinen Bru<strong>de</strong>r’ hat<br />

Stekel richtig als Penis erkannt. Mit einem kleinen Kin<strong>de</strong> spielen, <strong>de</strong>n<br />

Kleinen schlagen usw. sind häufig Traumdarstellungen <strong>de</strong>r Onanie. – Zur<br />

1605 symbolischen Darstellung <strong>de</strong>r Kastration dient <strong>de</strong>r Traumarbeit: die Kahlheit,<br />

das Haarschnei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Zahnausfall und das Köpfen. Als Verwahrung<br />

gegen die Kastration ist es aufzufassen, wenn eines <strong>de</strong>r gebräuchlichen<br />

Penissymbole im Traume in Doppel- o<strong>de</strong>r Mehrzahl vorkommt.<br />

Auch das Auftreten <strong>de</strong>r Ei<strong>de</strong>chse im Traume – eines Tieres, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ab-<br />

1610 gerissene Schwanz nachwächst – hat dieselbe Be<strong>de</strong>utung. – Von <strong>de</strong>n<br />

Tieren, die in Mythologie und Folklore als Genitalsymbole verwen<strong>de</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n, spielen mehrere auch im Traum diese Rolle: <strong>de</strong>r Fisch, die<br />

Schnecke, die Katze, die Maus (<strong>de</strong>r Genitalbehaarung wegen), vor allem<br />

aber das be<strong>de</strong>utsamste Symbol <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s, die Schlange.<br />

1615 Kleine Tiere, Ungeziefer sind die Vertreter von kleinen Kin<strong>de</strong>rn, z. B. <strong>de</strong>r<br />

unerwünschten Geschwister; mit Ungeziefer behaftet sein ist oft gleichzusetzen<br />

<strong>de</strong>r Gravidität (= Schwangerschaft; AB). – Als ganz rezentes3<br />

Traumsymbol <strong>de</strong>s männlichen Genitales ist das Luftschiff zu erwähnen,<br />

welches sowohl durch seine Beziehung zum Fliegen wie gelegentlich<br />

1620 durch seine Form solche Verwendung rechtfertigt." usf. (4)<br />

Die Einführung feststehen<strong>de</strong>r Symbole mit zumeist sexuellen Be<strong>de</strong>utung<br />

ist insofern ein interessantes Detail <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Theoriebildung, als<br />

ja <strong>Freud</strong> sich zuerst gegen die früher oft verwen<strong>de</strong>ten Traum<strong>de</strong>utungsbücher<br />

wen<strong>de</strong>te, in welchen Verzeichnisse von Traumbil<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>r ent-<br />

1625 sprechen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung zu fin<strong>de</strong>n waren. <strong>Freud</strong> selbst hat somit wie<strong>de</strong>r<br />

einen Schritt rückwärts getan und sich wie<strong>de</strong>r ein Stück weit von seiner<br />

Position entfernt, wonach <strong>de</strong>r Traum nur aufgrund <strong>de</strong>r Kenntnis <strong>de</strong>r Lebensgeschichte<br />

(anhand freier Assoziationen) <strong>de</strong>s Träumers zu <strong>de</strong>uten<br />

ist. Um <strong>Freud</strong> gegenüber nicht ungerecht zu sein, muss darum darauf<br />

1630 hingewiesen wer<strong>de</strong>n, dass er selber nachdrücklich davor warnt, "die Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>r Symbole für die Traum<strong>de</strong>utung zu überschätzen, etwa die<br />

Arbeit <strong>de</strong>r Traumübersetzung auf Symbolübersetzung einzuschränken<br />

und die Technik <strong>de</strong>r Verwertung von Einfällen <strong>de</strong>s Träumers aufzugeben.<br />

Die bei<strong>de</strong>n Techniken <strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>utung müssen einan<strong>de</strong>r ergänzen;<br />

1635 praktisch wie theoretisch verbleibt aber <strong>de</strong>r Vorrang <strong>de</strong>m zuerst beschriebenen<br />

Verfahren(5), das <strong>de</strong>n Äußerungen <strong>de</strong>s Träumers die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Be<strong>de</strong>utung beilegt, während die von uns vorgenommene<br />

Symbolübersetzung als Hilfsmittel hinzutritt." (6)<br />

Angesichts <strong>de</strong>r Komplexität <strong>de</strong>r Traumarbeit steht je<strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>uter in<br />

1640 je<strong>de</strong>m einzelnen Falle vor einer sehr anspruchsvollen Arbeit. Denn bei<br />

je<strong>de</strong>m einzelnen Element <strong>de</strong>s manifesten Traumes muss er entschei<strong>de</strong>n,<br />

ob es direkt o<strong>de</strong>r gegenteilig zu <strong>de</strong>uten ist, einer aktuellen Problematik<br />

o<strong>de</strong>r einem zurückliegen<strong>de</strong>n Problem entspricht, ein feststehen<strong>de</strong>s Symbol<br />

ist o<strong>de</strong>r beliebig durch freie Assoziation ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n kann o<strong>de</strong>r<br />

1645 als Sache o<strong>de</strong>r vom Wortlaut her ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n muss.<br />

Die Vielfalt dieser Deutungsmöglichkeit eröffnet natürlich je<strong>de</strong>r Beliebigkeit<br />

Tür und Tor. So kann man beispielsweise, will man einfach irgen<strong>de</strong>ine<br />

Deutungs-Hypothese bestätigt wissen, ein nicht passen<strong>de</strong>s Element<br />

ins Gegenteil umkehren. Es braucht darum ein Kriterium, ob man als<br />

1650 Deuter auf <strong>de</strong>r richtigen Spur ist. Dieses Kriterium ist ein gewisses Evi<strong>de</strong>nz-Erlebnis<br />

<strong>de</strong>s Träumers: er spürt intuitiv, dass die Deutung stimmt<br />

und tatsächlich eine für ihn be<strong>de</strong>utsame Problematik erhellt. Allerdings<br />

kommt es auch vor, dass z. B. <strong>de</strong>r Analytiker mit einer Deutung Recht<br />

hat, aber <strong>de</strong>r Analysand die als belastend empfun<strong>de</strong>ne Wahrheit nicht<br />

1655 annehmen kann (<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Adler’schen Individualpsychologie vertraute<br />

Analytiker achtet in diesen Fällen auch auf <strong>de</strong>n sog. Erkennungsreflex<br />

(7)).<br />

7.3. Traumquellen<br />

Es ist nun zu fragen, woher <strong>de</strong>r Traum einerseits die latenten Inhalte, an-<br />

1660 <strong>de</strong>rerseits die manifesten Bil<strong>de</strong>r bezieht. <strong>Freud</strong> ist nun davon überzeugt,<br />

dass in allen latenten Träumen irgendwelche Kindheitserinnerungen zumin<strong>de</strong>st<br />

mitbeteiligt sind. In dieser Auffassung kommt seine allgemeine<br />

Ansicht zum Ausdruck, dass die – insbeson<strong>de</strong>re frühe – Kindheit für das<br />

ganze Leben von hervorragen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist und dass auch allen<br />

1665 neurotischen Störungen irgendwelche belasten<strong>de</strong>n Erlebnisse in <strong>de</strong>r<br />

Kindheit zu Grun<strong>de</strong> liegen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>r konkreten Bil<strong>de</strong>r sind nach <strong>Freud</strong> vorerst einmal aktuelle<br />

somatische (körperliche) Quellen maßgebend, wobei er 3 verschie<strong>de</strong>ne<br />

Arten unterschei<strong>de</strong>t, nämlich<br />

1670 • von äußeren Objekten ausgehen<strong>de</strong> Sinnesreize (z. B. Gerüche,<br />

Lärm)<br />

• subjektiv begrün<strong>de</strong>te Erregungszustän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sinnesorgane<br />

(z. B. Ohrensausen)<br />

• aus <strong>de</strong>m Körperinneren stammen<strong>de</strong> Reize (z. B. Verdauungsbeschwer<strong>de</strong>n,<br />

Harndrang)<br />

1675<br />

Wichtiger für die konkrete Gestaltung <strong>de</strong>r manifesten Bil<strong>de</strong>rwelt sind für<br />

<strong>Freud</strong> Erlebnisse <strong>de</strong>s Vortages, sog. Tagesreste. <strong>Freud</strong> setzt diese Aussage<br />

insofern absolut, als er annimmt, dass nicht etwa um einige Tage<br />

zurückliegen<strong>de</strong> Erfahrungen ausschlaggebend sind, son<strong>de</strong>rn immer sol-<br />

1680 che <strong>de</strong>s Vortages. Wenn aber etwa trotz<strong>de</strong>m eine Begebenheit <strong>de</strong>r letzten<br />

Woche her im Traume auftaucht, so geht <strong>Freud</strong> davon aus, dass man<br />

am Vortag zumin<strong>de</strong>st daran gedacht hat (eine Behauptung, die sich natürlich<br />

grundsätzlich nicht wi<strong>de</strong>rlegen lässt). Auch nimmt er als Grundregel<br />

an, dass allen verschie<strong>de</strong>nen manifesten Träumen einer einzigen<br />

1685 Nacht stets <strong>de</strong>rselbe latente Traum zu Grun<strong>de</strong> liegt.<br />

Anmerkung:<br />

<strong>Freud</strong> war <strong>de</strong>r Ansicht, dass alle Träume grundsätzlich egoistisch motiviert<br />

sind, d.h. im Lustprinzip wurzeln und nur insoweit <strong>de</strong>m Realitätsprinzip<br />

verpflichtet sind, als die Zensur <strong>de</strong>s Ichs negativ (also abwehrend und<br />

