Rezension ï¬Alabama Moonâ - Lesebar
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Abschied vom Erdbeerbaum<br />
Auch wenn viele Trennungen mit Schmerz, Trauer und Wut verbunden sind, sind sie<br />
doch gleichzeitig befreiend, nötig oder überfällig. Das ist nicht immer einfach und<br />
schön, aber gehört zweifellos zu unser aller Leben dazu. Vielleicht können wir uns<br />
gerade deshalb so gut in die Protagonistin Charlotte hineinversetzen, die schnell<br />
feststellen muss, dass das Leben kein Ponyhof ist. Ihre Eltern lassen sich trennen,<br />
und Charlotte muss erfahren, was dies bedeutet. Doch dann kommt da dieser neue<br />
Junge, Carlo. Er sieht nicht nur umwerfend aus, sondern ist auch nett und hat ein<br />
Auge auf Charlotte geworfen. Die genießt sonst wenig Beliebtheit in der Klasse, und<br />
ihre beste Freundin lässt sie auch im Stich. So wie ihre Eltern, die sich ja unbedingt<br />
scheiden lassen müssen. Der Traum einer behüteten Kindheit zerplatzt, und es wird<br />
Zeit, ihren geliebten Erdbeerbaum loszulassen.<br />
Der wenig innovative Titel „Charlottes Traum“ und das Cover von Gabi Kreslehners<br />
mehrfach ausgezeichnetem Erstlingswerk lassen zunächst einen gewöhnlichen<br />
Mädchenroman vermuten. Doch bereits auf den ersten Seiten wird offensichtlich,<br />
dass es sich hier nicht um eine eindimensionale, verträumte Protagonistin handelt,<br />
denn die 15-jährige reagiert auf die Trennung ihrer Eltern und die rasante Wendung<br />
ihres bisher ‚süßen’ Lebens nicht mit Rückzug, sondern mit lautstarkem Protest und<br />
Wut auf die Welt. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund; nicht selten enden ihre<br />
Stimmungsschwankungen in aufbrausenden Auseinandersetzungen mit ihren Eltern<br />
und Mitschülern. „Charlottes Traum“ ist keine klischeehafte Liebesgeschichte<br />
zwischen Teenies. Vielmehr geht es um die Entwicklung einer ungewöhnlichen<br />
Dreiecksbeziehung zwischen der mädchenhaften Charlotte, dem charmanten Carlo<br />
und dem schroffen Sulzer. Die unerfahrene Charlotte lebt noch in ihrer kindlich<br />
naiven Welt, in der sie gar nicht merkt, dass sie von gleich zwei Jungs umgarnt wird.<br />
Die sich sodann entwickelnde Liebe zwischen ihr und Carlo wird für Charlotte zum<br />
Katalysator ihrer eigenen Entwicklung.<br />
Kreslehner gelingt es, mit Klischees zu spielen, die sie aber immer wieder sofort<br />
unterläuft. Der Leser wird so vom Verlauf der Handlung immer wieder überrascht und<br />
bis zum Ende über deren Ausgang im Ungewissen gelassen. Und weil Kreslehner<br />
mit „Charlottes Traum“ keine unrealistische Teenie-Romanze entwirft, darf der Leser<br />
sich auch allenfalls auf ein irdisches Happy End freuen. Carlo verbringt die
Sommerferien in Italien, und Charlotte beschließt kurzerhand, ihn dort zu besuchen.<br />
Ohne ihren Eltern Bescheid zu sagen, kauft sie sich von ihrem Taschengeld eine<br />
Fahrkarte und steigt in den Zug. Doch am Bahnhof angekommen, wird sie nicht mit<br />
Freudentränen und innigen Küssen empfangen. Carlo schaut in eine andere<br />
Richtung und sieht sie nicht.<br />
Kreslehner erschafft mit Charlotte eine sensible und authentische Protagonistin. Sie<br />
ist nicht nur das Opfer der Scheidung ihrer Eltern, sondern reift durch das Erlebte<br />
langsam, in kleinen Schritten und lernt sich zu wehren und abzugrenzen. Es ist eine<br />
enorme Entwicklung, die sie dabei auf den gut 100 Buchseiten durchläuft: vom<br />
wohlbehüteten und später rebellierenden Teenager zur jungen Frau, die ihr Schicksal<br />
