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Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
Richard L. Fellner<br />
Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s<br />
Vorwort<br />
Warum verfasst ein systemischer Psychotherapeut eine Abhandlung<br />
über die Psychoanalyse?<br />
Weil sie die "Mutter" <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen (westlichen) Psychotherapie ist. Ob-<br />
5 wohl die Systemische Familientherapie methodisch und theoretisch weit<br />
von diesen Wurzeln entfernt ist und ihren eigenen, erfolgreichen Weg beschritten<br />
hat (<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit gewidmet),<br />
stellt die Psychoanalyse nach wie vor eine wertvolle theoretische<br />
Basis und Bereicherung für die alltägliche therapeutische Praxis,<br />
10 aber auch zum Verständnis <strong>de</strong>r innerpsychischen Vorgänge allgemein<br />
dar. Die analytischen Theorien sind faszinierend und bereichernd, und<br />
machen das, was die Innenschau im Zuge einer Psychotherapie (welcher<br />
Metho<strong>de</strong> auch immer) zeigt und auf<strong>de</strong>ckt, verstehbarer und vor allem<br />
auch in Begrifflichkeiten fassbarer – was eine ganz wesentliche Voraus-<br />
15 setzung für psychische Verarbeitung, Lernen und weiterführen<strong>de</strong> Selbsterkenntnis<br />
ist.<br />
Auch heute ist es sinnvoll und für ein tieferes Verständnis <strong>de</strong>s eigenen<br />
Seelenlebens hilfreich, die Grundlagen <strong>de</strong>r Psychoanalyse zu kennen,<br />
wenn auch die (klassisch angewandte) Metho<strong>de</strong> selbst mittlerweile über-<br />
20 holt, ja in manchen Bereichen sogar unzeitgemäß anmutet. Insbeson<strong>de</strong>re<br />
in <strong>de</strong>n verfeinerten Techniken und Anwendungsbereichen wie psychoanalytischer<br />
Sozialtherapie, <strong>de</strong>r psychoanalytischen Kin<strong>de</strong>rtherapie, <strong>de</strong>r<br />
psychoanalytischen Gruppentherapie und <strong>de</strong>r psychoanalytischen Psychotherapie<br />
hat sie nach wie vor ihre Be<strong>de</strong>utung. Auch von ihrem histori-<br />
25 schen Stellenwert als "Mutter" <strong>de</strong>r unzähligen, direkt o<strong>de</strong>r indirekt aus ihr<br />
hervorgegangenen mo<strong>de</strong>rnen Therapiemetho<strong>de</strong>n her verdient sie es, näher<br />
betrachtet zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Als Basis <strong>de</strong>s Textes dienten diverse von mir verfasste Arbeiten und Aufsätze<br />
zur Psychoanalyse sowie einer von Arthur Brühlmeier. Er hat mir<br />
30 freundlicherweise – und ich möchte ihm an dieser Stelle nochmals meinen<br />
ausdrücklichen Dank dafür aussprechen - gestattet, meine Abhandlung<br />
auf seiner ebenfalls sehr umfassen<strong>de</strong>n Arbeit zur Psychoanalyse<br />
<strong>Freud</strong>s aufzubauen. Ich habe diese dann in Teilbereichen komplett überarbeitet,<br />
um das in meinen Archiven lagern<strong>de</strong> eigene Material zur Metho-<br />
35 <strong>de</strong> ergänzt und bin somit nun in <strong>de</strong>r Lage, eine aktualisierte, und insgesamt<br />
recht <strong>de</strong>taillierte Übersicht über die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Psychoanalyse zur<br />
Verfügung zu stellen.<br />
Ich hoffe beschei<strong>de</strong>n, dass sie Interessierten zu einem besseren Verständnis<br />
<strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> und ihrer Begrifflichkeiten und Psychotherapie-<br />
40 PatientInnen zu einer weiterführen<strong>de</strong>n Vernetzung <strong>de</strong>s in Ihrer Therapie<br />
Erfahrenen dienen möge – welche Metho<strong>de</strong> auch immer dort zur Anwendung<br />
kommen mag.<br />
dsp Richard L. Fellner Wien, im Mai 2004<br />
aus:<br />
http://www.psychotherapiepraxis.at/art/psychoanalyse/psychoanalyse.phtml<br />
1. EINLEITUNG ............................................................................................... 2<br />
1.1. WURZELN UND ENTWICKLUNG DER PSYCHOANALYSE .......................... 2<br />
1.2. DER BEGRIFF "PSYCHOANALYSE" ....................................................... 2<br />
1.3. GRUNDHYPOTHESEN .......................................................................... 2<br />
2. PERSÖNLICHKEITSMODELLE UND MENSCHENBILD .......................... 2<br />
2.1. DAS TOPOLOGISCHE MODELL .............................................................. 3<br />
2.1.1. Das Bewusstsein ................................................................... 3<br />
2.1.2. Das Vorbewusste .................................................................. 3<br />
2.2. DAS STRUKTUR-MODELL .................................................................... 3<br />
2.2.1. Das Es ................................................................................... 3<br />
2.2.2. Das Ich ................................................................................... 3<br />
2.2.3. Das Über-Ich .......................................................................... 3<br />
3. ZUGÄNGE ZUM UNBEWUSSTEN ............................................................ 4<br />
3.1. HYPNOSE ........................................................................................... 4<br />
3.2. DEUTUNG VON FEHLLEISTUNGEN ........................................................ 4<br />
3.3. FREIE ASSOZIATION ............................................................................ 4<br />
3.4. DEUTUNG VON SYMPTOMEN UND VERHALTENSWEISEN ....................... 4<br />
3.5. TRAUMDEUTUNG ................................................................................. 4<br />
3.6. PROJEKTIVE TESTS ............................................................................ 4<br />
4. TRIEBLEHRE .............................................................................................. 4<br />
4.1. LIBIDO ................................................................................................ 5<br />
5. DIE ABWEHRMECHANISMEN .................................................................. 5<br />
5.1. VERDRÄNGUNG .................................................................................. 5<br />
5.2. REGRESSION ...................................................................................... 6<br />
5.3. RATIONALISIERUNG ............................................................................. 6<br />
5.4. PROJEKTION ....................................................................................... 6<br />
5.5. INTROJEKTION .................................................................................... 6<br />
5.6. IDENTIFIKATION ................................................................................... 7<br />
5.7. KONVERSION ...................................................................................... 7<br />
5.8. REAKTIONSBILDUNG ........................................................................... 7<br />
5.9. KOMPENSATION .................................................................................. 7<br />
5.10. AUTOAGGRESSION ........................................................................ 7<br />
5.11. SUBSTITUTION ............................................................................... 8<br />
5.12. REALITÄTSLEUGNUNG / VERLEUGNUNG ......................................... 8<br />
5.13. SUBLIMIERUNG .............................................................................. 8<br />
5.14. VERSCHIEBUNG ............................................................................ 8<br />
5.15. UNGESCHEHEN MACHEN ............................................................... 8<br />
5.16. FLUCHT IN DIE GESUNDHEIT .......................................................... 8<br />
6. DIE PSYCHOSEXUELLE ENTWICKLUNG ............................................... 8<br />
6.1. ORALE PHASE .................................................................................... 9<br />
6.2. ANALE PHASE ................................................................................... 10<br />
6.3. PHALLISCHE PHASE .......................................................................... 10<br />
6.3.1. Ödipuskomplex .................................................................... 11<br />
6.4. LATENZZEIT ...................................................................................... 11<br />
6.5. GENITALE PHASE: PUBERTÄT, ADOLESZENZ, ERWACHSENENSEXUALITÄT<br />
........................................................................................................ 12<br />
7. DIE TRAUMDEUTUNG ............................................................................. 12<br />
7.1. ZWECK UND WESEN DES TRAUMES ................................................... 12<br />
7.2. LATENTER UND MANIFESTER TRAUM, TRAUMDEUTUNG UND<br />
TRAUMARBEIT ................................................................................................... 12<br />
7.3. TRAUMQUELLEN ............................................................................... 14<br />
8. PSYCHOPATHOLOGIE UND THERAPIEZIELE ..................................... 14<br />
8.1. NEUROSEN ....................................................................................... 14<br />
8.2. PHOBIEN .......................................................................................... 15<br />
8.3. ZWANGSNEUROSEN .......................................................................... 15<br />
8.4. VON DER VIELFALT NEUROTISCHEN VERHALTENS .............................. 15<br />
9. DIE PSYCHOANALYTISCHE TECHNIK .................................................. 16<br />
9.1. GRUNDSÄTZLICHE ERWÄGUNGEN ..................................................... 16<br />
9.2. DER ANALYTISCHE VERTRAG ............................................................ 16<br />
9.3. HEILUNGSPLAN UND THERAPEUTISCHE BEZIEHUNG ........................... 16<br />
9.4. DIE PSYCHOANALYTISCHE DIALOGSTRUKTUR (SETTING).................... 16<br />
9.5. ÜBERTRAGUNG UND GEGENÜBERTRAGUNG ...................................... 16<br />
9.6. DIE HEILENDEN WIRKUNGEN ............................................................. 17<br />
9.7. BESONDERE SCHWIERIGKEITEN ........................................................ 17<br />
9.8. DER ABSCHLUSS DER THERAPIE ....................................................... 18<br />
10. METHODENVERGLEICH MIT DER SYSTEMISCHEN THERAPIE .. 18<br />
11. QUELLEN UND ERGÄNZUNGEN ...................................................... 19<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 1 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
45 1. Einleitung<br />
1.1. Wurzeln und Entwicklung <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />
Die Genese <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Metho<strong>de</strong> kann nur im historischen<br />
Kontext verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. So wer<strong>de</strong>n für Ellenberger(1) bereits bei <strong>de</strong>n<br />
Griechen erste Ansätze einer "Forschung nach <strong>de</strong>m Unbewussten" er-<br />
50 kennbar, aber auch schamanistische Techniken sowie gewisse Praktiken<br />
<strong>de</strong>s katholischen Exorzismus o<strong>de</strong>r Mesmer’s Magnetismus wer<strong>de</strong>n als<br />
wichtige methodische Vorläufer <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie erachtet.<br />
Sigmund <strong>Freud</strong> wur<strong>de</strong> am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg<br />
(Mähren) geboren, in <strong>de</strong>m sein Vater als Geschäftsmann tätig war.<br />
55 Die Familie übersie<strong>de</strong>lte 1860 nach Wien, wo <strong>Freud</strong> bis zur Besetzung<br />
Österreichs durch Hitler im Jahre 1938 lebte und wirkte. Er besuchte hier<br />
das Gymnasium, studierte Medizin und arbeitete von 1876 – 1882 als<br />
Assistent im physiologischen Laboratorium von Prof. Ernst Brücke, wo er<br />
sich vor allem mit <strong>de</strong>m Nervensystem nie<strong>de</strong>rer Fischarten beschäftigte.<br />
60 <strong>Freud</strong> setzte seine Arbeit später als Arzt im Allgemeinen Krankenhaus<br />
fort, begleitet von seinen Forschungen, insbeson<strong>de</strong>re über das Zentralnervensystem<br />
<strong>de</strong>s Menschen. Bald galt er in Wien als führen<strong>de</strong>r Neurologe<br />
(Nervenarzt). 1885 fuhr er nach Paris, um sich bei Professor Charcot,<br />
<strong>de</strong>r damals führen<strong>de</strong>n Kapazität auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r Neurologie,<br />
65 weiterzubil<strong>de</strong>n. Bei ihm lernte <strong>Freud</strong> die Hypnose kennen, die damals<br />
von <strong>de</strong>n meisten Psychiatern als Schwin<strong>de</strong>l betrachtet wur<strong>de</strong>, und in diesem<br />
Zusammenhang auch eine damals als Hysterie bezeichnete Krankheitsform,<br />
welche man in Paris mittels <strong>de</strong>r Hypnose mit einigem Erfolg<br />
behan<strong>de</strong>lte. <strong>Freud</strong> setzte die Hypnose zunächst gemeinsam mit Breuer<br />
70 primär zur Befreiung "verklemmter" Affekte ein, verzichtete aber im Laufe<br />
seiner Arbeit zunehmend auf diese suggestive Technik (Grün<strong>de</strong> hiefür<br />
waren u.a. gegen die Hypnose resistente Symptome, die Tatsache, daß<br />
nicht alle Klienten ausreichend suggestibel sind, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> nur umgangen<br />
wer<strong>de</strong>n und einige mehr).<br />
75 Er kehrte 1886 nach Wien zurück und entwickelte als Inhaber einer eigenen<br />
Arztpraxis in einer mehrjährigen, anstrengen<strong>de</strong>n Forscherarbeit die<br />
Psychoanalyse. Die Hypnose ersetzte er dabei zunächst durch die Techniken<br />
• <strong>de</strong>r freien Assoziation,<br />
80 • <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstandsanalyse sowie<br />
• <strong>de</strong>r "Couch-Technik" (zwecks Erleichterung <strong>de</strong>r Übertragung<br />
od. Regression)<br />
als wesentlichste Verfahren. 1896 wur<strong>de</strong> erstmals von ihm <strong>de</strong>r Begriff<br />
"Psychoanalyse" verwen<strong>de</strong>t - in dieser Zeit wird auch die Geburt <strong>de</strong>r mo-<br />
85 <strong>de</strong>rnen Psychotherapie angesetzt. Über Jahrzehnte hinweg verdiente er<br />
<strong>de</strong>n Unterhalt für seine achtköpfige Familie mit Psychoanalysen und<br />
schrieb abends an seinen theoretischen Abhandlungen.<br />
In Wien scharte <strong>Freud</strong> einen Kreis interessierter Ärzte um sich und grün<strong>de</strong>te<br />
mit ihnen (zu Beginn auch mit Adler) und in Zusammenarbeit mit<br />
90 Bleuler und C.G. Jung in Zürich die so genannte "Psychoanalytische<br />
Vereinigung". Er musste lange um <strong>de</strong>ren wissenschaftliche Anerkennung<br />
kämpfen und entwickelte dabei teils auch autoritäre und regelrecht fanatische<br />
Züge. Seine Schriften in<strong>de</strong>s zeichnen sich durch distanzierte wissenschaftliche<br />
Sachlichkeit und eine klassische Sprache aus.<br />
95 Nach <strong>de</strong>r Besetzung Österreichs durch Hitler, bereits schwer gezeichnet<br />
durch Gaumenkrebs (vermutlich eine Folge <strong>de</strong>s jahrzehntelangen Kettenrauchens<br />
von Zigarren) emigrierte <strong>Freud</strong> nach London, wo er 1939 starb.<br />
Die folgen<strong>de</strong> Übersicht über die Metho<strong>de</strong>n und Ansätze <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />
kann natürlich nur einen Abriß über die wichtigsten Aspekte bieten.<br />
100 Sein mittlerweile schon über 100 Jahre alter Ansatz wur<strong>de</strong> von <strong>Freud</strong><br />
selbst im Laufe <strong>de</strong>r Jahrzehnte mehrmals überarbeitet und auch seit seinem<br />
Tod erfuhr die Psychoanalyse eine Weiterentwicklung, Aspekte und<br />
Ansätze, die im letzten Teil dieser Arbeit aufgezeigt wer<strong>de</strong>n sollen. Der<br />
Ansatz <strong>de</strong>r Psychoanalyse war damals völlig neu und revolutionär. Er er-<br />
105 öffnete völlig neue Sichtweisen und weiterführen<strong>de</strong> Denkansätze hinsichtlich<br />
<strong>de</strong>r Heilungsmöglichkeiten für <strong>de</strong>n Menschen. Der daraus folgen<strong>de</strong>,<br />
intensive Diskurs innerhalb <strong>de</strong>r psychoanalytischen Vereinigung,<br />
aber auch <strong>de</strong>r Umgang von <strong>Freud</strong> mit seinen Kritikern führte sodann zu<br />
fortlaufen<strong>de</strong>n Abspaltungen vom "Stamm" Psychoanalyse, immer weite-<br />
110 ren Neuentwicklungen und Ansätzen. Klassische Beispiele hierfür sind<br />
Alfred Adler (Individualpsychologie), Carl Gustav Jung (Analytische Psychologie),<br />
L. Szondi (Schicksalsanalyse), Ludwig Binswanger und<br />
Medard Boss (Daseinsanalyse), Arthur Janov (Primärtherapie) sowie alle<br />
(teilweise marxistisch ausgerichteten) Richtungen <strong>de</strong>r Neo-<br />
115 Psychoanalyse wie z. B. Erich Fromm und Harald Schultz-Hencke.<br />
Die psychoanalytische Theorie ist außeror<strong>de</strong>ntlich komplex und in Teilbereichen<br />
selbst für Fachleute schwer verstehbar. Selbst C.G. Jung flehte<br />
<strong>Freud</strong> nach Jahren <strong>de</strong>r Zusammenarbeit in einem Brief an, er möge ihm<br />
doch erklären, was er eigentlich mit ‘Libido’ meine. Eine abrisshafte Dar-<br />
120 stellung <strong>de</strong>r Psychoanalyse kann daher in je<strong>de</strong>m Falle nur stark vereinfachend<br />
erfolgen und die Arbeit lediglich <strong>de</strong>n Anspruch erheben, eine Einführung<br />
in das psychoanalytische Denken zu geben.<br />
1.2. Der Begriff "Psychoanalyse"<br />
Der Begriff ‘Psychoanalyse’ wird heute in drei Be<strong>de</strong>utungen verwen<strong>de</strong>t:<br />
125 • als tiefenpsychologische Forschungsmetho<strong>de</strong> ("<strong>Freud</strong> gewann<br />
seine psychologischen Erkenntnisse durch Psycho[-<br />
]Analyse.")<br />
• als Inbegriff <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Lehre ("Die Psychoanalyse misst<br />
<strong>de</strong>r Sexualität eine fundamentale Be<strong>de</strong>utung zu.")<br />
130 • als Heilmetho<strong>de</strong> (Therapie-Form) ("Als Psychotherapie-<br />
Metho<strong>de</strong> wird Psychoanalyse empfohlen.")<br />
1.3. Grundhypothesen<br />
Unter einer Hypothese wird eine grundlegen<strong>de</strong> Annahme verstan<strong>de</strong>n,<br />
welche als unbewiesen zu gelten hat, auf welcher aber weitere theoreti-<br />
135 sche Aussagen aufgebaut sein können.<br />
a) Grundlegend für die Psychoanalyse ist die Annahme <strong>de</strong>r ganzen Tiefenpsychologie,<br />
dass es ‘das Unbewusste’ gibt, einen Bereich also, zu<br />
<strong>de</strong>m das Individuum praktisch kaum einen Zugang hat, <strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>ssen<br />
Handlungen stark beeinflusst o<strong>de</strong>r bestimmt (<strong>de</strong>terminiert).<br />
140 Die Annahme eines Unbewussten mit so weit reichen<strong>de</strong>n Wirkungen versetzt<br />
<strong>de</strong>m Glauben <strong>de</strong>s Rationalismus, dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich<br />
vernünftig zu han<strong>de</strong>ln weiß und mittels vernünftigem Han<strong>de</strong>ln auch eine<br />
vernünftige Welt aufbauen kann, einen argen Stoß. Es verwun<strong>de</strong>rt daher<br />
nicht, dass <strong>Freud</strong> damals mit seiner Annahme bei vielen Wissenschaftern<br />
145 und Theoretikern auf Ablehnung stieß.<br />
b) Die zweite grundlegen<strong>de</strong> Hypothese besagt, dass psychisches Geschehen<br />
grundsätzlich kausal <strong>de</strong>terminiert ist, dass also das Psychische<br />
genauso wie das Organische und Mineralische <strong>de</strong>m Gesetz von Ursache<br />
und Wirkung unterworfen ist. Wür<strong>de</strong> man also sämtliche psychische Ur-<br />
150 sachen kennen, könnte man gemäß dieser Grundannahme je<strong>de</strong>s weitere<br />
Verhalten und psychische Geschehen mit Sicherheit voraussagen.<br />
<strong>Freud</strong> wur<strong>de</strong> im materialistischen Geist <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts erzogen<br />
und blieb diesem Denken weitgehend bis an sein Lebensen<strong>de</strong> treu. Er<br />
teilt insofern <strong>de</strong>n typisch materialistischen Reduktionismus, <strong>de</strong>r darin be-<br />
155 steht, dass das Geistige auf das Psychische, das Psychische auf das<br />
Organische und das Organische auf das Mineralische zurückgeführt wird.<br />
Leben, Psychisches und Geistiges sind <strong>de</strong>mnach letztlich insgesamt<br />
Ausflüsse <strong>de</strong>r Materie und können unmöglich unabhängig von dieser bestehen.<br />
Im Rahmen dieses Denkens ist z. B. die Vorstellung eines indivi-<br />
160 duellen Weiterlebens einer prinzipiell vom Körper lösbaren Seele nach<br />
<strong>de</strong>m physischen To<strong>de</strong> un<strong>de</strong>nkbar. Auch wi<strong>de</strong>rspricht diesem Denken<br />
grundsätzlich die Vorstellung, <strong>de</strong>r Mensch könne frei han<strong>de</strong>ln. Wie uns<br />
<strong>Freud</strong>-Forscher mitteilen, kommt das Wort ‘Freiheit’ in <strong>Freud</strong>'s Werken<br />
insgesamt nur sieben Mal vor – und selbst das nur "en passant". Die<br />
165 Vermutung liegt nahe, dass für <strong>Freud</strong> die Unmöglichkeit wirklich freien<br />
Han<strong>de</strong>lns so selbstverständlich war, dass er nicht einmal auf die I<strong>de</strong>e<br />
kam, sich darüber theoretisch zu äußern.<br />
2. Persönlichkeitsmo<strong>de</strong>lle und Menschenbild<br />
Angesichts <strong>de</strong>r Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> ist es heute nicht mehr<br />
170 möglich, von <strong>de</strong>m Menschenbild <strong>de</strong>r Psychoanalyse zu sprechen – dieses<br />
variiert vielmehr nach <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ologischen Position <strong>de</strong>s Analytikers.<br />
Das Menschenbild von Sigmund <strong>Freud</strong>, <strong>de</strong>m »Vater <strong>de</strong>r Psychoanalyse«,<br />
war in <strong>de</strong>r Philosophie <strong>de</strong>s Humanismus und <strong>de</strong>r Aufklärung verwurzelt,<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 2 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
allerdings wur<strong>de</strong> diese Philosophie durch ihn ("Die Menschheit hat ge-<br />
175 wusst, dass sie Geist hat; ich musste ihr zeigen, dass es auch Triebe<br />
gibt") selbst beeinflusst. <strong>Freud</strong>s Menschenbild impliziert einen "psychischen<br />
Apparat", ist also zum Teil als mechanistisch zu bezeichnen.<br />
Der Mensch zeichnet sich durch elementare, im Unbewussten gegrün<strong>de</strong>te<br />
Triebregungen aus, die auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher<br />
180 Bedürfnisse zielen und quasi <strong>de</strong>n "Urgrund" <strong>de</strong>r menschlichen Persönlichkeit<br />
bil<strong>de</strong>n. Auch heute wird in <strong>de</strong>r Psychoanalyse hierbei <strong>de</strong>r Sexualität<br />
eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beigemessen. Bedingt durch die Irrationalität<br />
<strong>de</strong>r Triebstruktur wird ein Determinismus angenommen, <strong>de</strong>r letztlich<br />
die menschliche Willensfreiheit in Frage stellt. Das Ich befin<strong>de</strong>t sich per-<br />
185 manent in einem Spannungsfeld zwischen Trieb-, Realitäts- und Gewissensansprüchen<br />
– <strong>Freud</strong> beschreibt das Ich als eine "Angststätte"(1) und<br />
betrachtet <strong>de</strong>n Menschen als Konfliktwesen – ständig überfor<strong>de</strong>rt beim<br />
Versuch, zwischen diesen Polaritäten zu vermitteln. In <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne erfolgt<br />
zusätzlich noch eine ständige Konfrontation mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ns-<br />
190 ten apokalyptischen Gefahren.<br />
Kunst, Religion, ja alle geistigen Produktionen sind lediglich Produkte <strong>de</strong>r<br />
Triebsublimierung und entsprechen <strong>de</strong>n analogen Kompromissbildungen<br />
beispielsweise <strong>de</strong>s Traumes und <strong>de</strong>r Neurose.<br />
Das Menschenbild ist jedoch auch heute noch nicht abgeschlossen, wird<br />
195 vielmehr bei je<strong>de</strong>r Analyse vom Analysan<strong>de</strong>n für sich neu er- o<strong>de</strong>r wenigstens<br />
bearbeitet (biografische Rekonstruktion) – was einen entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Umgang <strong>de</strong>s Analytikers mit <strong>de</strong>ssen Gegenübertragung voraussetzt.<br />
So ist etwa gegenwärtig eine Weiterdifferenzierung zu einem<br />
höchst komplexen Personenbegriff festzustellen. Wichtig scheint es<br />
200 auch, das i<strong>de</strong>ologiekritische Potenzial <strong>de</strong>r Psychotherapie zu erwähnen<br />
(<strong>Freud</strong>, Reich!), da sie über einen ständigen Prozess immer neuer Entmystifizierungen<br />
zu einem immer offeneren Menschenbild führen kann.<br />
2.1. Das topologische Mo<strong>de</strong>ll<br />
Auf <strong>de</strong>r Suche nach Bereichen, in <strong>de</strong>nen sich psychisches Geschehen<br />
205 abspielt, <strong>de</strong>finierte <strong>Freud</strong> drei Schauplätze:<br />
2.1.1. Das Bewusstsein<br />
Was mit "Bewusstsein" gemeint ist, weiß je<strong>de</strong>r vermutlich aus eigenem<br />
Erleben. Eine genauere Charakterisierung dieses so geheimnisvollen<br />
Phänomens jedoch (nämlich, dass eine Wesenheit um ihre eigene Exis-<br />
210 tenz weiß und auch weiß, dass sie es weiß) erfor<strong>de</strong>rt sehr weit reichen<strong>de</strong><br />
philosophische Erwägungen, die <strong>de</strong>n Rahmen dieser Übersicht sprengen<br />
wür<strong>de</strong>n.<br />
2.1.2. Das Vorbewusste<br />
Unter <strong>de</strong>m Vorbewussten versteht <strong>Freud</strong> jenen Bereich von Inhalten, die<br />
215 zwar im Augenblick nicht bewusst, aber grundsätzlich (etwa durch "Konzentration")<br />
<strong>de</strong>m Bewusstsein zugänglich gemacht wer<strong>de</strong>n können, also<br />
das Gedächtnis, die Erinnerung, <strong>de</strong>n Sprachschatz und erworbene Fertigkeiten.<br />
2.1.3. Das Unbewusste<br />
220 Das Unbewusste ist jener Bereich, in <strong>de</strong>m sich Inhalte, die nicht ins Bewusstsein<br />
gelangt sind o<strong>de</strong>r kommen können, aber auch alles Verdrängte<br />
befin<strong>de</strong>t.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>s Unbewussten lassen sich nach ihrer Herkunft zwei Anteile<br />
unterschei<strong>de</strong>n:<br />
225 • die ererbte biologische Grundausstattung <strong>de</strong>s Menschen, insbeson<strong>de</strong>re<br />
die biologischen Grundtriebe (Hunger, Durst, Sexualtrieb,<br />
etc.)<br />
• Wünsche, Strebungen, Vorstellungen, Erlebnisse etc., die im<br />
Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung irgendwann einmal bewusst waren,<br />
230 aber aus <strong>de</strong>m Bewusstsein verdrängt wur<strong>de</strong>n, weil sie mit<br />
Realitäts- und Erziehungsansprüchen in Konflikt gerieten.<br />
Das Unbewusste beeinflusst unsere Handlungen, unsere Denkvorgänge<br />
und Emotionen, setzt aber <strong>de</strong>m bewussten Versuch, sich an sie zu erinnern,<br />
Wi<strong>de</strong>rstand entgegen. Im Gegensatz zum Vorbewussten und Be-<br />
235 wussten haben die unbewussten psychischen Inhalte dadurch keinen direkten<br />
Zugang zum Bewusstsein, son<strong>de</strong>rn sie sind nur aus ihren Auswirkungen<br />
auf Bewusstseinsvorgänge (wozu z. B. die Fehlleistungen zählen)<br />
o<strong>de</strong>r durch bestimmte Techniken (z. B. Hypnose, Traum<strong>de</strong>utung<br />
u.a.) zu erschließen. Dazu später mehr.<br />
240 2.2. Das Struktur-Mo<strong>de</strong>ll<br />
<strong>Freud</strong> differenzierte später sein topografisches Mo<strong>de</strong>ll, als er nach <strong>de</strong>n<br />