1690 verschleiernd) wirkt.<br />

Träume müssen aber nicht bloß Ausdruck verdrängter Es-Impulse (Wünsche)<br />

sein, son<strong>de</strong>rn können durchaus auch als Botschafter <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Ich-Instanzen fungieren (Ich, Über-Ich). Demgemäß können sie einem<br />

Menschen – ohne dass damit notwendigerweise Wünsche zum Ausdruck<br />

1695 gebracht wer<strong>de</strong>n müssen – seine jetzige Lebenssituation wi<strong>de</strong>rspiegeln,<br />

ihn auf Gefahren aufmerksam machen und ihm aufzeigen, welche Entwicklungsschritte<br />

ihm angemessen sind. <strong>Freud</strong> lehnt einen solchen finalen<br />

Aspekt <strong>de</strong>s Traums ab, allerdings steht er aber in Übereinstimmung<br />

mit <strong>de</strong>r Jung’schen Theorie, wonach es die Lebensaufgabe je<strong>de</strong>s Men-<br />

1700 schen ist, alle wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>n Seiten seines Wesens miteinan<strong>de</strong>r zu<br />

versöhnen und so zu einer psychischen Ganzheit zu gelangen. Jung<br />

nennt diesen Prozess Individuation, und die Traum<strong>de</strong>utung kann eine<br />

wertvolle Hilfe sein, um dieses Ziel zu erreichen.<br />

8. Psychopathologie und Therapieziele<br />

1705 8.1. Neurosen<br />

<strong>Freud</strong> erachtet <strong>de</strong>n Unterschied zwischen "alltäglichen" existenziellen<br />

Konflikten und neurotischen Zustandsbil<strong>de</strong>rn als einen rein quantitativen.<br />

So schreibt er (Gesammelte Werke VIII, S. 338) <strong>de</strong>nn auch, dass "...die<br />

nämlichen Komplexe und Konflikte auch bei allen Gesun<strong>de</strong>n und Norma-<br />

1710 len zu erwarten sind." (8) In <strong>de</strong>r Psychoanalyse spricht man <strong>de</strong>shalb von<br />

einer sog. "Normalpathologie", die von <strong>de</strong>r klinischen unterschie<strong>de</strong>n wird<br />

und im Gegensatz zu dieser die beruflichen und sozialen Fertigkeiten<br />

kaum negativ beeinflusst.<br />

Der Begriff ‘Neurose’ leitet sich von ‘Neuron’ (Nervenzelle) ab. Im letzten<br />

1715 Jahrhun<strong>de</strong>rt glaubte man alle psychischen Erkrankungen auf ein nicht<br />

richtig funktionieren<strong>de</strong>s Nervensystem zurückführen zu können und benannte<br />

<strong>de</strong>mentsprechend auch die Spitäler für Geisteskranke ‘Nervenheilanstalten’.<br />

Bei einer Neurose han<strong>de</strong>lt es sich grundsätzlich um ein erworbenes psy-<br />

1720 chisches Lei<strong>de</strong>n, das freilich sehr oft nicht als solches erkannt o<strong>de</strong>r als<br />

Krankheit empfun<strong>de</strong>n wird. Zum Verständnis <strong>de</strong>s neurotischen Verhaltens<br />

kann man nach <strong>de</strong>m Verständnis <strong>de</strong>r Psychoanalyse prinzipiell alle<br />

Abwehrmechanismen heranziehen. Insofern sie nämlich auf Verdrängung<br />

beruhen, <strong>de</strong>r Angstabwehr dienen und Selbsttäuschungen darstellen,<br />

1725 haftet ihnen (wohl mit Ausnahme <strong>de</strong>r Sublimierung) insgesamt etwas<br />

Krankhaftes an. So ließe sich theoretisch ‘psychische Gesundheit’ als<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 14 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

‘Abwesenheit von jedwe<strong>de</strong>m Abwehrmechanismus’ <strong>de</strong>finieren und wäre<br />

i<strong>de</strong>ntisch mit absoluter Offenheit, Wahrhaftigkeit und Angstfreiheit. So<br />

gesehen lässt sich je<strong>de</strong>s Verhalten, das vom gesun<strong>de</strong>n abweicht, als<br />

1730 ‘neurotisch’ bezeichnen – woraus sich eine Schlussfolgerung ziehen<br />

lässt, dass alle Menschen mehr o<strong>de</strong>r weniger stark irgendwelche neurotischen<br />

Züge an sich haben.<br />

Haben nun die neurotischen Züge eines Menschen allerdings ein ‘normales’<br />

(d.h. für ihn und die Umwelt noch erträgliches) Maß überschritten, so<br />

1735 dass sich das krankhafte Verhalten <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Menschen verfestigt<br />

und in gewissen Situationen zwanghaft wie<strong>de</strong>rholt, so spricht man<br />

von einer etablierten Neurose. Der Übergang von ‘mit neurotischen Zügen<br />

behaftet’ zur ‘etablierten Neurose’ ist allerdings weitgehend quantitativer<br />

Natur und insofern fließend. Ob und inwieweit sich ein Mensch mit<br />

1740 seiner Neurose in einer Psychotherapie systematisch auseinan<strong>de</strong>rsetzen<br />

will, ist darum immer auch eine Frage <strong>de</strong>r erhofften und angestrebten Lebensqualität.<br />

<strong>Freud</strong> sieht in <strong>de</strong>r Neurose das Resultat einer unvollständigen Verdrängung<br />

von Es-Impulsen durch das Ich, wobei <strong>de</strong>r verdrängte Impuls trotz<br />

1745 <strong>de</strong>r Verdrängung (verschleiert, gewissermaßen durch die Hintertür) in<br />

das Bewusste und das Verhalten einbricht. Um diesen Einbruch <strong>de</strong>s Es-<br />

Impulses ins Verhalten erneut abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r psychische Organismus<br />

das neurotische Symptom aus. Dieses dient einerseits <strong>de</strong>r Ersatzbefriedigung<br />

<strong>de</strong>s verdrängten Impulses, an<strong>de</strong>rerseits (und gleichzei-<br />

1750 tig) <strong>de</strong>m Versuch, diesen - als belastend empfun<strong>de</strong>nen - Impuls endgültig<br />

zu beseitigen.<br />

Dieses Theorem lässt sich am Beispiel eines Menschen ver<strong>de</strong>utlichen,<br />

<strong>de</strong>r mit tief sitzen<strong>de</strong>n, aber verdrängten Schuldgefühlen nicht zu Ran<strong>de</strong><br />

kommt und einen sog. "Waschzwang" ausbil<strong>de</strong>t. Offensichtlich kann es<br />

1755 <strong>de</strong>m Ich grundsätzlich nicht gelingen, einen <strong>de</strong>rart starken Es-Impuls<br />

(das Schuldgefühl) vollständig zu verdrängen. Der verdrängte Impuls tritt<br />

<strong>de</strong>shalb verschleiert, nämlich als allgegenwärtiges Gefühl, schmutzige<br />

Hän<strong>de</strong> zu haben, wie<strong>de</strong>r ins Bewusstsein ein. Um dieses lästige Gefühl<br />

abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch nun als neurotisches Symp-<br />

1760 tom <strong>de</strong>n Waschzwang aus. In<strong>de</strong>m er sich nun täglich dutzen<strong>de</strong> Male die<br />

Hän<strong>de</strong> heftig wäscht und bürstet, möchte er einerseits die Schuld ausgleichen<br />

(Ersatzbefriedigung) und an<strong>de</strong>rerseits die Schuldgefühle endgültig<br />

beseitigen.<br />

<strong>Freud</strong> teilt die Neurosen ein in:<br />

1765 • Aktualneurosen mit vorwiegend vegetativen Symptomen auf<br />

Grund starker Affektwirkungen auf das vegetative System im Zusammenhang<br />

eines aktuellen Konflikts (z. B. Schreckneurose,<br />

Angstneurose) und<br />

• Psychoneurosen mit psychischen o<strong>de</strong>r somatischen Symptomen,<br />

1770 verursacht durch einen chronischen Triebkonflikt, wie unverarbeitete<br />

o<strong>de</strong>r verdrängte Kindheitserlebnisse. Zu <strong>de</strong>n Psychoneurosen<br />

zählen:<br />

• - alle Formen <strong>de</strong>r Hysterie (stets begleitet mit psychisch bedingten<br />

körperlichen Symptomen, z. B. Lähmungen, Ausfälle<br />

1775 <strong>de</strong>r Sinnesorgane)<br />

• - die Phobien (real nicht begrün<strong>de</strong>te, psychisch bedingte<br />

Furcht vor irgend einem beliebigen Objekt, einer bestimmten<br />

Situation o.ä.)<br />

• - die Zwangsneurosen (zwanghafte Wie<strong>de</strong>rholung stereotyper<br />

1780 Verhaltensweisen)<br />

• - die Charakterneurosen (Verwahrlosung, Psychopathie)<br />

Bei <strong>de</strong>r Behandlung von Psychoneurosen wird eine Nacherziehung zur<br />

Überwindung innerer Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> angepeilt.<br />

8.2. Phobien<br />

1785 Grundsätzlich kann je<strong>de</strong>r Gegenstand o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Situation zum Zielobjekt<br />

einer Phobie wer<strong>de</strong>n. So kann man sich krankhaft vor Mäusen, vor Spinnen,<br />

vor Hühnern, vor <strong>de</strong>m Eingeschlossensein in engen Räumen<br />

(Klaustrophobie), vor <strong>de</strong>m Überschreiten großer Plätze (Platzangst, Agoraphobie),<br />

vor <strong>de</strong>m Befahren von Tunneln usw. fürchten. In extremen Fäl-<br />