akzeptiert und durch ihre erste eigene Liebe beginnt, die Probleme ihrer Eltern zu<br />
verstehen, und diesen langsam wieder näherkommt.<br />
Auch in Charlottes eigenem Liebesleben läuft es alles andere als vorhersehbar und<br />
einfach. Denn was Charlotte und Carlo verbindet, ist zunächst nicht die Liebe,<br />
sondern die Erfahrung von Trennung und Verlust. Carlos Vater kam bei einem Unfall<br />
ums Leben; da seine Mutter nichts mehr in Italien hält, verlässt der Junge zusammen<br />
mit ihr sein geliebtes Heimatland. Carlo und Charlotte wissen beide, was es heißt,<br />
Abschied zu nehmen. Aus diesem gemeinsamen Verständnis entwickelt sich ihre<br />
Liebe. Wegen ihrer gemeinsamen Erfahrungen nähern sie sich ganz allmählich an.<br />
Auch wenn Charlotte durch das Scheitern der Ehe ihrer Eltern begreift, dass die<br />
Liebe endlich ist und vielleicht nicht mehr als ein „fuoco di paglia“ – ein Strohfeuer –<br />
entschließt sie sich, es trotzdem zu versuchen: „Wirst verlieren! Dir nix ersparen! Auf<br />
Friss oder stirb! Auf Leben oder Tod! Wumm, dachte ich, wie dramatisch!<br />
Heldenepos oder so! Und wusste, es würde sein, wie es eben war.“<br />
In ein- bis vierseitigen kapitelähnlichen Episoden gelingt es Kreslehner, die<br />
unterschiedlichen Befindlichkeiten ihrer Protagonistin von lähmendem Entsetzen,<br />
Unverständnis, Trauer und Wut bis hin zu eigenem Verliebtsein und Verständnis für<br />
die Eltern in treffenden sprachlichen Bildern einzufangen. Dabei sind die einzelnen<br />
Episoden nie langatmig, wodurch die unterschiedlichen Gefühlslagen umso<br />
eindrücklicher nachvollziehbar werden.
Die unverfälschte jugendliche Sprache, die Kreslehner Ihrer Ich-Erzählerin gibt,<br />
ermöglicht dem jungen Leser, sich in Charlottes Welt einzufühlen und sich mit dem<br />
Schicksal des Mädchens zu identifizieren. Charlottes witzige Bezeichnungen, mit<br />
denen sie ihre Mitmenschen prägnant charakterisiert – sie betitelt die neue<br />
Eigentümerin ihres ehemaligen Zuhauses zum Beispiel als „zart, blond, hell<br />
gebackenes Flaumtörtchen“ – sorgen neben der oft derben Jugendsprache dafür,<br />
dass das eigentlich sehr ernste Thema aufgelockert wird. Zahlreiche Metaphern und<br />
Natursymbole, wie zum Beispiel Charlottes geliebter Erdbeerbaum, der sie ihre<br />
ganze Kindheit begleitet hat und von dem sie schließlich Abschied nehmen kann,<br />
verleihen dem Buch einen poetischen Anstrich.<br />
„Charlottes Traum“ liest sich mit einem weinenden und einem lachenden Auge und<br />
ist dabei so bitter und süß, so ernst und witzig wie das Leben selbst.<br />
Leseprobe<br />
Als sie uns zusammenpackte, die Brüder und mich, war sie blass wie ein Laken. Sie<br />
setzte uns ins Auto, und als wir aus dem Garten kurvten, behielt ich meine Ulme im<br />
Auge, die hoch hinaufragte an das Fenster meines Zimmers, die mir Kühle<br />
zugefächelt hatte im Sommer und Schnee im Winter – mein einzigartiger<br />
Erdbeerbaum. Ich spürte die Tränen in meinem Gesicht, als wir hinausfuhren<br />
aus unserem bisherigen Leben. Ich sah, wie das Haus kleiner und kleiner wurde und<br />
mein Baum verschwand und das sommerliche Grün seiner Blätter in ein<br />
undefinierbares Grau zerrann, und ich dachte mit eigenartiger Gewissheit, dass es<br />
das nun gewesen war und dass wohl eher Ringlotten wüchsen am Erdbeerbaum, als<br />
dass wir wieder zurückkehrten und zusammenkämen mit unserem Vater. (S. 10)<br />
Gabi Kreslehner<br />
Charlottes Traum<br />
Weinheim Basel: Beltz & Gelberg 2009.<br />
117 Seiten<br />
€ 12.95<br />
Jugendbuch ab 12 Jahren.<br />
(Sylvia Kottmann, Sandra Piecha)