Instanzen fragte, welche für psychisches Geschehen verantwortlich sind,<br />
also z. B.: Wer bewirkt was? Er betrachtete das Seelenleben als einen<br />
aus Einzelteilen zusammengesetzten Apparat (die Lehre vom psychi-<br />
245 schen Apparat ist eine <strong>de</strong>r grundlegendsten Anschauungen <strong>de</strong>r Psychoanalyse).<br />
<strong>Freud</strong> unterschei<strong>de</strong>t hierbei drei Instanzen:<br />
2.2.1. Das Es<br />
Das Es hat zwei Aspekte: zum einen ist es das natürlich Gegebene wie<br />
ererbte und konstitutionelle Anlagen, Geschlechtszugehörigkeit, Triebe<br />
250 und archaische Bil<strong>de</strong>r (bei Jung: Archetypen). Zum an<strong>de</strong>ren ist es das<br />
Auffangbecken von allem Verdrängten, das weiterhin aus <strong>de</strong>m Es heraus<br />
wirkt und psychisches Geschehen beeinflusst.<br />
Das Es ist mit einem Hexenkessel vergleichbar: einem Konglomerat von<br />
Triebregungen, Anlagen, Wünschen, Gefühlen, Strebungen ohne Logik,<br />
255 ohne Moral, ohne Sinn für Ordnung und Maß, ohne Rücksicht sogar auf<br />
die Selbsterhaltung, einzig <strong>de</strong>m Bestreben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung<br />
verpflichtet. Dieses vorherrschen<strong>de</strong> Prinzip <strong>de</strong>s Es wird als<br />
Primärvorgang bezeichnet, <strong>de</strong>ssen Ziel die unmittelbare Triebbefriedigung<br />
o<strong>de</strong>r Wunscherfüllung ist (Lustprinzip). Seine Arbeitsweise ist aus<br />
260 seinen ins Bewusstsein vordringen<strong>de</strong>n Abkömmlingen wie Träume, Tagträume,<br />
Halluzinationen, freie Assoziationen etc. ersichtlich.<br />
<strong>Freud</strong> stellte sich vor, dass <strong>de</strong>r Mensch bei <strong>de</strong>r Geburt ganz Es ist, und<br />
sich die bei<strong>de</strong>n Ich-Instanzen erst im Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung herausbil<strong>de</strong>n.<br />
Diese Vorstellung gilt heute allerdings als überholt - insbeson<strong>de</strong>re<br />
265 <strong>de</strong>r Säuglingsforschung verdanken wir Forschungsergebnisse, die ihr<br />
z.T. <strong>de</strong>utlich wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
2.2.2. Das Ich<br />
Das Ich entwickelte sich aus <strong>de</strong>m Es und vermittelt zwischen Es (das<br />
ausschließlich <strong>de</strong>m Lustprinzip verpflichtet ist und von <strong>de</strong>m es darüber<br />
270 hinaus auch abhängig ist und beeinflusst wird), <strong>de</strong>m Über-Ich und <strong>de</strong>r<br />
äußeren Realität, die sich auf <strong>de</strong>m Realitätsprinzip grün<strong>de</strong>t. Meist sind<br />
mit <strong>de</strong>n Instrumenten <strong>de</strong>s Ich (Sinneswahrnehmung, die Motorik und alle<br />
bewussten Denk- und Willensvollzüge) aber nur Kompromisse möglich,<br />
die manchmal auch nur in neurotischer Form gelingen. Vorherrschen<strong>de</strong>s<br />
275 Prinzip <strong>de</strong>s Wachbewusstseins ist <strong>de</strong>r Sekundärvorgang, <strong>de</strong>ssen Ziel die<br />
Bewältigung von Problemen <strong>de</strong>r Realität zur mittelbaren Triebbefriedigung<br />
(Realitätsprinzip) und <strong>de</strong>ssen Gesetzmäßigkeiten die <strong>de</strong>s logischen<br />
Denkens sind. Dem Ich kommt auch die Aufgabe <strong>de</strong>r Selbsterhaltung zu,<br />
es ist ein Träger (Reservoir) <strong>de</strong>r psychischen Energie, <strong>de</strong>r Libido, und<br />
280 entschei<strong>de</strong>t, welche Objekte mit Libido besetzt wer<strong>de</strong>n (siehe Trieblehre).<br />
Im ersten topologischen Mo<strong>de</strong>ll wür<strong>de</strong> die Ich-Instanz das Bewusste und<br />
Vorbewusste umfassen.<br />
2.2.3. Das Über-Ich<br />
Beim Über-Ich han<strong>de</strong>lt es sich um die kontrollieren<strong>de</strong>, mahnen<strong>de</strong> und<br />
285 strafen<strong>de</strong> Instanz, also um das, was man gängig (aber doch zu wenig<br />
genau) als ‘Gewissen’ bezeichnet. Es entsteht im Zuge <strong>de</strong>s ödipalen<br />
Konflikts durch Introjektion elterlicher Gebote und Verbote. <strong>Freud</strong> sieht im<br />
Über-Ich also, vereinfacht gesagt, die Verinnerlichung von Normen und<br />
Werten <strong>de</strong>r Gesellschaft, vorwiegend vermittelt durch die elterliche Erzie-<br />
290 hung.<br />
Abgesehen von <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Strukturmo<strong>de</strong>lls (auch 'zweites topologischen<br />
Mo<strong>de</strong>ll' genannt) aus <strong>de</strong>m 1. topologischen Mo<strong>de</strong>ll besteht eine<br />
Verbindung zwischen bei<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen auch insofern, als alle drei Instanzen<br />
(Es, Ich, Über-Ich) alle drei psychischen Qualitäten (unbewusst, vor-<br />
295 bewusst, bewusst) annehmen können. Die Zuordnung von Instanzen und<br />
psychischen Qualitäten ist jedoch nicht ein<strong>de</strong>utig: das Verdrängte ist unbewusst,<br />
entstammt aber <strong>de</strong>m Ich (unakzeptierbare Wünsche und Vorstellungen).<br />
Das Über-Ich, das sich durch <strong>de</strong>n Erziehungseinfluss aus<br />
<strong>de</strong>m Ich entwickelt, ist ebenfalls teilweise unbewusst (z. B. unbewusste<br />
300 Schuldgefühle).<br />
Auf <strong>de</strong>r Basis all dieser Auffassungen formuliert <strong>Freud</strong> seine Vorstellung<br />
<strong>de</strong>r psychischen Gesundheit: ‘Psychisch korrekt’ sind <strong>de</strong>mnach solche<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 3 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
Handlungen, in welchem das Ich die Regungen aus <strong>de</strong>m Es, die Ansprüche<br />
<strong>de</strong>s Über-Ich und die Erfor<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Realität in Einklang zu brin-<br />
305 gen vermag.<br />
3. Zugänge zum Unbewussten<br />
Es liegt in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Unbewussten, dass es als solches nicht direkt<br />
beobachtbar ist. Man ist vielmehr auf <strong>de</strong>ssen Äußerungen angewiesen,<br />
<strong>de</strong>ren Deutungen dann Rückschlüsse auf das angenommene Unbewuss-<br />
310 te ermöglichen. Hierzu entwickelte <strong>Freud</strong> mehrere Metho<strong>de</strong>n:<br />
3.1. Hypnose<br />
<strong>Freud</strong> machte die grundlegen<strong>de</strong> Ent<strong>de</strong>ckung, dass ein Mensch durch<br />
Hypnose nicht bloß in seinen Willenshandlungen beeinflussbar ist, son<strong>de</strong>rn<br />
dass er im hypnotischen Trance-Zustand auch in <strong>de</strong>r Lage ist, sich<br />
315 an frühere Erlebnisse zu erinnern, von <strong>de</strong>nen er im Wachzustand nichts<br />
mehr weiß.<br />
Dabei zeigte sich sogar, dass die neurotischen Symptome (z. B. hysterische<br />
Anfälle) eine Zeit lang verschwan<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Klient zuvor gewisse<br />
belasten<strong>de</strong> Erlebnisse unter Einwirkung <strong>de</strong>r Hypnose wie<strong>de</strong>r erinnern<br />
320 und erzählen konnte. Daraus entstand dann ein wesentlicher Pfeiler <strong>de</strong>r<br />
Psychoanalyse: die Unschädlichmachung belasten<strong>de</strong>r und ins Unbewusste<br />
verdrängter frühkindlicher Erlebnisse durch <strong>de</strong>ren Bewusstmachung.<br />
Wie <strong>Freud</strong> allerdings feststellen musste, stellten sich die neurotischen<br />
325 Symptome nach einer gewissen Zeit wie<strong>de</strong>r ein, weshalb er <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n<br />
Konflikt nicht als gelöst betrachten konnte. Er gab darum die Anwendung<br />
<strong>de</strong>r Hypnose schon bald wie<strong>de</strong>r auf. Heute wird die Hypnose in<br />
einem Randbereich <strong>de</strong>r Psychoanalyse teilweise wie<strong>de</strong>r praktiziert und<br />
stellt als „Hypnotherapie“, wesentlich beeinflusst und weiterentwickelt von<br />
330 Therapeuten wie Milton H. Erickson, in vielen Län<strong>de</strong>rn sogar eine eigenständige,<br />
anerkannte Psychotherapiemetho<strong>de</strong> dar. Verfechter <strong>de</strong>r Hypnose<br />
bzw. Hypnotherapie werfen <strong>Freud</strong> vor, er habe die Technik <strong>de</strong>r<br />
Hypnose wohl zu wenig beherrscht und sie allzu vorschnell verworfen.<br />
3.2. Deutung von Fehlleistungen<br />
335 Wenn jemand statt "Ich hab Dich lieb" "ich hack Dich lieb" schreibt, sich<br />
also verschreibt, so ist dies nach <strong>Freud</strong>s Überzeugung kein belangloser<br />
Zufall, son<strong>de</strong>rn eine Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten, die Rückschlüsse<br />
auf entsprechen<strong>de</strong> unbewusste Gegebenheiten (Ängste, Triebansprüche,<br />
verdrängte Wünsche, Schuldgefühle, Aggressionen, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsge-<br />
340 fühle usf.) zulässt.<br />
Selbstverständlich sind Fehlleistungen nicht bloß im Bereiche <strong>de</strong>s<br />
Schreibens, son<strong>de</strong>rn bei allen gewohnheitsmäßigen Handlungen möglich.<br />
So kann man sich verhören, versprechen, verlaufen, verfahren, verwählen,<br />
vergreifen, verschlafen, o<strong>de</strong>r man kann etwas vergessen, verle-<br />
345 gen o<strong>de</strong>r (z. B. einen Zug o<strong>de</strong>r einen Termin) verpassen. Oft zeigt sich<br />
sogar, dass das Verunfallen einem unbewussten Motiv entspricht und als<br />
Fehlleistung betrachtet wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Diese <strong>Freud</strong>sche Auffassung ist heute zum Gemeingut gewor<strong>de</strong>n, recht<br />
häufig lässt sich nach Fehlleistungen <strong>de</strong>r stereotype Satz "<strong>Freud</strong> lässt<br />
350 grüßen" hören.<br />
Der psychoanalytisch gebil<strong>de</strong>te Mensch hat es sich angewöhnt, eigenen<br />
Fehlleistungen nachzugehen, weil sich meist interessante Ent<strong>de</strong>ckungen<br />
über Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten machen lassen. Die manchmal<br />
etwas vorwitzigen Feststellungen gegenüber Mitmenschen, <strong>de</strong>nen eine<br />
355 Fehlleistung passiert, lässt er dagegen zumeist bleiben.<br />
3.3. Freie Assoziation<br />
Es gehört zur grundlegen<strong>de</strong>n Vereinbarung zwischen <strong>de</strong>m Psychoanalytiker<br />
und <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, dass dieser alles, was ihm irgendwie ins<br />
Bewusstsein kommt, ausspricht, mag es noch so peinlich, unmoralisch,<br />
360 unsinnig und kindisch erscheinen ("Grundregel"). Tut er dies, so wird er<br />
die Erfahrung machen, dass sich sofort weitere Vorstellungen o<strong>de</strong>r Gedanken<br />
einstellen, die mit <strong>de</strong>m ersten in einem vielleicht vorerst nicht erkennbaren<br />
Zusammenhang stehen. Im Unbewussten sind folglich diese<br />
Vorstellungen miteinan<strong>de</strong>r verknüpft (assoziiert). Durch das freie Assozi-<br />
365 ieren wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mgemäß die Verknüpfungen von Inhalten im Unbewussten<br />
sichtbar, und es kann dann in <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>m Analytiker gemeinsam<br />
mit <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingen, tiefer liegen<strong>de</strong> Motive (Handlungs-<br />
Grün<strong>de</strong>) in ihrem Entstehen und ihrem Zusammenhang zu verstehen.<br />
3.4. Deutung von Symptomen und Verhaltensweisen<br />
370 Wenn sich jemand zwangsweise täglich Dutzen<strong>de</strong> von Malen die Hän<strong>de</strong><br />
wäscht, so spricht dieses neurotische Symptom aus Sicht <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />
eine recht <strong>de</strong>utliche Sprache: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch fühlt sich<br />
schuldig und möchte seine belasten<strong>de</strong>n Schuldgefühle auf eine – allerdings<br />
unnütze – Weise beseitigen. In ähnlicher Weise lassen sich viele<br />
375 neurotische Symptome <strong>de</strong>uten, sei dies z. B. das zwanghafte Zählen von<br />
Gegenstän<strong>de</strong>n, das krampfhafte Ringen nach Atem bei je<strong>de</strong>m zweiten<br />
o<strong>de</strong>r dritten Atemzug, Erröten beim Angesprochenwer<strong>de</strong>n, zwanghaftes<br />
Kontrollieren, ob irgen<strong>de</strong>ine als wichtig gelten<strong>de</strong> Handlung (z. B. Wasser<br />
abdrehen, Licht ausschalten, Haustür zusperren) tatsächlich erfolgt ist,<br />
380 usf.<br />
Ausgehend von <strong>de</strong>r Annahme, dass je<strong>de</strong> Verhaltensweise wenigstens<br />
teilweise aus <strong>de</strong>m Unbewussten <strong>de</strong>terminiert ist, ist je<strong>de</strong>s Verhalten zumin<strong>de</strong>st<br />
ein Stück weit als Botschaft aus <strong>de</strong>m Unbewussten zu betrachten<br />
und lässt sich <strong>de</strong>mzufolge als Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung benutzen.<br />
385 3.5. Traum<strong>de</strong>utung<br />
<strong>Freud</strong> bezeichnet die Traum<strong>de</strong>utung als die ‘via regia’ (<strong>de</strong>n königlichen<br />
Weg) zum Unbewussten. Ihr ist ein eigenes Kapitel dieser Arbeit gewidmet.<br />
3.6. Projektive Tests<br />
390 Mit <strong>de</strong>m ‘Assoziationsexperiment’ hatte C.G.Jung erstmals gezielt ein<br />
projektives Testverfahren entwickelt und angewen<strong>de</strong>t. Projektive Tests<br />
beruhen auf <strong>de</strong>r Annahme, dass Gegebenheiten <strong>de</strong>s Unbewussten in die<br />
Wahrnehmung einfließen. Die Reize, welche <strong>de</strong>r Test vorgibt, sind bewusst<br />
offen und diffus gehalten, um <strong>de</strong>r Projektion – d.h. <strong>de</strong>r durch das<br />
395 Unbewusste gesteuerten Wahrnehmung – einen möglichst großen Spielraum<br />
zu lassen und damit mehr Erkenntnisse über das <strong>de</strong>r bewussten<br />
Wahrnehmung verborgene Unbewusste zu gewinnen.<br />
Der Psychologe o<strong>de</strong>r Therapeut liest dabei <strong>de</strong>m Proban<strong>de</strong>n zweimal eine<br />
Reihe von je 50 genormten Reizwörtern vor, die erfahrungsgemäß bei<br />
400 vielen Menschen mit psychischer Energie besetzt sind, und for<strong>de</strong>rt ihn<br />
auf, bei je<strong>de</strong>m Wort so schnell wie möglich zu sagen, welches an<strong>de</strong>re<br />
Wort ihm dazu einfällt. Anhand <strong>de</strong>r sog. ‘Störungsmerkmale’ wer<strong>de</strong>n jene<br />
Wörter festgestellt, welche beim Proban<strong>de</strong>n emotional beson<strong>de</strong>rs belastet<br />
sind. Als Störungsmerkmale gelten z. B. stark beschleunigte o<strong>de</strong>r ver-<br />
405 zögerte Reaktionen, Wortwie<strong>de</strong>rholungen, beson<strong>de</strong>re Kommentare, körperliche<br />
Reaktionen u.a.<br />
Die Jungianer haben sich bei diesem Test schon früh das psychogalvanische<br />
Experiment zunutze gemacht. Man stellte nämlich fest, dass bei<br />
je<strong>de</strong>r emotionalen Erregung die Schweißdrüsen aktiv wer<strong>de</strong>n, wodurch<br />
410 <strong>de</strong>r Hautwi<strong>de</strong>rstand sinkt und mehr Strom (z. B. von Finger zu Finger)<br />
fließen kann. Tatsächlich kann man feststellen, dass das Ampèremeter<br />
parallel zu <strong>de</strong>n oben genannten Störungsmerkmalen ausschlägt.<br />
4. Trieblehre<br />
Die Triebe sind jener Bereich, in welchem sich gewissermaßen das Or-<br />
415 ganische und das Psychische begegnen. Tatsächlich lassen sich z. B.<br />
<strong>de</strong>r Nahrungs-, Geschlechts- o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb durch Beeinflussung<br />
<strong>de</strong>s Organismus anregen o<strong>de</strong>r dämpfen. Für <strong>Freud</strong> war es darum selbstverständlich,<br />
das Triebleben als die Basis <strong>de</strong>s Psychischen zu betrachten.<br />
Diese Anschauung stand <strong>de</strong>nn auch in Übereinstimmung mit seiner<br />
420 damaligen Auffassung, dass die Motive <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns im Es verwurzelt<br />
und darum zumeist auch unbewusst sind.<br />
Es entsprach <strong>Freud</strong>s reduktionistischem Denken, dass er <strong>de</strong>r Überzeugung<br />
war, sämtliche Triebe ließen sich auf einen einzigen o<strong>de</strong>r allenfalls<br />
zwei Grundtriebe zurückführen. Der frühe <strong>Freud</strong> glaubte, einerseits im<br />
425 Sexualtrieb, an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>n Ich-Trieben (Selbsterhaltungsten<strong>de</strong>nzen)<br />
diese grundlegen<strong>de</strong>n Triebe zu erkennen, in jenem Bestreben also, <strong>de</strong>m<br />
Organismus einerseits größtmögliche Lust zu verschaffen und ihn an<strong>de</strong>rerseits<br />
zu erhalten. Mit <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Narzissmus (zu Deutsch am<br />
ehesten: Selbstverliebtheit) hat er dann auch <strong>de</strong>n Ich-Trieben einen libi-<br />
430 dinösen Charakter (-> Libido) zuerkannt.<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 4 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
<strong>Freud</strong> setzte sich zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts, einer Zeit ausgeprägtester<br />
Prü<strong>de</strong>rie, mit dieser Sexualisierung <strong>de</strong>s gesamten Seelenlebens<br />
harter Kritik aus. Heute scheint es aber, als hätten es sich die Kritiker<br />
<strong>Freud</strong>s etwas zu einfach gemacht, in<strong>de</strong>m sie zu wenig zur Kenntnis<br />
435 nahmen, dass <strong>Freud</strong> das Sexuelle an sich weiter fasste, als es außerhalb<br />
<strong>de</strong>r Psychoanalyse geschieht. So vertrat er die Auffassung, dass z. B.<br />
bereits das Saugen <strong>de</strong>s Säuglings an <strong>de</strong>r Mutterbrust eine "sexuelle"<br />
Handlung darstellt. Tatsächlich kann ein unvoreingenommener Betrachter<br />
unschwer feststellen, dass <strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>s Saugens beim Säugling ein<br />
440 wirklich lustvoller Vorgang ist und dass sich das kleine Kind auch sonst<br />
durch das Lutschen <strong>de</strong>r Finger o<strong>de</strong>r irgendwelcher Gegenstän<strong>de</strong> Lust<br />
verschafft. Die Begrifflichkeit "lustvollen Tuns" scheint hier allerdings treffen<strong>de</strong>r<br />
für das zu sein, was <strong>Freud</strong> mit <strong>de</strong>m Wort "sexuell" ausdrückte.<br />
[mehr..]<br />
445 <strong>Freud</strong> ergänzte seine Theorie später dadurch, dass er <strong>de</strong>m Lusttrieb <strong>de</strong>n<br />
sog. To<strong>de</strong>strieb (Destruktionstrieb, Aggressionstrieb) zur Seite stellte. Er<br />
sah nunmehr das menschliche Leben eingespannt zwischen die Pole <strong>de</strong>s<br />
‘Eros’ und <strong>de</strong>s ‘Thanatos’. Im Eros sah er das aufbauen<strong>de</strong>, im Thanatos<br />
das abbauen<strong>de</strong> Prinzip. So sah er z. B. beim Essen in <strong>de</strong>r Einverleibung<br />
450 <strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Lusttrieb, im Zerkauen <strong>de</strong>r Nahrung <strong>de</strong>n Aggressionstrieb<br />
am Werk. Auch <strong>de</strong>n Sexualakt betrachtete er als eine Verbindung<br />
bei<strong>de</strong>r Triebe. Das völlige Fehlen <strong>de</strong>s Aggressionstriebs äußerte sich<br />
dann als Impotenz, das Fehlen <strong>de</strong>s Eros hingegen als Sadismus bzw. –<br />
im Grenzfall – im Lustmord.<br />
455 Viele Vertreter <strong>de</strong>r Psychoanalyse – z. B. Fromm – folgten nicht dieser<br />
Annahme eines To<strong>de</strong>striebes. Bemerkenswert sind allerdings die Ähnlichkeiten<br />
zwischen <strong>Freud</strong>s Grundtrieben und <strong>de</strong>n Grunddualitäten vieler<br />
Religionen (Gut-Böse im Christentum, Eros-Thanatos in <strong>de</strong>r griechischen<br />
Mythologie, Shiva-Vishnu im Hinduismus, Yin-Yang im chinesischen Tao<br />
460 etc.)<br />
4.1. Libido<br />
<strong>Freud</strong> geht grundsätzlich davon aus, dass ‘die Psyche’ nicht etwa eine<br />
Wesenheit, son<strong>de</strong>rn ein Vorgang (ein Geschehen, ein Prozess), also etwas<br />
Dynamisches ist. Das dynamische Geschehen <strong>de</strong>r Psyche wird ge-<br />
465 mäß seiner Vorstellung durch die psychische Energie in Gang gehalten,<br />
die er als Libido bezeichnet. Die Libido steht grundsätzlich <strong>de</strong>m Ich zur<br />
Verfügung und fließt ihm "von <strong>de</strong>n Organen her" zu. In dieser Vorstellung<br />
lässt sich einmal mehr <strong>Freud</strong>s Bemühen erkennen, das Psychische auf<br />
das Organische zurückzuführen - für die westliche Wissenschaft damals<br />
470 noch ungewohnt, erfuhren diese Vorstellungen teils heftigen Wi<strong>de</strong>rspruch,<br />
heute, nach einer Öffnung für östliches Denken und durch Vorreiter<br />
wie Reich tiefer gehend erforscht, sind sie weitgehend akzeptiert.<br />
Die Libido kann grundsätzlich frei o<strong>de</strong>r gebun<strong>de</strong>n sein. Sachverhalte<br />
wer<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n Menschen dadurch be<strong>de</strong>utsam, dass sich mit <strong>de</strong>ren Vor-<br />
475 stellung Libido verbin<strong>de</strong>t. <strong>Freud</strong> spricht davon, dass die ‘Objekte’ mit Libido<br />
‘besetzt’ wer<strong>de</strong>n. Zunächst richtet sich die Libido auf das eigene Ich,<br />
was <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s ‘primären Narzissmus’ ausmacht (Narziss war <strong>de</strong>r<br />
griechischen Mythologie zufolge ein Hirte, <strong>de</strong>r sich beim Anblick seines<br />
Spiegelbil<strong>de</strong>s im Wasser in sich selbst verliebte). Es entspricht in<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r<br />
480 gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, dass sich die Libido auf ‘Objekte’ richtet und sich<br />
mit ihnen verbin<strong>de</strong>t.<br />
Das erste ‘Objekt’, das das kleine Kind mit Libido besetzt, ist die Mutterbrust.<br />
Darunter ist zu verstehen, dass im Erleben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s die Mutterbrust<br />
zum ersten und be<strong>de</strong>utsamsten Objekt seiner Wahrnehmung wird.<br />
485 Im Verlaufe <strong>de</strong>r Entwicklung besetzt das Kind immer mehr Objekte mit<br />
Libido. Man kann sagen, dass ein Objekt mit um so mehr Libido besetzt<br />
ist, je stärker es mit gefühlvollem Erleben verbun<strong>de</strong>n ist.<br />
Wird die Libido in übertriebener Weise an das eigene Ich fixiert, so<br />
spricht <strong>Freud</strong> vom ‘sekundären Narzissmus’. Dies ist eine sehr ernste<br />
490 psychische Störung: <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch bleibt völlig auf sich selbst<br />
bezogen und ist eigentlich asozial und liebesunfähig.<br />
Rein formal unterschei<strong>de</strong>t <strong>Freud</strong> bei je<strong>de</strong>m Trieb vier Kriterien: Quelle,<br />
Objekt, Ziel und Drang. Im Bereich <strong>de</strong>s Ernährungstriebes z. B. ist die<br />
Quelle das objektive Nahrungsbedürfnis, das Objekt die Nahrung, <strong>de</strong>r<br />
495 Drang die Stärke <strong>de</strong>s Hungergefühls und das Ziel die Stillung <strong>de</strong>s Hungers.<br />
Analoges gilt für die an<strong>de</strong>ren Triebe.<br />
5. Die Abwehrmechanismen<br />
Eine grundlegen<strong>de</strong> Überzeugung <strong>de</strong>r Psychoanalyse ist es, dass <strong>de</strong>r<br />
Mensch nicht ohne weiteres bereit o<strong>de</strong>r fähig ist, die Inhalte <strong>de</strong>s Es be-<br />
500 wusst wer<strong>de</strong>n zu lassen und sie somit auch als Teil <strong>de</strong>s eigenen Seelenlebens<br />
zu akzeptieren. Er hat vielmehr Mechanismen (Automatismen,<br />
d.s. automatisch und unbewusst ablaufen<strong>de</strong> Seelenvorgänge) entwickelt,<br />
die darauf abzielen, jene Impulse aus <strong>de</strong>m Es, die ihm aus irgendwelchen<br />
Grün<strong>de</strong>n (weil sie z. B. mit <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Über-Ichs o<strong>de</strong>r<br />
505 <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong>de</strong>r Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen sind)<br />
als nicht akzeptabel erscheinen o<strong>de</strong>r erscheinen könnten, gewissermaßen<br />
schon im Keime zu ersticken und sie auf diese Weise gar nicht ins<br />
Bewusste kommen zu lassen.<br />
Ich habe bei <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Aufzählung die Liste <strong>de</strong>r von <strong>Freud</strong> beschrie-<br />
510 benen Abwehrformen um einige <strong>de</strong>r von Kernberg (1976) zusammengefassten<br />
ergänzt.<br />
5.1. Verdrängung<br />
Die Verdrängung ist <strong>de</strong>r grundlegendste Abwehrmechanismus. Für sie<br />
gilt – ebenso wie für alle an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen, bei <strong>de</strong>nen Ver-<br />
515 drängung immer mit enthalten ist –, dass sie<br />
1. unbewusst passiert,<br />
2. <strong>de</strong>r Angst-Abwehr dient und<br />
3. eine Selbsttäuschung darstellt.<br />
Bei einer Verdrängung han<strong>de</strong>lt es sich um die unbewusste Unterdrü-<br />
520 ckung eines Triebbedürfnisses (z. B. Sexualtrieb o<strong>de</strong>r Aggressionstrieb)<br />
o<strong>de</strong>r eines irgendwie belasten<strong>de</strong>n Impulses aus <strong>de</strong>m Es (z. B. Min<strong>de</strong>rwertigkeits-,<br />
Schuld-, Scham- o<strong>de</strong>r Angstgefühle). Eine Verdrängung<br />
steht folglich im Gegensatz zu einem entschlossenen, bewussten Triebverzicht<br />
und ermöglicht das Ausweichen vor einer bewussten Entschei-<br />
525 dung.<br />
Beispiel: Ein junger Mann, <strong>de</strong>r kurz vor <strong>de</strong>r Heirat steht, lernt einen an<strong>de</strong>ren<br />
Mann kennen, <strong>de</strong>r in ihm homoerotische Impulse auslöst. Die Wahrscheinlichkeit<br />
ist hoch, dass <strong>de</strong>r Impuls schon im Ansatz wie<strong>de</strong>r zurückgewiesen<br />
wird, also beim betroffenen Menschen gar nicht ins Bewusst-<br />
530 sein gelangt. Wür<strong>de</strong> er nämlich <strong>de</strong>n homoerotischen Impuls in voller<br />
Stärke bewusst erleben, wür<strong>de</strong> er große Ängste und Verunsicherung vor<br />
<strong>de</strong>m wichtigen Schritt <strong>de</strong>r Heirat auslösen. Er wird also folglich ruhig sein<br />
Ziel verfolgen und heiraten, unbehelligt von Ängsten und Zweifeln. Und<br />
doch kann man sich <strong>de</strong>r Erkenntnis nicht entziehen, dass seine Handlun-<br />
535 gen auf einer Selbsttäuschung beruhen.<br />
Auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Instanzen-Lehre (Es, Ich, Über-Ich)<br />
drängt sich nun die Frage auf, ‘wer’ <strong>de</strong>nn da eigentlich verdrängt. Verdrängen<strong>de</strong><br />
Instanz ist wohl das Ich (allenfalls unter <strong>de</strong>n Einwirkungen<br />
<strong>de</strong>s Über-Ich); da aber die Verdrängung unbewusst geschieht, ist es ei-<br />
540 gentlich <strong>de</strong>r unbewusste Anteil <strong>de</strong>s Ichs, <strong>de</strong>r verdrängend wirkt.<br />
<strong>Freud</strong> selbst war durchaus bereit, ein gewisses Ausmaß an Verdrängungen<br />
als vertretbar und psychisch nicht alarmierend zu betrachten, da sie<br />
eigentlich unvermeidlich sind. Es han<strong>de</strong>lt sich bei ihnen um einen Ausdruck<br />
jener neurotischen Züge, die je<strong>de</strong>r menschlichen Person in irgend-<br />
545 einer Weise anhaften. Zum Problem wer<strong>de</strong>n Verdrängungen, wenn sie<br />
ein großes Ausmaß angenommen haben, zentrale psychische Bereiche<br />
betreffen und sich hartnäckig je<strong>de</strong>r Bewusstmachung entziehen. In diesem<br />
Fall sind sie Ausdruck einer etablierten Neurose.<br />
Es gab in<strong>de</strong>s Psychoanalytiker im Gefolge von <strong>Freud</strong>, die je<strong>de</strong> Form von<br />
550 Verdrängung als Krankheitsanzeichen und auch als weiterhin krankmachend<br />
betrachten und sie <strong>de</strong>shalb mit allen zu Gebote stehen<strong>de</strong>n Mitteln<br />