1790 len fürchtet sich <strong>de</strong>r Phobiker nicht bloß vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s realen Gegenstan<strong>de</strong>s,<br />

son<strong>de</strong>rn auch vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r sogar vor<br />

<strong>de</strong>m sprachlichen Ausdruck <strong>de</strong>s phobisch besetzten Objekts.<br />

Eine in <strong>de</strong>r Psychoanalyse berühmt gewor<strong>de</strong>ne Phobie ist die Pfer<strong>de</strong>phobie<br />

<strong>de</strong>s Knaben Hans. <strong>Freud</strong> erkannte in <strong>de</strong>r Analyse, dass Hans ei-<br />

1795 ne außeror<strong>de</strong>ntliche Angst vor <strong>de</strong>m Vater hatte, die er zu verdrängen gezwungen<br />

war. Der Anblick <strong>de</strong>s erigierten Penis eines Pfer<strong>de</strong>s führte dann<br />

zur Assoziation mit <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Vaters, und so verschob Hans seine<br />

Angst vor <strong>de</strong>m Vater auf die Pfer<strong>de</strong>, was ihm ein ersatzweises Ausleben<br />

<strong>de</strong>r Angst gestattete.<br />

1800 8.3. Zwangsneurosen<br />

Neben <strong>de</strong>m bereits erwähnten Waschzwang kennt die Psychoanalyse als<br />

weitere relativ häufig auftreten<strong>de</strong> Neuroseformen <strong>de</strong>n Zählzwang (<strong>de</strong>n<br />

Zwang, jedwe<strong>de</strong>s Ereignis, das sich wie<strong>de</strong>rholt, o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Ding, das in<br />

Serien auftritt, zu zählen), <strong>de</strong>n Lästerzwang (<strong>de</strong>n Zwang, z. B. bei <strong>de</strong>r<br />

1805 andächtigen Stille eines Gottesdienstes, eines Theaters o<strong>de</strong>r eines Konzerts<br />

laut fluchen zu müssen, auch: Koprolalie, Tourettesyndrom), <strong>de</strong>n<br />

Reinigungszwang (alles und überall zu putzen, auch: Waschzwang), <strong>de</strong>n<br />

Berührungszwang (gewisse Gegenstän<strong>de</strong> im Sinne eines Rituals immer<br />

wie<strong>de</strong>r berühren zu müssen), <strong>de</strong>n Kontrollzwang (sich stets wie<strong>de</strong>r ver-<br />

1810 gewissern müssen, ob man eine bestimmte Handlung wirklich vollzogen<br />

hat), <strong>de</strong>n Sammelzwang (gewisse Dinge krankhaft anhäufen zu müssen),<br />

die Kleptomanie (<strong>de</strong>n Zwang, stehlen zu müssen), die Pyromanie (<strong>de</strong>n<br />

Zwang, Brän<strong>de</strong> legen zu müssen), verschie<strong>de</strong>ne Formen von Tics u.a.<br />

Ins Kapitel zwanghaften Verhaltens gehören auch zahlreiche sexuelle<br />

1815 Perversionen o<strong>de</strong>r Essstörungen wie Magersucht (Anorexie; anorexia<br />

nervosa) o<strong>de</strong>r Bulimie.<br />

8.4. Von <strong>de</strong>r Vielfalt neurotischen Verhaltens<br />

In <strong>de</strong>r psychologischen Praxis zeigt es sich allerdings, dass man das<br />

neurotische Verhalten <strong>de</strong>r Klienten zumeist nicht fein säuberlich katalogi-<br />

1820 sieren kann. Letztlich kann je<strong>de</strong> beliebige Verhaltensweise neurotisch<br />

motiviert sein. Es han<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>shalb darum, in je<strong>de</strong>m einzelnen Fall<br />

jene Verhaltensweisen zu ent<strong>de</strong>cken, die mit beson<strong>de</strong>ren Ängsten verbun<strong>de</strong>n<br />

sind, die stereotyp wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r sonst wie neben <strong>de</strong>r<br />

‘gesun<strong>de</strong>n Norm’ liegen. Der Katalog <strong>de</strong>r Abwehrmechanismen kann da-<br />

1825 bei als eine gewisse Richtschnur dienen. Aufschlussreich ist stets auch<br />

die Art, wie ein Mensch mit seinen Mitmenschen kommuniziert und wie er<br />

die sich ihm stellen<strong>de</strong>n Lebensaufgaben angeht.<br />

Allen Neurosen gemeinsam ist die Unfreiheit. Für Außenstehen<strong>de</strong> ist es<br />

oft schwer verständlich, dass ein Neurotiker gewisse Dinge willentlich<br />

1830 einfach nicht fertig bringt. So wie ein Drogensüchtiger zwanghaft zur<br />

Droge greift, ebenso zwanghaft wäscht sich <strong>de</strong>r Mensch mit einem<br />

Waschzwang die Hän<strong>de</strong> und ebenso zwanghaft muss jemand mit einem<br />

Kontrollzwang eine Sache nachkontrollieren, von <strong>de</strong>r er genau weiß,<br />

dass er sie 5 Minuten zuvor bereits zum zwanzigsten Mal kontrolliert hat.<br />

1835 Ein Mädchen, das an Magersucht lei<strong>de</strong>t, kann sehr wohl wissen, dass es<br />

essen sollte und dass dies allein sein Leben retten kann, und trotz<strong>de</strong>m<br />

sitzt es vor <strong>de</strong>m vollen Teller und verweigert – ohne etwa an Appetitlosigkeit<br />

zu lei<strong>de</strong>n – die Nahrungsaufnahme. Und wenn jemand, <strong>de</strong>r kommunikationsgestört<br />

ist, mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung konfrontiert wird, doch ‘ein-<br />

1840 fach mit <strong>de</strong>m Partner zu sprechen’, so erscheint (und ist) ihm das so unmöglich,<br />

wie wenn man einen Durchschnittsmenschen die Eigernordwand<br />

hoch steigen hieße.<br />

Wie Adler nachwies, ist mit je<strong>de</strong>r Neurose immer auch ein erhöhtes Geltungs-<br />

und Machtbedürfnis verbun<strong>de</strong>n. In aller Regel dienen neurotische<br />

1845 Symptome immer auch <strong>de</strong>r Machtausübung auf an<strong>de</strong>re, ohne dass sie<br />

sich einzig aus dieser Funktion heraus erklären ließen. Sehr oft ist das<br />

neurotische Lei<strong>de</strong>n auch mit Depressionen verbun<strong>de</strong>n, und die Liebesfähigkeit<br />

ist erheblich eingeschränkt.<br />

Neurosen sind in allen Schichten und insbeson<strong>de</strong>re bei allen Intelligenz-<br />

1850 klassen anzutreffen. Sehr oft lei<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> differenzierte und begabte<br />

Menschen an schweren Neurosen. Intelligenz schützt nicht vor <strong>de</strong>r Entwicklung<br />

einer Neurose, da Neurosen zum einen wie erwähnt zumeist in<br />

<strong>de</strong>r frühen Kindheit begrün<strong>de</strong>t sind und zum an<strong>de</strong>ren vom sozialen Umfeld<br />

abhängig sind, das Kin<strong>de</strong>r ja nicht auswählen können. Größere Intel-<br />

1855 ligenz stellt lediglich eine gewisse Hilfe bei <strong>de</strong>r Psychotherapie dar.<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 15 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

Das Erkennen <strong>de</strong>r Neurose mag einen ersten Schritt zur Heilung ermöglichen,<br />

ohne weitere Schritte können wird sich an seinem Problem aber<br />

üblicherweise nicht das Geringste än<strong>de</strong>rn. Gelegentlich trifft man Menschen,<br />

die beinahe wie Psychologen über ihre eigenen Neurosen, <strong>de</strong>ren<br />

1860 Entstehung und Entwicklungsgeschichte Auskunft geben können, ohne<br />

dass es ihnen je gelungen wäre, sich von ihrem Lei<strong>de</strong>n zu befreien. Nicht<br />

selten verschlimmern Versuche <strong>de</strong>r "Selbsttherapie" das Problem sogar,<br />

in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>ssen Komplexität erhöht o<strong>de</strong>r die ursprüngliche Symptomatik<br />

auf eine an<strong>de</strong>re, womöglich für einen selbst unauffälligere, verschoben<br />

1865 wird. Die Systemische Therapie erklärt sich diesen Effekt so, dass im<br />

Sinne <strong>de</strong>r Abwehr bei Versuchen einer "Selbsttherapie" die unerwünschten<br />

innerpsychischen Instanzen gera<strong>de</strong>zu zu noch größerer Gegenwehr<br />

"gezwungen" wer<strong>de</strong>n. Es erinnert also gewissermaßen an Münchhausens<br />

Versuch, sich selbst am eigenen Schopf aus <strong>de</strong>m Sumpf zu ziehen.<br />

1870 9. Die psychoanalytische Technik<br />

9.1. Grundsätzliche Erwägungen<br />

So weit heute erkennbar ist, ist Psychotherapie (ob Psychoanalyse o<strong>de</strong>r<br />

eine <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wissenschaftlich anerkannten Metho<strong>de</strong>n) die einzige<br />

Möglichkeit, von einer Neurose geheilt wer<strong>de</strong>n zu können. Dabei ist <strong>de</strong>r<br />

1875 Erfolg allerdings nicht garantiert, wobei er wesentlich mehr vom Patienten<br />

(auch: Klienten, in <strong>de</strong>r Psychoanalyse: Analysan<strong>de</strong>n) als vom Psychotherapeuten<br />

