Shaun Tan: Ein Neues Land - Lesebar
Shaun Tan: Ein Neues Land - Lesebar
Shaun Tan: Ein Neues Land - Lesebar
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<strong>Ein</strong>e neue Welt – aus Bildern<br />
<strong>Lesebar</strong>-Rezension von Ulrich Kreidt (2008)<br />
Im Internet unter: www.lesebar.uni-koeln.de<br />
Irgendwann in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts verlässt ein<br />
Mann Frau und Tochter, überwindet die Schwierigkeiten einer langen<br />
Dampferfahrt, der Überprüfung durch die <strong>Ein</strong>wanderungsbehörden und der<br />
Arbeitssuche. Mühsam findet er sich in einer fremden Metropole zurecht,<br />
lernt andere Migranten kennen und kann schließlich seine Familie<br />
nachholen.<br />
<strong>Ein</strong>e Geschichte, die sicher schon öfter erzählt worden ist – aber noch<br />
niemals so: Während sonst ein guter Text in der Phantasie innere Bilder<br />
entstehen lässt, baut <strong>Shaun</strong> <strong>Tan</strong> seine Erzählung „<strong>Ein</strong> neues <strong>Land</strong>“<br />
ausschließlich aus Bildern auf. Insofern ist sein Buch sicher die radikalste<br />
Ausformung der gerade im Aufschwung befindlichen Gattung graphic novel.<br />
Text fehlt völlig, Schrift erscheint nur in Form unverständlicher Zeichen – so<br />
wie wir etwa den Schriftreichtum arabischer oder ostasiatischer Städte<br />
erleben.<br />
Es gibt also ‚nur’ die Bilder – und auch hier eine weitere Beschränkung: Es<br />
handelt sich ausschließlich um Graphit- (Bleistift-) Zeichnungen. Farbe fehlt<br />
völlig, wenn man von einer unregelmäßig eingesetzten <strong>Ein</strong>färbung ins<br />
Bräunliche absieht, die den <strong>Ein</strong>druck einer alten Fotosammlung noch<br />
verstärkt. Die Zeichnungen ahmen nämlich Fotos nach (und haben, außer<br />
Vorbildern aus der Kunst- und Filmgeschichte, vielfach Fotos zur Grundlage).<br />
Sorgfältige Strichlagen lassen durch Schattierungen, Konturen,<br />
Helligkeitsverteilung etc. einen Bildraum entstehen, in dem der Blick<br />
umherwandern und eine eigene Welt entdecken kann. Es gibt also nichts<br />
Skizzenhaftes; auf weißen Grund, auf das ‚Unfertige’ als Stilmittel wird völlig<br />
verzichtet. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: die technische<br />
Perfektion, mit der <strong>Tan</strong> einen ganzen Kosmos völlig plausibel vor uns<br />
entstehen lässt, oder die geschickte Regie, mit der seine Bilder aufeinander<br />
folgen. So wird die <strong>Ein</strong>tönigkeit der Fabrikarbeit durch nicht weniger als
zwanzig – stets variierte – Nahaufnahmen verdeutlicht, die Arme und Hände<br />
des Protagonisten und das Fließband mit den immergleichen Objekten<br />
zeigen; darauf folgt eine grandiose Totale mit Hunderten von Menschen, die<br />
genau das Gleiche tun, und riesigen, dampfenden Maschinen dahinter.<br />
Solche ‚Schnitte’ kennt man sonst eher aus dem Kino.<br />
Die Vielfalt, die <strong>Tan</strong> uns vor Augen stellt, rührt auch daher, dass er nicht<br />
einfach die Realität des frühen 20. Jahrhunderts abbildet, sondern<br />
phantastische Elemente dazuerfindet. Das betrifft einerseits die<br />
Bedrohungen, die den Protagonisten und die anderen Migranten, die in<br />
Rückblenden ihre Geschichte erzählen, aus der Heimat vertrieben haben.<br />
Bei der Hauptperson waren es riesige, schattenhafte Reptilien, beim<br />
Lebensmittelhändler, der ihn zu sich einlädt, gigantische, roboterartige<br />
Maskierte, die Mensch und Tier in ihren Staubsaugern verschwinden lassen.<br />
Die Orte, an denen sich die Flüchtigen verbergen, erinnern an kubistisch<br />
beeinflusste Szenenbilder expressionistischer Filme. Realistische und<br />
imaginäre Elemente mischen sich auch im Bild der Großstadt, die riesige,<br />
zylinder- und kegelförmige Türme, Gebäude in Form runder Scheiben und<br />