auflösen wollten. Am konsequentesten war hier Arthur Janov mit <strong>de</strong>r sog.<br />
Primär- o<strong>de</strong>r ‘Urschrei’–Therapie, ganz wesentlich auch die körperorientierten<br />
Ansätze in <strong>de</strong>r Therapie, die versuchen, "Blocka<strong>de</strong>n" (gewisser-<br />
555 maßen auf körperlicher Ebene gebun<strong>de</strong>ne Verdrängungen) aufzulösen,<br />
wie etwa die Ansätze von Wilhelm Reich (einem <strong>de</strong>r wohl unkonventionellsten<br />
Schüler <strong>Freud</strong>s) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ssen Schüler Alexan<strong>de</strong>r Lowen (Bioenergetik).<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 5 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
5.2. Regression<br />
560 Stellt sich <strong>de</strong>m Menschen in seinen Handlungen o<strong>de</strong>r Lebensbestrebungen<br />
irgen<strong>de</strong>in Hin<strong>de</strong>rnis entgegen, so gibt es – rein theoretisch – stets<br />
zwei Möglichkeiten: Entwe<strong>de</strong>r überwin<strong>de</strong>t er das Hin<strong>de</strong>rnis, o<strong>de</strong>r er scheitert.<br />
Die Psychoanalyse konnte <strong>de</strong>n Nachweis erbringen, dass <strong>de</strong>r<br />
Mensch im zweiten Fall in <strong>de</strong>r Regel nicht einfach zur Tagesordnung<br />
565 übergeht, son<strong>de</strong>rn als Antwort auf sein Frustrationserlebnis regrediert,<br />
d.h. eine Verhaltensweise äußert, die einer entwicklungsmäßig (genetisch)<br />
früheren Stufe entspricht. Die Regression ist insofern ein Abwehrmechanismus,<br />
als sie offenbar dazu dient, die mit <strong>de</strong>m Scheitern verbun<strong>de</strong>nen<br />
Min<strong>de</strong>rwertigkeits-, Schuld- und Angstgefühle nicht ins Bewusst-<br />
570 sein kommen zu lassen. Die bewusste Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit diesen<br />
belasten<strong>de</strong>n Inhalten wird gewissermaßen durch eine 'unreife' Ersatzhandlung<br />
zuge<strong>de</strong>ckt.<br />
Ein Beispiel:<br />
Ein Fußgänger geht in Gedanken versunken <strong>de</strong>n Gehweg entlang und<br />
575 läuft frontal in <strong>de</strong>n Sonnenschirm eines Straßencafés. In seinem<br />
Schmerz beschimpft er ihn als ‘verdammten Stecken’.<br />
Nun - kühlen Kopfes betrachtet, entbehrt seine Handlungsweise je<strong>de</strong>r<br />
Vernunft. Tiefenpsychologisch betrachtet aber ist sie verständlich: kleine<br />
Kin<strong>de</strong>r nehmen bekanntlich auch unbelebte Gegenstän<strong>de</strong> als belebt und<br />
580 beseelt wahr und sind darum – ohne dass dies in diesem frühen Alter als<br />
Regression bezeichnet wer<strong>de</strong>n dürfte – ohne weiteres bereit, z. B. <strong>de</strong>n<br />
Tisch als ‘böse’ zu beschimpfen und ihn zu schlagen, wenn sie ihren<br />
Kopf daran gestoßen haben. Wir nennen diese Erlebensweise animistisch<br />
(alles ist beseelt) o<strong>de</strong>r anthropomorph (alles hat menschliche Züge).<br />
585 Der beschriebene Fußgänger fiel infolge <strong>de</strong>r starken Frustration auf diese<br />
genetisch (entwicklungsmäßig) frühere Stufe zurück und konnte so – ohne<br />
dass er sich <strong>de</strong>ssen bewusst war, <strong>de</strong>nn all dies geschah unbewusst –<br />
einer rationalen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit seinen Min<strong>de</strong>rwertigkeits- und<br />
Angstgefühlen aus <strong>de</strong>m Wege gehen. Gefühlen, die zu verkraften offen-<br />
590 sichtlich wesentlich aufwendiger wären als die spontane Regression.<br />
Auch <strong>de</strong>r Griff zur Zigarette, zur Flasche o<strong>de</strong>r zu einer an<strong>de</strong>ren Droge,<br />
<strong>de</strong>r häufig in belasten<strong>de</strong>n Situationen erfolgt, kann als Regression verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n: als ein Zurücksinken ins erste Lebensjahr (-> Orale<br />
Phase), in <strong>de</strong>m sich das Kind durch Saugen, Lutschen o<strong>de</strong>r Einlullenlas-<br />
595 sen Lust verschafft.<br />
Neben diesen Regressionen, die als Inadäquate Abwehrmechanismen<br />
und insofern als neurotisch zu betrachten sind, gibt es eine Anzahl von<br />
regressiven Handlungen und Lebensvollzügen, die <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung<br />
<strong>de</strong>s psychischen Gleichgewichts dienen. Solche ‘legitimen’ Regressionen<br />
600 sind z. B. <strong>de</strong>r Schlaf, das sexuelle Erleben, das Spiel, das belanglose<br />
Blö<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r das Mitschreien im Fußballstadion. Der tiefenpsychologisch<br />
ausgerichtete Anthropologe neigt dazu, das psychische Geschehen als<br />
ein Wechselspiel zu betrachten, in welchem sich Licht und Schatten,<br />
Zielgerichtetheit und Laissez-faire, Rationales und Irrationales, Pflichter-<br />
605 füllung und Lustgewinn die Waage halten sollen. Dementsprechend sind<br />
ihm alle möglichen Formen <strong>de</strong>r Regression (die konkrete Wahl wäre da<br />
eine Frage <strong>de</strong>s persönlichen Stils..) <strong>de</strong>r nötige Ausgleich zum progressiven<br />
Verhalten: zur zielgerichteten, rationalen und <strong>de</strong>n gegebenen Ordnungen<br />
unterworfenen Lebensaktivität.<br />
610 5.3. Rationalisierung<br />
Bei <strong>de</strong>r Rationalisierung han<strong>de</strong>lt es sich um das verstan<strong>de</strong>smäßige<br />
Rechtfertigen eines Verhaltens, in<strong>de</strong>m die wahren, aber nicht eingestan<strong>de</strong>nen<br />
und vom Über-Ich nicht akzeptierten Motive (Beweggrün<strong>de</strong>) durch<br />
solche ersetzt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Menschen für sich selbst<br />
615 und die an<strong>de</strong>ren als annehmbar(er) erscheinen.<br />
Fragt man etwa jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich sozial sehr engagiert, weshalb er das<br />
tut, so wird man von ihm möglicherweise hören, er ziehe aus seiner<br />
'christlichen Grundhaltung' die Konsequenz. Das ist durchaus möglich, es<br />
könnten aber auch an<strong>de</strong>re Motive ausschlaggebend o<strong>de</strong>r doch zumin<strong>de</strong>st<br />
620 mitbeteiligt sein - so etwa das Bedürfnis, unbewusste Schuldgefühle zu<br />
kompensieren, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Drang, im Zentrum zu stehen, Anerkennung zu<br />
erhalten o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>njenigen, <strong>de</strong>nen man hilft, geliebt zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Auch bei diesem Mechanismus ist es offensichtlich, dass Inhalte <strong>de</strong>s Es,<br />
die – wür<strong>de</strong>n sie bewusst erlebt – Unwohlgefühle erzeugen wür<strong>de</strong>n, au-<br />
625 tomatisch aus <strong>de</strong>m Bewussten verdrängt, also abgewehrt wer<strong>de</strong>n. Es<br />
zeigt sich hier einmal mehr, dass die Abwehrmechanismen <strong>de</strong>r Angstabwehr<br />
dienen.<br />
Die Rationalisierung ist vermutlich die verbreitetste Form <strong>de</strong>r Selbsttäuschung.<br />
In<strong>de</strong>m uns die Psychoanalyse darauf aufmerksam macht und<br />
630 uns auch auffor<strong>de</strong>rt, Rationalisierungen aufzulösen und uns <strong>de</strong>n wahren<br />
Motiven zu stellen, erweist sich diese psychologische Anthropologie als<br />
eine Lehre mit sehr hohem ethischen Anspruch. Sie läuft auf jene Auffor<strong>de</strong>rung<br />
hinaus, die einst über <strong>de</strong>m Tempeleingang in Delphi stand: Erkenne<br />
dich selbst!<br />
635 5.4. Projektion<br />
Bei <strong>de</strong>r Projektion wer<strong>de</strong>n unbewusste Triebimpulse, Wünsche, Schuldgefühle,<br />
Ängste, aber auch eigene Schwächen und Fehler auf ‘Objekte’<br />
in <strong>de</strong>r Außenwelt übertragen. Biblisch gesprochen: "Was siehst du <strong>de</strong>n<br />
Splitter im Auge <strong>de</strong>ines Bru<strong>de</strong>rs, und <strong>de</strong>n Balken im eigenen Auge siehst<br />
640 du nicht." Als Objekte kommen grundsätzlich einzelne Personen, Personengruppen,<br />
Gegenstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Situationen in Frage.<br />
Ein Mensch, <strong>de</strong>r von seinem Vater misshan<strong>de</strong>lt und unterdrückt wur<strong>de</strong>,<br />
kann z. B. dazu neigen, in je<strong>de</strong>r Situation, in <strong>de</strong>r Autorität o<strong>de</strong>r die For<strong>de</strong>rung<br />
nach Unterordnung im Spiel ist, das tyrannische Wirken <strong>de</strong>s Vaters<br />
645 zu sehen und sich dann in eine kämpferische Haltung zu begeben. Es ist<br />
dann, als wür<strong>de</strong> er stets je<strong>de</strong> Gelegenheit wahrnehmen, um – ersatzweise<br />
– gegen seinen Vater anzukämpfen.<br />
Projektionen auf Personengruppen sind die psychische Basis je<strong>de</strong>r Art<br />
von Rassenvorurteilen, Frem<strong>de</strong>n- und Gruppenhass. Situationen und<br />
650 Gegenstän<strong>de</strong>, die Projektionen auslösen können, sind z. B. ein laufen<strong>de</strong>r<br />
Motor, eine Uniform, ein Sonnenuntergang, ein großer Platz, ein Verkehrschaos<br />
und vieles mehr. In je<strong>de</strong>m Fall sieht <strong>de</strong>r Projizieren<strong>de</strong> im Gegenstand<br />
o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Situation mehr und an<strong>de</strong>res, als das, was diese ‘an<br />
sich’ be<strong>de</strong>uten, und reagiert darauf oft beson<strong>de</strong>rs emotional. Dadurch<br />
655 wird die erhebliche Erschwerung und Störung zwischenmenschlicher<br />
Kommunikation (die ja darauf beruht, dass wir i<strong>de</strong>ntische Begriffe haben)<br />
durch je<strong>de</strong> Form von Projektion nachvollziehbar. Man kann davon ausgehen,<br />
dass in je<strong>de</strong>m Streit, bei je<strong>de</strong>r heftigen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung Projektionen<br />
im Spiele sind. Eine psychologisch korrekte ‘Schlichtung’ dürfte<br />
660 darum niemals auf einen faulen Kompromiss hinauslaufen ("du hast ein<br />
bisschen recht und du auch"), son<strong>de</strong>rn muss bei je<strong>de</strong>m Teilnehmer die<br />
Bereitschaft erzeugen, sich seinen eigenen Projektionen zu stellen.<br />
Bei <strong>de</strong>r Projektion wird somit eine Selbsttäuschung offenbar - man sieht<br />
das an<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nicht so, wie es o<strong>de</strong>r er "wirklich" ist, son-<br />
665 <strong>de</strong>rn so, wie man es o<strong>de</strong>r ihn unbewusst haben "möchte" (bzw. gewissermaßen<br />
sogar haben "muss"). Das ist auch in jenen Fällen so, wo Projektionen<br />
als durchaus angenehm erlebt wer<strong>de</strong>n, wie z. B. im Zustand<br />
großer Verliebtheit. In <strong>de</strong>r Regel sieht <strong>de</strong>r Verliebte die Angebetete als<br />
mehr o<strong>de</strong>r weniger fehlerfrei, wobei er allerdings ein Wunschbild (z. B.<br />
670 die positive Seite seiner Muttererfahrung) in die Geliebte projiziert. Der<br />
bekannte Spruch "Liebe macht blind" wäre <strong>de</strong>mgemäß in "Verliebtheit<br />
macht blind" zu korrigieren, <strong>de</strong>nn im Gegensatz zur Verliebtheit macht<br />
die wahre Liebe sehend, was Saint-Exupérys kleinen Prinzen <strong>de</strong>n bekannten<br />
Satz aussprechen ließ: "Man sieht nur mit <strong>de</strong>m Herzen gut".<br />
675 5.5. Introjektion<br />
Dies ist <strong>de</strong>r umgekehrte Vorgang <strong>de</strong>r Projektion: Es wer<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong> Anschauungen,<br />
Motive, Verhaltensweisen ins eigene Ich aufgenommen.<br />
Dabei geht es nicht um die legitimen Formen <strong>de</strong>s Lernens, son<strong>de</strong>rn um<br />
Imitationen, die <strong>de</strong>m eigenen Ich eigentlich fremd sind und <strong>de</strong>r Abwehr<br />
680 beispielsweise von Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühlen dienen sollen. Ein Beispiel<br />
dafür wäre etwa ein Musiker, <strong>de</strong>r in Erscheinungsbild und Gehaben ganz<br />
in die Rolle eines an<strong>de</strong>ren geschlüpft ist, welcher wirklich etwas kann und<br />
darum auch Erfolg hat. O<strong>de</strong>r etwa Menschen, die im Grun<strong>de</strong> ihres Herzens<br />
eigentlich eher konservativ sind, aber plötzlich ganz unvermittelt<br />
685 und im Gegensatz zu ihren übrigen Überzeugungen und ihrem wirklichen<br />
Leben progressive Ansichten zum besten geben o<strong>de</strong>r sich eine Trend-<br />
Frisur zulegen - offensichtlich aus <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch heraus,<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 6 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
von gewissen Kreisen besser o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs, als sie sind, angenommen zu<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
690 5.6. I<strong>de</strong>ntifikation<br />
Wird nicht bloß ein einzelner Zug eines an<strong>de</strong>ren Menschen o<strong>de</strong>r eine<br />
einzelne isolierte I<strong>de</strong>e introjiziert, son<strong>de</strong>rn das ganze Wesen eines Menschen<br />
bzw. ein ganzes I<strong>de</strong>ensystem, so liegt eine I<strong>de</strong>ntifikation vor. So<br />
kennen wir etwa die starke I<strong>de</strong>ntifikation Pubertieren<strong>de</strong>r mit Idolen, die so<br />
695 weit gehen kann, dass sich ein Jugendlicher als "Superman" aus einem<br />
Hochhaus stürzt, um mit ausgebreitetem Cape ins Gewühl <strong>de</strong>r Straße<br />
hinabzuschweben (real geschehen).<br />
Ganz allgemein ist <strong>de</strong>r ‘Fan’ ein Mensch, <strong>de</strong>r sich mit irgen<strong>de</strong>twas o<strong>de</strong>r<br />
irgend jeman<strong>de</strong>m hochgradig i<strong>de</strong>ntifiziert hat. So hängt z. B. die Seelen-<br />
700 lage von Fußball-Fans erheblich vom Erfolg bzw. Misserfolg ‘ihres’ Klubs<br />
ab: gewinnt er, sind sie euphorisch, verliert er, sind sie <strong>de</strong>pressiv. In bei<strong>de</strong>n<br />
Fällen können sich die aufgestauten Gefühle in Form von Aggressionen<br />
entla<strong>de</strong>n: im ersten Fall entwickeln sich die Gefühle <strong>de</strong>r Überlegenheit<br />
zu Übermut, Arroganz und Angriffslust, im zweiten Fall entsteht aus<br />
705 <strong>de</strong>r erlittenen Schmach und <strong>de</strong>r damit verbun<strong>de</strong>nen Frustration ein Klima<br />
<strong>de</strong>r Rache und <strong>de</strong>r ungerichteten Wut.<br />
Differenziertere Menschen neigen eher dazu, sich mit I<strong>de</strong>ensystemen zu<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren, seien dies politische o<strong>de</strong>r religiöse. Die I<strong>de</strong>ntifikation ist daran<br />
zu erkennen, dass mit vorgegebenen Formeln und Gedankengängen<br />
710 argumentiert und insbeson<strong>de</strong>re keinerlei Zweifel zugelassen wird. Der<br />
durch die I<strong>de</strong>ntifikation begrün<strong>de</strong>te Fanatismus entwickelt in extremen<br />
Fällen – analog zum Fan-Klub – ein Klima <strong>de</strong>r Gewalttätigkeit. Die Geschichte<br />
zeigt eindrücklich, dass viele politische und religiöse ‘Revolutionäre’,<br />
die stets von <strong>de</strong>r Heiligkeit ‘ihrer Sache’ restlos überzeugt waren,<br />
715 nicht vor Gewalttätigkeit und Brutalität zurückschreckten.<br />
In all diesen Formen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation tritt das Moment <strong>de</strong>r Selbsterhöhung<br />
<strong>de</strong>utlich zu Tage. Ihre Basis sind die unbewussten, im und aus <strong>de</strong>m<br />
Es wirken<strong>de</strong>n Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, die naturgemäß ängstigen und<br />
darum abgewehrt wer<strong>de</strong>n wollen. Diese Zusammenhänge hat Adler –<br />
720 freilich teils mit an<strong>de</strong>ren Begriffen – in das Zentrum seiner Betrachtungsweise<br />
gestellt. Die alltägliche Beobachtung zeigt sehr <strong>de</strong>utlich, dass insbeson<strong>de</strong>re<br />
solche Jugendliche zu überstarken I<strong>de</strong>ntifikationen – und damit<br />
zu Selbstverlust – neigen, <strong>de</strong>ren soziales Milieu nicht das Selbstwertgefühl<br />
stärkte, son<strong>de</strong>rn die Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle för<strong>de</strong>rte. Für Erzie-<br />
725 her sind darum überstarke I<strong>de</strong>ntifikationen, wie sie sich insbeson<strong>de</strong>re ab<br />
<strong>de</strong>r Pubertät zeigen, stets ein Gradmesser für die Ich-Schwäche eines<br />
jungen Menschen, es ist dann alles zu unternehmen, um <strong>de</strong>ssen Selbstwertgefühl<br />
zu stärken.<br />
Dass alle Abwehrmechanismen – und somit auch die I<strong>de</strong>ntifikation – <strong>de</strong>r<br />
730 Angstabwehr dienen, ersehen wir aus <strong>de</strong>n zahlreichen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />
sich Menschen, die extrem unterdrückt wur<strong>de</strong>n, mit ihren Unterdrückern<br />
i<strong>de</strong>ntifizierten und so eben vor ihnen keine Angst mehr haben mussten.<br />
Dies war nicht nur in <strong>de</strong>utschen Konzentrationslagern beobachtbar, in<br />
<strong>de</strong>nen Gefangene zu Gehilfen 'beför<strong>de</strong>rt' wur<strong>de</strong>n und sich dann als be-<br />
735 son<strong>de</strong>rs eifrige Quäler hervortaten, son<strong>de</strong>rn auch bei Patricia Hurst, <strong>de</strong>r<br />
amerikanischen Verlegerstochter, die von einer radikalen Gruppe entführt<br />
wur<strong>de</strong> und später mit ihnen an Banküberfällen teilnahm. Analoges geschah<br />
z. B. auch in Stockholm, als eine westliche Botschaft von einer<br />
Gruppe linksextremer Terroristen überfallen wur<strong>de</strong> und sich eine Geisel<br />
740 nachher <strong>de</strong>r RAF anschloss. Die psychologische Analyse <strong>de</strong>r damaligen<br />
Geschehnisse prägte <strong>de</strong>n seither für diesen Effekt verwen<strong>de</strong>ten Begriff<br />
"Stockholmsyndrom".<br />
Wie <strong>Freud</strong> aufzeigte, ist die I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater und<br />
<strong>de</strong>s Mädchens mit <strong>de</strong>r Mutter im Zuge <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />
745 ein entwicklungspsychologisch gesetzmäßiger Vorgang, <strong>de</strong>r dazu führt,<br />
dass die Kin<strong>de</strong>r die Norm- und Wertvorstellungen <strong>de</strong>r Eltern übernehmen<br />
und so auch in die Gesellschaft hineinwachsen. Wie sehr sich Jungen<br />
mitunter mit ihren Vätern i<strong>de</strong>ntifizieren, kann man gelegentlich hören,<br />
wenn je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n stärkeren, tüchtigeren, gescheiteren o<strong>de</strong>r reicheren Vater<br />
750 haben will.<br />
Konversion<br />
Als Konversion bezeichnet die Psychoanalyse <strong>de</strong>n Umschlag einer unerledigten<br />
Affektregung (Angst, Aggression, Wut, Ärger, Schuldgefühl,<br />
755 Triebwunsch etc.) ins Körperliche (Somatische). Beispiele sind etwa Erröten,<br />
Ohnmachtsanfälle, Herzklopfen, Migräne, Magenlei<strong>de</strong>n, Zittern usf.<br />
Deren Charakter als Abwehrmechanismus erweist sich aus <strong>de</strong>r Tatsache,<br />
dass wie<strong>de</strong>rum ins Es verdrängte (d.h. unbewusste) und von dort aus<br />
wirken<strong>de</strong> Affekte in ihrem Zustand <strong>de</strong>r Unbewusstheit belassen wer<strong>de</strong>n,<br />
760 weil es offenbar psychisch zu aufwendig wäre, sich ihnen zu stellen, und<br />
darum <strong>de</strong>ren Manifestation im Körper in Kauf genommen wird.<br />
5.7. Reaktionsbildung<br />
<strong>Freud</strong> ent<strong>de</strong>ckte, dass belasten<strong>de</strong> Affekte u.a. auch dadurch abgewehrt<br />
wer<strong>de</strong>n können, dass im bewussten Verhalten und Erleben eine gegen-<br />
765 sätzliche Verhaltensweise entwickelt wird.<br />
Übertriebene Reinlichkeit etwa kann eine Reaktionsbildung sein, bei <strong>de</strong>r<br />
die täglich viele Stun<strong>de</strong>n beanspruchen<strong>de</strong> Beseitigung von Schmutz und<br />
Unrat eine Möglichkeit darstellt, seine wirklich vorhan<strong>de</strong>ne Schmutzlust<br />
zu befriedigen. Analog dazu ist es auch möglich, dass ein religiöser o<strong>de</strong>r<br />
770 politischer ‘Sittenhüter’, <strong>de</strong>r überall gegen sexuelle Unsittlichkeit ankämpft,<br />
in diesem Tun eine Möglichkeit sieht, seine überstarken, aber<br />
verdrängten sexuellen Bedürfnisse ersatzweise zu befriedigen (in Österreich<br />
war etwa ein "Pornojäger" gerichtsbekannt, <strong>de</strong>r daheim mehrere<br />
Räume mit zigtausen<strong>de</strong>n Pornovi<strong>de</strong>os und -Magazinen "zu Beweiszwe-<br />
775 cken" angefüllt hatte). Und dass Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Feuerwehr gelegentlich<br />
<strong>de</strong>m Anblick brennen<strong>de</strong>r Häuser nicht unabgeneigt sind, wissen wir nicht<br />
erst, seit sich mehrerenorts Feuerwehrmänner als Brandstifter betätigten.<br />
Es muss aber <strong>de</strong>utlich davor gewarnt wer<strong>de</strong>n, nun je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>rartige Verhalten<br />
einfach als Reaktionsbildung zu betrachten. Ein solcher Abwehr-<br />
780 mechanismus liegt meist nur dann vor, wenn die Intensität <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n<br />
Handlungsmotive sehr übersteigert und <strong>de</strong>mentsprechend nicht <strong>de</strong>r<br />
Realität angemessen sind.<br />
5.8. Kompensation<br />
Wie bereits oben i. B. auf die Adler’sche Individualpsychologie erläutert<br />
785 wur<strong>de</strong>, neigt <strong>de</strong>r Mensch dazu, sich <strong>de</strong>m bewussten Erleben psychischer<br />
Mängel dadurch zu entziehen, dass er Verhaltensweisen äußert, von <strong>de</strong>nen<br />
er annimmt, dass sie ihm beson<strong>de</strong>re Geltung, Überlegenheit o<strong>de</strong>r<br />
Macht über an<strong>de</strong>re verschaffen. Als Regel kann gelten: je größer die<br />
Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle, <strong>de</strong>sto stärker die erfor<strong>de</strong>rliche Kompensation.<br />
790 Es gibt grundsätzlich keine Verhaltensweise, die nicht zur Kompensation<br />
gebraucht wer<strong>de</strong>n kann. So kann ein Musiker auf <strong>de</strong>m Podium musizieren,<br />
um an<strong>de</strong>re mit seiner Kunst zu erfreuen o<strong>de</strong>r um sich im Zentrum<br />
<strong>de</strong>s Interesses zu sonnen. Häufig sind Kompensationen aber von <strong>de</strong>n<br />
‘echten’ Motiven nicht zu trennen, und es ist anzunehmen, dass in fast<br />
795 allen Verhaltensweisen ein mehr o<strong>de</strong>r weniger großer Anteil an Kompensationsbedürfnis<br />
mitschwingt.<br />
Eine erhebliche Selbsttäuschung stellt die Kompensation insofern dar,<br />
als man ihre Funktion, Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle abzuwehren, ja nicht erkennt<br />
und offensichtlich auch nicht bereit ist, seine eigenen Grenzen un-<br />
800 befangen zu sehen und anzuerkennen. Häufig entsteht in Bezug auf die<br />
betreffen<strong>de</strong>n Menschen dann <strong>de</strong>r unweigerliche Eindruck, sie lebten in<br />
einer Art "Scheinrealität".<br />
5.9. Autoaggression<br />
Einer <strong>de</strong>r möglichen Grün<strong>de</strong> für Autoaggression besteht darin, dass je-<br />
805 mand eine nicht eingestan<strong>de</strong>ne und nicht akzeptierbare Aggression gegen<br />
an<strong>de</strong>re in Aggression gegenüber <strong>de</strong>r eigenen Person verwan<strong>de</strong>lt.<br />
Dies mag etwa vorliegen, wenn sich eine Sekretärin nach einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit <strong>de</strong>m Chef selbst die Haare rauft o<strong>de</strong>r ohrfeigt, obwohl<br />
sie sich lieber auf <strong>de</strong>n Chef stürzen wür<strong>de</strong>. Da jedoch eine solche Hand-<br />
810 lung – so angemessen sie ihrem Es auch erscheinen mag – ihre Existenzgrundlage<br />
gefähr<strong>de</strong>n könnte, wird die ursprüngliche Aggression in<br />
eine Autoaggression verwan<strong>de</strong>lt.<br />
Es ist anzunehmen, dass <strong>de</strong>r Masochismus, zeige er sich sexuell o<strong>de</strong>r in<br />
selbstquälerischem Engagement für die an<strong>de</strong>ren, nicht bloß eine Mög-<br />
815 lichkeit ist, um verdrängte Schuldgefühle zu kompensieren, son<strong>de</strong>rn auch<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 7 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
um verdrängte Aggressionen auszuleben. So steckt wohl in je<strong>de</strong>r sexuell<br />
masochistischen Handlung verdrängter Sadismus.<br />
In <strong>de</strong>r christlichen Mystik hat die Autoaggression – in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Kasteiung<br />
und <strong>de</strong>r Selbstgeißelung – eine aus tiefenpsychologischer Sicht<br />
820 eher zwiespältige Tradition. Ins gleiche Kapitel gehört die Geißler-<br />
Bewegung <strong>de</strong>s ausgehen<strong>de</strong>n Mittelalters, wo ganze Züge ‘frommer’<br />
Menschen das Land durchquerten, dabei offen ihre Sündhaftigkeit bekannten<br />
und sich selbst und ihre Bußgenossinnen und –genossen blutig<br />
peitschten. Dass damit ‘Schuld getilgt’ wer<strong>de</strong>n sollte, war lediglich die of-<br />
825 fizielle Begründung für ein wohl schlicht Schuldgefühle abwehren<strong>de</strong>s,<br />
womöglich sogar masochistisches Verhalten.<br />
5.10. Substitution<br />
Eine Substitution liegt vor, wenn ein ursprüngliches Triebobjekt durch ein<br />
Ersatzobjekt ersetzt wird. Insofern ist die Autoaggression eine spezielle<br />
830 Form <strong>de</strong>r Substitution, <strong>de</strong>nn bei ihr wird ja nach <strong>de</strong>r obigen Erklärung ein<br />
Mitmensch als Objekt einer aggressiven Triebregung durch die eigene<br />
Person ersetzt.<br />
Eine verbreitete Form <strong>de</strong>r Substitution ist <strong>de</strong>r Fetischismus, etwa <strong>de</strong>r sexuelle<br />
Umgang mit Unterwäsche von Personen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Ge-<br />
835 schlechts, Stiefeln o<strong>de</strong>r Füßen. Aber auch Ess- o<strong>de</strong>r Trunk-Sucht, die<br />
sich gelegentlich einstellen, wenn die sexuellen Bedürfnisse unbefriedigt<br />
bleiben müssen, können als Substitution betrachtet wer<strong>de</strong>n. Eine Substitution<br />
liegt auch vor, wenn ein vom unerfreulichen Umgang mit <strong>de</strong>r Ehefrau<br />
her frustrierter Lehrer seine aufgestauten Aggressionen an seinen<br />
840 Schülern ausagiert. Die in unserer Kultur häufig anzutreffen<strong>de</strong>n Süchte<br />
vereinsamter Menschen, etwa <strong>de</strong>r, ganze Scharen von Katzen o<strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>n<br />
zu verhätscheln, dürfte ebenfalls in diese Kategorie fallen.<br />
5.11. Realitätsleugnung / Verleugnung<br />
Realitätsleugnung liegt vor, wenn bestimmte be<strong>de</strong>utsame Tatbestän<strong>de</strong><br />
845 vom Ich ignoriert bzw. nicht wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, weil die bewusste<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihnen als zu belastend erlebt wird. So kommt es<br />
beispielsweise immer wie<strong>de</strong>r vor, dass ein Mensch die Seitensprünge<br />
seines Partners Mannes nicht wahrnimmt, obwohl sonst je<strong>de</strong>rmann davon<br />
weiß und ausreichen<strong>de</strong> Anzeichen dafür vorliegen. An<strong>de</strong>re, typische<br />
850 Beispiele sind <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>smissbrauch o<strong>de</strong>r sonstige Gewaltformen im<br />
Familienverband, diverse Formen von Essstörungen, o<strong>de</strong>r aber auch,<br />
wenn jemand die Anzeichen einer Krankheit übersieht und <strong>de</strong>n Arzt erst<br />