(in <strong>de</strong>r Psychoanalyse: Analytiker) abhängt. Die Motivation, etwas<br />

zu unternehmen, steht jedoch zumeist in einem direkten Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>nsdrucks. Viele Menschen sind erst<br />

1880 bereit, sich ihrer eigenen Psyche, ja ihrer Lebensführung insgesamt<br />

gründlich zu stellen, wenn sie unter ihren unangepassten Verhaltensweisen,<br />

Depressionen, Ängsten, Zwängen und Kommunikationsproblemen<br />

<strong>de</strong>rart lei<strong>de</strong>n, dass sie alles auf sich nehmen (also auch <strong>de</strong>n so gefürchteten<br />

Psychotherapeuten aufsuchen), nur um Lin<strong>de</strong>rung im Lei<strong>de</strong>n erfah-<br />

1885 ren zu können.<br />

Der Erfolg von gesprächsbasierten Metho<strong>de</strong>n wie im hier beschriebenen<br />

Fall <strong>de</strong>r Psychoanalyse hängt ferner auch von <strong>de</strong>n Fähigkeiten <strong>de</strong>s Klienten<br />

ab. Nur wer über einen gewissen Intellekt, Fähigkeit <strong>de</strong>r Selbstwahrnehmung<br />

(Introspektionsfähigkeit) und Beziehungsfähigkeit verfügt, nur<br />

1890 wer grundsätzlich guten Willen hat und auch getragen ist durch einen<br />

gewissen Lebensernst, ist überhaupt zur Durchführung einer Psychotherapie,<br />

speziell einer Psychoanalyse, fähig. Weiters müssen die Betroffenen<br />

in <strong>de</strong>r Lage sein, <strong>de</strong>n psychoanalytischen Vertrag (siehe unten) einzugehen.<br />

Dieser ist bei an<strong>de</strong>ren Therapieformen weniger strikt.<br />

1895 Gut geeignet ist die analytische Metho<strong>de</strong> für alle Formen <strong>de</strong>r neurotischen<br />

Störungen - Störungen, die sich über Jahre langsam aufbauen und<br />

immer weitere Bereiche <strong>de</strong>s Lebens umfassen. Dazu gehören Persönlichkeitsstörungen,<br />

wie mangeln<strong>de</strong>s Selbstwertgefühl, Kontaktprobleme,<br />

selbst aufgebauter Leistungszwang. Aber auch leichtere, latente Angst-<br />

1900 und Zwangsneurosen sowie leichtere <strong>de</strong>pressive Störungen können<br />

Thema einer Psychoanalyse sein.<br />

Weniger geeignet ist eine psychoanalytische Behandlung in akut belasten<strong>de</strong>n<br />

Lebenssituationen, somit etwa auch bei schweren Neurosen, Depressionen,<br />

Zwangserkrankungen, Psychosen und akuten Problemen<br />

1905 wie Sucht und dgl. Denn die Psychoanalyse ist als "auf<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>s Verfahren"<br />

durch die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Kindheit für das Verständnis und die<br />

Therapie <strong>de</strong>r Krankheitssymptome als eher vergangenheitsbetont zu bezeichnen<br />

– bei einer üblichen Min<strong>de</strong>sttherapiedauer von min<strong>de</strong>stens 160<br />

bis 240 Stun<strong>de</strong>n á 2-3 Stun<strong>de</strong>n pro Woche führt dies zu einer Gesamt-<br />

1910 Therapiedauer von zumin<strong>de</strong>st 2-3 Jahren. Wird also unmittelbare therapeutische<br />

Hilfe o<strong>de</strong>r innere Stabilisierung benötigt o<strong>de</strong>r angepeilt, erfor<strong>de</strong>rt<br />

eine auf<strong>de</strong>ckend orientierte Psychotherapie wie die Psychoanalyse<br />

oftmals zu viel Kraft und Durchhaltevermögen.<br />

Insgesamt lässt sich sagen, dass im Vergleich zu <strong>de</strong>n eher orthodoxen<br />

1915 Positionen <strong>Freud</strong>s heute ganz allgemein ein weitaus größerer Indikationsbereich<br />

für die Psychoanalyse angegeben wird, wobei in zunehmen<strong>de</strong>m<br />

Maße auch die Persönlichkeitsstruktur und die Selbsterfahrung <strong>de</strong>s<br />

Analytikers als Gradmesser <strong>de</strong>r Indikationsstellung betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

1920 Der analytische Vertrag<br />

Abgesehen davon, dass <strong>de</strong>r Analysand <strong>de</strong>n Analytiker zu bezahlen hat,<br />

gehen die bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Vertrag ein: Der Analysand erklärt seine Bereitschaft,<br />

grundsätzlich alles, was ihm bewusst wird, zu sagen, gleichgültig,<br />

ob es ihm peinlich ist, ob es ihm unsinnig, unmoralisch o<strong>de</strong>r ne-<br />

1925 bensächlich erscheint o<strong>de</strong>r ob er befürchtet, damit in Schwierigkeiten zu<br />

kommen. Der Analytiker stellt <strong>de</strong>m seine Bereitschaft zur Mithilfe bei <strong>de</strong>r<br />

Deutung entgegen.<br />

9.2. Heilungsplan und therapeutische Beziehung<br />

Angesichts <strong>de</strong>r Tatsache, dass je<strong>de</strong> Neurose einhergeht mit einem ge-<br />

1930 genüber <strong>de</strong>n Inhalten <strong>de</strong>s Es geschwächten Ich, besteht <strong>de</strong>r Heilungsplan<br />

grundsätzlich darin, dass sich <strong>de</strong>r Analytiker mit <strong>de</strong>m geschwächten<br />

Ich <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n verbün<strong>de</strong>t und alles daran setzt, das Ich in echter<br />

Weise zu stärken. Das kann mitunter be<strong>de</strong>uten, dass sich <strong>de</strong>r Analytiker<br />

in all jenen Fällen, wo <strong>de</strong>r Analysand Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> gegen die Be-<br />

1935 wusstmachung von Es-Impulsen zeigt, auf die Seite <strong>de</strong>s Es stellen muss,<br />

um <strong>de</strong>ssen Impulsen Zugang zum Bewussten <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n zu ermöglichen<br />

o<strong>de</strong>r erleichtern.<br />

Die therapeutische Beziehung steht im Vor<strong>de</strong>rgrund <strong>de</strong>r analytischen Arbeit.<br />

Als "Prozessvariablen" wird hierbei <strong>de</strong>r Übertragung, <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>r-<br />

1940 stand sowie <strong>de</strong>n Abwehrmechanismen beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit gewidmet.<br />

9.3. Die psychoanalytische Dialogstruktur (Setting)<br />

Der Analysand liegt nach Möglichkeit entspannt auf einer Couch, <strong>de</strong>r<br />

Analytiker sitzt hinter ihm. Der Analysand ist aufgefor<strong>de</strong>rt, alles zu sagen,<br />

1945 was ihm in <strong>de</strong>n Sinn kommt o<strong>de</strong>r was er empfin<strong>de</strong>t. Hierbei ist es von<br />

Wichtigkeit, dass er nicht selektiv zwischen ihm belanglos, als peinlich<br />

o<strong>de</strong>r lächerlich erscheinen<strong>de</strong>n und vermeintlich wesentlichen Inhalten<br />

auswählt ("Grundregel"). Solcherart gelangen Gedanken, bildhafte Vorstellungen<br />

und Gefühle ins Bewusstsein, die sonst nur bruchstück- o<strong>de</strong>r<br />

1950 schemenhaft zugänglich wären.<br />

Der Analytiker hört zu und schenkt <strong>de</strong>m gesprochenen Wort <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

größte Aufmerksamkeit. Die Abstinenz <strong>de</strong>s Analytikers (persönliches<br />

Einbringen <strong>de</strong>s Analytikers ist in <strong>de</strong>r klassischen Psychoanalyse<br />

während <strong>de</strong>s gesamten Behandlungsverlaufes strengst limitiert - "Absti-<br />

1955 nenzregel") soll helfen, dass sich die persönliche Geschichte <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

möglichst wenig mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Analytikers verquickt – darüber hinaus<br />

ist sie Voraussetzung für <strong>de</strong>n Aufbau einer möglichst "reinen" Übertragung,<br />

bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Analysand – begünstigt durch das beson<strong>de</strong>re Setting<br />

dieser Metho<strong>de</strong> – eigene Persönlichkeitsstrukturen auf <strong>de</strong>n Analytiker<br />

1960 projiziert, und diesem damit ein wichtiges Werkzeug zur Deutung und<br />

Auf<strong>de</strong>ckung in die Hand gibt. Im ständigen Prozess von Übertragungsund<br />

Gegenübertragungsphänomenen wer<strong>de</strong>n durch die Deutungsarbeit<br />

<strong>de</strong>s Analytikers <strong>de</strong>m Klienten die eigenen Projektionen immer bewusster,<br />

und neue Einsichten über historische Zusammenhänge <strong>de</strong>r eigenen Per-<br />

1965 sönlichkeitsentwicklung können gewonnen wer<strong>de</strong>n – sofern nicht Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />

in <strong>de</strong>n Weg treten (Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> nehmen die o.e. Abwehrmechanismen<br />

an und haben für <strong>de</strong>n Patienten die Funktion, <strong>de</strong>n sekundären<br />

Krankheitsgewinn angesichts beängstigend wirken<strong>de</strong>r, neuartiger<br />

schmerzhafter Erfahrungen, die durch <strong>de</strong>n Behandlungsprozess bewusst<br />

