Paul Wulf - UWZ - Archiv
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Ansprüche die rechtsimmanente Ebene nicht verlassen,<br />
da die bürgerlichen Kräfte, die ihn neu formiert haben,<br />
maßgeblich an der materiellen Begründung des Sterilisationsgesetzes<br />
beteiligt waren. Im Fall von <strong>Paul</strong> W. ist<br />
die medizinische Diagnose ‘Schwachsinn’ analog zur<br />
positivistischen Rechtsauffassung als gegeben betrachtet<br />
worden. Abweichungen sind nur verständlich aufgrund<br />
einer Veränderung der Ausgangssituation. Für <strong>Paul</strong> W.<br />
bedeutet dies, daß die frühere Diagnose ‘angeborener<br />
Schwachsinn ersten Grades’ aufgrund einer veränderten<br />
Ausgangslage, nämlich der ‘nicht vorhersehbaren Spätentwicklung’,<br />
nicht mehr aufrechterhalten werden<br />
konnte. Das ändert jedoch nichts an der prinzipiellen<br />
Richtigkeit der früher gestellten Diagnose, denn deren<br />
maßgebliche Konstanten werden durch eine veränderte<br />
Ausgangssituation nicht in Frage gestellt: das bereits von<br />
Staatsanwalt Hoegner beobachtete, bösartige Zusammentreffen<br />
von schlechten sozialen Verhältnissen und<br />
‘schlechten Erbanlagen’.<br />
Die Unfehlbarkeit der<br />
medizinischen Diagnose<br />
Die medizinische Argumentation setzt an jenem Punkt<br />
ein, an dem <strong>Paul</strong> W. die juristische Ebene verläßt und auf<br />
der Grundlage der erlittenen schweren körperlichen und<br />
psychischen Schäden um Berufsunfähigkeitsrente klagt.<br />
<strong>Paul</strong> W. hatte während der fünfziger und sechziger Jahre<br />
mit kurzen Unterbrechungen bei verschiedensten Arbeitgebern<br />
als Hilfsarbeiter gearbeitet. Die tiefe Enttäuschung<br />
über den Nachkriegsstaat, der eingefleischte<br />
Nationalsozialisten trotz ihrer Vergangenheit wieder in<br />
seine Dienste genommen hatte, während die eigenen<br />
Bemühungen um Rehabilitation erfolglos blieben, verbitterten<br />
ihn zunehmend. Seine Recherchen in <strong>Archiv</strong>en,<br />
in denen Dokumente aus dem ‘Dritten Reich’ aufbewahrt<br />
werden, verschafften ihm ein Bild darüber, wie<br />
weitreichend Polizei, Justiz, Sozialmedizin und staatliche<br />
Verwaltungsapparate in den beiden ersten Jahrzehnten<br />
westdeutscher Nachkriegsgeschichte von<br />
ehemaligen Funktionsträgern des ‘Dritten Reichs’ durchsetzt<br />
waren und die alten exekutiven Machtstrukturen<br />
teilweise oder ganz vom Nachkriegsstaat übernommen<br />
worden waren. Da alle Wiedergutmachungsanträge gescheitert<br />
waren, entschloß sich <strong>Paul</strong> W. einen Frührentenantrag<br />
zu stellen, um über diesen Umweg doch noch<br />
zu einer Entschädigung zu gelangen. Berufsunfähigkeit<br />
liegt vor, wenn die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten<br />
»infolge von Krankheiten oder anderen Gebrechen oder<br />
Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf<br />
weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und<br />
geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung<br />
und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten<br />
herabgesunken ist«. Die Landesversicherungsanstalt<br />
(LVA) ließ <strong>Paul</strong> W. von Dr. N., Facharzt für Psychiatrie<br />
und Neurologie, Münster, begutachten. Dieser stellte als<br />
Gesundheitsstörung u. a. eine ‘angeborene Minderbegabung’,<br />
ein ‘Anfallsleiden unklarer Genese’ und eine<br />
‘Narbe nach Samenleiterdurchtrennung’ fest. Er hielt<br />
aber <strong>Paul</strong> W. für fähig, ‘leichte Männerarbeiten zu ebener<br />
Erde ohne geistige Verantwortung mehr als halbtags<br />
zu verrichten’. Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die<br />
LVA den Rentenantrag ab. Daraufhin erhob <strong>Paul</strong> W.<br />
Klage beim Sozialgericht Münster mit der Begründung,<br />
er sei nicht mehr in der Lage, lohnbringende Arbeiten in<br />
regelmäßiger Zeitfolge zu verrichten. Das Sozialgericht<br />
holte ein weiteres Sachverständigengutachten von dem<br />
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