aufsucht, wenn es dafür eigentlich bereits zu spät ist.<br />
Realitätsleugnungen sind meist überall dort festzustellen, wo ein Weltbild<br />
855 o<strong>de</strong>r vorgefasste Meinungen ins Wanken kommen könnten. Hierzu gehört<br />
etwa auch die Brutalität <strong>de</strong>r Nazis im Dritten Reich o<strong>de</strong>r die Kriegsverbrechen<br />
<strong>de</strong>r Amerikaner (Einsatz von Uranwaffen im Kosovokrieg,<br />
Entzug <strong>de</strong>r Menschenrechte an teils schuldlos Inhaftierten in<br />
Guatanamo-Bay im Zuge <strong>de</strong>s Irankriegs 2002, Agent-Orange-Einsatz im<br />
860 Vietnam etc.). Die Vorstellung und Folgen einer Mitschuld <strong>de</strong>r als „Gute“<br />
dargestellten Machthaber war offenbar zu belastend, weshalb es einfacher<br />
war, sie auszublen<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r erwiesenen Realität keine<br />
Kenntnis zu nehmen. Dies kann soweit gehen, dass selbst objektive Realitäten<br />
ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n (etwa, als die Fotos von Folterungen durch<br />
865 US-Soldaten im Irakkrieg von einigen interviewten US-Bürgern als 'Spaßfotos<br />
unserer Jungs' umge<strong>de</strong>utet wur<strong>de</strong>n). Wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Menschen wollen<br />
nichts von <strong>de</strong>r Bedrohung <strong>de</strong>r Menschheit durch <strong>de</strong>n Raubbau in <strong>de</strong>n<br />
Regenwäl<strong>de</strong>rn, durch die Übernutzung <strong>de</strong>r Meere, durch die Vergiftung<br />
<strong>de</strong>r Bö<strong>de</strong>n mittels Kunstdünger o<strong>de</strong>r durch unsichere Kernkraftwerke hö-<br />
870 ren. Kassandra war schon <strong>de</strong>n Griechen vor Troja lästig. Häufig hat man<br />
jene, die wirkliche Gefahren voraussahen und warnten, mit <strong>de</strong>m Satz "Du<br />
malst <strong>de</strong>n Teufel an die Wand" heimgeschickt. Niemand lässt sich gerne<br />
in seinen vorgefassten Meinungen durch Realitäten, die seinen eigenen<br />
Bil<strong>de</strong>rn wi<strong>de</strong>rsprechen, behelligen. Mit Realitätsverleugnung lebt es sich<br />
875 gewissermaßen einfacher – je<strong>de</strong>nfalls eine gewisse Zeit lang.<br />
5.12. Sublimierung<br />
Bei <strong>de</strong>r Sublimierung han<strong>de</strong>lt es sich um die Fähigkeit, für <strong>de</strong>n Verzicht<br />
auf verpönte (abgelehnte) Triebe bzw. Wünsche eine ausgleichen<strong>de</strong> Entschädigung<br />
hervorbringen zu können. So kann z. B. eine zölibatär leben-<br />
880 <strong>de</strong> Pianistin ihre Libido gewissermaßen verwan<strong>de</strong>ln und sie ganz in <strong>de</strong>n<br />
Dienst ihrer musikalischen Gestaltung stellen. O<strong>de</strong>r jemand kann durch<br />
persönliche Frustrationen sehr aggressiv gestimmt sein - statt dass er<br />
seine Wut aber an irgend jeman<strong>de</strong>m ausagiert, stürzt er sich in die Arbeit<br />
und stellt dann nach ein paar Stun<strong>de</strong>n fest, dass er in kurzer Zeit etwas<br />
885 geschaffen hat, wozu er sich zuvor kaum in <strong>de</strong>r Lage fühlte. Mit an<strong>de</strong>ren<br />
Worten: bei <strong>de</strong>r Sublimierung wird die psychosexuelle Energie (Libido)<br />
neutralisiert und für differenziertere soziale o<strong>de</strong>r kulturelle Leistungen<br />
eingesetzt.<br />
Ob es sich bei <strong>de</strong>r Sublimierung um ein Reifekriterium o<strong>de</strong>r einen Ab-<br />
890 wehrmechanismus han<strong>de</strong>lt, darüber existieren unterschiedliche Meinungen.<br />
Je<strong>de</strong>nfalls haftet ihr – im Gegensatz zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Abwehrmechanismen<br />
– kein negativer Anstrich an. Auch von einer Selbsttäuschung<br />
kann nicht gesprochen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn wenn sich die Libido, die ursprünglich<br />
z. B. einer sexuellen Befriedigung dienstbar sein könnte, tatsächlich<br />
895 ‘verwan<strong>de</strong>lt’, so zeigt dies eben, dass es zum Wesen <strong>de</strong>s Menschen gehört,<br />
auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r psychischen Energie sozial und kulturell differenziertere<br />
Leistungen hervorbringen zu können.<br />
Mit Blick auf die Möglichkeit <strong>de</strong>r Sublimierung wird somit die oft gehörte<br />
Behauptung, sexuelle Enthaltsamkeit sei grundsätzlich schädlich und<br />
900 mache einen Menschen ‘verklemmt’, durch die Psychoanalyse zumin<strong>de</strong>st<br />
in dieser verallgemeinern<strong>de</strong>n Formulierung wi<strong>de</strong>rlegt. Die von christlichen,<br />
buddhistischen, hinduistischen und vielen an<strong>de</strong>ren Religionen<br />
empfohlene sexuelle Enthaltsamkeit (mit <strong>de</strong>m Ziel, alle Energien für die<br />
spirituelle Entwicklung zur Verfügung zu haben) fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Möglichkeit<br />
905 <strong>de</strong>r Sublimierung sogar ihre tiefenpsychologische Legitimation.<br />
5.13. Verschiebung<br />
Unter Verschiebung wird die Lösung <strong>de</strong>r Verknüpfung von Affekt und<br />
Vorstellung verstan<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Affekt an eine vom Über-Ich weniger<br />
bedrohte Vorstellung gekoppelt wird.<br />
910 Als typisches Beispiel mag ein weiteres Mal sexueller Missbrauch dienen.<br />
Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wur<strong>de</strong>n, empfin<strong>de</strong>n<br />
häufig Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Oftmals wird viele Jahre<br />
lang eine Verschiebung vorgenommen, in <strong>de</strong>m solche Frauen sich etwa<br />
ihre Schmerzen so erklären, dass diese eben "bei mir ja immer schon da<br />
915 waren" o<strong>de</strong>r durch "höhere Empfindlichkeit" verursacht wären. Auf diese<br />
Weise kann es vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, sich mit <strong>de</strong>r furchtbaren Vorstellung,<br />
von einem nahestehen<strong>de</strong>n Familienmitglied bis ins Innerste verletzt wor<strong>de</strong>n<br />
zu sein, konfrontieren zu müssen.<br />
5.14. Ungeschehen machen<br />
920 Darunter wird <strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Kompensation einer abgelehnten Handlung<br />
durch eine darauffolgen<strong>de</strong> mit entgegengesetztem Inhalt verstan<strong>de</strong>n.<br />
Auch dieser Abwehrmechanismus wird zu <strong>de</strong>n unreifen (auf einem niedrigen<br />
Niveau <strong>de</strong>r Ich-Organisation ansetzen<strong>de</strong>n) Abwehrformen gezählt.<br />
925 Je<strong>de</strong>m von uns ist wohl ein Erlebnis mit einem Kind bekannt, das sich<br />
plötzlich ohne erkennbaren Grund "beson<strong>de</strong>rs brav" verhielt. Meist stellte<br />
sich danach heraus, dass es kurz davor etwas beson<strong>de</strong>rs "Schlimmes"<br />
angestellt hatte... Wobei in diesem speziellen Fall das "Ungeschehen<br />
machen" einerseits vorbewusst <strong>de</strong>n Betroffenen gegenüber erhofft wird,<br />
930 und <strong>de</strong>r eigentliche Abwehrmechanismus unbewusst greift – und zum<br />
Ziel hat, die Handlung <strong>de</strong>m eigenen Über-Ich gegenüber zu "neutralisieren".<br />
5.15. Flucht in die Gesundheit<br />
Hierbei ist die Angst vor <strong>de</strong>r Psychotherapie größer als ein etwaiger se-<br />
935 kundärer Krankheitsgewinn durch Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Symptomatik.<br />
Die Symptomatik verschwin<strong>de</strong>t plötzlich völlig, allerdings zumeist nur für<br />
eine sehr kurze Zeitspanne, da die eigentlichen Ursachen allein natürlich<br />
nur mit enormem Energieaufwand kompensiert wer<strong>de</strong>n konnten und das<br />
nicht dauerhaft möglich ist.<br />
940 6. Die psychosexuelle Entwicklung<br />
Nach<strong>de</strong>m <strong>Freud</strong> <strong>de</strong>n Sexualtrieb als die Basis <strong>de</strong>s Seelenlebens postuliert<br />
und die psychische Energie als Libido gefasst hatte, war es eigentlich<br />
nur logisch, die Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen vom Säugling bis ins Erwachsenenalter<br />
vorwiegend im Hinblick auf die Entwicklung <strong>de</strong>s Sexual-<br />
945 triebs und <strong>de</strong>s sexuellen Erlebens zu betrachten. Die Ergebnisse <strong>de</strong>r<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 8 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
Entwicklungspsychologie, die von zahllosen Psychologen erarbeitet wur<strong>de</strong>n,<br />
wer<strong>de</strong>n dadurch keinesfalls gegenstandslos, son<strong>de</strong>rn <strong>Freud</strong> hat diese<br />
(insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Ansatz Hartmanns) vielmehr durch seine Sicht <strong>de</strong>r<br />
psychosexuellen Entwicklung um einen weiteren Aspekt angereichert.<br />
950 Viele Psychologen (etwa René Spitz, Erich Erikson, Mahler u.a.) haben<br />
ihre systematischen Beobachtungen bzw. Experimente auf die Basis <strong>de</strong>r<br />
<strong>Freud</strong>schen Theorie gestellt.<br />
Die grundlegen<strong>de</strong> Aussage <strong>Freud</strong>s besteht in <strong>de</strong>r Behauptung, die Sexualität<br />
erwache nicht erst – wie früher allgemein angenommen – mit <strong>de</strong>r<br />
955 Pubertät, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch sei bereits vom ersten Lebenstag an <strong>de</strong>s<br />
sexuellen Erlebens fähig und auch darum bemüht, es sich zu verschaffen.<br />
Diese Aussage wur<strong>de</strong> zu Beginn unseres Jahrhun<strong>de</strong>rts – im sog. viktorianischen<br />
Zeitalter, das sich durch beson<strong>de</strong>re Prü<strong>de</strong>rie auszeichnete –<br />
als skandalös betrachtet, so dass an einem Kongress <strong>de</strong>utscher Ärzte<br />
960 (um 1910) <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> – nach<strong>de</strong>m jemand <strong>de</strong>n Vorschlag gemacht<br />
hatte, man möge sich in einem Kongress mit <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Lehre befassen<br />
– empört in die Versammlung schrie: "Meine Herren, das ist keine<br />
Sache für die Medizin, das ist eine Sache für die Polizei!" ...<br />
Psychoanalytisch wird Sexualität jedoch eigentlich als das bezeichnet,<br />
965 was <strong>de</strong>m Lustgewinn aus körperlichen Funktionen dient (z. B. Nahrungsaufnahme:<br />
Reizung <strong>de</strong>r Mundschleimhaut). Die von <strong>Freud</strong> vorgenommene<br />
Be<strong>de</strong>utungserweiterung inkludiert <strong>de</strong>s weiteren auch alle zärtlichen<br />
Regungen - nimmt also i<strong>de</strong>ntische Wurzeln <strong>de</strong>r sinnlich-körperlichen und<br />
<strong>de</strong>r zärtlichen Strömungen <strong>de</strong>s Sexuallebens an. <strong>Freud</strong> unterschei<strong>de</strong>t al-<br />
970 so scharf zwischen <strong>de</strong>n Begriffen "sexuell" und "genital" - <strong>de</strong>r erstere Begriff<br />
umfasst, wie im folgen<strong>de</strong>n aufgezeigt, auch viele Tätigkeiten, die mit<br />
<strong>de</strong>n Genitalien nichts zu tun haben. [mehr..]<br />
Sucht man nach Beziehungen bei<strong>de</strong>r Definitionen zum "konventionellen"<br />
Sexualleben, ist es (da Sexualität dabei nicht mehr vom Reifungszustand<br />
975 <strong>de</strong>r Keimdrüsen abhängt) nur folgerichtig, solche sexuellen Tätigkeiten<br />
schon früh im Leben zu suchen und ihre weitere Entwicklung zu verfolgen.<br />
Hier fin<strong>de</strong>n sich dann etwa Vornahmen zur Reizung <strong>de</strong>r Mund- und<br />
Lippenschleimhaut, <strong>de</strong>r Analschleimhaut, <strong>de</strong>r Glans Penis und <strong>de</strong>r Klitoris<br />
sowie <strong>de</strong>r Vaginalschleimhaut, die sich allesamt schon im frühen<br />
980 Kindheitsalter beobachten lassen und als Ausdrücke infantiler Sexualität<br />
bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Hierbei wer<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> Grundannahmen getroffen:<br />
• Unterschiedliche Körperregionen (sog. erogene Zonen) wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />
einzelnen Entwicklungsstadien mit Libido-Energie (Sexualenergie) besetzt<br />
985 • zu einer Spannungsreduktion (Abfuhr von libidinöser Energie) führen<br />
sowohl <strong>de</strong>r normale physiologische Gebrauch sowie die künstliche<br />
Reizung dieser Körperregionen, es entstehen "Lustgefühle". So führt z.<br />
B. das Saugen an <strong>de</strong>r Mutterbrust sowie das Daumenlutschen bei<strong>de</strong> zu<br />
einem Lustgewinn.<br />
990 • das Luststreben ist weitgehend "autoerotisch", d.h., es beschränkt sich<br />
auf die Selbstreizung <strong>de</strong>r erogenen Zonen.<br />
<strong>Freud</strong> glaubte, drei frühkindliche Phasen <strong>de</strong>r Sexualentwicklung feststellen<br />
zu können, gefolgt von <strong>de</strong>r sog. Latenzzeit und <strong>de</strong>r darauf folgen<strong>de</strong>n<br />
Pubertät bzw. Adoleszenz, die ins Erwachsenenalter überleitet. Die ein-<br />
995 zelnen Phasen <strong>de</strong>r psychosexuellen Entwicklung wur<strong>de</strong>n dabei nach <strong>de</strong>r<br />
jeweils dominieren<strong>de</strong>n erogenen Zone benannt:<br />
1. Lebensjahr: Orale Phase<br />
2./3. Lebensjahr: Anale Phase<br />
4./7. Lebensjahr: Phallische Phase<br />
1000 7./11. Lebensjahr: Latenzzeit<br />
12./16. Lebensjahr: Pubertät<br />
17./21. Lebensjahr: Genitale Phase / Adoleszenz<br />
Diese Altersangaben sind jedoch mit großer Vorsicht zu behan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>nn<br />
sie variieren je nach Milieu, Geschlecht und individuellen Voraussetzun-<br />
1005 gen und sind darüber hinaus <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>l unterworfen.<br />
Auch sind insbeson<strong>de</strong>re die drei frühkindlichen Phasen weniger als ein<br />
‘Hintereinan<strong>de</strong>r’ als ein ‘Hinzukommen’ zu betrachten, in<strong>de</strong>m nämlich die<br />
vorausgehen<strong>de</strong>n typischen Verhaltensweisen nicht etwa völlig verschwin<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn durch neue überlagert wer<strong>de</strong>n.<br />
1010 Orale Phase<br />
Objektlosigkeit, Anstreben ständiger Homöostase; hin zu Objektbildung<br />
und Entwicklung <strong>de</strong>s Urvertrauens<br />
<strong>Freud</strong> bezeichnet Körperregionen, <strong>de</strong>ren Reizung als beson<strong>de</strong>rs lustvoll<br />
erlebt wird, als ‘erogene Zonen’. Unter <strong>de</strong>m Eindruck, dass ein Neugebo-<br />
1015 renes beim Saugen ganz offensichtlich ein beson<strong>de</strong>rs großes Wohlbehagen<br />
erlebt und es gewissermaßen ganz in seinem Saugen aufgeht,<br />
schrieb er: "Das Wonnesaugen ist mit voller Aufzehrung <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit<br />
verbun<strong>de</strong>n, führt entwe<strong>de</strong>r zum Einschlafen o<strong>de</strong>r selbst zu einer<br />
motorischen Reaktion in einer Art von Orgasmus.". Das Lusterlebnis<br />
1020 beim Saugen wur<strong>de</strong> also als sexuelles Erleben beschrieben. Die erste<br />
erogene Zone während <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres ist also <strong>de</strong>r Mund, weshalb<br />
<strong>Freud</strong> diese Zeit als ‘orale Phase’ (oral = mündlich) bezeichnete. Im weiteren<br />
Sinne betrachtete er die ganze Haut als erogene Zone, d.h. – negativ<br />
ausgedrückt – das Lusterleben hat sich noch nicht auf die Reizung <strong>de</strong>r<br />
1025 Genitalorgane konzentriert.<br />
<strong>Freud</strong> erkannte, dass das Aufnehmen, das Einverleiben von irgen<strong>de</strong>twas<br />
als eine grundlegen<strong>de</strong> Lebensgebär<strong>de</strong> (Modalität) verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
kann, die zeitlebens von zentraler Be<strong>de</strong>utung ist. Er war <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />
dass die bestimmte Art, wie das Kind das Einverleiben während<br />
1030 <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres erlebt, das gesamte Verhältnis <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n<br />
Menschen zur Modalität <strong>de</strong>s Einverleibens und Aufnehmens prägt. Erlebt<br />
z. B. ein Säugling, dass er immer zuerst sehr lange und intensiv schreien<br />
muss, bis er seinen plagen<strong>de</strong>n Hunger stillen und saugen kann, so entsteht<br />
dadurch eine gestörte Beziehung zu allem, was im Leben irgendwie<br />
1035 mit Aufnehmen – z. B. auch mit Lernen – zu tun hat. Solche Menschen<br />
wer<strong>de</strong>n oft durch das Grundgefühl gepeinigt, immer zu kurz zu kommen,<br />
was sich in allen möglichen Formen von Gier äußern kann. Diese Haltung<br />
kann auch die Grundlage für viele Formen von Sucht sein: im Rauchen<br />
und Trinken ist die orale Gebär<strong>de</strong> ganz offensichtlich, aber auch je-<br />
1040 <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Rauschzustand (z. B. durch an<strong>de</strong>re Drogen) kann verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n als Versuch, sich einlullen zu lassen, d.h. in jenen frühkindlichen<br />
Zustand <strong>de</strong>r Geborgenheit und <strong>de</strong>s Noch-keine-Verantwortung-tragen-<br />
Müssens zurücksinken zu können. Oral gestörte Menschen haben oft<br />
entwe<strong>de</strong>r etwas 'Aufsaugen<strong>de</strong>s' an sich (sie klammern sich beispielswei-<br />
1045 se in ungesun<strong>de</strong>r Weise an alle Mitmenschen und haben wenig Sinn für<br />
ein gewisses Distanzbedürfnis <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren), o<strong>de</strong>r sie verweigern reflexartig<br />
alles Neue, das sie stets als Bedrohung empfin<strong>de</strong>n, und sagen in<br />
einer krankhaften Selbstbewahrungsten<strong>de</strong>nz chronisch nein.<br />
Die Psychoanalyse – nicht zuletzt im Gefolge von Erikson und Spitz –<br />
1050 betont immer wie<strong>de</strong>r die große Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s 1. Lebensjahres für die<br />
gesun<strong>de</strong> Lebensentwicklung und zeigt auf, dass ein Mensch, <strong>de</strong>r sich in<br />
<strong>de</strong>r oralen Phase von <strong>de</strong>n Eltern, insbeson<strong>de</strong>re von <strong>de</strong>r Mutter, angenommen<br />
und emotional geborgen fühlt und <strong>de</strong>r die Grun<strong>de</strong>rfahrung<br />
macht, dass seine Bedürfnisse mit aller Selbstverständlichkeit befriedigt<br />
1055 wer<strong>de</strong>n, das sog. Urvertrauen ausbil<strong>de</strong>t (Erikson formulierte später: „das<br />
Kind lernt anzunehmen, was ihm gegeben wird“). Das Urvertrauen begrün<strong>de</strong>t<br />
für das ganze Leben eine Grundgestimmtheit, die dazu ermutigt,<br />
sich <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Lebens gegenüber positiv einzustellen und<br />
sein Wirken als sinnvoll zu erleben. Fühlt sich hingegen das Kind abge-<br />
1060 lehnt, muss es auf eine geregelte Pflege und Ernährung durch die Mutter<br />
verzichten, wird es gar vernachlässigt o<strong>de</strong>r geschlagen, erfährt es zu wenig<br />
o<strong>de</strong>r keinen natürlichen Körperkontakt mit <strong>de</strong>n Eltern, so entwickelt<br />
sich das sog. Urmisstrauen, eine Grundgestimmtheit <strong>de</strong>s Pessimismus,<br />
die zu chronischer Verweigerung, zu Versagertum und zur Selbstableh-<br />
1065 nung führt.<br />
Das 1. Lebensjahr ist auch jene Zeit, in welcher <strong>de</strong>r primäre Narzissmus<br />
– <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>r völligen Auf-sich-selbst-Gerichtetheit <strong>de</strong>r Libido – zu<br />
Gunsten von Objekt-Bildungen überwun<strong>de</strong>n wird. Als erstes Objekt, welches<br />
<strong>de</strong>r Säugling mit Libido besetzt, gilt <strong>Freud</strong> die Mutterbrust. Im Erle-<br />
1070 ben, dass sie nicht immer verfügbar ist, entwickelt sich im Kind das Gefühl<br />
einer Trennung zwischen ihm selbst und <strong>de</strong>r Welt. Gleichzeitig entsteht<br />
aber auch eine tief sitzen<strong>de</strong> ambivalente (doppelwertige) Beziehung<br />
zur Mutter, <strong>de</strong>nn einerseits erfährt das Kind die Mutter ja als nährend (die<br />
Bedürfnisse befriedigend), an<strong>de</strong>rerseits als versagend (die Bedürfnisbe-<br />
1075 friedigung verweigernd). Eine ähnlich ambivalente Beziehung bil<strong>de</strong>t sich<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 9 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
später auch zum Vater, weshalb die Elternbeziehung grundsätzlich als<br />
ambivalent und somit als problembehaftet zu betrachten ist. So lässt sich<br />
die häufig von schwierigen Ablösungskonflikten gekennzeichnete Pubertät<br />
auch als Prozess verstehen, dass das Kind, das nun immer weniger<br />
1080 auf die Nährung durch die Eltern angewiesen ist, die von <strong>de</strong>n Eltern unterschiedlichen<br />
Bedürfnisregungen stärker zulassen und verfolgen will.<br />
Das "Eigene" wird dann vor allem in <strong>de</strong>m wahrgenommen, was unterschiedlich<br />
zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Eltern ist.<br />
Der amerikanische Psychoanalytiker René Spitz hat sich in beson<strong>de</strong>rer<br />
1085 Weise mit <strong>de</strong>m 1. Lebensjahr beschäftigt. So stellte er fest, dass das<br />
‘Frem<strong>de</strong>ln’ im Alter von ca 8 Monaten (Spitz bezeichnete dies als ‘Acht-<br />
Monate-Angst’) darauf beruht, dass das Kind jetzt in <strong>de</strong>r Lage ist, verschie<strong>de</strong>ne<br />
Gesichter voneinan<strong>de</strong>r zu unterschei<strong>de</strong>n, wogegen es früher<br />
offensichtlich alle Antlitze als diejenigen <strong>de</strong>r Mutter interpretierte.<br />
1090 Im Zuge seiner Forschungen befasste sich Spitz beson<strong>de</strong>rs mit <strong>de</strong>m Zusammenhang<br />
zwischen <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>r Mutter und <strong>de</strong>ssen Auswirkungen<br />
auf das Kind, wobei er 6 verschie<strong>de</strong>ne problematische Einstellungen<br />
<strong>de</strong>r Mutter zum Muttersein o<strong>de</strong>r zum Kind feststellte, welche bei<br />
diesem zu teils erheblichen psychischen Schädigungen führen können:<br />
1095 1. unverhüllte Ablehnung<br />
2. ängstlich übertriebene Besorgnis<br />
3. in Ängstlichkeit verwan<strong>de</strong>lte unbewusste Feindseligkeit<br />
4. ständiges Schwanken zwischen Verwöhnen und Feindseligkeit<br />
5. zyklische Stimmungsschwankungen <strong>de</strong>r Mutter (Launenhaftigkeit)<br />
1100 6. kompensierte Feindseligkeit (z. B. durch Verwöhnen)<br />
Berühmt gewor<strong>de</strong>n sind die Spitz’schen Untersuchungen von Kin<strong>de</strong>rn einerseits<br />
in einem Waisenhaus, wo diese durch häufig wechseln<strong>de</strong> Wärterinnen<br />
betreut wur<strong>de</strong>n und in einer sehr reizarmen Umwelt (weiß und steril)<br />
lebten, und an<strong>de</strong>rerseits in einem Frauengefängnis, in welchem sich<br />
1105 die Mütter ganz ihren Kin<strong>de</strong>rn widmen und sie selber stillen und pflegen<br />
konnten. Er stellte sehr <strong>de</strong>utliche Entwicklungsunterschie<strong>de</strong> fest: Die<br />
Kin<strong>de</strong>r im Frauengefängnis gediehen wun<strong>de</strong>rbar, waren selten krank,<br />
entwickelten eine überdurchschnittliche Intelligenz und waren – wie man<br />
so sagt – ‘putzmunter’. Bei <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn im Waisenhaus hingegen musste<br />
1110 er nicht nur häufige Erkrankungen, son<strong>de</strong>rn auch ziemlich viele To<strong>de</strong>sfälle<br />
feststellen, und mehr o<strong>de</strong>r weniger alle Kin<strong>de</strong>r fielen durch verschie<strong>de</strong>ne<br />
Störungen und Anzeichen gehemmter Entwicklung auf. Er bemerkte,<br />
dass Kin<strong>de</strong>r, die von klein auf in Spitälern aufwachsen und einer reizarmen,<br />
sterilen Umwelt sowie einer gewissen Massenabfertigung beim Füt-<br />
1115 tern und Trockenlegen ausgesetzt sind, dieselben Symptome zeigen wie<br />
die untersuchten Kin<strong>de</strong>r im Waisenhaus und bezeichnete daher das beschriebene<br />
Krankheitsbild als ‘Hospitalismus’. Beson<strong>de</strong>rs gefähr<strong>de</strong>t sind<br />
davon insbeson<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r, die zwischen <strong>de</strong>m 6. Lebensmonat und 3<br />
Jahren hospitalisiert sind. Sie zeichnen sich oft durch Kontaktarmut, Apa-<br />
1120 thie, verzögertes Gehen- und Sprechenlernen, soziale Anpassungsschwierigkeiten,<br />
intellektuelle Entwicklungsrückstän<strong>de</strong>, gesteigerte<br />
Krankheitsanfälligkeit, erhöhte Sterblichkeit, Passivität, Interesselosigkeit<br />
und stereotype Bewegungen aus.<br />
Als Spätfolgen treten die bekannten und zu Teil schon erwähnten Aus-<br />
1125 wirkungen einer gestörten oralen Phase auf: Süchte, Zurückschrecken<br />
vor Lebensaufgaben, Gierigkeit, mangeln<strong>de</strong> Initiative, übergroße Bedürftigkeit<br />
nach Zuwendung und Liebe.<br />
6.1. Anale Phase<br />
Ausweitung und Überschreitung <strong>de</strong>s symbiotischen Bereiches, Selbstbe-<br />
1130 stimmung von Nähe und Distanz, Entwicklung hin zu Objektkonstanz und<br />
Selbstkonstanz<br />
Zwischen 1. und 3. Lebensjahr verlagert sich die Bedürfnisbefriedigung<br />
auf die anale Zone: die anale und urethrale Muskulatur wird trainiert, das<br />
Kind lernt, "zurückzuhalten" und "auszustoßen". Es kann nun seit einiger<br />
1135 Zeit sitzen, und die Eltern setzen es, um nicht unnötig lang Win<strong>de</strong>ln waschen<br />
zu müssen, von Zeit zu Zeit aufs Töpfchen. Das Kind ist nun zunehmend<br />
in <strong>de</strong>r Lage, die Darmentleerung willentlich zu steuern, d.h. <strong>de</strong>n<br />
Kot entwe<strong>de</strong>r zurückzuhalten o<strong>de</strong>r loszulassen. Offensichtlich ermöglicht<br />
ihm dies eine neue Weise <strong>de</strong>s Lustgewinns: Kin<strong>de</strong>r dieses Alters benut-<br />
1140 zen ihren Kot mit ungebändigter Lust als Mo<strong>de</strong>lliermasse, bemalen damit<br />
auch Bett und Wän<strong>de</strong> und stopfen ihn auch ohne weiteres in <strong>de</strong>n Mund.<br />
Analog zur oralen Modalität erkennt <strong>Freud</strong> in diesem konkreten körperlichen<br />
Vorgang gewissermaßen das Grundmo<strong>de</strong>ll einer allgemeinen Lebensgebär<strong>de</strong>:<br />
<strong>de</strong>r Modalität <strong>de</strong>s Besitzens und Hergebens. Tatsächlich<br />
1145 stellt sich <strong>de</strong>m Menschen als einem Wesen, das aufnimmt und einverleibt,<br />
logischerweise auch die Aufgabe, zu entschei<strong>de</strong>n, was und wie viel<br />
behalten und was ausgeschie<strong>de</strong>n (losgelassen) wer<strong>de</strong>n soll. Das betrifft<br />
materielle Güter genauso wie psychische Verhaftungen und geistige<br />
‘Besitztümer’. Nach Ansicht <strong>de</strong>r Psychoanalyse wird das Verhältnis zu<br />
1150 diesen Lebensaufgaben in <strong>de</strong>r frühen Kindheit emotional grundgelegt,<br />
und zwar eben im körperlichen Erleben eines Vorgangs, <strong>de</strong>r gewissermaßen<br />
das Grundmo<strong>de</strong>ll ist für alles an<strong>de</strong>re, wo auch Behalten o<strong>de</strong>r<br />
Hergebenmüssen bzw. Hergeben-Wollen zur Diskussion steht.<br />
In diesem Zusammenhang weist die Psychoanalyse auf eine gewisse<br />
1155 Wesensverwandtschaft zwischen Fäkalien und materiellem Besitz hin.<br />
So sagt man etwa von einem Geizhals, er ‘hocke auf seinem Geld’, arme<br />
Menschen wünschen sich einen ‘Geldscheißer’, im Märchen vom Tischlein-Deck-dich<br />
"scheißt" <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>sel auf <strong>de</strong>n Befehl ‘briklebrit!’ tatsächlich<br />
Goldstücke, und wenn jemand um Geld betrogen wur<strong>de</strong>, ist er "be-<br />