1970 wer<strong>de</strong>n, nicht aufgeben zu müssen. Zum flexiblen, sinnvollen Umgang<br />

mit ihnen ist ihr Bewusstwer<strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rlich – die Arbeit <strong>de</strong>s Analytikers<br />

besteht daher wesentlich in <strong>de</strong>r Bearbeitung und Deutung von Wi<strong>de</strong>rstand<br />

und Übertragung).<br />

"Die Neurose <strong>de</strong>s Patienten sollte sich schließlich in eine Übertragungs-<br />

1975 neurose verwan<strong>de</strong>ln, die dann analysiert wird. Die traumatische Entstehungsgeschichte<br />

<strong>de</strong>r neurotischen Symptomatik wie<strong>de</strong>rholt sich dann in<br />

ihrem Erleben als ein auf <strong>de</strong>n Analytiker projiziertes Geschehen. Schließlich<br />

zielt die Deutungsarbeit <strong>de</strong>s Analytikers darauf ab, dass <strong>de</strong>r Patient<br />

die Wie<strong>de</strong>rholung als solche begreift und dadurch als Erinnerung er-<br />

1980 kennt." (Bock, S.151)<br />

9.4. Übertragung und Gegenübertragung<br />

<strong>Freud</strong> geht davon aus, dass im Zentrum je<strong>de</strong>r neurotischen Störung letztlich<br />

stets die Elternproblematik (<strong>de</strong>r Ödipuskomplex) steht. Die analytische<br />

Situation ermöglicht nun <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, das Bild seiner Eltern<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 16 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

1985 mit all ihren emotionalen Bezügen in <strong>de</strong>n Analytiker zu projizieren. Diese<br />

Projektion <strong>de</strong>r Elternbeziehung auf <strong>de</strong>n Analytiker bezeichnet <strong>Freud</strong> als<br />

Übertragung. Da bekanntlich die Elternbeziehung im Unbewussten ambivalent<br />

ist, führt dies zu <strong>de</strong>r so genannten positiven und negativen Übertragung.<br />

1990 In aller Regelmäßigkeit stellt sich zuerst die positive Übertragung ein, die<br />

bis zur Verliebtheit in <strong>de</strong>n Analytiker bzw. zu seiner Vergötterung führen<br />

kann. Das hat beim Analysan<strong>de</strong>n zur Folge, dass er, statt gesund zu<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Analytiker gefallen will. Das führt zwar zu einer gewissen<br />

Stärkung <strong>de</strong>s Ichs und oft zur Einstellung <strong>de</strong>r Symptome, aber nach einer<br />

1995 gewissen Zeit pflegen sich diese – lei<strong>de</strong>r – wie<strong>de</strong>r einzustellen.<br />

Der Hauptgewinn <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin,<br />

dass <strong>de</strong>r Analytiker durch <strong>de</strong>n Umstand, dass er an die Stelle <strong>de</strong>s Vaters<br />

(allenfalls <strong>de</strong>r Mutter) gesetzt wird, Macht über das Über-Ich <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

gewinnt. Damit hat er die Möglichkeit <strong>de</strong>r Nacherziehung <strong>de</strong>s<br />

2000 Über-Ichs, was ja in <strong>de</strong>n meisten Fällen nötig ist, da gemäß <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />

Theorie einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neurosen in einem entwe<strong>de</strong>r<br />

zu strafen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aber praktisch nicht vorhan<strong>de</strong>nen Über-Ich liegt. Konkret<br />

be<strong>de</strong>utet dies, dass <strong>de</strong>r Analytiker auf all jene Aussagen, die beim<br />

Analysan<strong>de</strong>n mit Schuldgefühlen verbun<strong>de</strong>n sind, an<strong>de</strong>rs als seinerzeit<br />

2005 die Eltern reagiert, nämlich gelassen und verstehend. Das eröffnet <strong>de</strong>m<br />

Analysan<strong>de</strong>n die Möglichkeit, sich <strong>de</strong>n verdrängten Problemen mit mehr<br />

Mut und Selbstvertrauen zu stellen.<br />

Ein weiterer Vorteil <strong>de</strong>r Übertragung – <strong>de</strong>r positiven wie <strong>de</strong>r negativen –<br />

liegt darin, dass <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>m Analytiker zu agieren be-<br />

2010 ginnt (diverse ‘Spiele’ treibt), was diesem die Möglichkeit <strong>de</strong>r direkten<br />

Anschauung gibt. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Der Analytiker erlebt am eigenen<br />

Leib, wie sich <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>n Eltern13 verhielt (o<strong>de</strong>r noch<br />

verhält).<br />

Ein potenzielles Risiko <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin, dass<br />

2015 sich <strong>de</strong>m Analytiker in dieser Phase die Möglichkeit böte, <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n<br />

in eine neue Abhängigkeit zu bringen. Es sind <strong>de</strong>shalb nur solche<br />

Menschen für diesen Beruf geeignet, die neben <strong>de</strong>r nötigen fachlichen<br />

Kompetenz auch das entsprechen<strong>de</strong> Verantwortungsbewusstsein haben.<br />

Entsprechend <strong>de</strong>r ödipalen Frustration ist meist ein späteres Umkippen<br />

2020 <strong>de</strong>r positiven in die negative Übertragung nicht zu vermei<strong>de</strong>n, was dazu<br />

führt, dass die suggestiven Erfolge <strong>de</strong>r positiven Übertragung wie<strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n.<br />

Das bringt stets die Gefahr mit sich, dass die Analyse abgebrochen<br />

wird. Der Analytiker kann es in dieser Phase <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n<br />

oft nirgends recht machen, er erscheint ihm unfähig, <strong>de</strong>sinteressiert, ego-<br />

2025 istisch usw. Für <strong>de</strong>n Analytiker ist dies eine <strong>de</strong>r ganz großen Klippen seines<br />

Berufs, <strong>de</strong>nn vom Konzept her <strong>de</strong>utet er die Aggressionen und die<br />

Kritiklust <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n als Projektion (als Ausdruck <strong>de</strong>r negativen<br />

Übertragung), gleichzeitig aber nimmt er damit <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n die<br />

Möglichkeit, ihn wirklich als Person und Fachmann zu kritisieren. Es er-<br />

2030 for<strong>de</strong>rt darum von einem Analytiker viel Fähigkeit zur Selbstkritik und<br />

Selbstreflexion, wenn er die Projektionen von echter Kritik unterschei<strong>de</strong>n<br />

können will.<br />

Die Tatsache <strong>de</strong>r positiven und negativen Übertragung erfor<strong>de</strong>rt vom<br />

Analytiker die Fähigkeit, einerseits die positive Projektion zu mäßigen<br />

2035 (was Verzicht auf Eitelkeit be<strong>de</strong>utet), an<strong>de</strong>rerseits die negative vorzubereiten<br />

und sie bei <strong>de</strong>ren Eintreffen zum Gegenstand einer konstruktiven<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zu machen.<br />

Es versteht sich von selbst, dass sowohl die positive wie auch die negative<br />

Übertragung auch beim Analytiker Projektionen auslösen. <strong>Freud</strong> be-<br />

2040 zeichnet sie als Gegenübertragung. Es gehört zur fachlichen Kompetenz<br />

eines Analytikers, dass er in <strong>de</strong>r Lage ist, seine Gegenübertragung zu<br />

erkennen und sich davon zu distanzieren. Das ist – abgesehen von <strong>de</strong>r<br />

Notwendigkeit <strong>de</strong>r Eigenerfahrung – einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, weshalb <strong>de</strong>r zentrale<br />

Teil einer Ausbildung zum Psychoanalytiker in <strong>de</strong>r eigenen Analyse<br />

2045 (<strong>de</strong>r sog. Lehranalyse) besteht.<br />

9.5. Die heilen<strong>de</strong>n Wirkungen<br />

Je<strong>de</strong> Psychotherapie, je<strong>de</strong> Analyse hat einen rationalen, einen emotionalen<br />

und einen Handlungsaspekt.<br />

In rationaler Hinsicht besteht ein erster Heilungsschritt darin, dass im<br />

2050 Gespräch und durch die vielen Deutungsversuche die Selbsterkenntnis<br />

<strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n erweitert wird. Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung sind die Übertragungsphänomene,<br />

alle freien Assoziationen, Träume, Fehlleistungen<br />

und das Verhalten ganz allgemein. Dabei ist wichtig, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />

die Deutungen nicht forciert, da er sonst die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> im Analysan-<br />

2055 <strong>de</strong>n verstärkt o<strong>de</strong>r sie aufbaut. Darum braucht je<strong>de</strong> Analyse Zeit. Am<br />

besten ist es, wenn die Deutungen vom Analysan<strong>de</strong>n selbst gegeben<br />

wer<strong>de</strong>n, damit er die neuen Erkenntnisse innerlich bestmöglich akzeptieren<br />

kann.<br />

Der emotionale Aspekt einer Analyse betrifft vorerst die Arbeit an <strong>de</strong>n –<br />

2060 grundsätzlich unvermeidlichen und auch nötigen – Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n. Es sind<br />

ja nicht Gedanken, die die neuen Erkenntnisse nicht zulassen wollen,<br />

son<strong>de</strong>rn Gefühle: Ängste, Bindungen, Triebwünsche etc. In <strong>de</strong>m Ausmaß,<br />

in <strong>de</strong>m es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> zu überwin<strong>de</strong>n,<br />

verän<strong>de</strong>rn sich seine Gefühle. Ob und in welchem Masse es einem Ana-<br />