gewaltige Skulpturen (die gleichzeitig Wünsche und Ängste des<br />
Protagonisten spiegeln) aufweist. Fortbewegungsmittel sind außer dem<br />
konventionellen Dampfer auch schwebende Schiffe oder Ballons mit<br />
schrankartigen Gondeln. Besonders konsequent verändert zeigt sich alles<br />
Natürliche: Lebensmittel sehen völlig fremd aus, Bäume wie große Blätter<br />
(eine Doppelseite zeigt an den Metamorphosen eines solchen Blattes<br />
besonders schön den Wechsel der Jahreszeiten), Vögel erscheinen als<br />
Mischwesen aus Schmetterlingen und fliegenden Fischen, und ein<br />
seltsames, kaulquappenartiges Wesen verhält sich wie ein Hund.<br />
Da die Zeichentechnik all diesen Formen Plausibilität verleiht, zweifelt der<br />
Betrachter weniger an ihrem Existenzrecht in der geschilderten Realität,<br />
sondern eher daran, ob er sie richtig interpretiert. Das Fehlen von Sprache<br />
mit ihren eindeutigen Benennungen, die unverständliche Schrift, die<br />
phantastischen Erscheinungen – all dies versetzt ihn in eine fremde Welt, in<br />
der es ihm wie einem Migranten ergeht, der einiges in seiner neuen
Umgebung versteht, anderes nicht und an seinen Wahrnehmungen und ihrer<br />
<strong>Ein</strong>ordnung immer wieder zweifelt. Dabei geht es <strong>Tan</strong> offenbar nicht darum,<br />
den fremdartigen Phänomenen eine ‚richtige’ Deutung zu unterlegen. Der<br />
Betrachter sollte deshalb in der Lage sein, mit dieser Uneindeutigkeit<br />
umzugehen und sie eventuell sogar zu genießen. Das Buch richtet sich<br />
daher am ehesten an Jugendliche – und natürlich auch Erwachsene.<br />
Unverändert bleiben, wenn man manchmal von der Kleidung absieht, die<br />
Bilder der Menschen – und ihrer Beziehungen. Nachdem die Schrecken der<br />
Vergangenheit einmal überwunden sind, herrscht im Verhalten vor allem der<br />
Migranten untereinander eine freundliche, ja liebevolle Zuwendung vor. Das<br />
ist sicher eine idealisierende Sichtweise, entspricht aber dem emphatischen<br />
Hochgefühl, das viele Migranten, die es ‚geschafft’ haben, mit ihrer neuen<br />
Heimat verbindet (<strong>Tan</strong>s Vater ist selbst ein aus Malaysia nach Australien<br />
eingewanderter Chinese). Das Buch erhält dadurch eine schöne menschliche<br />
Wärme, die durch die diskret-zurückhaltende Darstellungsweise noch<br />
angenehmer wird. So schildert <strong>Tan</strong> die schließliche Wiedervereinigung der<br />
Familie in einer großen Übersichtstotale, einer weiten Schneelandschaft, in<br />
der die zueinander führenden Spuren gleichzeitig den weiten Weg<br />
symbolisieren, der bis hierher zurückzulegen war.<br />
So sehr man an dem Schicksal der Hauptfigur Anteil nimmt, so wenig ist das<br />
Interesse mit der glücklichen Auflösung gestillt. Man kann das Buch immer<br />
wieder zur Hand nehmen, neue phantasievolle Details entdecken und sich an<br />
ihrer subtilen Darstellungsweise erfreuen oder daran, wie liebevoll die<br />
gesamte Ausstattung des Buches durchgearbeitet ist. Viele Bilder sind mit<br />
(gezeichneten) Knicken, abgerissenen und verschmutzten Rändern als alte<br />
Fotos charakterisiert; wie bei kostbaren Faksimiles sind auch die Flecken<br />
und Papierunebenheiten der leeren Seiten wiedergegeben. Auch der<br />
<strong>Ein</strong>band, der ein abgegriffenes Buch mit defektem Lederrücken und<br />
aufgeklebten, bräunlichen Fotos simuliert, gehört dazu.
„The Arrival“ (so der englische Titel) ist seit seinem Erscheinen mit Preisen<br />
überhäuft worden. Tatsächlich ist es eines der schönsten Bücher, das<br />
gegenwärtig zu haben ist.<br />
<strong>Tan</strong>, <strong>Shaun</strong>:<br />
<strong>Ein</strong> neues <strong>Land</strong><br />
Hamburg: Carlsen 2008.<br />
64 ungez. Bl.<br />
€ 29,90.<br />
Ab 12 Jahren.<br />
Graphic Novel.