1160 schissen" wor<strong>de</strong>n.<br />
<strong>Freud</strong> weist darauf hin, dass das Kind mit seiner nun entstehen<strong>de</strong>n Fähigkeit<br />
<strong>de</strong>r Kontrolle über die Defäkation zum Erlebnis <strong>de</strong>r Macht über die<br />
Eltern kommt – also tatsächlich auch selbst etwas außerhalb seiner<br />
selbst kontrollieren zu können. Bei<strong>de</strong>s sind auch wesentliche Grundpfei-<br />
1165 ler für Grundgefühle wie Autonomie und Selbstbewusstsein. Insofern es<br />
seine Macht genießt, keimen im Kind erste Gefühle <strong>de</strong>s Sadismus auf,<br />
weshalb <strong>Freud</strong> diese Phase auch als ‘anal-sadistische’ Phase bezeichnet.<br />
Man könnte somit sagen: Psychische Themen, welche in <strong>de</strong>r analen<br />
Phase gefühlshaft grundgelegt wer<strong>de</strong>n, sind das Verhältnis zum Besitz,<br />
1170 zur Macht, zum Behalten und Hergeben und damit auch zur Ordnung.<br />
Störungen in <strong>de</strong>r analen Phase führen logischerweise zu Störungen in<br />
<strong>de</strong>n oben erwähnten Bereichen. Es bil<strong>de</strong>n sich Geiz o<strong>de</strong>r Verschwendungssucht,<br />
chaotisches Gebaren o<strong>de</strong>r übertriebene Ordnungsliebe, Eigensinn<br />
und zwanghaftes Verhalten heraus.<br />
1175 Kluge Eltern lassen <strong>de</strong>r Schmutzlust <strong>de</strong>r Kleinen in <strong>de</strong>r analen Phase <strong>de</strong>n<br />
ihr gebühren<strong>de</strong>n Raum, in<strong>de</strong>m sie ihnen Fingerfarben geben und sie im<br />
Garten mit nassem Sand und nasser Er<strong>de</strong> so richtig herummatschen lassen.<br />
Unkluge Eltern versuchen mit lieblosem Druck, ihre Kin<strong>de</strong>r so früh<br />
wie möglich ‘sauber’ zu bekommen, um damit ihren eigenen Ehrgeiz zu<br />
1180 befriedigen ("Wissen Sie, Frau Müller, unsere Lisa ist schon seit 4 Monaten<br />
sauber!“). Der Wunsch nach Selbstständigkeit gerät nun ständig in<br />
Konflikt mit <strong>de</strong>n Anpassungsfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Umwelt - um hier eine zufrie<strong>de</strong>nstellen<strong>de</strong><br />
Lösung zu ermöglichen, müssen diese also so formuliert<br />
wer<strong>de</strong>n, dass sie vom Kin<strong>de</strong> angenommen wer<strong>de</strong>n können.<br />
1185 Alle sog. Zwangsneurosen haben ihren Ursprung in dieser Phase. Im<br />
Hinblick auf diesen Zusammenhang spricht die Psychoanalyse von einem<br />
‘analen Charakter’ und meint damit einen Menschen, <strong>de</strong>r überkontrolliert<br />
ist, zu fixen I<strong>de</strong>en neigt, sich nirgends anpassen kann, stets recht<br />
haben muss und gewiss nicht ‘Fünfe gera<strong>de</strong> sein lassen’ kann.<br />
1190 6.2. Phallische Phase<br />
Stabilisierung <strong>de</strong>r Selbstkonstanz und Entwicklung <strong>de</strong>r Geschlechteri<strong>de</strong>ntität,<br />
bei positiver Auflösung <strong>de</strong>s ödipalen Konflikts: Bildung und Konsolidierung<br />
<strong>de</strong>s Über-Ich, wodurch <strong>de</strong>r Übergang von einem mehr dyadischen<br />
zu einem triadischen Beziehungsmuster vollzogen wer<strong>de</strong>n können<br />
1195 sollte.<br />
In <strong>de</strong>r phallischen Phase verlagert sich die erogene Zone auf die Genitalien.<br />
Dass <strong>Freud</strong> diesen Lebensabschnitt generell nach <strong>de</strong>m männlichen<br />
Glied (Phallus) benennt, haben ihm Frauen natürlich immer wie<strong>de</strong>r übel<br />
genommen. Seine Verteidigung, dass sich in <strong>de</strong>r embryonalen Entwick-<br />
1200 lung die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane lange nicht unterschei<strong>de</strong>n<br />
und sich später das, was beim Knaben zum Phallus wird,<br />
beim Mädchen zur Klitoris entwickelt, irritiert dann noch mehr, <strong>de</strong>nn daraus<br />
leitet sich – setzt man eine rein quantitative Sichtweise an – die Ansicht<br />
ab, die Frau sei, sexuell betrachtet, ein unvollkommener Mann. Die<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 10 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
1205 Sache wird dann noch problematischer, wenn <strong>Freud</strong> feststellt, dass die<br />
Kin<strong>de</strong>r dieses Alters ihre unterschiedliche Geschlechtlichkeit ent<strong>de</strong>cken<br />
(sie spielen in diesem Alter oft ‘Doktorspiele’ und befriedigen so ihre<br />
Neugier<strong>de</strong> bzw. ihre Lust, sich an<strong>de</strong>ren zu zeigen: Voyeurismus und Exhibitionismus)<br />
und dann das Mädchen sieht, dass ihm etwas fehlt, das<br />
1210 <strong>de</strong>r Vater o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Knabe hat. <strong>Freud</strong> vertritt nämlich die Ansicht, dass im<br />
Mädchen - selbstverständlich unbewusst - eine Verärgerung darüber entsteht,<br />
dass ihm etwas fehlt, und er nennt dieses Gefühl <strong>de</strong>n ‘Penisneid’.<br />
Der Knabe in<strong>de</strong>s hat zu solchem Neid keinen Anlass, son<strong>de</strong>rn beginnt –<br />
was man tatsächlich sehr oft beobachten kann – in diesem Alter mit sei-<br />
1215 nem Glied zu imponieren (Imponiergehabe). <strong>Freud</strong> erfuhr in seinen zahlreichen<br />
Analysen, die er mit männlichen Klienten durchführte, dass damals<br />
offensichtlich <strong>de</strong>n meisten Knaben von ihren sittenstrengen Erzieherinnen<br />
und Erziehern gedroht wur<strong>de</strong>, man wür<strong>de</strong> ihnen das Glied abschnei<strong>de</strong>n,<br />
wenn sie weiterhin damit spielten. <strong>Freud</strong> glaubte, dass ein<br />
1220 Knabe, belastet mit dieser Drohung, tatsächlich annimmt, dass z. B. seine<br />
Schwester o<strong>de</strong>r seine Mutter früher noch einen Phallus hatten, ihn<br />
aber eben durch Kastration einbüßten. Dem Penisneid <strong>de</strong>s Mädchens<br />
entspricht seitens <strong>de</strong>s Knaben somit die – ebenfalls unbewusste – ‘Kastrationsangst’.<br />
1225 So wie in <strong>de</strong>r oralen Phase das Saugen zum Urmo<strong>de</strong>ll wird für alles, was<br />
im ganzen Leben irgendwie mit Einverleiben zu tun hat, und so wie in <strong>de</strong>r<br />
analen Phase das Behalten o<strong>de</strong>r Hergeben <strong>de</strong>r Exkremente die emotionale<br />
Gestimmtheit betreffend Besitzen und Loslassen (Hergeben, Ausgeben)<br />
präformiert, so wird die Art und Weise, wie das Kind in <strong>de</strong>r phalli-<br />
1230 schen Phase die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s eigenen Geschlechts erlebt, ganz allgemein<br />
zum Urmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Dominanzverhaltens. Eine allgemeine Haltung<br />
<strong>de</strong>s Kampfs gegen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rerseits auch <strong>de</strong>r Unterwerfung unter das<br />
an<strong>de</strong>re Geschlecht ist zumeist auf Störungen in <strong>de</strong>r phallischen Phase<br />
zurückzuführen.<br />
1235 6.2.1. Ödipuskomplex<br />
Im Zuge <strong>de</strong>r Verlagerung <strong>de</strong>s sexuellen Interesses auf die Genitalien und<br />
<strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Zweigeschlechtlichkeit <strong>de</strong>s Menschen spielt sich in<br />
<strong>de</strong>r phallischen Phase nach <strong>Freud</strong> ein zentrales unbewusstes Geschehen<br />
ab, das er <strong>de</strong>n Ödipuskomplex nennt. Diese Benennung bezieht sich<br />
1240 auf jene griechische Sage, wonach es das tragische Geschick von König<br />
Ödipus war, seine eigene Mutter zu ehelichen, ein – wenn auch unwillentlich<br />
begangenes – Verbrechen, das <strong>de</strong>r unglückliche König dadurch<br />
zu sühnen hoffte, dass er sich selbst die Augen ausstach. Der Ödipuskomplex<br />
spielt in <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Psychoanalyse eine zentrale Rolle. Es<br />
1245 geht dabei um die Beziehung zwischen Kind und Eltern, primär um die<br />
Beziehung zwischen <strong>de</strong>m Kind und <strong>de</strong>m gegengeschlechtlichen Elternteil.<br />
Im Folgen<strong>de</strong>n sei hier <strong>de</strong>r unbewusste Vorgang beschrieben, so wie<br />
er sich beim Knaben ereignet, beim Mädchen geschieht dies ungefähr<br />
spiegelbildlich:<br />
1250 Der Junge entwickelt während <strong>de</strong>r phallischen Phase <strong>de</strong>n unbewussten<br />
Triebwunsch, sich mit <strong>de</strong>r Mutter geschlechtlich zu vereinigen. Der Vater<br />
wird daher als Rivale betrachtet, <strong>de</strong>r Sohn fantasiert (stets unbewusst),<br />
dieser könnte sich durch Kastration rächen: Kastrationsangst stellt sich<br />
ein. Im Zuge dieser Rivalität entwickelt <strong>de</strong>r Knabe gegenüber <strong>de</strong>m Vater<br />
1255 auch To<strong>de</strong>swünsche, was in ihm – neben <strong>de</strong>r bereits beschriebenen<br />
Angst – tief sitzen<strong>de</strong> Schuldgefühle auslöst. Es gilt nun bei<strong>de</strong>s, die Ängste<br />
und die Schuldgefühle, abzuwehren, und dies geschieht mit <strong>de</strong>m oben<br />
beschriebenen Abwehrmechanismus <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation. In<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r<br />
Knabe mit <strong>de</strong>m Vater i<strong>de</strong>ntifiziert, setzt er sich gewissermaßen an seine<br />
1260 Stelle und muss ihn damit einerseits nicht mehr fürchten und hat an<strong>de</strong>rerseits<br />
Anteil an <strong>de</strong>ssen Vorrechten gegenüber <strong>de</strong>r Mutter. Die geglückte<br />
I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Knaben mit <strong>de</strong>m Vater bezeichnet <strong>Freud</strong> als ‘Lösung<br />
<strong>de</strong>s Ödipuskomplexes’. Sie hat sehr be<strong>de</strong>utsame Folgen, <strong>de</strong>nn im Zuge<br />
dieser I<strong>de</strong>ntifikation übernimmt <strong>de</strong>r Knabe die Norm- und Wertvorstellun-<br />
1265 gen <strong>de</strong>s Vaters und – so <strong>Freud</strong> – damit auch <strong>de</strong>r Gesellschaft. Diese<br />
introjizierten Norm- und Wertvorstellungen stellen dann das dar, was<br />
<strong>Freud</strong> als ‘Über-Ich’ bezeichnet.<br />
Beim Mädchen geht es sich darum, dass es lernt, die Penislosigkeit zu<br />
akzeptieren. Gelingt ihm das, so kann es sich – analog zum Jungen –<br />
1270 leicht mit <strong>de</strong>r Mutter i<strong>de</strong>ntifizieren und so auch seine eigene ‘Geschlechtsrolle’<br />
annehmen. Kann es die Penislosigkeit nicht akzeptieren,<br />
so führt dies nach psychoanalytischer Erkenntnis zum ‘Männlichkeitskomplex’,<br />
<strong>de</strong>m krankhaften Bestreben, so zu sein wie <strong>de</strong>r Mann.<br />
Gestörte eheliche Beziehungen, die Abwesenheit eines Elternteils o<strong>de</strong>r<br />
1275 Fehlreaktionen eines Elternteils gegenüber <strong>de</strong>m Kind können die Ursache<br />
dafür sein, dass die I<strong>de</strong>ntifikation nicht gut gelingt, und es ist <strong>Freud</strong>s<br />
Überzeugung, dass ein schlecht o<strong>de</strong>r nicht gelöster Ödipuskomplex die<br />
Hauptursache für viele neurotische Störungen darstellt. Die Bearbeitung<br />
<strong>de</strong>s Ödipuskomplexes steht daher in einer klassischen <strong>Freud</strong>schen Ana-<br />
1280 lyse zumeist im Mittelpunkt.<br />
Ein nicht o<strong>de</strong>r schlecht gelöster Ödipuskomplex wirkt sich erfahrungsgemäß<br />
problematisch in <strong>de</strong>r späteren Partnerbeziehung aus. Männer suchen<br />
dann häufig – je nach<strong>de</strong>m, wie sie die Mutter in jener Zeit erfahren<br />
haben – entwe<strong>de</strong>r eine viel ältere Partnerin o<strong>de</strong>r entwickeln grundsätzlich<br />
1285 Angst vor einer gegengeschlechtlichen Partnerschaft. Frauen neigen<br />
zum Kampf gegen <strong>de</strong>n Mann und alles Männliche o<strong>de</strong>r Väterliche (man<br />
spricht dann etwa von einer ‘kastrieren<strong>de</strong>n Frau’) o<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n sich<br />
ebenfalls mit einem viel älteren Partner.<br />
Eine häufig vorkommen<strong>de</strong> Konstellation bei gestörten elterlichen Bezie-<br />
1290 hungen etwa ist folgen<strong>de</strong>: <strong>de</strong>r Vater neigt dazu, <strong>de</strong>n Werbungen <strong>de</strong>r<br />
Tochter (die auch während <strong>de</strong>r Schulzeit und in <strong>de</strong>r Pubertät andauern)<br />
auf eine ungesun<strong>de</strong> Weise entgegenzukommen, in<strong>de</strong>m er sich einerseits<br />
einen erotischen Ersatz für das sucht, was er bei <strong>de</strong>r eigenen Gattin nicht<br />
erhält, an<strong>de</strong>rerseits setzt er aber immer wie<strong>de</strong>r – will er mit Moral und<br />
1295 Gesetz nicht in Konflikt kommen – auch schroffe Grenzen. Das führt dazu,<br />
dass die Tochter nicht nur <strong>de</strong>n Vater sehr ambivalent erfährt, son<strong>de</strong>rn<br />
auch von <strong>de</strong>r Mutter instinktiv als Rivalin empfun<strong>de</strong>n und darum von ihr<br />
meist abgelehnt wird, was das problematische und geheime Bündnis mit<br />
<strong>de</strong>m Vater weiter verstärkt. In ihren späteren Partnerschaften pflegt dann<br />
1300 eine solche Tochter ihre Vaterbeziehung in <strong>de</strong>n Partner zu projizieren.<br />
Das be<strong>de</strong>utet vorerst einmal, dass sie in ihm <strong>de</strong>n Vater sucht, aber im<br />
Sexualleben sehr bald mit Schuldgefühlen (in <strong>de</strong>r Vater-Projektion erscheint<br />
ihr die sexuelle Beziehung zum Partner unbewusst als Inzest)<br />
und entsprechen<strong>de</strong>r Verweigerung reagiert. Ferner hat sie ja <strong>de</strong>n Vater<br />
1305 als eine Person erlebt, die wechselnd anzieht und zurückstößt, und nun<br />
wird sie vom Zwang tyrannisiert, dieses Anziehen und Zurückstoßen<br />
beim Partner zu wie<strong>de</strong>rholen und damit Macht auf ihn auszuüben.<br />
Schließlich läuft dies alles darauf hinaus, als ob sich die solcherart psychisch<br />
lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Tochter an <strong>de</strong>n Männern, die sich mit ihr partnerschaft-<br />
1310 lich einlassen, für die vom Vater erlittenen Frustrationen gewissermaßen<br />
rächen möchte. Dies alles geschieht selbstverständlich unbewusst.<br />
6.3. Latenzzeit<br />
Festigung <strong>de</strong>s Primats <strong>de</strong>r Genitalität, I<strong>de</strong>ntitätsfindung, Festigung <strong>de</strong>r<br />
sozialen Rolle, Strukturierung <strong>de</strong>r Zukunftsperspektive<br />
1315 Nach psychoanalytischer Auffassung tritt etwa im Alter von 6-7 Jahren<br />
bis hin zur Pubertät das sexuelle Interesse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zurück. Die Sexualität<br />
ruht, verharrt in <strong>de</strong>r Latenz. Die Partialtriebe wer<strong>de</strong>n eher unterdrückt<br />
(z.T. sublimiert, also nichtsexuellen Zwecken zugeführt).All dies<br />
zeigt sich u.a. darin, dass sich z. B. in <strong>de</strong>r Schule die Kin<strong>de</strong>r fast selbst-<br />
1320 verständlich geschlechtsspezifisch gruppieren, ja sich sogar betont vom<br />
an<strong>de</strong>ren Geschlecht distanzieren. Aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Knaben sind dann<br />
die Mädchen "blöd", und aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Mädchen die Jungen "dumm"<br />
(o<strong>de</strong>r ähnliches).<br />
Hier ist vielleicht eine Bemerkung am Platze, die für die gesamte <strong>Freud</strong>-<br />
1325 sche Theorie <strong>de</strong>r kindlichen Sexualentwicklung gelten kann: es stellt sich<br />
nämlich die Frage, wie sehr die von <strong>de</strong>r Psychoanalyse beobachteten<br />
Phänomene allgemein als zur Natur <strong>de</strong>s Menschen gehörend zu betrachten<br />
sind o<strong>de</strong>r aber aufgefasst wer<strong>de</strong>n können als Verhaltensweisen in einer<br />
ganz bestimmten gesellschaftlichen Situation. Angesichts <strong>de</strong>r Tatsa-<br />
1330 che, dass heute ein Kind via Fernsehen (sofern es lange genug aufbleibt)<br />
mit allen möglichen Formen sexueller Praxis vertraut wer<strong>de</strong>n kann, viele<br />
Kin<strong>de</strong>r schon an <strong>de</strong>r Unterstufe fast ständig über Sexualität re<strong>de</strong>n und<br />
diesbezügliche Witze erzählen, darf man <strong>Freud</strong>s Theorie von <strong>de</strong>r Latenzzeit<br />
wohl zumin<strong>de</strong>st etwas relativieren.<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 11 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
1335 6.4. Genitale Phase: Pubertät, Adoleszenz,<br />
Erwachsenensexualität<br />
Ausbildung gereifter Genitalität, Selbstverantwortlichkeit, schöpferische<br />
Tätigkeit, »Meisterung <strong>de</strong>s Lebens« [Erikson] u.a.<br />
Die Pubertät ist im Wesentlichen jener Abschnitt in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s<br />
1340 jungen Menschen, in <strong>de</strong>m sich die kindliche Existenzweise in jene <strong>de</strong>s<br />
Erwachsenen umbil<strong>de</strong>t. Ein be<strong>de</strong>utsamer Aspekt dieser Umstrukturierung<br />
<strong>de</strong>r Persönlichkeit ist das Erreichen <strong>de</strong>r Geschlechtsreife. Beim Mädchen<br />
tritt sie mit <strong>de</strong>r ersten Menstruation ein, beim Knaben mit <strong>de</strong>r ersten Pollution<br />
(Samenerguss). <strong>Freud</strong> nennt diesen Stand <strong>de</strong>r Entwicklung ‘genita-<br />
1345 le’ Phase, das Ziel <strong>de</strong>r sexuellen Entwicklung ist erreicht.<br />
Die Geschlechtsreife führt in <strong>de</strong>r Regel auch zu einer verän<strong>de</strong>rten Einstellung<br />
gegenüber <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Geschlecht. Was sich zuvor oft <strong>de</strong>utlich<br />
abstieß, stößt sich oft bloß noch zum Schein ab (Pubertieren<strong>de</strong> suchen<br />
Streit mit gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen, um mit ihnen balgen zu<br />
1350 können) o<strong>de</strong>r zieht sich an.<br />
Die psychischen Verän<strong>de</strong>rungen, welche die Pubertät mit sich bringt,<br />
sind außeror<strong>de</strong>ntlich tiefgehend und vielfältig und betreffen die ganze<br />
Persönlichkeit.<br />
7. Die Traum<strong>de</strong>utung<br />
1355 <strong>Freud</strong>s erstmals in seinem berühmten Buch "Traumanalyse“ veröffentlichte<br />
Überlegungen zur Traum<strong>de</strong>utung trugen dazu bei, dass die Psychoanalyse<br />
<strong>de</strong>n Rahmen einer reinen Psychopathologie sprengte - er<br />
wur<strong>de</strong> von ihm als "Königsweg zum Unbewussten" erachtet. Obwohl die<br />
erste Auflage von <strong>Freud</strong>s Buch bei ihrem Erscheinen kaum beson<strong>de</strong>re<br />
1360 Beachtung fand, war sich <strong>Freud</strong> offensichtlich schon früh <strong>de</strong>r epochemachen<strong>de</strong>n<br />
Be<strong>de</strong>utung seines Buches bewusst: es erschien im Oktober<br />
1899, aber <strong>Freud</strong> datierte es auf 1900 voraus und setzte unter <strong>de</strong>n Titel<br />
das rebellische Motto "flectere si nequeo superos acheronta moveba"<br />
("Und können wir uns die Götter nicht geneigt machen, so lasst uns die<br />
1365 Unterweltlichen bewegen." – ein Zitat aus <strong>de</strong>r Antike). Neben <strong>de</strong>n ‘Drei<br />
Abhandlungen zur Sexualtheorie’ (1905), die er ebenfalls jeweils <strong>de</strong>m<br />
neuesten Stand seiner Theorieentwicklung anpasste, ist ‘Die Traum<strong>de</strong>utung’<br />
jenes Buch, <strong>de</strong>m er am meisten Sorgfalt ange<strong>de</strong>ihen ließ und das<br />
er selbst in acht jeweils verän<strong>de</strong>rten und <strong>de</strong>m neuesten Entwicklungs-<br />
1370 stand angepassten Auflagen erscheinen ließ.<br />
Im gesamten Buch ist <strong>Freud</strong>s Bemühen erkennbar, <strong>de</strong>n Traum als einen<br />
Prozess zu begreifen, <strong>de</strong>r nach bestimmten Regeln aufgebaut ist und <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>shalb, sobald man diese Regeln kennt, mehr o<strong>de</strong>r weniger ein<strong>de</strong>utig<br />
‘lesbar’ ist. Im Folgen<strong>de</strong>n sei <strong>de</strong>r Versuch gemacht, einige <strong>de</strong>r wichtigs-<br />
1375 ten Regeln und damit die <strong>Freud</strong>sche Auffassung <strong>de</strong>r Funktionsweise <strong>de</strong>s<br />
Traumes darzustellen.<br />
7.1. Zweck und Wesen <strong>de</strong>s Traumes<br />
Nach <strong>Freud</strong> kommt <strong>de</strong>m Traum zuerst einmal eine rein physiologische<br />
Be<strong>de</strong>utung zu: Er ist ‘<strong>de</strong>r Hüter <strong>de</strong>s Schlafs’. So ermöglicht er, Umwelt-<br />
1380 o<strong>de</strong>r organische Reize umzu<strong>de</strong>uten und in <strong>de</strong>n Schlaf einzubauen. Verbreitet<br />
ist <strong>de</strong>nn auch die Erfahrung, dass <strong>de</strong>r Wecker schellt und man<br />
dann von einem Pressluftbohrer o<strong>de</strong>r Ähnlichem träumt – und selig weiterschläft.<br />
Ähnliches kann passieren, wenn die gefüllte Blase zur Entleerung<br />
drängt und man dann träumt, man suche ein WC auf...<br />
1385 In psychologischer Hinsicht ist nach <strong>Freud</strong> <strong>de</strong>r Traum ganz allgemein<br />
"die (verklei<strong>de</strong>te) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches."<br />
Insofern <strong>de</strong>r Wunsch verdrängt ist, han<strong>de</strong>lt es sich folglich beim<br />
Traum um eine Manifestation <strong>de</strong>s Es. <strong>Freud</strong> geht davon aus, dass im<br />
Schlaf das Ich hochgradig geschwächt ist, d.h. dass die Libido von <strong>de</strong>r<br />
1390 Motorik und <strong>de</strong>r Sinneswahrnehmung weitgehend zurückgezogen ist.<br />
Das Es nützt gewissermaßen die Gunst <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> und dringt mit seinen<br />
Inhalten ins Traumbewusstsein und – via Rückerinnerung an <strong>de</strong>n Traum<br />
– ins Bewusste ein. Da aber das Ich während <strong>de</strong>s Schlafs bloß geschwächt,<br />
aber nicht völlig außer Funktion ist, stellt es sich gegen eine<br />
1395 unverhüllte Offenbarung <strong>de</strong>s Verdrängten aus <strong>de</strong>m Es und zwingt <strong>de</strong>n<br />
geheimnisvollen Regisseur <strong>de</strong>s Traums, <strong>de</strong>n unbewussten, verdrängten<br />
Wunsch zu verschleiern und ihn in solche Bil<strong>de</strong>r zu klei<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Bewussten<br />
aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s verdrängen<strong>de</strong>n Ichs als akzeptabel erscheinen.<br />
So gesehen, ist jener Traum, an <strong>de</strong>n wir uns beim Erwachen erin-<br />
1400 nern, nie genau das, was eigentlich das Es zum Ausdruck bringen wollte,<br />
son<strong>de</strong>rn stellt stets einen Kompromiss dar zwischen <strong>de</strong>m Es-Impuls und<br />
<strong>de</strong>r Gegenwehr <strong>de</strong>s Ich. Das Ich waltet <strong>de</strong>mzufolge beim Zustan<strong>de</strong>kommen<br />
eines konkreten Traumbil<strong>de</strong>s als Zensor.<br />
<strong>Freud</strong>s Ansicht, je<strong>de</strong>r Traum sei eine unbewusste Wunscherfüllung, wur-<br />
1405 <strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r angezweifelt. Auf Anhieb scheinen zwar jene Träume,<br />
welche <strong>de</strong>r Träumer als sehr belastend empfin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>n Kritikern recht zu<br />
geben. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich aber einwen<strong>de</strong>n, dass ja<br />
nicht <strong>de</strong>r manifeste, son<strong>de</strong>rn eben <strong>de</strong>r latente Traum die Wunscherfüllung<br />
darstellt und dass die Zensur durch das Ich in einzelnen Fällen of-<br />
1410 fenbar <strong>de</strong>rart groß ist, dass <strong>de</strong>r verdrängte Es-Wunsch eine gera<strong>de</strong>zu<br />
gegensätzliche Gestalt annehmen muss, um sich manifestieren zu können.<br />
Darüber hinaus entspricht es durchaus <strong>de</strong>r psychoanalytischen Auffassung,<br />
dass im Es die skurrilsten Wünsche, die <strong>de</strong>r Selbsterhaltung<br />
vollkommen entgegenstehen, vorhan<strong>de</strong>n sein können. Wer kennt nicht z.<br />
1415 B. die Angst, man könnte sich selbst plötzlich in die Tiefe stürzen wollen,<br />
wenn er von einer sehr hohen Brücke hinunterschaut. Diese Angst ist nur<br />
verständlich, weil im Es offensichtlich solche Wünsche lauern. Auch autoaggressive<br />
Wünsche mit <strong>de</strong>m Zwecke <strong>de</strong>r Abwehr von Schuldgefühlen<br />
können zu sehr belasten<strong>de</strong>n Traumbil<strong>de</strong>rn führen.<br />
1420 Damit ist aber <strong>de</strong>r Zweifel an <strong>Freud</strong>s Position nicht aus <strong>de</strong>r Welt geschafft<br />
– immerhin könnte es ja sein, dass zwar ein großer Teil, aber<br />
eben doch nicht alle Träume Wunscherfüllungen darstellen. Am ehesten<br />
lässt sich noch Jungs Ansatz, <strong>de</strong>r Traum habe stets eine kompensatorische<br />
Funktion, gleiche also aus, was im bewussten Leben nicht ausge-<br />
1425 lebt wer<strong>de</strong>n könne, mit <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Behauptung in Einklang bringen.<br />
Denn das Bedürfnis, ungelebte Seiten <strong>de</strong>r Persönlichkeit im Traum ersatzweise<br />
zu leben, kann sehr wohl generell als Wunscherfüllung <strong>de</strong>klariert<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
7.2. Latenter und manifester Traum, Traum<strong>de</strong>utung und<br />
1430 Traumarbeit<br />
Jenen Traumgedanken, <strong>de</strong>r im Es vorhan<strong>de</strong>n ist und sich im Träumen<br />
darstellen möchte, nennt <strong>Freud</strong> <strong>de</strong>n latenten Traum. Jenen Trauminhalt,<br />
<strong>de</strong>r durch die Einwirkung <strong>de</strong>r Ich-Zensur entstellt wur<strong>de</strong>, bezeichnet<br />
<strong>Freud</strong> als manifesten Traum. Wenn also jemand einen Traum erinnert<br />
1435 o<strong>de</strong>r erzählt, so han<strong>de</strong>lt es sich dabei stets um <strong>de</strong>n manifesten Traum.<br />
Der latente Traum kann erst sekundär, etwa via Traum<strong>de</strong>utung, ent<strong>de</strong>ckt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Traum<strong>de</strong>utung ist folglich die Umkehrung jenes Prozesses, <strong>de</strong>r die<br />
Umwandlung <strong>de</strong>s latenten in <strong>de</strong>n manifesten Traum bewerkstelligte.<br />
1440 <strong>Freud</strong> nennt diesen Verwandlungsprozess, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Traumgedanken in<br />
die visuellen und akustischen Bil<strong>de</strong>r umsetzt, Traumarbeit. Es ist folglich<br />
ganz einfach: die Traumarbeit macht aus <strong>de</strong>m latenten Traum <strong>de</strong>n manifesten,<br />
und die Traum<strong>de</strong>utung geht diesen Weg wie<strong>de</strong>r zurück und ent<strong>de</strong>ckt<br />
im manifesten Traum <strong>de</strong>n ursprünglichen latenten Traum.<br />
1445 Um die weiteren Begriffe leichter erklären zu können, hier ein Beispiel für<br />
einen möglichen manifesten Traum:<br />
Ein Lehrer träumt, er fahre mit einem rostigen VW zur Schule, überfahre<br />
unterwegs ein Huhn, wer<strong>de</strong> dann von <strong>de</strong>n Schülern nicht wie gewohnt<br />
freundlich begrüßt, son<strong>de</strong>rn tätlich angegriffen, gehe dann seine Mappe<br />
1450 suchen, die er im Auto vergessen habe, dieses habe sich aber unter<strong>de</strong>ssen<br />
in einen dreibeinigen Ofen verwan<strong>de</strong>lt, aus <strong>de</strong>m schwarzer Rauch<br />
aufsteige, und wie er ins Schulzimmer zurückkehren wolle, sei dieses<br />
plötzlich eine Kirche, in welcher die Frau <strong>de</strong>s Schulabwarts die Messe lese.<br />