2065 lysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> aufzulösen, hängt natürlich stark von seiner<br />

emotionalen Beziehung zum Analytiker ab. Dies zeigt einmal mehr,<br />

dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich auf zwischenmenschliche Beziehungen<br />

angewiesen ist, und zwar nicht bloß im Rahmen einer (außertherapeutischen)<br />

gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, son<strong>de</strong>rn auch innerhalb <strong>de</strong>s Rahmens ei-<br />

2070 ner Therapie.<br />

Der Handlungsaspekt <strong>de</strong>r Analyse besteht einerseits in je<strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s<br />

Agierens, und die heilen<strong>de</strong> Wirkung ergibt sich daraus, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />

auf eine an<strong>de</strong>re (nämlich gesun<strong>de</strong>) Weise als z. B. früher die Eltern<br />

auf die Provokationen <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n reagiert. An<strong>de</strong>rerseits besteht<br />

2075 <strong>de</strong>r Handlungsaspekt in <strong>de</strong>n durch die Analyse bedingten Verän<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>s Verhaltens im Alltag, <strong>de</strong>r sich dann als so etwas wie ein Übungso<strong>de</strong>r<br />

Versuchsfeld erweist. Bewähren sich die neuen Verhaltensweisen<br />

im Alltag für <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n, vermögen sie sich zunehmend zu festigen<br />

und in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.<br />

2080 Es ist hier darauf hinzuweisen, dass viele Analytiker aufgrund <strong>de</strong>r grundsätzlich<br />

darauf bestehen, dass die Analysan<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r Analyse<br />

keine schwerwiegen<strong>de</strong>n und irreversiblen Lebensentscheidungen (z. B.<br />

Ehescheidung) treffen, son<strong>de</strong>rn damit zuwarten, bis <strong>de</strong>r psychoanalytische<br />

Prozess abgeschlossen ist.<br />

2085 9.6. Beson<strong>de</strong>re Schwierigkeiten<br />

Je stärker die Neurose, <strong>de</strong>sto größer kann sich einerseits das Krankheits-,<br />

an<strong>de</strong>rerseits aber auch das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis zeigen.<br />

Das Krankheitsbedürfnis entspringt <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch, Schuldgefühle<br />

abzuwehren. Das erklärt die gelegentlichen Spontanheilungen<br />

2090 nach Unglücksfällen. Für die Psychoanalyse ist dies in<strong>de</strong>s eine oft kaum<br />

zu überwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Klippe, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Analysand ist im Tiefsten <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />

dass er eigentlich das Gesund wer<strong>de</strong>n gar nicht verdient und<br />

sich darum mit seinem neurotischen Lei<strong>de</strong>n stets selbst bestrafen muss.<br />

Hier hilft nur eine langwierige Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r<br />

2095 Schuldgefühle.<br />

Wesentlich schwerwiegen<strong>de</strong>r ist das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis. Es ist <strong>de</strong>r unmittelbare<br />

Ausdruck <strong>de</strong>s Destruktionstriebes (To<strong>de</strong>striebes) und äußert sich<br />

als Trieb zur Selbstzerstörung. <strong>Freud</strong> spricht in jenen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />

sich <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>strieb gewissermaßen verselbstständigt und nicht mehr<br />

2100 durch <strong>de</strong>n Eros in einem gewissen Gleichgewicht gehalten wird, von<br />

Triebentmischung. Wenn jemand vom unbewussten Drang beseelt ist,<br />

sich selbst zu zerstören, stößt die Psychoanalyse häufig an ihre Grenzen.<br />

Aus systemischer Perspektive ist hier anzumerken, dass sich diese<br />

2105 Schwierigkeiten bereits im Vorfeld einer Psychotherapie sowie im Kontext<br />

nicht freiwilliger Psychotherapie (etwa an psychiatrischen Kliniken)<br />

<strong>de</strong>utlich bemerkbar machen. Sie führen dazu, dass viele Menschen jahrelang<br />

teils schwerste psychische Belastungen ertragen, bevor sie sich<br />

dazu überwin<strong>de</strong>n, sich therapeutische Hilfe zu suchen. Allerdings sieht<br />

2110 die Systemische Therapie kein Krankheits- o<strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis, son<strong>de</strong>rn<br />

betrachtet Symptome teils als "sinnvolle", teils notwendige Reaktionen<br />

<strong>de</strong>s Organismus an<strong>de</strong>rs nicht mehr ertragbare, gewissermaßen auch<br />

krank machen<strong>de</strong> Lebensumgebungen. Aufgrund dieser hohen Kompen-<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 17 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

sationsfähigkeit <strong>de</strong>s Organismus muss <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck für die meisten<br />

2115 Menschen bereits gewaltig und die Probleme in <strong>de</strong>ren realen Leben unüberschaubar<br />

gewor<strong>de</strong>n sein, bevor in einer Art Aufbäumen doch <strong>de</strong>r<br />

Griff zum Telefonhörer getan wird. Dies ist speziell aus Sicht <strong>de</strong>r Systemischen<br />

Therapie bedauerlich, da sie emotional, zeit- und kostenmäßig<br />

meist mit <strong>de</strong>utlich weniger Aufwand verbun<strong>de</strong>n wäre als eine Psychoana-<br />

2120 lyse.<br />

Auf psychiatrischen Kliniken seien als Beispiel für die Auswirkungen für<br />

Selbstzerstörungs-Ten<strong>de</strong>nzen Anorexie-Patientinnen genannt, die sich<br />

mitunter selbst dann, wenn sie bereits schwerwiegen<strong>de</strong>, irreparable körperliche<br />

Schä<strong>de</strong>n aufweisen und intravenös ernährt wer<strong>de</strong>n müssen, ei-<br />

2125 ner Therapie verweigern. Wobei dieses Verhalten häufig auch noch zusätzliche<br />

Grün<strong>de</strong> hat, auf die hier aber nicht näher eingegangen wer<strong>de</strong>n<br />

kann.<br />

9.7. Der Abschluss <strong>de</strong>r Therapie<br />

Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r eine Psychotherapie macht, wird irgendwann zur Einsicht<br />

2130 kommen, dass sich das Reservoir zu erhellen<strong>de</strong>r Konflikte nicht ausschöpfen<br />

lässt. Beson<strong>de</strong>rs Psychoanalysen könnten wohl bis zum Lebensen<strong>de</strong><br />

fortgesetzt wer<strong>de</strong>n, ohne dass <strong>de</strong>r Gesprächsstoff auszugehen<br />

bräuchte und <strong>de</strong>r Analysand das Gefühl hätte, völlig ‘gesund’ zu sein.<br />

Wann also ist das En<strong>de</strong> einer Analyse (abgesehen von Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

2135 Geldmangels o<strong>de</strong>r irgendwelchen Ausbildungsvorschriften für künftige<br />

Analytiker) gekommen?. Sinnvoll scheint eine Beendigung dann, wenn<br />

sich die positive und negative Übertragung in eine sachliche, durch objektive<br />

Wahrnehmung geprägte zwischenmenschliche Beziehung umgebil<strong>de</strong>t<br />

hat, <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck gewichen ist und die schwerwiegendsten<br />

2140 neurotischen Symptome verschwun<strong>de</strong>n sind (9). Wer sich ernsthaft einer<br />

Analyse ausgesetzt hat, wird auch feststellen, dass er im Alltag selbstbewusster,<br />

gelassener und sachlicher gewor<strong>de</strong>n ist und sich bei <strong>de</strong>r Bewältigung<br />

seiner Lebensaufgaben we<strong>de</strong>r über- noch unterfor<strong>de</strong>rt fühlt.<br />

"Wo Es war, soll Ich wer<strong>de</strong>n"<br />

2145 Dieses Zitat <strong>Freud</strong>s (10) drückt ein Behandlungsziel aus, das über eine<br />

Symptombeseitigung weit hinausgeht. Laut <strong>Freud</strong> kann das Ziel <strong>de</strong>r Psychotherapie<br />

nicht allein die Symptombeseitigung sein, vor allem auch<br />

<strong>de</strong>shalb, da Konflikte nicht immer zu einer für <strong>de</strong>n Patienten befriedigen<strong>de</strong>n<br />

Lösung geführt wer<strong>de</strong>n können. Vielmehr soll es <strong>de</strong>m Patienten er-<br />

2150 möglicht wer<strong>de</strong>n, sich zwischen einer tragfähigen Anzahl an Reaktionsmöglichkeiten<br />

frei entschei<strong>de</strong>n zu können. Lt. Kutter (14) ist das am weitesten<br />

reichen<strong>de</strong> Ziel <strong>de</strong>r Psychotherapie die Sinnfindung o<strong>de</strong>r Wahrheitsfindung.<br />

Auch die Beendigung einer Psychoanalyse selbst ist eine ‘Unterneh-<br />

2155 mung’, die sich (schon angesichts <strong>de</strong>r meist mehrjährigen Dauer) nicht<br />

so leichthin bewerkstelligen lässt und darum selbst zum Thema <strong>de</strong>r Analyse<br />

gemacht wer<strong>de</strong>n muss. Der Prozess <strong>de</strong>r Ablösung vom Therapeuten<br />

hat insofern in sich eine therapeutische Wirkung, als <strong>de</strong>r Analysand lernen<br />

muss, etwas loszulassen, das längerhin nicht mehr sehr sinnvoll ist,<br />

2160 somit also realitätsbezogener zu wer<strong>de</strong>n.<br />

All die angeführten Ziele weisen über die Krankenbehandlung weit hinaus<br />

und erfor<strong>de</strong>rn eine hohe Motivation <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n. Verfügt er über<br />

diese beson<strong>de</strong>re Motivation, wird die kontinuierlich sich entwickeln<strong>de</strong><br />