1455 In diesem manifesten Traum fin<strong>de</strong>t sich eine Fülle von Elementen: Lehrer,<br />
Autofahren, VW, Rost, Schule, Huhn, Huhn überfahren usf. ‘Den<br />
Traum <strong>de</strong>uten’ heißt nun, einen Traumgedanken zu fin<strong>de</strong>n, in welchem<br />
alle diese Elemente eine Entsprechung haben, für die sie als Stellvertreter<br />
gelten können. Sollte sich z. B. herausstellen, dass mit <strong>de</strong>m rostigen<br />
1460 VW die leichte körperliche Invalidität <strong>de</strong>s Lehrers ausgedrückt ist, dass<br />
das überfahrene Huhn seine eigene Frau be<strong>de</strong>utet, mit <strong>de</strong>r er in unglücklicher<br />
Ehe lebt, und dass es sich bei seinen Schülern um seine eigenen<br />
Kin<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt, die ihn kürzlich aufgefor<strong>de</strong>rt haben, mit seiner Gemahlin<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 12 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
ins reine zu kommen usf., so liegen hier Beispiele von Elementen aus<br />
1465 <strong>de</strong>m latenten Traum vor.<br />
Die grundlegendste Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist folglich die Einkleidung eines<br />
Gedankens bzw. <strong>de</strong>r einzelnen Elemente eines Traumgedankens in<br />
Bil<strong>de</strong>r, die in irgen<strong>de</strong>inem erkennbaren Zusammenhang mit <strong>de</strong>n latenten<br />
Traumelementen stehen. Der Zusammenhang kann im Wesen <strong>de</strong>r Sache<br />
1470 selbst liegen. Wenn jemand von ‘in die Schule gehen’ träumt, kann damit<br />
ganz allgemein die Lebensschule gemeint sein. Solche Deutungen sind<br />
im Allgemeinen einfach, und auch <strong>de</strong>r Außenstehen<strong>de</strong> kann sich an <strong>de</strong>r<br />
Deutungsarbeit beteiligen. Sehr oft aber ist <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen<br />
<strong>de</strong>m latenten und <strong>de</strong>m manifesten Traumelement in <strong>de</strong>r konkreten Le-<br />
1475 bensgeschichte <strong>de</strong>s Träumers begrün<strong>de</strong>t. So kann sich z. B. herausstellen,<br />
dass <strong>de</strong>r Träumer in obigem Beispiel die Frau <strong>de</strong>s Schulhausabwarts<br />
letzten Sonntag in <strong>de</strong>r Kirche sah und dass ihm seine Frau ‘die Leviten<br />
las’, und es ist klar, dass man erst dann einen wirklichen Zugang zum<br />
Traum fin<strong>de</strong>t, wenn man vom Träumer diese Erlebnisse mitgeteilt be-<br />
1480 kommt. Das ist <strong>de</strong>r Grund weshalb <strong>Freud</strong> nichts von reinen Fremd<strong>de</strong>utungen<br />
hielt, und seine Analysan<strong>de</strong>n zu je<strong>de</strong>m einzelnen Element <strong>de</strong>s<br />
manifesten Traumes frei assoziieren ließ (dieser Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r freien Assoziation<br />
wur<strong>de</strong> dann z. B. von Jung entgegengehalten, dass dadurch eigentlich<br />
nicht <strong>de</strong>r Traum ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn dass – via freie Asso-<br />
1485 ziation – in aller Regelmäßigkeit bloß die neurotischen Züge <strong>de</strong>s Träumers<br />
sichtbar wer<strong>de</strong>n; diese wür<strong>de</strong>n sich nämlich beim freien Assoziieren<br />
stets zeigen, ganz gleich, von welchen Bil<strong>de</strong>rn, Begriffen o<strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong>n<br />
man ausgehe).<br />
Im Rahmen dieses Verwan<strong>de</strong>lns von latenten Traumelementen in mani-<br />
1490 feste Traumbil<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>t <strong>Freud</strong> fünf spezielle Formen <strong>de</strong>r Traumarbeit:<br />
1. <strong>Freud</strong> stellte fest, dass in <strong>de</strong>r Regel nicht – wie im obigen konstruierten<br />
Beispiel – ein Element aus <strong>de</strong>m manifesten Traum jeweils einem an<strong>de</strong>ren<br />
Element im latenten Traum entspricht, son<strong>de</strong>rn dass sich mehrere<br />
1495 Elemente <strong>de</strong>s latenten Traumes in einem einzigen Element <strong>de</strong>s manifesten<br />
Traumes vertreten lassen können. Auch das Umgekehrte ist möglich:<br />
dass nämlich ein einziges Element <strong>de</strong>s latenten Traumes in mehreren<br />
Elementen <strong>de</strong>s manifesten Traumes vorkommt. <strong>Freud</strong> nennt diesen Vorgang<br />
<strong>de</strong>r Traumarbeit Verdichtung. Es könnte also sein, dass ‘<strong>de</strong>s Leh-<br />
1500 rers Gemahlin’ (Element <strong>de</strong>s latenten Traums) sowohl im Huhn als auch<br />
im Ofen und in <strong>de</strong>r Frau <strong>de</strong>s Schulhausabwarts ihre Entsprechung im<br />
manifesten Traum fin<strong>de</strong>t und dass an<strong>de</strong>rerseits im manifesten Traumelement<br />
‘rostiger VW’ die körperlichen Beschwer<strong>de</strong>n, die unerquickliche<br />
Situation am Arbeitsplatz und das angeschlagene Image beim Volk<br />
1505 (Volkswagen) gleichzeitig ausgedrückt sind.<br />
2. Eine zweite Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verschiebung. Es han<strong>de</strong>lt<br />
sich dabei um eine Gewichtsverlagerung hinsichtlich <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utsamkeit<br />
eines Elements. So kann auf Anhieb in unserem Beispiel z. B. <strong>de</strong>r rauchen<strong>de</strong><br />
Ofen als sehr wichtig erscheinen, aber bei einer genauen Analy-<br />
1510 se mag sich herausstellen, dass z. B. das Detail, dass er genau drei Beine<br />
hat, sehr wichtig ist.<br />
3. Eine weitere Form <strong>de</strong>r Traumarbeit ist die Verkehrung ins Gegenteil.<br />
So kann jemand träumen, dass er seine Sekretärin schlägt, und die Analyse<br />
zeigt dann, dass er sich unbewusst genau das Gegenteil wünscht<br />
1515 (was immer das im jeweiligen Fall be<strong>de</strong>uten mag).<br />
4. Des weiteren scheint sich <strong>de</strong>r Traumregisseur einen Spaß daraus zu<br />
machen, <strong>de</strong>m Wortlaut einer Sache eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung beizumessen.<br />
So kann jemand von einem Mantel träumen, und gemeint ist <strong>de</strong>r<br />
Mann, o<strong>de</strong>r jemand träumt von Klassenkamera<strong>de</strong>n Peter Bischof, und<br />
1520 gemeint ist <strong>de</strong>r Bischof Petrus, nämlich <strong>de</strong>r Papst und damit die Beziehung<br />
zur Kirche und zur Religion. Und wenn jemand träumt, er reise gen<br />
Italien, so dürfte dies tatsächlich mit <strong>de</strong>n Genitalien im Zusammenhang<br />
stehen. Es lässt sich häufig die Erfahrung machen, dass uns <strong>de</strong>r ‘Traumregisseur’<br />
(wer und was das immer sei) viele solche Deutungen anbietet,<br />
1525 sobald ‘er gemerkt’ hat, dass wir bei <strong>de</strong>r Deutung darauf achten.<br />
5. Schließlich vertritt <strong>Freud</strong> die Ansicht, dass bestimmten Gegenstän<strong>de</strong>n<br />
feststehen<strong>de</strong> Symbole zugeordnet wer<strong>de</strong>n können. So schreibt <strong>Freud</strong>,<br />
nach<strong>de</strong>m er auf die Viel<strong>de</strong>utigkeit von Traumelementen hingewiesen und<br />
sich gegen eine starre Anwendung <strong>de</strong>r Traumsymbole verwahrt hat:<br />
1530 "Der Kaiser und die Kaiserin (König und Königin) stellen wirklich zumeist<br />
die Eltern <strong>de</strong>s Träumers dar, Prinz o<strong>de</strong>r Prinzessin ist er selbst. Dieselbe<br />
hohe Autorität wie <strong>de</strong>m Kaiser wird aber auch großen Männern zugestan<strong>de</strong>n,<br />
darum erscheint in manchen Träumen z. B. Goethe als Vatersymbol.<br />
Alle in die Länge reichen<strong>de</strong>n Objekte, Stöcke Baumstämme,<br />
1535 Schirme (<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Erektion vergleichbaren Aufspannens wegen!), alle<br />
länglichen und scharfen Waffen: Messer, Dolche, Piken, wollen das<br />
männliche Glied vertreten. Ein häufiges, nicht recht verständliches Symbol<br />
<strong>de</strong>sselben ist die Nagelfeile (<strong>de</strong>s Reibens und Schabens wegen?). –<br />
Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen <strong>de</strong>m Frauen-<br />
1540 leib, aber auch Höhlen, Schiffe und alle Arten von Gefäßen. Zimmer im<br />
Traume sind zumeist Frauenzimmer, die Schil<strong>de</strong>rung ihrer verschie<strong>de</strong>nen<br />
Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gera<strong>de</strong> nicht irre.<br />
Das Interesse, ob das Zimmer ‘offen’ o<strong>de</strong>r ‘verschlossen’ ist, wird in diesem<br />
Zusammenhange leicht verständlich. Welcher Schlüssel das Zim-<br />
1545 mer aufsperrt, braucht dann nicht ausdrücklich gesagt zu wer<strong>de</strong>n; die<br />
Symbolik von Schloss und Schlüssel hat Uhland im Lied vom ‘Grafen<br />
Eberstein’ zur anmutigsten Zote gedient. – Der Traum, durch eine Flucht<br />
von Zimmern zu gehen, ist ein Bor<strong>de</strong>ll- o<strong>de</strong>r Haremstraum. Er wird aber,<br />
wie H. Sachs an schönen Beispielen gezeigt hat, zur Darstellung <strong>de</strong>r Ehe<br />
1550 (Gegensatz) verwen<strong>de</strong>t. – Eine interessante Beziehung zur infantilen Sexualforschung<br />
ergibt sich, wenn <strong>de</strong>r Träumer von zwei Zimmern träumt,<br />
die früher eines waren, o<strong>de</strong>r ein ihm bekanntes Zimmer einer Wohnung<br />
im Traume in zwei geteilt sieht o<strong>de</strong>r das Umgekehrte. In <strong>de</strong>r Kindheit hat<br />
man das weibliche Genitale (<strong>de</strong>n Popo) für einen einzigen Raum gehal-<br />
1555 ten (die infantile Kloakentheorie) und erst später erfahren, dass diese<br />
Körperregion zwei geson<strong>de</strong>rte Höhlungen und Öffnungen umfasst. –<br />
Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen, und zwar<br />
sowohl aufwärts wie abwärts, sind symbolische Darstellungen <strong>de</strong>s Geschlechtsaktes.<br />
– Glatte Wän<strong>de</strong>, über die man klettert, Fassa<strong>de</strong>n von<br />
1560 Häusern, an <strong>de</strong>nen man sich – häufig unter starker Angst – herablässt,<br />
entsprechen aufrechten menschlichen Körpern, wie<strong>de</strong>rholen im Traum<br />
wahrscheinlich die Erinnerung an das Emporklettern <strong>de</strong>s kleinen Kin<strong>de</strong>s<br />
an Eltern und Pflegepersonen. Die ‘glatten’ Mauern sind Männer; an <strong>de</strong>n<br />
‘Vorsprüngen’ <strong>de</strong>r Häuser hält man sich nicht selten in <strong>de</strong>r Traumangst<br />
1565 fest. – Tische, ge<strong>de</strong>ckte Tische und Bretter sind gleichfalls Frauen, wohl<br />
<strong>de</strong>s Gegensatzes wegen, <strong>de</strong>r hier die Körperwölbungen aufhebt. ‘Holz’<br />
scheint überhaupt nach seinen sprachlichen Beziehungen ein Vertreter<br />
<strong>de</strong>s weiblichen Stoffes (Materie) zu sein. Der Name <strong>de</strong>r Insel Ma<strong>de</strong>ira<br />
be<strong>de</strong>utet im Portugiesischen: Holz. Da ‘Tisch und Bett’ die Ehe ausma-<br />
1570 chen, wird im Traum häufig <strong>de</strong>r erstere für das letztere gesetzt und, soweit<br />
es angeht, <strong>de</strong>r sexuelle Vorstellungskomplex auf <strong>de</strong>n Esskomplex<br />
transponiert. – Von Kleidungsstücken ist <strong>de</strong>r Hut einer Frau sehr häufig<br />
mit Sicherheit als Genitale, und zwar <strong>de</strong>s Mannes, zu <strong>de</strong>uten. Ebenso<br />
<strong>de</strong>r Mantel, wobei es dahingestellt bleibt, welcher Anteil an dieser Sym-<br />
1575 bolverwendung <strong>de</strong>m Wortlaut zukommt. In Träumen <strong>de</strong>r Männer fin<strong>de</strong>t<br />
man häufig die Krawatte als Symbol <strong>de</strong>s Penis, wohl nicht nur darum,<br />
weil sie lange herabhängt und für <strong>de</strong>n Mann charakteristisch ist, son<strong>de</strong>rn<br />
auch, weil man sie nach seinem Wohlgefallen auswählen kann, eine<br />
Freiheit, die beim Eigentlichen dieses Symbols von <strong>de</strong>r Natur verwehrt<br />
1580 ist. Personen, die dieses Symbol im Traume verwen<strong>de</strong>n, treiben im Leben<br />
oft großen Luxus mit Krawatten und besitzen förmliche Sammlungen<br />
von ihnen. – Alle komplizierten Maschinerien und Apparate <strong>de</strong>r Träume<br />
sind mit großer Wahrscheinlichkeit Genitalien – in <strong>de</strong>r Regel männliche –,<br />
in <strong>de</strong>ren Beschreibung sich die Traumsymbolik so unermüdlich wie die<br />
1585 Witzarbeit erweist. Ganz unverkennbar ist es auch, dass alle Waffen und<br />
Werkzeuge zu Symbolen <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n:<br />
Pflug, Hammer, Flinte, Revolver, Dolch, Säbel usw. – Ebenso sind viele<br />
Landschaften <strong>de</strong>r Träume, beson<strong>de</strong>rs solche mit Brücken o<strong>de</strong>r mit bewal<strong>de</strong>ten<br />
Bergen, unschwer als Genitalbeschreibungen zu erkennen. Ma-<br />
1590 linowski hat eine Reihe von Beispielen gesammelt, in <strong>de</strong>nen die Träumer<br />
ihre Träume durch Zeichnungen erläuterten, welche die darin vorkommen<strong>de</strong>n<br />
Landschaften und Räumlichkeiten darstellen sollten. Diese<br />
Zeichnungen machen <strong>de</strong>n Unterschied von manifester und latenter Be<strong>de</strong>utung<br />
im Traume sehr anschaulich. Während sie, arglos betrachtet,<br />
1595 Pläne, Landschaften und <strong>de</strong>rgleichen zu bringen scheinen, enthüllen sie<br />
sich einer eindringlicheren Untersuchung als Darstellung <strong>de</strong>s menschli-<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 13 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
chen Körpers, <strong>de</strong>r Genitalien usw. und ermöglichen erst nach dieser Auffassung<br />
das Verständnis <strong>de</strong>s Traumes. Auch darf man bei unverständlichen<br />
Wortneubildungen an Zusammensetzung aus Bestandteilen mit se-<br />
1600 xueller Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>nken. – Auch Kin<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>uten im Traume oft nichts<br />
an<strong>de</strong>res als Genitalien, wie ja Männer und Frauen gewohnt sind, ihr Genitale<br />
liebkosend als ihr ‘Kleines’ zu bezeichnen. Den ‘kleinen Bru<strong>de</strong>r’ hat<br />
Stekel richtig als Penis erkannt. Mit einem kleinen Kin<strong>de</strong> spielen, <strong>de</strong>n<br />
Kleinen schlagen usw. sind häufig Traumdarstellungen <strong>de</strong>r Onanie. – Zur<br />
1605 symbolischen Darstellung <strong>de</strong>r Kastration dient <strong>de</strong>r Traumarbeit: die Kahlheit,<br />
das Haarschnei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Zahnausfall und das Köpfen. Als Verwahrung<br />
gegen die Kastration ist es aufzufassen, wenn eines <strong>de</strong>r gebräuchlichen<br />
Penissymbole im Traume in Doppel- o<strong>de</strong>r Mehrzahl vorkommt.<br />
Auch das Auftreten <strong>de</strong>r Ei<strong>de</strong>chse im Traume – eines Tieres, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ab-<br />
1610 gerissene Schwanz nachwächst – hat dieselbe Be<strong>de</strong>utung. – Von <strong>de</strong>n<br />
Tieren, die in Mythologie und Folklore als Genitalsymbole verwen<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n, spielen mehrere auch im Traum diese Rolle: <strong>de</strong>r Fisch, die<br />
Schnecke, die Katze, die Maus (<strong>de</strong>r Genitalbehaarung wegen), vor allem<br />
aber das be<strong>de</strong>utsamste Symbol <strong>de</strong>s männlichen Glie<strong>de</strong>s, die Schlange.<br />
1615 Kleine Tiere, Ungeziefer sind die Vertreter von kleinen Kin<strong>de</strong>rn, z. B. <strong>de</strong>r<br />
unerwünschten Geschwister; mit Ungeziefer behaftet sein ist oft gleichzusetzen<br />
<strong>de</strong>r Gravidität (= Schwangerschaft; AB). – Als ganz rezentes3<br />
Traumsymbol <strong>de</strong>s männlichen Genitales ist das Luftschiff zu erwähnen,<br />
welches sowohl durch seine Beziehung zum Fliegen wie gelegentlich<br />
1620 durch seine Form solche Verwendung rechtfertigt." usf. (4)<br />
Die Einführung feststehen<strong>de</strong>r Symbole mit zumeist sexuellen Be<strong>de</strong>utung<br />
ist insofern ein interessantes Detail <strong>de</strong>r <strong>Freud</strong>schen Theoriebildung, als<br />
ja <strong>Freud</strong> sich zuerst gegen die früher oft verwen<strong>de</strong>ten Traum<strong>de</strong>utungsbücher<br />
wen<strong>de</strong>te, in welchen Verzeichnisse von Traumbil<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>r ent-<br />
1625 sprechen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung zu fin<strong>de</strong>n waren. <strong>Freud</strong> selbst hat somit wie<strong>de</strong>r<br />
einen Schritt rückwärts getan und sich wie<strong>de</strong>r ein Stück weit von seiner<br />
Position entfernt, wonach <strong>de</strong>r Traum nur aufgrund <strong>de</strong>r Kenntnis <strong>de</strong>r Lebensgeschichte<br />
(anhand freier Assoziationen) <strong>de</strong>s Träumers zu <strong>de</strong>uten<br />
ist. Um <strong>Freud</strong> gegenüber nicht ungerecht zu sein, muss darum darauf<br />
1630 hingewiesen wer<strong>de</strong>n, dass er selber nachdrücklich davor warnt, "die Be<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>r Symbole für die Traum<strong>de</strong>utung zu überschätzen, etwa die<br />
Arbeit <strong>de</strong>r Traumübersetzung auf Symbolübersetzung einzuschränken<br />
und die Technik <strong>de</strong>r Verwertung von Einfällen <strong>de</strong>s Träumers aufzugeben.<br />
Die bei<strong>de</strong>n Techniken <strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>utung müssen einan<strong>de</strong>r ergänzen;<br />
1635 praktisch wie theoretisch verbleibt aber <strong>de</strong>r Vorrang <strong>de</strong>m zuerst beschriebenen<br />
Verfahren(5), das <strong>de</strong>n Äußerungen <strong>de</strong>s Träumers die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Be<strong>de</strong>utung beilegt, während die von uns vorgenommene<br />
Symbolübersetzung als Hilfsmittel hinzutritt." (6)<br />
Angesichts <strong>de</strong>r Komplexität <strong>de</strong>r Traumarbeit steht je<strong>de</strong>r Traum<strong>de</strong>uter in<br />
1640 je<strong>de</strong>m einzelnen Falle vor einer sehr anspruchsvollen Arbeit. Denn bei<br />
je<strong>de</strong>m einzelnen Element <strong>de</strong>s manifesten Traumes muss er entschei<strong>de</strong>n,<br />
ob es direkt o<strong>de</strong>r gegenteilig zu <strong>de</strong>uten ist, einer aktuellen Problematik<br />
o<strong>de</strong>r einem zurückliegen<strong>de</strong>n Problem entspricht, ein feststehen<strong>de</strong>s Symbol<br />
ist o<strong>de</strong>r beliebig durch freie Assoziation ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n kann o<strong>de</strong>r<br />
1645 als Sache o<strong>de</strong>r vom Wortlaut her ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n muss.<br />
Die Vielfalt dieser Deutungsmöglichkeit eröffnet natürlich je<strong>de</strong>r Beliebigkeit<br />
Tür und Tor. So kann man beispielsweise, will man einfach irgen<strong>de</strong>ine<br />
Deutungs-Hypothese bestätigt wissen, ein nicht passen<strong>de</strong>s Element<br />
ins Gegenteil umkehren. Es braucht darum ein Kriterium, ob man als<br />
1650 Deuter auf <strong>de</strong>r richtigen Spur ist. Dieses Kriterium ist ein gewisses Evi<strong>de</strong>nz-Erlebnis<br />
<strong>de</strong>s Träumers: er spürt intuitiv, dass die Deutung stimmt<br />
und tatsächlich eine für ihn be<strong>de</strong>utsame Problematik erhellt. Allerdings<br />
kommt es auch vor, dass z. B. <strong>de</strong>r Analytiker mit einer Deutung Recht<br />
hat, aber <strong>de</strong>r Analysand die als belastend empfun<strong>de</strong>ne Wahrheit nicht<br />
1655 annehmen kann (<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Adler’schen Individualpsychologie vertraute<br />
Analytiker achtet in diesen Fällen auch auf <strong>de</strong>n sog. Erkennungsreflex<br />
(7)).<br />
7.3. Traumquellen<br />
Es ist nun zu fragen, woher <strong>de</strong>r Traum einerseits die latenten Inhalte, an-<br />
1660 <strong>de</strong>rerseits die manifesten Bil<strong>de</strong>r bezieht. <strong>Freud</strong> ist nun davon überzeugt,<br />
dass in allen latenten Träumen irgendwelche Kindheitserinnerungen zumin<strong>de</strong>st<br />
mitbeteiligt sind. In dieser Auffassung kommt seine allgemeine<br />
Ansicht zum Ausdruck, dass die – insbeson<strong>de</strong>re frühe – Kindheit für das<br />
ganze Leben von hervorragen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist und dass auch allen<br />
1665 neurotischen Störungen irgendwelche belasten<strong>de</strong>n Erlebnisse in <strong>de</strong>r<br />
Kindheit zu Grun<strong>de</strong> liegen.<br />
Bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>r konkreten Bil<strong>de</strong>r sind nach <strong>Freud</strong> vorerst einmal aktuelle<br />
somatische (körperliche) Quellen maßgebend, wobei er 3 verschie<strong>de</strong>ne<br />
Arten unterschei<strong>de</strong>t, nämlich<br />
1670 • von äußeren Objekten ausgehen<strong>de</strong> Sinnesreize (z. B. Gerüche,<br />
Lärm)<br />
• subjektiv begrün<strong>de</strong>te Erregungszustän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sinnesorgane<br />
(z. B. Ohrensausen)<br />
• aus <strong>de</strong>m Körperinneren stammen<strong>de</strong> Reize (z. B. Verdauungsbeschwer<strong>de</strong>n,<br />
Harndrang)<br />
1675<br />
Wichtiger für die konkrete Gestaltung <strong>de</strong>r manifesten Bil<strong>de</strong>rwelt sind für<br />
<strong>Freud</strong> Erlebnisse <strong>de</strong>s Vortages, sog. Tagesreste. <strong>Freud</strong> setzt diese Aussage<br />
insofern absolut, als er annimmt, dass nicht etwa um einige Tage<br />
zurückliegen<strong>de</strong> Erfahrungen ausschlaggebend sind, son<strong>de</strong>rn immer sol-<br />
1680 che <strong>de</strong>s Vortages. Wenn aber etwa trotz<strong>de</strong>m eine Begebenheit <strong>de</strong>r letzten<br />
Woche her im Traume auftaucht, so geht <strong>Freud</strong> davon aus, dass man<br />
am Vortag zumin<strong>de</strong>st daran gedacht hat (eine Behauptung, die sich natürlich<br />
grundsätzlich nicht wi<strong>de</strong>rlegen lässt). Auch nimmt er als Grundregel<br />
an, dass allen verschie<strong>de</strong>nen manifesten Träumen einer einzigen<br />
1685 Nacht stets <strong>de</strong>rselbe latente Traum zu Grun<strong>de</strong> liegt.<br />
Anmerkung:<br />
<strong>Freud</strong> war <strong>de</strong>r Ansicht, dass alle Träume grundsätzlich egoistisch motiviert<br />
sind, d.h. im Lustprinzip wurzeln und nur insoweit <strong>de</strong>m Realitätsprinzip<br />
verpflichtet sind, als die Zensur <strong>de</strong>s Ichs negativ (also abwehrend und<br />
1690 verschleiernd) wirkt.<br />
Träume müssen aber nicht bloß Ausdruck verdrängter Es-Impulse (Wünsche)<br />
sein, son<strong>de</strong>rn können durchaus auch als Botschafter <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Ich-Instanzen fungieren (Ich, Über-Ich). Demgemäß können sie einem<br />
Menschen – ohne dass damit notwendigerweise Wünsche zum Ausdruck<br />
1695 gebracht wer<strong>de</strong>n müssen – seine jetzige Lebenssituation wi<strong>de</strong>rspiegeln,<br />
ihn auf Gefahren aufmerksam machen und ihm aufzeigen, welche Entwicklungsschritte<br />
ihm angemessen sind. <strong>Freud</strong> lehnt einen solchen finalen<br />
Aspekt <strong>de</strong>s Traums ab, allerdings steht er aber in Übereinstimmung<br />
mit <strong>de</strong>r Jung’schen Theorie, wonach es die Lebensaufgabe je<strong>de</strong>s Men-<br />
1700 schen ist, alle wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>n Seiten seines Wesens miteinan<strong>de</strong>r zu<br />
versöhnen und so zu einer psychischen Ganzheit zu gelangen. Jung<br />
nennt diesen Prozess Individuation, und die Traum<strong>de</strong>utung kann eine<br />
wertvolle Hilfe sein, um dieses Ziel zu erreichen.<br />
8. Psychopathologie und Therapieziele<br />
1705 8.1. Neurosen<br />
<strong>Freud</strong> erachtet <strong>de</strong>n Unterschied zwischen "alltäglichen" existenziellen<br />
Konflikten und neurotischen Zustandsbil<strong>de</strong>rn als einen rein quantitativen.<br />
So schreibt er (Gesammelte Werke VIII, S. 338) <strong>de</strong>nn auch, dass "...die<br />
nämlichen Komplexe und Konflikte auch bei allen Gesun<strong>de</strong>n und Norma-<br />
1710 len zu erwarten sind." (8) In <strong>de</strong>r Psychoanalyse spricht man <strong>de</strong>shalb von<br />
einer sog. "Normalpathologie", die von <strong>de</strong>r klinischen unterschie<strong>de</strong>n wird<br />
und im Gegensatz zu dieser die beruflichen und sozialen Fertigkeiten<br />
kaum negativ beeinflusst.<br />
Der Begriff ‘Neurose’ leitet sich von ‘Neuron’ (Nervenzelle) ab. Im letzten<br />
1715 Jahrhun<strong>de</strong>rt glaubte man alle psychischen Erkrankungen auf ein nicht<br />
richtig funktionieren<strong>de</strong>s Nervensystem zurückführen zu können und benannte<br />
<strong>de</strong>mentsprechend auch die Spitäler für Geisteskranke ‘Nervenheilanstalten’.<br />
Bei einer Neurose han<strong>de</strong>lt es sich grundsätzlich um ein erworbenes psy-<br />
1720 chisches Lei<strong>de</strong>n, das freilich sehr oft nicht als solches erkannt o<strong>de</strong>r als<br />
Krankheit empfun<strong>de</strong>n wird. Zum Verständnis <strong>de</strong>s neurotischen Verhaltens<br />
kann man nach <strong>de</strong>m Verständnis <strong>de</strong>r Psychoanalyse prinzipiell alle<br />
Abwehrmechanismen heranziehen. Insofern sie nämlich auf Verdrängung<br />
beruhen, <strong>de</strong>r Angstabwehr dienen und Selbsttäuschungen darstellen,<br />
1725 haftet ihnen (wohl mit Ausnahme <strong>de</strong>r Sublimierung) insgesamt etwas<br />
Krankhaftes an. So ließe sich theoretisch ‘psychische Gesundheit’ als<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 14 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
‘Abwesenheit von jedwe<strong>de</strong>m Abwehrmechanismus’ <strong>de</strong>finieren und wäre<br />
i<strong>de</strong>ntisch mit absoluter Offenheit, Wahrhaftigkeit und Angstfreiheit. So<br />
gesehen lässt sich je<strong>de</strong>s Verhalten, das vom gesun<strong>de</strong>n abweicht, als<br />
1730 ‘neurotisch’ bezeichnen – woraus sich eine Schlussfolgerung ziehen<br />
lässt, dass alle Menschen mehr o<strong>de</strong>r weniger stark irgendwelche neurotischen<br />
Züge an sich haben.<br />
Haben nun die neurotischen Züge eines Menschen allerdings ein ‘normales’<br />
(d.h. für ihn und die Umwelt noch erträgliches) Maß überschritten, so<br />
1735 dass sich das krankhafte Verhalten <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Menschen verfestigt<br />
und in gewissen Situationen zwanghaft wie<strong>de</strong>rholt, so spricht man<br />
von einer etablierten Neurose. Der Übergang von ‘mit neurotischen Zügen<br />
behaftet’ zur ‘etablierten Neurose’ ist allerdings weitgehend quantitativer<br />
Natur und insofern fließend. Ob und inwieweit sich ein Mensch mit<br />
1740 seiner Neurose in einer Psychotherapie systematisch auseinan<strong>de</strong>rsetzen<br />
will, ist darum immer auch eine Frage <strong>de</strong>r erhofften und angestrebten Lebensqualität.<br />
<strong>Freud</strong> sieht in <strong>de</strong>r Neurose das Resultat einer unvollständigen Verdrängung<br />
von Es-Impulsen durch das Ich, wobei <strong>de</strong>r verdrängte Impuls trotz<br />
1745 <strong>de</strong>r Verdrängung (verschleiert, gewissermaßen durch die Hintertür) in<br />
das Bewusste und das Verhalten einbricht. Um diesen Einbruch <strong>de</strong>s Es-<br />
Impulses ins Verhalten erneut abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r psychische Organismus<br />