I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>r Funktion <strong>de</strong>s Analytikers außer<strong>de</strong>m die Fähigkeit<br />

2165 zur Selbstanalyse bewirken, was quasi <strong>de</strong>r Fortführung <strong>de</strong>s dann verinnerlichten<br />

Dialogs entspricht.<br />

10. Metho<strong>de</strong>nvergleich mit <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />

Obwohl nur die wenigsten <strong>de</strong>r in dieser Arbeit erläuterten psychoanalytischen<br />

Grundbegriffe in <strong>de</strong>r täglichen Praxis <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />

2170 eine Be<strong>de</strong>utung haben – eine implizite Rolle spielen sie bemerkenswerterweise<br />

doch. Je<strong>de</strong>m Systemischen Therapeuten sind Phänomene wie<br />

z. B. "Wi<strong>de</strong>rstand", "Übertragung" und "Unbewusstes" vertraut, man befasst<br />

sich mit "Traum<strong>de</strong>utung" und an<strong>de</strong>ren Techniken, die ihre Wurzeln<br />

in <strong>de</strong>r Psychoanalyse haben - als Begrifflichkeiten o<strong>de</strong>r gar im theoreti-<br />

2175 schen Grundgebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> jedoch spielen sie so gut wie keine<br />

Rolle. Dies liegt vor allem darin begrün<strong>de</strong>t, dass <strong>de</strong>r systemische Ansatz<br />

von völlig unterschiedlichen Prämissen und Hypothesen bezüglich psychischer<br />

Problemzusammenhänge ausgeht als die Psychoanalyse, was<br />

sich zwangsläufig auch stark auf Setting, Verlauf und Inhalt <strong>de</strong>r Therapie<br />

2180 auswirkt.<br />

Den Analytiker könnte man als 'Experten für innerpsychische Verarbeitungsmuster<br />

und das Bewusst-machen <strong>de</strong>s Unbewussten' bezeichnen;<br />

<strong>de</strong>n Systemischen Therapeuten als 'Experte für Kommunikationsmuster<br />

und Denkfallen'. Die Aufmerksamkeit richtet sich in <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />

2185 daher primär auf das Innerpsychische - <strong>de</strong>r Monolog <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />

sowie die Übertragungsbeziehung zum Analytiker sind jene Instrumente,<br />

die zum Therapieerfolg führen. Die Systemische Therapie hat <strong>de</strong>mgegenüber<br />

einen <strong>de</strong>utlich weiteren Fokus – Probleme wer<strong>de</strong>n stets im Kontext<br />

betrachtet, in <strong>de</strong>m sie stattfin<strong>de</strong>n, und für <strong>de</strong>n Systemischen Thera-<br />

2190 peuten ist ein Übertragungsphänomen vor allem als Reflexionsbild für<br />

das interessant, was im "restlichen Leben" <strong>de</strong>s Klienten, also <strong>de</strong>m Leben<br />

außerhalb <strong>de</strong>r Therapie, geschieht. "Verdrängte Gefühle" etwa führen<br />

nach Auffassung <strong>de</strong>r Systemischen Therapie zu Kommunikationsblocka<strong>de</strong>n<br />

und sollten im Laufe <strong>de</strong>s therapeutischen Prozesses verbalisierungs-<br />

2195 fähig gemacht wer<strong>de</strong>n, um die Blocka<strong>de</strong>n zu beseitigen.<br />

Dies führt zu einem weiteren, ganz wesentlichen Unterschied bei<strong>de</strong>r Therapieformen:<br />

statt auf das Lei<strong>de</strong>n und das Problem, so wie dies in <strong>de</strong>r<br />

klassischen Psychoanalyse stattfin<strong>de</strong>t, richtet die Systemische Therapie<br />

<strong>de</strong>n Fokus nach vorn, auf die Lösung. Und zu diesem Zweck steht weni-<br />

2200 ger die Frage, warum ein Problem existiert, im Mittelpunkt, son<strong>de</strong>rn vielmehr<br />

die, was eine Lösung <strong>de</strong>s Problems verhin<strong>de</strong>rt. Wesentlich beeinflusst<br />

durch Kommunikationsforschung, Kybernetik und Konstruktivismus<br />

betrachtet da <strong>de</strong>r systemische Ansatz ein Problem nicht als etwas, das<br />

(z. B.) aufgrund <strong>de</strong>r persönlichen Geschichte sein "muss" und zu <strong>de</strong>m<br />

2205 mühsam, in einem mitunter mehrjährigen Prozess ein Alternativweg erarbeitet<br />

wer<strong>de</strong>n muss, son<strong>de</strong>rn sie fragt: "warum bist Du noch nicht da?",<br />

"was brauchst Du (noch), um <strong>de</strong>n nötigen Schritt zur Lösung tun zu können?"<br />

Die auf dieser Betrachtungsweise aufsetzen<strong>de</strong>n kurzzeittherapeutischen<br />

Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie weisen im thera-<br />

2210 peutischen Alltag laufend nach, dass eine Problembeseitigung – ausreichend<br />

austherapiert durchaus auch langfristig – mit ihnen schon nach<br />

vergleichsweise kurzer Zeit erreichbar ist.<br />

Das Menschenbild <strong>de</strong>r Systemischen Therapie ist also eines, das <strong>de</strong>n<br />

Klienten grundsätzlich als selbstkompetent und (wenn auch in seinem<br />

2215 Problemkosmos) selbst-erfahren betrachtet, als Experten also für diese<br />

ihm eigene Lebenswelt, mit <strong>de</strong>m gemeinsam geforscht wird, welche Alternativwege,<br />

welche neuen Sichtweisen ihm dabei helfen könnte, ein<br />

angestrebtes Ziel zu erreichen, ohne dass es länger seines Symptoms,<br />

Lebensunglücks o<strong>de</strong>r seiner "Störung" bedarf.<br />

2220 Im En<strong>de</strong>rgebnis führt dies dazu, dass Systemische Therapieansätze häufig<br />

mit <strong>de</strong>m Zusatz "lösungsorientiert" attributiert wer<strong>de</strong>n. Ihre Ansätze<br />

sind jedoch nicht so mechanistisch und funktionsorientiert wie etwa die<br />

Verhaltenstherapie, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch als fühlen<strong>de</strong>s und mit (manchmal<br />

einer Lösung ja auch aus gutem Grund entgegengerichteten!) Be-<br />

2225 dürfnissen ausgestattetes Individuum steht im Mittelpunkt. Der Blick ist<br />

bei all<strong>de</strong>m überwiegend nach vorne gerichtet und "aufgearbeitet" wird<br />

vorwiegend nur da, wo es für das zukünftige Leben <strong>de</strong>s Klienten aus seiner<br />

und <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Therapeuten Be<strong>de</strong>utung hat .. also "Sinn" macht.<br />

Psychologisch gesehen also 'minimal-invasive Eingriffe', um im Zuge <strong>de</strong>r<br />

2230 Therapie die positiven Ressourcen <strong>de</strong>s Klienten möglichst zu stärken und<br />

zu stabilisieren, dabei aber das funktionieren<strong>de</strong> Gesamtsystem insgesamt<br />

möglichst wenig zu beeinflussen. Dies steht im krassen Gegensatz<br />

zu <strong>de</strong>m, was eine Psychoanalyse – schon aufgrund <strong>de</strong>s unterschiedlichen<br />

Settings – häufig mit sich bringt.<br />

2235 Im Setting bei<strong>de</strong>r Therapieformen nämlich existieren ebenso erhebliche<br />

Unterschie<strong>de</strong>. Die Psychoanalyse richtet, und dies fin<strong>de</strong>t auch im Ablauf<br />

<strong>de</strong>r Analysesitzungen seinen Nie<strong>de</strong>rschlag, <strong>de</strong>n Blick auf das Individuum.<br />

Damit es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n leichter gelingt, <strong>de</strong>n Fokus auf sein Inneres<br />

zu richten, liegt er in <strong>de</strong>r klassischen Psychoanalyse auf einer Couch und<br />

2240 es besteht kein Blickkontakt zum Analytiker, <strong>de</strong>r sich auch mit verbalen<br />

Rückmeldungen sehr zurück hält. Son<strong>de</strong>rformen im Setting gibt es in <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>rpsychoanalyse und Gruppenpsychoanalyse. Bei <strong>de</strong>r 'großen Analyse'<br />

sind wöchentlich 3-4 Sitzungen erfor<strong>de</strong>rlich, bei Son<strong>de</strong>rformen o<strong>de</strong>r<br />

falls die zeitlichen o<strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re finanziellen Möglichkeiten <strong>de</strong>s Ana-<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 18 von 19


Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />

2245 lysan<strong>de</strong>n es nicht zulassen, wer<strong>de</strong>n mitunter auch weniger Wochenstun<strong>de</strong>n<br />

vereinbart.<br />

In <strong>de</strong>r Systemischen Therapie existieren eine Vielzahl von Settings11,<br />

vom dialogartigen Gespräch (Klient und Therapeut sitzen einan<strong>de</strong>r gegenüber)<br />

über Paar- und Familiensitzungen, mitunter unterstützt von Bil-<br />

2250 <strong>de</strong>rarbeit, <strong>de</strong>r Anwendung kreativer Medien, Imaginationsübungen, und<br />

spezifischer Techniken wie Timeline, Systemaufstellungen (Familienaufstellungen),<br />

Rollenspielen, <strong>de</strong>r Arbeit mit <strong>de</strong>m Familienbrett und einigen<br />

mehr. Sitzungen fin<strong>de</strong>n je nach Problemstellung meist im Abstand von 1-<br />