das neurotische Symptom aus. Dieses dient einerseits <strong>de</strong>r Ersatzbefriedigung<br />
<strong>de</strong>s verdrängten Impulses, an<strong>de</strong>rerseits (und gleichzei-<br />
1750 tig) <strong>de</strong>m Versuch, diesen - als belastend empfun<strong>de</strong>nen - Impuls endgültig<br />
zu beseitigen.<br />
Dieses Theorem lässt sich am Beispiel eines Menschen ver<strong>de</strong>utlichen,<br />
<strong>de</strong>r mit tief sitzen<strong>de</strong>n, aber verdrängten Schuldgefühlen nicht zu Ran<strong>de</strong><br />
kommt und einen sog. "Waschzwang" ausbil<strong>de</strong>t. Offensichtlich kann es<br />
1755 <strong>de</strong>m Ich grundsätzlich nicht gelingen, einen <strong>de</strong>rart starken Es-Impuls<br />
(das Schuldgefühl) vollständig zu verdrängen. Der verdrängte Impuls tritt<br />
<strong>de</strong>shalb verschleiert, nämlich als allgegenwärtiges Gefühl, schmutzige<br />
Hän<strong>de</strong> zu haben, wie<strong>de</strong>r ins Bewusstsein ein. Um dieses lästige Gefühl<br />
abzuwehren, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Mensch nun als neurotisches Symp-<br />
1760 tom <strong>de</strong>n Waschzwang aus. In<strong>de</strong>m er sich nun täglich dutzen<strong>de</strong> Male die<br />
Hän<strong>de</strong> heftig wäscht und bürstet, möchte er einerseits die Schuld ausgleichen<br />
(Ersatzbefriedigung) und an<strong>de</strong>rerseits die Schuldgefühle endgültig<br />
beseitigen.<br />
<strong>Freud</strong> teilt die Neurosen ein in:<br />
1765 • Aktualneurosen mit vorwiegend vegetativen Symptomen auf<br />
Grund starker Affektwirkungen auf das vegetative System im Zusammenhang<br />
eines aktuellen Konflikts (z. B. Schreckneurose,<br />
Angstneurose) und<br />
• Psychoneurosen mit psychischen o<strong>de</strong>r somatischen Symptomen,<br />
1770 verursacht durch einen chronischen Triebkonflikt, wie unverarbeitete<br />
o<strong>de</strong>r verdrängte Kindheitserlebnisse. Zu <strong>de</strong>n Psychoneurosen<br />
zählen:<br />
• - alle Formen <strong>de</strong>r Hysterie (stets begleitet mit psychisch bedingten<br />
körperlichen Symptomen, z. B. Lähmungen, Ausfälle<br />
1775 <strong>de</strong>r Sinnesorgane)<br />
• - die Phobien (real nicht begrün<strong>de</strong>te, psychisch bedingte<br />
Furcht vor irgend einem beliebigen Objekt, einer bestimmten<br />
Situation o.ä.)<br />
• - die Zwangsneurosen (zwanghafte Wie<strong>de</strong>rholung stereotyper<br />
1780 Verhaltensweisen)<br />
• - die Charakterneurosen (Verwahrlosung, Psychopathie)<br />
Bei <strong>de</strong>r Behandlung von Psychoneurosen wird eine Nacherziehung zur<br />
Überwindung innerer Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> angepeilt.<br />
8.2. Phobien<br />
1785 Grundsätzlich kann je<strong>de</strong>r Gegenstand o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Situation zum Zielobjekt<br />
einer Phobie wer<strong>de</strong>n. So kann man sich krankhaft vor Mäusen, vor Spinnen,<br />
vor Hühnern, vor <strong>de</strong>m Eingeschlossensein in engen Räumen<br />
(Klaustrophobie), vor <strong>de</strong>m Überschreiten großer Plätze (Platzangst, Agoraphobie),<br />
vor <strong>de</strong>m Befahren von Tunneln usw. fürchten. In extremen Fäl-<br />
1790 len fürchtet sich <strong>de</strong>r Phobiker nicht bloß vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s realen Gegenstan<strong>de</strong>s,<br />
son<strong>de</strong>rn auch vor <strong>de</strong>m Anblick <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r sogar vor<br />
<strong>de</strong>m sprachlichen Ausdruck <strong>de</strong>s phobisch besetzten Objekts.<br />
Eine in <strong>de</strong>r Psychoanalyse berühmt gewor<strong>de</strong>ne Phobie ist die Pfer<strong>de</strong>phobie<br />
<strong>de</strong>s Knaben Hans. <strong>Freud</strong> erkannte in <strong>de</strong>r Analyse, dass Hans ei-<br />
1795 ne außeror<strong>de</strong>ntliche Angst vor <strong>de</strong>m Vater hatte, die er zu verdrängen gezwungen<br />
war. Der Anblick <strong>de</strong>s erigierten Penis eines Pfer<strong>de</strong>s führte dann<br />
zur Assoziation mit <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Vaters, und so verschob Hans seine<br />
Angst vor <strong>de</strong>m Vater auf die Pfer<strong>de</strong>, was ihm ein ersatzweises Ausleben<br />
<strong>de</strong>r Angst gestattete.<br />
1800 8.3. Zwangsneurosen<br />
Neben <strong>de</strong>m bereits erwähnten Waschzwang kennt die Psychoanalyse als<br />
weitere relativ häufig auftreten<strong>de</strong> Neuroseformen <strong>de</strong>n Zählzwang (<strong>de</strong>n<br />
Zwang, jedwe<strong>de</strong>s Ereignis, das sich wie<strong>de</strong>rholt, o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Ding, das in<br />
Serien auftritt, zu zählen), <strong>de</strong>n Lästerzwang (<strong>de</strong>n Zwang, z. B. bei <strong>de</strong>r<br />
1805 andächtigen Stille eines Gottesdienstes, eines Theaters o<strong>de</strong>r eines Konzerts<br />
laut fluchen zu müssen, auch: Koprolalie, Tourettesyndrom), <strong>de</strong>n<br />
Reinigungszwang (alles und überall zu putzen, auch: Waschzwang), <strong>de</strong>n<br />
Berührungszwang (gewisse Gegenstän<strong>de</strong> im Sinne eines Rituals immer<br />
wie<strong>de</strong>r berühren zu müssen), <strong>de</strong>n Kontrollzwang (sich stets wie<strong>de</strong>r ver-<br />
1810 gewissern müssen, ob man eine bestimmte Handlung wirklich vollzogen<br />
hat), <strong>de</strong>n Sammelzwang (gewisse Dinge krankhaft anhäufen zu müssen),<br />
die Kleptomanie (<strong>de</strong>n Zwang, stehlen zu müssen), die Pyromanie (<strong>de</strong>n<br />
Zwang, Brän<strong>de</strong> legen zu müssen), verschie<strong>de</strong>ne Formen von Tics u.a.<br />
Ins Kapitel zwanghaften Verhaltens gehören auch zahlreiche sexuelle<br />
1815 Perversionen o<strong>de</strong>r Essstörungen wie Magersucht (Anorexie; anorexia<br />
nervosa) o<strong>de</strong>r Bulimie.<br />
8.4. Von <strong>de</strong>r Vielfalt neurotischen Verhaltens<br />
In <strong>de</strong>r psychologischen Praxis zeigt es sich allerdings, dass man das<br />
neurotische Verhalten <strong>de</strong>r Klienten zumeist nicht fein säuberlich katalogi-<br />
1820 sieren kann. Letztlich kann je<strong>de</strong> beliebige Verhaltensweise neurotisch<br />
motiviert sein. Es han<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>shalb darum, in je<strong>de</strong>m einzelnen Fall<br />
jene Verhaltensweisen zu ent<strong>de</strong>cken, die mit beson<strong>de</strong>ren Ängsten verbun<strong>de</strong>n<br />
sind, die stereotyp wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r sonst wie neben <strong>de</strong>r<br />
‘gesun<strong>de</strong>n Norm’ liegen. Der Katalog <strong>de</strong>r Abwehrmechanismen kann da-<br />
1825 bei als eine gewisse Richtschnur dienen. Aufschlussreich ist stets auch<br />
die Art, wie ein Mensch mit seinen Mitmenschen kommuniziert und wie er<br />
die sich ihm stellen<strong>de</strong>n Lebensaufgaben angeht.<br />
Allen Neurosen gemeinsam ist die Unfreiheit. Für Außenstehen<strong>de</strong> ist es<br />
oft schwer verständlich, dass ein Neurotiker gewisse Dinge willentlich<br />
1830 einfach nicht fertig bringt. So wie ein Drogensüchtiger zwanghaft zur<br />
Droge greift, ebenso zwanghaft wäscht sich <strong>de</strong>r Mensch mit einem<br />
Waschzwang die Hän<strong>de</strong> und ebenso zwanghaft muss jemand mit einem<br />
Kontrollzwang eine Sache nachkontrollieren, von <strong>de</strong>r er genau weiß,<br />
dass er sie 5 Minuten zuvor bereits zum zwanzigsten Mal kontrolliert hat.<br />
1835 Ein Mädchen, das an Magersucht lei<strong>de</strong>t, kann sehr wohl wissen, dass es<br />
essen sollte und dass dies allein sein Leben retten kann, und trotz<strong>de</strong>m<br />
sitzt es vor <strong>de</strong>m vollen Teller und verweigert – ohne etwa an Appetitlosigkeit<br />
zu lei<strong>de</strong>n – die Nahrungsaufnahme. Und wenn jemand, <strong>de</strong>r kommunikationsgestört<br />
ist, mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung konfrontiert wird, doch ‘ein-<br />
1840 fach mit <strong>de</strong>m Partner zu sprechen’, so erscheint (und ist) ihm das so unmöglich,<br />
wie wenn man einen Durchschnittsmenschen die Eigernordwand<br />
hoch steigen hieße.<br />
Wie Adler nachwies, ist mit je<strong>de</strong>r Neurose immer auch ein erhöhtes Geltungs-<br />
und Machtbedürfnis verbun<strong>de</strong>n. In aller Regel dienen neurotische<br />
1845 Symptome immer auch <strong>de</strong>r Machtausübung auf an<strong>de</strong>re, ohne dass sie<br />
sich einzig aus dieser Funktion heraus erklären ließen. Sehr oft ist das<br />
neurotische Lei<strong>de</strong>n auch mit Depressionen verbun<strong>de</strong>n, und die Liebesfähigkeit<br />
ist erheblich eingeschränkt.<br />
Neurosen sind in allen Schichten und insbeson<strong>de</strong>re bei allen Intelligenz-<br />
1850 klassen anzutreffen. Sehr oft lei<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> differenzierte und begabte<br />
Menschen an schweren Neurosen. Intelligenz schützt nicht vor <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
einer Neurose, da Neurosen zum einen wie erwähnt zumeist in<br />
<strong>de</strong>r frühen Kindheit begrün<strong>de</strong>t sind und zum an<strong>de</strong>ren vom sozialen Umfeld<br />
abhängig sind, das Kin<strong>de</strong>r ja nicht auswählen können. Größere Intel-<br />
1855 ligenz stellt lediglich eine gewisse Hilfe bei <strong>de</strong>r Psychotherapie dar.<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 15 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
Das Erkennen <strong>de</strong>r Neurose mag einen ersten Schritt zur Heilung ermöglichen,<br />
ohne weitere Schritte können wird sich an seinem Problem aber<br />
üblicherweise nicht das Geringste än<strong>de</strong>rn. Gelegentlich trifft man Menschen,<br />
die beinahe wie Psychologen über ihre eigenen Neurosen, <strong>de</strong>ren<br />
1860 Entstehung und Entwicklungsgeschichte Auskunft geben können, ohne<br />
dass es ihnen je gelungen wäre, sich von ihrem Lei<strong>de</strong>n zu befreien. Nicht<br />
selten verschlimmern Versuche <strong>de</strong>r "Selbsttherapie" das Problem sogar,<br />
in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>ssen Komplexität erhöht o<strong>de</strong>r die ursprüngliche Symptomatik<br />
auf eine an<strong>de</strong>re, womöglich für einen selbst unauffälligere, verschoben<br />
1865 wird. Die Systemische Therapie erklärt sich diesen Effekt so, dass im<br />
Sinne <strong>de</strong>r Abwehr bei Versuchen einer "Selbsttherapie" die unerwünschten<br />
innerpsychischen Instanzen gera<strong>de</strong>zu zu noch größerer Gegenwehr<br />
"gezwungen" wer<strong>de</strong>n. Es erinnert also gewissermaßen an Münchhausens<br />
Versuch, sich selbst am eigenen Schopf aus <strong>de</strong>m Sumpf zu ziehen.<br />
1870 9. Die psychoanalytische Technik<br />
9.1. Grundsätzliche Erwägungen<br />
So weit heute erkennbar ist, ist Psychotherapie (ob Psychoanalyse o<strong>de</strong>r<br />
eine <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wissenschaftlich anerkannten Metho<strong>de</strong>n) die einzige<br />
Möglichkeit, von einer Neurose geheilt wer<strong>de</strong>n zu können. Dabei ist <strong>de</strong>r<br />
1875 Erfolg allerdings nicht garantiert, wobei er wesentlich mehr vom Patienten<br />
(auch: Klienten, in <strong>de</strong>r Psychoanalyse: Analysan<strong>de</strong>n) als vom Psychotherapeuten<br />
(in <strong>de</strong>r Psychoanalyse: Analytiker) abhängt. Die Motivation, etwas<br />
zu unternehmen, steht jedoch zumeist in einem direkten Zusammenhang<br />
mit <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>nsdrucks. Viele Menschen sind erst<br />
1880 bereit, sich ihrer eigenen Psyche, ja ihrer Lebensführung insgesamt<br />
gründlich zu stellen, wenn sie unter ihren unangepassten Verhaltensweisen,<br />
Depressionen, Ängsten, Zwängen und Kommunikationsproblemen<br />
<strong>de</strong>rart lei<strong>de</strong>n, dass sie alles auf sich nehmen (also auch <strong>de</strong>n so gefürchteten<br />
Psychotherapeuten aufsuchen), nur um Lin<strong>de</strong>rung im Lei<strong>de</strong>n erfah-<br />
1885 ren zu können.<br />
Der Erfolg von gesprächsbasierten Metho<strong>de</strong>n wie im hier beschriebenen<br />
Fall <strong>de</strong>r Psychoanalyse hängt ferner auch von <strong>de</strong>n Fähigkeiten <strong>de</strong>s Klienten<br />
ab. Nur wer über einen gewissen Intellekt, Fähigkeit <strong>de</strong>r Selbstwahrnehmung<br />
(Introspektionsfähigkeit) und Beziehungsfähigkeit verfügt, nur<br />
1890 wer grundsätzlich guten Willen hat und auch getragen ist durch einen<br />
gewissen Lebensernst, ist überhaupt zur Durchführung einer Psychotherapie,<br />
speziell einer Psychoanalyse, fähig. Weiters müssen die Betroffenen<br />
in <strong>de</strong>r Lage sein, <strong>de</strong>n psychoanalytischen Vertrag (siehe unten) einzugehen.<br />
Dieser ist bei an<strong>de</strong>ren Therapieformen weniger strikt.<br />
1895 Gut geeignet ist die analytische Metho<strong>de</strong> für alle Formen <strong>de</strong>r neurotischen<br />
Störungen - Störungen, die sich über Jahre langsam aufbauen und<br />
immer weitere Bereiche <strong>de</strong>s Lebens umfassen. Dazu gehören Persönlichkeitsstörungen,<br />
wie mangeln<strong>de</strong>s Selbstwertgefühl, Kontaktprobleme,<br />
selbst aufgebauter Leistungszwang. Aber auch leichtere, latente Angst-<br />
1900 und Zwangsneurosen sowie leichtere <strong>de</strong>pressive Störungen können<br />
Thema einer Psychoanalyse sein.<br />
Weniger geeignet ist eine psychoanalytische Behandlung in akut belasten<strong>de</strong>n<br />
Lebenssituationen, somit etwa auch bei schweren Neurosen, Depressionen,<br />
Zwangserkrankungen, Psychosen und akuten Problemen<br />
1905 wie Sucht und dgl. Denn die Psychoanalyse ist als "auf<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>s Verfahren"<br />
durch die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Kindheit für das Verständnis und die<br />
Therapie <strong>de</strong>r Krankheitssymptome als eher vergangenheitsbetont zu bezeichnen<br />
– bei einer üblichen Min<strong>de</strong>sttherapiedauer von min<strong>de</strong>stens 160<br />
bis 240 Stun<strong>de</strong>n á 2-3 Stun<strong>de</strong>n pro Woche führt dies zu einer Gesamt-<br />
1910 Therapiedauer von zumin<strong>de</strong>st 2-3 Jahren. Wird also unmittelbare therapeutische<br />
Hilfe o<strong>de</strong>r innere Stabilisierung benötigt o<strong>de</strong>r angepeilt, erfor<strong>de</strong>rt<br />
eine auf<strong>de</strong>ckend orientierte Psychotherapie wie die Psychoanalyse<br />
oftmals zu viel Kraft und Durchhaltevermögen.<br />
Insgesamt lässt sich sagen, dass im Vergleich zu <strong>de</strong>n eher orthodoxen<br />
1915 Positionen <strong>Freud</strong>s heute ganz allgemein ein weitaus größerer Indikationsbereich<br />
für die Psychoanalyse angegeben wird, wobei in zunehmen<strong>de</strong>m<br />
Maße auch die Persönlichkeitsstruktur und die Selbsterfahrung <strong>de</strong>s<br />
Analytikers als Gradmesser <strong>de</strong>r Indikationsstellung betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />
1920 Der analytische Vertrag<br />
Abgesehen davon, dass <strong>de</strong>r Analysand <strong>de</strong>n Analytiker zu bezahlen hat,<br />
gehen die bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Vertrag ein: Der Analysand erklärt seine Bereitschaft,<br />
grundsätzlich alles, was ihm bewusst wird, zu sagen, gleichgültig,<br />
ob es ihm peinlich ist, ob es ihm unsinnig, unmoralisch o<strong>de</strong>r ne-<br />
1925 bensächlich erscheint o<strong>de</strong>r ob er befürchtet, damit in Schwierigkeiten zu<br />
kommen. Der Analytiker stellt <strong>de</strong>m seine Bereitschaft zur Mithilfe bei <strong>de</strong>r<br />
Deutung entgegen.<br />
9.2. Heilungsplan und therapeutische Beziehung<br />
Angesichts <strong>de</strong>r Tatsache, dass je<strong>de</strong> Neurose einhergeht mit einem ge-<br />
1930 genüber <strong>de</strong>n Inhalten <strong>de</strong>s Es geschwächten Ich, besteht <strong>de</strong>r Heilungsplan<br />
grundsätzlich darin, dass sich <strong>de</strong>r Analytiker mit <strong>de</strong>m geschwächten<br />
Ich <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n verbün<strong>de</strong>t und alles daran setzt, das Ich in echter<br />
Weise zu stärken. Das kann mitunter be<strong>de</strong>uten, dass sich <strong>de</strong>r Analytiker<br />
in all jenen Fällen, wo <strong>de</strong>r Analysand Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> gegen die Be-<br />
1935 wusstmachung von Es-Impulsen zeigt, auf die Seite <strong>de</strong>s Es stellen muss,<br />
um <strong>de</strong>ssen Impulsen Zugang zum Bewussten <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n zu ermöglichen<br />
o<strong>de</strong>r erleichtern.<br />
Die therapeutische Beziehung steht im Vor<strong>de</strong>rgrund <strong>de</strong>r analytischen Arbeit.<br />
Als "Prozessvariablen" wird hierbei <strong>de</strong>r Übertragung, <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>r-<br />
1940 stand sowie <strong>de</strong>n Abwehrmechanismen beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit gewidmet.<br />
9.3. Die psychoanalytische Dialogstruktur (Setting)<br />
Der Analysand liegt nach Möglichkeit entspannt auf einer Couch, <strong>de</strong>r<br />
Analytiker sitzt hinter ihm. Der Analysand ist aufgefor<strong>de</strong>rt, alles zu sagen,<br />
1945 was ihm in <strong>de</strong>n Sinn kommt o<strong>de</strong>r was er empfin<strong>de</strong>t. Hierbei ist es von<br />
Wichtigkeit, dass er nicht selektiv zwischen ihm belanglos, als peinlich<br />
o<strong>de</strong>r lächerlich erscheinen<strong>de</strong>n und vermeintlich wesentlichen Inhalten<br />
auswählt ("Grundregel"). Solcherart gelangen Gedanken, bildhafte Vorstellungen<br />
und Gefühle ins Bewusstsein, die sonst nur bruchstück- o<strong>de</strong>r<br />
1950 schemenhaft zugänglich wären.<br />
Der Analytiker hört zu und schenkt <strong>de</strong>m gesprochenen Wort <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
größte Aufmerksamkeit. Die Abstinenz <strong>de</strong>s Analytikers (persönliches<br />
Einbringen <strong>de</strong>s Analytikers ist in <strong>de</strong>r klassischen Psychoanalyse<br />
während <strong>de</strong>s gesamten Behandlungsverlaufes strengst limitiert - "Absti-<br />
1955 nenzregel") soll helfen, dass sich die persönliche Geschichte <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
möglichst wenig mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Analytikers verquickt – darüber hinaus<br />
ist sie Voraussetzung für <strong>de</strong>n Aufbau einer möglichst "reinen" Übertragung,<br />
bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Analysand – begünstigt durch das beson<strong>de</strong>re Setting<br />
dieser Metho<strong>de</strong> – eigene Persönlichkeitsstrukturen auf <strong>de</strong>n Analytiker<br />
1960 projiziert, und diesem damit ein wichtiges Werkzeug zur Deutung und<br />
Auf<strong>de</strong>ckung in die Hand gibt. Im ständigen Prozess von Übertragungsund<br />
Gegenübertragungsphänomenen wer<strong>de</strong>n durch die Deutungsarbeit<br />
<strong>de</strong>s Analytikers <strong>de</strong>m Klienten die eigenen Projektionen immer bewusster,<br />
und neue Einsichten über historische Zusammenhänge <strong>de</strong>r eigenen Per-<br />
1965 sönlichkeitsentwicklung können gewonnen wer<strong>de</strong>n – sofern nicht Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />
in <strong>de</strong>n Weg treten (Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> nehmen die o.e. Abwehrmechanismen<br />
an und haben für <strong>de</strong>n Patienten die Funktion, <strong>de</strong>n sekundären<br />
Krankheitsgewinn angesichts beängstigend wirken<strong>de</strong>r, neuartiger<br />
schmerzhafter Erfahrungen, die durch <strong>de</strong>n Behandlungsprozess bewusst<br />
1970 wer<strong>de</strong>n, nicht aufgeben zu müssen. Zum flexiblen, sinnvollen Umgang<br />
mit ihnen ist ihr Bewusstwer<strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rlich – die Arbeit <strong>de</strong>s Analytikers<br />
besteht daher wesentlich in <strong>de</strong>r Bearbeitung und Deutung von Wi<strong>de</strong>rstand<br />
und Übertragung).<br />
"Die Neurose <strong>de</strong>s Patienten sollte sich schließlich in eine Übertragungs-<br />
1975 neurose verwan<strong>de</strong>ln, die dann analysiert wird. Die traumatische Entstehungsgeschichte<br />
<strong>de</strong>r neurotischen Symptomatik wie<strong>de</strong>rholt sich dann in<br />
ihrem Erleben als ein auf <strong>de</strong>n Analytiker projiziertes Geschehen. Schließlich<br />
zielt die Deutungsarbeit <strong>de</strong>s Analytikers darauf ab, dass <strong>de</strong>r Patient<br />
die Wie<strong>de</strong>rholung als solche begreift und dadurch als Erinnerung er-<br />
1980 kennt." (Bock, S.151)<br />
9.4. Übertragung und Gegenübertragung<br />
<strong>Freud</strong> geht davon aus, dass im Zentrum je<strong>de</strong>r neurotischen Störung letztlich<br />
stets die Elternproblematik (<strong>de</strong>r Ödipuskomplex) steht. Die analytische<br />
Situation ermöglicht nun <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n, das Bild seiner Eltern<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 16 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
1985 mit all ihren emotionalen Bezügen in <strong>de</strong>n Analytiker zu projizieren. Diese<br />
Projektion <strong>de</strong>r Elternbeziehung auf <strong>de</strong>n Analytiker bezeichnet <strong>Freud</strong> als<br />
Übertragung. Da bekanntlich die Elternbeziehung im Unbewussten ambivalent<br />
ist, führt dies zu <strong>de</strong>r so genannten positiven und negativen Übertragung.<br />
1990 In aller Regelmäßigkeit stellt sich zuerst die positive Übertragung ein, die<br />
bis zur Verliebtheit in <strong>de</strong>n Analytiker bzw. zu seiner Vergötterung führen<br />
kann. Das hat beim Analysan<strong>de</strong>n zur Folge, dass er, statt gesund zu<br />
wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Analytiker gefallen will. Das führt zwar zu einer gewissen<br />
Stärkung <strong>de</strong>s Ichs und oft zur Einstellung <strong>de</strong>r Symptome, aber nach einer<br />
1995 gewissen Zeit pflegen sich diese – lei<strong>de</strong>r – wie<strong>de</strong>r einzustellen.<br />
Der Hauptgewinn <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin,<br />
dass <strong>de</strong>r Analytiker durch <strong>de</strong>n Umstand, dass er an die Stelle <strong>de</strong>s Vaters<br />
(allenfalls <strong>de</strong>r Mutter) gesetzt wird, Macht über das Über-Ich <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
gewinnt. Damit hat er die Möglichkeit <strong>de</strong>r Nacherziehung <strong>de</strong>s<br />
2000 Über-Ichs, was ja in <strong>de</strong>n meisten Fällen nötig ist, da gemäß <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />
Theorie einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neurosen in einem entwe<strong>de</strong>r<br />
zu strafen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aber praktisch nicht vorhan<strong>de</strong>nen Über-Ich liegt. Konkret<br />
be<strong>de</strong>utet dies, dass <strong>de</strong>r Analytiker auf all jene Aussagen, die beim<br />
Analysan<strong>de</strong>n mit Schuldgefühlen verbun<strong>de</strong>n sind, an<strong>de</strong>rs als seinerzeit<br />
2005 die Eltern reagiert, nämlich gelassen und verstehend. Das eröffnet <strong>de</strong>m<br />
Analysan<strong>de</strong>n die Möglichkeit, sich <strong>de</strong>n verdrängten Problemen mit mehr<br />
Mut und Selbstvertrauen zu stellen.<br />
Ein weiterer Vorteil <strong>de</strong>r Übertragung – <strong>de</strong>r positiven wie <strong>de</strong>r negativen –<br />
liegt darin, dass <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>m Analytiker zu agieren be-<br />
2010 ginnt (diverse ‘Spiele’ treibt), was diesem die Möglichkeit <strong>de</strong>r direkten<br />
Anschauung gibt. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Der Analytiker erlebt am eigenen<br />
Leib, wie sich <strong>de</strong>r Analysand gegenüber <strong>de</strong>n Eltern13 verhielt (o<strong>de</strong>r noch<br />
verhält).<br />
Ein potenzielles Risiko <strong>de</strong>r positiven Übertragung besteht darin, dass<br />
2015 sich <strong>de</strong>m Analytiker in dieser Phase die Möglichkeit böte, <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n<br />
in eine neue Abhängigkeit zu bringen. Es sind <strong>de</strong>shalb nur solche<br />
Menschen für diesen Beruf geeignet, die neben <strong>de</strong>r nötigen fachlichen<br />
Kompetenz auch das entsprechen<strong>de</strong> Verantwortungsbewusstsein haben.<br />
Entsprechend <strong>de</strong>r ödipalen Frustration ist meist ein späteres Umkippen<br />
2020 <strong>de</strong>r positiven in die negative Übertragung nicht zu vermei<strong>de</strong>n, was dazu<br />
führt, dass die suggestiven Erfolge <strong>de</strong>r positiven Übertragung wie<strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n.<br />
Das bringt stets die Gefahr mit sich, dass die Analyse abgebrochen<br />
wird. Der Analytiker kann es in dieser Phase <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n<br />
oft nirgends recht machen, er erscheint ihm unfähig, <strong>de</strong>sinteressiert, ego-<br />
2025 istisch usw. Für <strong>de</strong>n Analytiker ist dies eine <strong>de</strong>r ganz großen Klippen seines<br />
Berufs, <strong>de</strong>nn vom Konzept her <strong>de</strong>utet er die Aggressionen und die<br />
Kritiklust <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n als Projektion (als Ausdruck <strong>de</strong>r negativen<br />
Übertragung), gleichzeitig aber nimmt er damit <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n die<br />
Möglichkeit, ihn wirklich als Person und Fachmann zu kritisieren. Es er-<br />
2030 for<strong>de</strong>rt darum von einem Analytiker viel Fähigkeit zur Selbstkritik und<br />
Selbstreflexion, wenn er die Projektionen von echter Kritik unterschei<strong>de</strong>n<br />
können will.<br />
Die Tatsache <strong>de</strong>r positiven und negativen Übertragung erfor<strong>de</strong>rt vom<br />
Analytiker die Fähigkeit, einerseits die positive Projektion zu mäßigen<br />
2035 (was Verzicht auf Eitelkeit be<strong>de</strong>utet), an<strong>de</strong>rerseits die negative vorzubereiten<br />
und sie bei <strong>de</strong>ren Eintreffen zum Gegenstand einer konstruktiven<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zu machen.<br />
Es versteht sich von selbst, dass sowohl die positive wie auch die negative<br />
Übertragung auch beim Analytiker Projektionen auslösen. <strong>Freud</strong> be-<br />
2040 zeichnet sie als Gegenübertragung. Es gehört zur fachlichen Kompetenz<br />
eines Analytikers, dass er in <strong>de</strong>r Lage ist, seine Gegenübertragung zu<br />
erkennen und sich davon zu distanzieren. Das ist – abgesehen von <strong>de</strong>r<br />
Notwendigkeit <strong>de</strong>r Eigenerfahrung – einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, weshalb <strong>de</strong>r zentrale<br />
Teil einer Ausbildung zum Psychoanalytiker in <strong>de</strong>r eigenen Analyse<br />
2045 (<strong>de</strong>r sog. Lehranalyse) besteht.<br />
9.5. Die heilen<strong>de</strong>n Wirkungen<br />
Je<strong>de</strong> Psychotherapie, je<strong>de</strong> Analyse hat einen rationalen, einen emotionalen<br />
und einen Handlungsaspekt.<br />
In rationaler Hinsicht besteht ein erster Heilungsschritt darin, dass im<br />
2050 Gespräch und durch die vielen Deutungsversuche die Selbsterkenntnis<br />
<strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n erweitert wird. Gegenstand <strong>de</strong>r Deutung sind die Übertragungsphänomene,<br />
alle freien Assoziationen, Träume, Fehlleistungen<br />
und das Verhalten ganz allgemein. Dabei ist wichtig, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />
die Deutungen nicht forciert, da er sonst die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> im Analysan-<br />
2055 <strong>de</strong>n verstärkt o<strong>de</strong>r sie aufbaut. Darum braucht je<strong>de</strong> Analyse Zeit. Am<br />
besten ist es, wenn die Deutungen vom Analysan<strong>de</strong>n selbst gegeben<br />
wer<strong>de</strong>n, damit er die neuen Erkenntnisse innerlich bestmöglich akzeptieren<br />
kann.<br />
Der emotionale Aspekt einer Analyse betrifft vorerst die Arbeit an <strong>de</strong>n –<br />
2060 grundsätzlich unvermeidlichen und auch nötigen – Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n. Es sind<br />
ja nicht Gedanken, die die neuen Erkenntnisse nicht zulassen wollen,<br />
son<strong>de</strong>rn Gefühle: Ängste, Bindungen, Triebwünsche etc. In <strong>de</strong>m Ausmaß,<br />
in <strong>de</strong>m es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> zu überwin<strong>de</strong>n,<br />
verän<strong>de</strong>rn sich seine Gefühle. Ob und in welchem Masse es einem Ana-<br />
2065 lysan<strong>de</strong>n gelingt, Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> aufzulösen, hängt natürlich stark von seiner<br />
emotionalen Beziehung zum Analytiker ab. Dies zeigt einmal mehr,<br />
dass <strong>de</strong>r Mensch grundsätzlich auf zwischenmenschliche Beziehungen<br />
angewiesen ist, und zwar nicht bloß im Rahmen einer (außertherapeutischen)<br />
gesun<strong>de</strong>n Entwicklung, son<strong>de</strong>rn auch innerhalb <strong>de</strong>s Rahmens ei-<br />
2070 ner Therapie.<br />
Der Handlungsaspekt <strong>de</strong>r Analyse besteht einerseits in je<strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s<br />
Agierens, und die heilen<strong>de</strong> Wirkung ergibt sich daraus, dass <strong>de</strong>r Analytiker<br />
auf eine an<strong>de</strong>re (nämlich gesun<strong>de</strong>) Weise als z. B. früher die Eltern<br />
auf die Provokationen <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n reagiert. An<strong>de</strong>rerseits besteht<br />
2075 <strong>de</strong>r Handlungsaspekt in <strong>de</strong>n durch die Analyse bedingten Verän<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>s Verhaltens im Alltag, <strong>de</strong>r sich dann als so etwas wie ein Übungso<strong>de</strong>r<br />
Versuchsfeld erweist. Bewähren sich die neuen Verhaltensweisen<br />
im Alltag für <strong>de</strong>n Analysan<strong>de</strong>n, vermögen sie sich zunehmend zu festigen<br />
und in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.<br />
2080 Es ist hier darauf hinzuweisen, dass viele Analytiker aufgrund <strong>de</strong>r grundsätzlich<br />
darauf bestehen, dass die Analysan<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r Analyse<br />
keine schwerwiegen<strong>de</strong>n und irreversiblen Lebensentscheidungen (z. B.<br />
Ehescheidung) treffen, son<strong>de</strong>rn damit zuwarten, bis <strong>de</strong>r psychoanalytische<br />
Prozess abgeschlossen ist.<br />
2085 9.6. Beson<strong>de</strong>re Schwierigkeiten<br />
Je stärker die Neurose, <strong>de</strong>sto größer kann sich einerseits das Krankheits-,<br />
an<strong>de</strong>rerseits aber auch das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis zeigen.<br />
Das Krankheitsbedürfnis entspringt <strong>de</strong>m unbewussten Wunsch, Schuldgefühle<br />
abzuwehren. Das erklärt die gelegentlichen Spontanheilungen<br />
2090 nach Unglücksfällen. Für die Psychoanalyse ist dies in<strong>de</strong>s eine oft kaum<br />
zu überwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Klippe, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Analysand ist im Tiefsten <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />
dass er eigentlich das Gesund wer<strong>de</strong>n gar nicht verdient und<br />
sich darum mit seinem neurotischen Lei<strong>de</strong>n stets selbst bestrafen muss.<br />
Hier hilft nur eine langwierige Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r<br />
2095 Schuldgefühle.<br />
Wesentlich schwerwiegen<strong>de</strong>r ist das Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis. Es ist <strong>de</strong>r unmittelbare<br />
Ausdruck <strong>de</strong>s Destruktionstriebes (To<strong>de</strong>striebes) und äußert sich<br />
als Trieb zur Selbstzerstörung. <strong>Freud</strong> spricht in jenen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />
sich <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>strieb gewissermaßen verselbstständigt und nicht mehr<br />
2100 durch <strong>de</strong>n Eros in einem gewissen Gleichgewicht gehalten wird, von<br />
Triebentmischung. Wenn jemand vom unbewussten Drang beseelt ist,<br />
sich selbst zu zerstören, stößt die Psychoanalyse häufig an ihre Grenzen.<br />
Aus systemischer Perspektive ist hier anzumerken, dass sich diese<br />
2105 Schwierigkeiten bereits im Vorfeld einer Psychotherapie sowie im Kontext<br />
nicht freiwilliger Psychotherapie (etwa an psychiatrischen Kliniken)<br />
<strong>de</strong>utlich bemerkbar machen. Sie führen dazu, dass viele Menschen jahrelang<br />
teils schwerste psychische Belastungen ertragen, bevor sie sich<br />
dazu überwin<strong>de</strong>n, sich therapeutische Hilfe zu suchen. Allerdings sieht<br />
2110 die Systemische Therapie kein Krankheits- o<strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsbedürfnis, son<strong>de</strong>rn<br />
betrachtet Symptome teils als "sinnvolle", teils notwendige Reaktionen<br />
<strong>de</strong>s Organismus an<strong>de</strong>rs nicht mehr ertragbare, gewissermaßen auch<br />
krank machen<strong>de</strong> Lebensumgebungen. Aufgrund dieser hohen Kompen-<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 17 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
sationsfähigkeit <strong>de</strong>s Organismus muss <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck für die meisten<br />
2115 Menschen bereits gewaltig und die Probleme in <strong>de</strong>ren realen Leben unüberschaubar<br />
gewor<strong>de</strong>n sein, bevor in einer Art Aufbäumen doch <strong>de</strong>r<br />
Griff zum Telefonhörer getan wird. Dies ist speziell aus Sicht <strong>de</strong>r Systemischen<br />
Therapie bedauerlich, da sie emotional, zeit- und kostenmäßig<br />
meist mit <strong>de</strong>utlich weniger Aufwand verbun<strong>de</strong>n wäre als eine Psychoana-<br />
2120 lyse.<br />
Auf psychiatrischen Kliniken seien als Beispiel für die Auswirkungen für<br />
Selbstzerstörungs-Ten<strong>de</strong>nzen Anorexie-Patientinnen genannt, die sich<br />
mitunter selbst dann, wenn sie bereits schwerwiegen<strong>de</strong>, irreparable körperliche<br />
Schä<strong>de</strong>n aufweisen und intravenös ernährt wer<strong>de</strong>n müssen, ei-<br />
2125 ner Therapie verweigern. Wobei dieses Verhalten häufig auch noch zusätzliche<br />
Grün<strong>de</strong> hat, auf die hier aber nicht näher eingegangen wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
9.7. Der Abschluss <strong>de</strong>r Therapie<br />
Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r eine Psychotherapie macht, wird irgendwann zur Einsicht<br />
2130 kommen, dass sich das Reservoir zu erhellen<strong>de</strong>r Konflikte nicht ausschöpfen<br />
lässt. Beson<strong>de</strong>rs Psychoanalysen könnten wohl bis zum Lebensen<strong>de</strong><br />
fortgesetzt wer<strong>de</strong>n, ohne dass <strong>de</strong>r Gesprächsstoff auszugehen<br />
bräuchte und <strong>de</strong>r Analysand das Gefühl hätte, völlig ‘gesund’ zu sein.<br />
Wann also ist das En<strong>de</strong> einer Analyse (abgesehen von Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
2135 Geldmangels o<strong>de</strong>r irgendwelchen Ausbildungsvorschriften für künftige<br />
Analytiker) gekommen?. Sinnvoll scheint eine Beendigung dann, wenn<br />
sich die positive und negative Übertragung in eine sachliche, durch objektive<br />
Wahrnehmung geprägte zwischenmenschliche Beziehung umgebil<strong>de</strong>t<br />
hat, <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nsdruck gewichen ist und die schwerwiegendsten<br />
2140 neurotischen Symptome verschwun<strong>de</strong>n sind (9). Wer sich ernsthaft einer<br />
Analyse ausgesetzt hat, wird auch feststellen, dass er im Alltag selbstbewusster,<br />
gelassener und sachlicher gewor<strong>de</strong>n ist und sich bei <strong>de</strong>r Bewältigung<br />
seiner Lebensaufgaben we<strong>de</strong>r über- noch unterfor<strong>de</strong>rt fühlt.<br />
"Wo Es war, soll Ich wer<strong>de</strong>n"<br />
2145 Dieses Zitat <strong>Freud</strong>s (10) drückt ein Behandlungsziel aus, das über eine<br />
Symptombeseitigung weit hinausgeht. Laut <strong>Freud</strong> kann das Ziel <strong>de</strong>r Psychotherapie<br />
nicht allein die Symptombeseitigung sein, vor allem auch<br />
<strong>de</strong>shalb, da Konflikte nicht immer zu einer für <strong>de</strong>n Patienten befriedigen<strong>de</strong>n<br />
Lösung geführt wer<strong>de</strong>n können. Vielmehr soll es <strong>de</strong>m Patienten er-<br />
2150 möglicht wer<strong>de</strong>n, sich zwischen einer tragfähigen Anzahl an Reaktionsmöglichkeiten<br />
frei entschei<strong>de</strong>n zu können. Lt. Kutter (14) ist das am weitesten<br />
reichen<strong>de</strong> Ziel <strong>de</strong>r Psychotherapie die Sinnfindung o<strong>de</strong>r Wahrheitsfindung.<br />
Auch die Beendigung einer Psychoanalyse selbst ist eine ‘Unterneh-<br />
2155 mung’, die sich (schon angesichts <strong>de</strong>r meist mehrjährigen Dauer) nicht<br />
so leichthin bewerkstelligen lässt und darum selbst zum Thema <strong>de</strong>r Analyse<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n muss. Der Prozess <strong>de</strong>r Ablösung vom Therapeuten<br />
hat insofern in sich eine therapeutische Wirkung, als <strong>de</strong>r Analysand lernen<br />
muss, etwas loszulassen, das längerhin nicht mehr sehr sinnvoll ist,<br />
2160 somit also realitätsbezogener zu wer<strong>de</strong>n.<br />
All die angeführten Ziele weisen über die Krankenbehandlung weit hinaus<br />
und erfor<strong>de</strong>rn eine hohe Motivation <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n. Verfügt er über<br />
diese beson<strong>de</strong>re Motivation, wird die kontinuierlich sich entwickeln<strong>de</strong><br />
I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>r Funktion <strong>de</strong>s Analytikers außer<strong>de</strong>m die Fähigkeit<br />
2165 zur Selbstanalyse bewirken, was quasi <strong>de</strong>r Fortführung <strong>de</strong>s dann verinnerlichten<br />
Dialogs entspricht.<br />
10. Metho<strong>de</strong>nvergleich mit <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />
Obwohl nur die wenigsten <strong>de</strong>r in dieser Arbeit erläuterten psychoanalytischen<br />
Grundbegriffe in <strong>de</strong>r täglichen Praxis <strong>de</strong>r Systemischen Therapie<br />
2170 eine Be<strong>de</strong>utung haben – eine implizite Rolle spielen sie bemerkenswerterweise<br />
doch. Je<strong>de</strong>m Systemischen Therapeuten sind Phänomene wie<br />
z. B. "Wi<strong>de</strong>rstand", "Übertragung" und "Unbewusstes" vertraut, man befasst<br />
sich mit "Traum<strong>de</strong>utung" und an<strong>de</strong>ren Techniken, die ihre Wurzeln<br />
in <strong>de</strong>r Psychoanalyse haben - als Begrifflichkeiten o<strong>de</strong>r gar im theoreti-<br />
2175 schen Grundgebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> jedoch spielen sie so gut wie keine<br />
Rolle. Dies liegt vor allem darin begrün<strong>de</strong>t, dass <strong>de</strong>r systemische Ansatz<br />
von völlig unterschiedlichen Prämissen und Hypothesen bezüglich psychischer<br />
Problemzusammenhänge ausgeht als die Psychoanalyse, was<br />
sich zwangsläufig auch stark auf Setting, Verlauf und Inhalt <strong>de</strong>r Therapie<br />
2180 auswirkt.<br />
Den Analytiker könnte man als 'Experten für innerpsychische Verarbeitungsmuster<br />
und das Bewusst-machen <strong>de</strong>s Unbewussten' bezeichnen;<br />
<strong>de</strong>n Systemischen Therapeuten als 'Experte für Kommunikationsmuster<br />
und Denkfallen'. Die Aufmerksamkeit richtet sich in <strong>de</strong>r Psychoanalyse<br />
2185 daher primär auf das Innerpsychische - <strong>de</strong>r Monolog <strong>de</strong>s Analysan<strong>de</strong>n<br />
sowie die Übertragungsbeziehung zum Analytiker sind jene Instrumente,<br />
die zum Therapieerfolg führen. Die Systemische Therapie hat <strong>de</strong>mgegenüber<br />
einen <strong>de</strong>utlich weiteren Fokus – Probleme wer<strong>de</strong>n stets im Kontext<br />
betrachtet, in <strong>de</strong>m sie stattfin<strong>de</strong>n, und für <strong>de</strong>n Systemischen Thera-<br />
2190 peuten ist ein Übertragungsphänomen vor allem als Reflexionsbild für<br />
das interessant, was im "restlichen Leben" <strong>de</strong>s Klienten, also <strong>de</strong>m Leben<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Therapie, geschieht. "Verdrängte Gefühle" etwa führen<br />
nach Auffassung <strong>de</strong>r Systemischen Therapie zu Kommunikationsblocka<strong>de</strong>n<br />
und sollten im Laufe <strong>de</strong>s therapeutischen Prozesses verbalisierungs-<br />
2195 fähig gemacht wer<strong>de</strong>n, um die Blocka<strong>de</strong>n zu beseitigen.<br />
Dies führt zu einem weiteren, ganz wesentlichen Unterschied bei<strong>de</strong>r Therapieformen:<br />
statt auf das Lei<strong>de</strong>n und das Problem, so wie dies in <strong>de</strong>r<br />
klassischen Psychoanalyse stattfin<strong>de</strong>t, richtet die Systemische Therapie<br />
<strong>de</strong>n Fokus nach vorn, auf die Lösung. Und zu diesem Zweck steht weni-<br />
2200 ger die Frage, warum ein Problem existiert, im Mittelpunkt, son<strong>de</strong>rn vielmehr<br />
die, was eine Lösung <strong>de</strong>s Problems verhin<strong>de</strong>rt. Wesentlich beeinflusst<br />
durch Kommunikationsforschung, Kybernetik und Konstruktivismus<br />
betrachtet da <strong>de</strong>r systemische Ansatz ein Problem nicht als etwas, das<br />
(z. B.) aufgrund <strong>de</strong>r persönlichen Geschichte sein "muss" und zu <strong>de</strong>m<br />
2205 mühsam, in einem mitunter mehrjährigen Prozess ein Alternativweg erarbeitet<br />
wer<strong>de</strong>n muss, son<strong>de</strong>rn sie fragt: "warum bist Du noch nicht da?",<br />
"was brauchst Du (noch), um <strong>de</strong>n nötigen Schritt zur Lösung tun zu können?"<br />
Die auf dieser Betrachtungsweise aufsetzen<strong>de</strong>n kurzzeittherapeutischen<br />
Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie weisen im thera-<br />
2210 peutischen Alltag laufend nach, dass eine Problembeseitigung – ausreichend<br />
austherapiert durchaus auch langfristig – mit ihnen schon nach<br />
vergleichsweise kurzer Zeit erreichbar ist.<br />
Das Menschenbild <strong>de</strong>r Systemischen Therapie ist also eines, das <strong>de</strong>n<br />
Klienten grundsätzlich als selbstkompetent und (wenn auch in seinem<br />
2215 Problemkosmos) selbst-erfahren betrachtet, als Experten also für diese<br />
ihm eigene Lebenswelt, mit <strong>de</strong>m gemeinsam geforscht wird, welche Alternativwege,<br />
welche neuen Sichtweisen ihm dabei helfen könnte, ein<br />
angestrebtes Ziel zu erreichen, ohne dass es länger seines Symptoms,<br />
Lebensunglücks o<strong>de</strong>r seiner "Störung" bedarf.<br />
2220 Im En<strong>de</strong>rgebnis führt dies dazu, dass Systemische Therapieansätze häufig<br />
mit <strong>de</strong>m Zusatz "lösungsorientiert" attributiert wer<strong>de</strong>n. Ihre Ansätze<br />
sind jedoch nicht so mechanistisch und funktionsorientiert wie etwa die<br />
Verhaltenstherapie, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch als fühlen<strong>de</strong>s und mit (manchmal<br />
einer Lösung ja auch aus gutem Grund entgegengerichteten!) Be-<br />
2225 dürfnissen ausgestattetes Individuum steht im Mittelpunkt. Der Blick ist<br />
bei all<strong>de</strong>m überwiegend nach vorne gerichtet und "aufgearbeitet" wird<br />
vorwiegend nur da, wo es für das zukünftige Leben <strong>de</strong>s Klienten aus seiner<br />
und <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Therapeuten Be<strong>de</strong>utung hat .. also "Sinn" macht.<br />
Psychologisch gesehen also 'minimal-invasive Eingriffe', um im Zuge <strong>de</strong>r<br />
2230 Therapie die positiven Ressourcen <strong>de</strong>s Klienten möglichst zu stärken und<br />
zu stabilisieren, dabei aber das funktionieren<strong>de</strong> Gesamtsystem insgesamt<br />
möglichst wenig zu beeinflussen. Dies steht im krassen Gegensatz<br />
zu <strong>de</strong>m, was eine Psychoanalyse – schon aufgrund <strong>de</strong>s unterschiedlichen<br />
Settings – häufig mit sich bringt.<br />
2235 Im Setting bei<strong>de</strong>r Therapieformen nämlich existieren ebenso erhebliche<br />
Unterschie<strong>de</strong>. Die Psychoanalyse richtet, und dies fin<strong>de</strong>t auch im Ablauf<br />
<strong>de</strong>r Analysesitzungen seinen Nie<strong>de</strong>rschlag, <strong>de</strong>n Blick auf das Individuum.<br />
Damit es <strong>de</strong>m Analysan<strong>de</strong>n leichter gelingt, <strong>de</strong>n Fokus auf sein Inneres<br />
zu richten, liegt er in <strong>de</strong>r klassischen Psychoanalyse auf einer Couch und<br />
2240 es besteht kein Blickkontakt zum Analytiker, <strong>de</strong>r sich auch mit verbalen<br />
Rückmeldungen sehr zurück hält. Son<strong>de</strong>rformen im Setting gibt es in <strong>de</strong>r<br />
Kin<strong>de</strong>rpsychoanalyse und Gruppenpsychoanalyse. Bei <strong>de</strong>r 'großen Analyse'<br />
sind wöchentlich 3-4 Sitzungen erfor<strong>de</strong>rlich, bei Son<strong>de</strong>rformen o<strong>de</strong>r<br />
falls die zeitlichen o<strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re finanziellen Möglichkeiten <strong>de</strong>s Ana-<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 18 von 19
Fach: Pädagogik Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s LK 12<br />
2245 lysan<strong>de</strong>n es nicht zulassen, wer<strong>de</strong>n mitunter auch weniger Wochenstun<strong>de</strong>n<br />
vereinbart.<br />
In <strong>de</strong>r Systemischen Therapie existieren eine Vielzahl von Settings11,<br />
vom dialogartigen Gespräch (Klient und Therapeut sitzen einan<strong>de</strong>r gegenüber)<br />
über Paar- und Familiensitzungen, mitunter unterstützt von Bil-<br />
2250 <strong>de</strong>rarbeit, <strong>de</strong>r Anwendung kreativer Medien, Imaginationsübungen, und<br />
spezifischer Techniken wie Timeline, Systemaufstellungen (Familienaufstellungen),<br />
Rollenspielen, <strong>de</strong>r Arbeit mit <strong>de</strong>m Familienbrett und einigen<br />
mehr. Sitzungen fin<strong>de</strong>n je nach Problemstellung meist im Abstand von 1-<br />
3 Wochen statt, bei anhalten<strong>de</strong>r Verbesserung <strong>de</strong>r Problematik haben<br />
2255 sich nach <strong>de</strong>m eigentlichen Abschluss <strong>de</strong>r Therapie "Kontrollbesuche" in<br />
sehr großen Abstän<strong>de</strong>n (mehreren Monaten bis zu Jahren) bewährt.<br />
Der Nachteil <strong>de</strong>s systemischen Ansatzes ist, dass eine tiefgehen<strong>de</strong> Analyse<br />
<strong>de</strong>r psychischen Zusammenhänge, das Hinabtauchen in die tiefsten<br />
Urgrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r eigenen Seele o<strong>de</strong>r auch mehrjährige Begleitung auf <strong>de</strong>m<br />
2260 Lebensweg per se nicht möglich ist. Denn <strong>de</strong>r Schwerpunkt einer typischen<br />
systemischen Therapiestun<strong>de</strong> liegt ja primär auf <strong>de</strong>r Suche nach<br />
passen<strong>de</strong>n Problemlösungen, <strong>de</strong>r einer Analysestun<strong>de</strong> auf prozessorientierter<br />
Problemanalyse (die Problemlösung erfolgt da eher begleitend und<br />
oft sind erste Ansätze dazu erst nach vielen Monaten bemerkbar). Aus<br />
2265 praktischer Erfahrung kann ich jedoch sagen, dass manche KlientInnen<br />
auch nach <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rgründigen "Lösung <strong>de</strong>s Hauptproblems" interessiert<br />
sind, die Therapie noch eine Weile fortzusetzen, um auch tiefere psychische<br />
Strukturen o<strong>de</strong>r latente Problematiken (die keinen akuten Problemdruck<br />
verursachen) zu bearbeiten o<strong>de</strong>r einfach nur, um die Gelegenheit<br />
2270 zu nutzen und mit <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong>n Arbeit an sich selbst fortzufahren. Verlauf,<br />
Dauer und Tiefe <strong>de</strong>r Therapie bestimmt in <strong>de</strong>r ST in einem sehr<br />
starken Ausmaß also <strong>de</strong>r Klient.<br />
Auch die Rolle <strong>de</strong>s Therapeuten weist erhebliche Unterschie<strong>de</strong> auf. Der<br />
Systemische Therapeut versteht sich gewissermaßen als Begleiter und<br />
2275 Unterstützer, <strong>de</strong>r sich mitunter auch persönlich und menschlich in die<br />
Therapie einbringt. Der Analytiker dagegen muss sich, soll die Übertragungsbeziehung<br />
gelingen, möglichst genau an die Abstinenzregel halten.<br />
Eine Abgrenzung zu Metho<strong>de</strong>n und Ansätzen an<strong>de</strong>rer Therapieformen<br />
fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Psychoanalyse naturgemäß wesentlich exakter und strenger<br />
2280 statt als in <strong>de</strong>r Systemischen Therapie. Grenzüberschreitungen in Bezug<br />
auf die je nach analytischer Metho<strong>de</strong> vorherrschen<strong>de</strong>n Lehrmeinungen<br />
erregen bis heute meist großes Aufsehen und Skepsis – aus <strong>de</strong>n Anfängen<br />
<strong>de</strong>r Psychoanalyse sei hier an die Zerwürfnisse <strong>Freud</strong>s mit seinen<br />
Schülern C.G.Jung und Alfred Adler verwiesen, an <strong>de</strong>n regelrechten<br />
2285 "Hinauswurf" Wilhelm Reichs aus <strong>de</strong>r Psychoanalytischen Vereinigung,<br />
und in jüngerer Zeit waren es z. B. die Ansätze von Tilmann Moser12, die<br />
Körperkontakt zwischen Analytiker und Analysan<strong>de</strong>n beinhalteten, welche<br />
innerhalb <strong>de</strong>r analytischen Expertenschaft teils vehemente Kritik erfuhren.<br />
In <strong>de</strong>r Systemischen Familientherapie dagegen sind starke eklek-<br />
2290 tizistische Strömungen feststellbar, bei <strong>de</strong>nen sich mitunter sogar die<br />
Frage aufdrängt, ob tatsächlich nur jenes integriert wird, das <strong>de</strong>m Patienten<br />
nützt – o<strong>de</strong>r nicht vielmehr häufig auch solches, von <strong>de</strong>m einige TherapeutInnen<br />
meinen, dass es ihm nützen könne. Hier wür<strong>de</strong> ich mir, und<br />
das sei mir als Systemischem Therapeuten als persönliche, abschlie-<br />
2295 ßen<strong>de</strong> Bemerkung gestattet, eine professionellere Nutzung <strong>de</strong>s methodischen<br />
Handwerkszeugs nützen, das uns bereits in großer Fülle zur Verfügung<br />
steht und dass Neues nur dann integriert wird, wenn es nachgewiesenermaßen<br />
hilfreich ist und es auch – auch dies ein wichtiger Punkt<br />
– ausreichend methodisch beherrscht wird.<br />
2300 Ein Metho<strong>de</strong>nvergleich<br />
http://www.psychotherapiepraxis.at/therapiemetho<strong>de</strong>n.phtml#grafik<br />
(Wie in <strong>de</strong>r oben verlinkten Grafik ersichtlich, weist die Psychoanalyse<br />
von ihren theoretischen Grundkonzepten her eine starke Vergangenheitsorientierung<br />
auf. Für das Verständnis von Neurosen und an<strong>de</strong>ren<br />
2305 psychischen Störungsbil<strong>de</strong>rn ist <strong>de</strong>r Verlauf <strong>de</strong>r Kindheit und frühen Jugend<br />
von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, folglich nimmt eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
und Bearbeitung dieser Lebensphase <strong>de</strong>n überwiegend größten<br />
Teil einer typischen Psychoanalyse in Anspruch. Demgegenüber geht die<br />
Systemische Therapie wie erwähnt von einem offeneren Konzept aus<br />
2310 und richtet <strong>de</strong>n Blick nach vorne, hin zur angestrebten Lösung.)<br />
Quellen und Ergänzungen<br />
Bock Rudolf, 1987, Psychoanalyse, Junfermann, Pa<strong>de</strong>rborn<br />
Ellenberger Henry, 1973, Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Unbewussten, Bern<br />
<strong>Freud</strong> Sigmund, 1993, Gesamtregister / Gesammelte Werke I-XVII, Fi-<br />
2315 scher, Frankfurt a. M.<br />
Brühlmeier Arthur, 1992, Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s<br />
Fellner, Richard L., 1994, Sexualphasen nach Sigmund <strong>Freud</strong><br />
Fellner, Richard L., 1995, Das tiefenpsychologische Paradigma<br />
Fellner, Richard L., 1994, Psychoanalyse und Bioenergetische Analyse:<br />
2320 ein Metho<strong>de</strong>nvergleich.<br />
Fellner, Richard L., 1999, Systemische Familientherapie<br />
Kernberg Otto, 1980, Klinische Psychoanalyse, Frankfurt<br />
Kernberg Otto, 2001, narzisstische Persönlichkeitsstörungen, Schattauer,<br />
F.K. Verlag<br />
2325 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch, Suhrkamp, FfM<br />
Petzold Hilarion (Hrsg.), 1990, Wege zum Menschen (Bd.I+II),<br />
Junfermann, Pa<strong>de</strong>rborn<br />
Reich Wilhelm, 1969, Über Sigmund <strong>Freud</strong>, Nexus-Verlag, Berlin<br />
Schmidbauer Wolfgang, 1988, Liebeserklärung an die Psychoanalyse,<br />
2330 Rohwolt, Reinbek<br />
1 <strong>Freud</strong> Sigmund, 1993, Gesammelte Werke XIII, S.287<br />
2 (wenigstens zum Teil)<br />
3 (= neu auftreten<strong>de</strong>s)<br />
4 <strong>Freud</strong> Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 348<br />
2335 5 hiermit ist die freie Assoziation gemeint<br />
6 <strong>Freud</strong> Sigmund, "Traum<strong>de</strong>utung", Fischer-/Ex Libris, S. 354<br />
7 <strong>de</strong>r sog. Erkennungsreflex drückt sich in <strong>de</strong>r Regel durch ein Lächeln,<br />
Schmunzeln, verlegenes Auflachen o<strong>de</strong>r ein Augenzwinkern o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />
körpersprachliche Regungen aus.<br />
2340 8 dieser "normalneurotische" Zustand stellt auch einen Indikator für das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Therapie (bzw. Psychoanalyse) dar.<br />
9 "normalneurotischer" Zustand, siehe auch Kapitel Neurosen"<br />
10 <strong>Freud</strong> Sigmund, Gesammelte Werke XV, S.86<br />
11 Fellner R.L., 1999, Systemische Familientherapie<br />
2345 12 Moser Tilmann, 1974, Lehrjahre auf <strong>de</strong>r Couch<br />
13 (o<strong>de</strong>r auch in Paarbeziehungen); Anmerkung Richard L.Fellner<br />
14 Kutter P. (Ed.), 1997, Psychoanalyse interdisziplinär; Suhrkamp,<br />
Frankfurt am Main<br />
Ich ersuche, mir die zwecks leichterer Lesbarkeit gewählte Verwendung<br />
2350 <strong>de</strong>r männlichen Form (womit ich natürlich immer auch die weiblichen<br />
Menschen meine) nachzusehen.<br />
--------------------------------------------------------------------------------<br />
DSP Richard L. Fellner ist Sozialpädagoge und Psychotherapeut in<br />
Wien.<br />
2355 Nachdrucke gerne gesehen, aber nur mit Copyright-Vermerk und schriftlicher<br />
Erlaubnis <strong>de</strong>s Verfassers.<br />
<strong>Freud</strong>-Fellner.doc Fellner: Die Psychoanalyse Sigmund <strong>Freud</strong>s Seite 19 von 19