3 Wochen statt, bei anhalten<strong>de</strong>r Verbesserung <strong>de</strong>r Problematik haben<br />

2255 sich nach <strong>de</strong>m eigentlichen Abschluss <strong>de</strong>r Therapie "Kontrollbesuche" in<br />

sehr großen Abstän<strong>de</strong>n (mehreren Monaten bis zu Jahren) bewährt.<br />

Der Nachteil <strong>de</strong>s systemischen Ansatzes ist, dass eine tiefgehen<strong>de</strong> Analyse<br />

<strong>de</strong>r psychischen Zusammenhänge, das Hinabtauchen in die tiefsten<br />

Urgrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r eigenen Seele o<strong>de</strong>r auch mehrjährige Begleitung auf <strong>de</strong>m<br />

2260 Lebensweg per se nicht möglich ist. Denn <strong>de</strong>r Schwerpunkt einer typischen<br />

systemischen Therapiestun<strong>de</strong> liegt ja primär auf <strong>de</strong>r Suche nach<br />

passen<strong>de</strong>n Problemlösungen, <strong>de</strong>r einer Analysestun<strong>de</strong> auf prozessorientierter<br />

Problemanalyse (die Problemlösung erfolgt da eher begleitend und<br />

oft sind erste Ansätze dazu erst nach vielen Monaten bemerkbar). Aus<br />

2265 praktischer Erfahrung kann ich jedoch sagen, dass manche KlientInnen<br />

auch nach <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rgründigen "Lösung <strong>de</strong>s Hauptproblems" interessiert<br />

sind, die Therapie noch eine Weile fortzusetzen, um auch tiefere psychische<br />

Strukturen o<strong>de</strong>r latente Problematiken (die keinen akuten Problemdruck<br />

verursachen) zu bearbeiten o<strong>de</strong>r einfach nur, um die Gelegenheit<br />

2270 zu nutzen und mit <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong>n Arbeit an sich selbst fortzufahren. Verlauf,<br />

Dauer und Tiefe <strong>de</strong>r Therapie bestimmt in <strong>de</strong>r ST in einem sehr<br />

starken Ausmaß also <strong>de</strong>r Klient.<br />

Auch die Rolle <strong>de</strong>s Therapeuten weist erhebliche Unterschie<strong>de</strong> auf. Der<br />

Systemische Therapeut versteht sich gewissermaßen als Begleiter und<br />

2275 Unterstützer, <strong>de</strong>r sich mitunter auch persönlich und menschlich in die<br />

Therapie einbringt. Der Analytiker dagegen muss sich, soll die Übertragungsbeziehung<br />

gelingen, möglichst genau an die Abstinenzregel halten.<br />

Eine Abgrenzung zu Metho<strong>de</strong>n und Ansätzen an<strong>de</strong>rer Therapieformen<br />

fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Psychoanalyse naturgemäß wesentlich exakter und strenger<br />

2280 statt als in <strong>de</strong>r Systemischen Therapie. Grenzüberschreitungen in Bezug<br />

auf die je nach analytischer Metho<strong>de</strong> vorherrschen<strong>de</strong>n Lehrmeinungen<br />

erregen bis heute meist großes Aufsehen und Skepsis – aus <strong>de</strong>n Anfängen<br />

<strong>de</strong>r Psychoanalyse sei hier an die Zerwürfnisse <strong>Freud</strong>s mit seinen<br />

Schülern C.G.Jung und Alfred Adler verwiesen, an <strong>de</strong>n regelrechten<br />

2285 "Hinauswurf" Wilhelm Reichs aus <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Vereinigung,<br />

und in jüngerer Zeit waren es z. B. die Ansätze von Tilmann Moser12, die<br />

Körperkontakt zwischen Analytiker und Analysan<strong>de</strong>n beinhalteten, welche<br />

innerhalb <strong>de</strong>r analytischen Expertenschaft teils vehemente Kritik erfuhren.<br />

In <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie dagegen sind starke eklek-<br />

2290 tizistische Strömungen feststellbar, bei <strong>de</strong>nen sich mitunter sogar die<br />

Frage aufdrängt, ob tatsächlich nur jenes integriert wird, das <strong>de</strong>m Patienten<br />

nützt – o<strong>de</strong>r nicht vielmehr häufig auch solches, von <strong>de</strong>m einige TherapeutInnen<br />

meinen, dass es ihm nützen könne. Hier wür<strong>de</strong> ich mir, und<br />

das sei mir als Systemischem Therapeuten als persönliche, abschlie-<br />

2295 ßen<strong>de</strong> Bemerkung gestattet, eine professionellere Nutzung <strong>de</strong>s methodischen<br />

Handwerkszeugs nützen, das uns bereits in großer Fülle zur Verfügung<br />

steht und dass Neues nur dann integriert wird, wenn es nachgewiesenermaßen<br />

hilfreich ist und es auch – auch dies ein wichtiger Punkt<br />

– ausreichend methodisch beherrscht wird.<br />

2300 Ein Metho<strong>de</strong>nvergleich<br />

http://www.psychotherapiepraxis.at/therapiemetho<strong>de</strong>n.phtml#grafik<br />

(Wie in <strong>de</strong>r oben verlinkten Grafik ersichtlich, weist die Psychoanalyse<br />

von ihren theoretischen Grundkonzepten her eine starke Vergangenheitsorientierung<br />

auf. Für das Verständnis von Neurosen und an<strong>de</strong>ren<br />

2305 psychischen Störungsbil<strong>de</strong>rn ist <strong>de</strong>r Verlauf <strong>de</strong>r Kindheit und frühen Jugend<br />

von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, folglich nimmt eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

und Bearbeitung dieser Lebensphase <strong>de</strong>n überwiegend größten<br />

Teil einer typischen Psychoanalyse in Anspruch. Demgegenüber geht die<br />

Systemische Therapie wie erwähnt von einem offeneren Konzept aus<br />

2310 und richtet <strong>de</strong>n Blick nach vorne, hin zur angestrebten Lösung.)<br />

Quellen und Ergänzungen<br />

Bock Rudolf, 1987, Psychoanalyse, Junfermann, Pa<strong>de</strong>rborn<br />

Ellenberger Henry, 1973, Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Unbewussten, Bern<br />

<strong>Freud</strong> Sigmund, 1993, Gesamtregister / Gesammelte Werke I-XVII, Fi-<br />

2315 scher, Frankfurt a. M.<br />

Brühlmeier Arthur, 1992, Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s<br />

Fellner, Richard L., 1994, Sexualphasen nach Sigmund <strong>Freud</strong><br />

Fellner, Richard L., 1995, Das tiefenpsychologische Paradigma<br />

Fellner, Richard L., 1994, Psychoanalyse und Bioenergetische Analyse:<br />

2320 ein Metho<strong>de</strong>nvergleich.<br />

Fellner, Richard L., 1999, Systemische Familientherapie<br />

Kernberg Otto, 1980, Klinische Psychoanalyse, Frankfurt<br />

Kernberg Otto, 2001, narzisstische Persönlichkeitsstörungen, Schattauer,<br />

F.K. Verlag<br />

2325 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch, Suhrkamp, FfM<br />

Petzold Hilarion (Hrsg.), 1990, Wege zum Menschen (Bd.I+II),<br />

Junfermann, Pa<strong>de</strong>rborn<br />

Reich Wilhelm, 1969, Über Sigmund <strong>Freud</strong>, Nexus-Verlag, Berlin<br />

Schmidbauer Wolfgang, 1988, Liebeserklärung an die Psychoanalyse,<br />

2330 Rohwolt, Reinbek<br />

1 <strong>Freud</strong> Sigmund, 1993, Gesammelte Werke XIII, S.287<br />

2 (wenigstens zum Teil)<br />

3 (= neu auftreten<strong>de</strong>s)<br />

4 <strong>Freud</strong> Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 348<br />

2335 5 hiermit ist die freie Assoziation gemeint<br />

6 <strong>Freud</strong> Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 354<br />

7 <strong>de</strong>r sog. Erkennungsreflex drückt sich in <strong>de</strong>r Regel durch ein Lächeln,<br />

Schmunzeln, verlegenes Auflachen o<strong>de</strong>r ein Augenzwinkern o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />

körpersprachliche Regungen aus.<br />

2340 8 dieser "normalneurotische" Zustand stellt auch einen Indikator für das<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Therapie (bzw. Psychoanalyse) dar.<br />

9 "normalneurotischer" Zustand, siehe auch Kapitel Neurosen"<br />

10 <strong>Freud</strong> Sigmund, Gesammelte Werke XV, S.86<br />

11 Fellner R.L., 1999, Systemische Familientherapie<br />

2345 12 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch<br />

13 (o<strong>de</strong>r auch in Paarbeziehungen); Anmerkung Richard L.Fellner<br />

14 Kutter P. (Ed.), 1997, Psychoanalyse interdisziplinär; Suhrkamp,<br />

Frankfurt am Main<br />

Ich ersuche, mir die zwecks leichterer Lesbarkeit gewählte Verwendung<br />

2350 <strong>de</strong>r männlichen Form (womit ich natürlich immer auch die weiblichen<br />

Menschen meine) nachzusehen.<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

DSP Richard L. Fellner ist Sozialpädagoge und Psychotherapeut in<br />

Wien.<br />

2355 Nachdrucke gerne gesehen, aber nur mit Copyright-Vermerk und schriftlicher<br />

Erlaubnis <strong>de</strong>s Verfassers.<br />

<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 19 von 19

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