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Paul Wulf - UWZ - Archiv

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Arztes war, auf die sozialen Hintergründe und den<br />

Unrechtsgehalt der Sterilisation einzugehen, desto<br />

erregter wurde <strong>Paul</strong> W. in seinem Bemühen, das begangene<br />

Unrecht begreifbar zu machen. Mangelnde Eloquenz<br />

und empfundene Ablehnung mögen ihr Übriges<br />

dazu beigetragen haben, um <strong>Paul</strong> W. sehr unbeholfen erscheinen<br />

zu lassen. Auch in dem am 16.6.1976 von<br />

Dr. R. aus Dortmund erstellten Gutachten wird vermerkt,<br />

daß <strong>Paul</strong> W. ‘mißgestimmt, anklagend oder resignierend’<br />

wirke, wenn das Gespräch auf seine Sterilisation<br />

komme.<br />

Der biologische Determinismus als konstituierendes<br />

Merkmal sozialmedizinischer Diagnose läßt an Deutlichkeit<br />

nichts mehr zu wünschen übrig. Gesucht wird<br />

nach einem organischen Leiden. Getreu der sozialdarwinistischen<br />

Lehre interessiert nicht die Genese eines<br />

Gesamtverhaltens, sondern das meßbare Faktum eines<br />

erkennbaren, abweichenden Verhaltens, das organisch<br />

lokalisiert werden kann. In der Manier der induktivistischen<br />

Naturwissenschaft wird der Untersuchungsgegenstand<br />

in erkennbare, positive Fakten aufgelöst, die<br />

experimentell reproduzierbar und dadurch begreifbar<br />

sind. Also erfährt die lang aufgestaute Wut des <strong>Paul</strong> W.<br />

ihre organische Lokalisierung als ‘lebhafte vasomotorische<br />

Erregbarkeit’. Von hier ist es nur ein kleiner, fast<br />

unsichtbarer Schritt zur Erbgesundheitslehre, die verspricht,<br />

biologisch determinierte Abweichungen und<br />

Fehlentwicklungen durch rassische Aussonderung ein<br />

für allemal auszumerzen. Letztlich erfüllen die beiden<br />

medizinischen Gutachten zweierlei Funktionen: Sie<br />

bestätigen erstens die medizinische Diagnose von 1937,<br />

die zur Zwangssterilisation geführt hat, indem sie das<br />

Experiment wiederholen und mittels einer ‘Intelligenzprüfung’<br />

erneut mangelhaftes Schulwissen als Parameter<br />

von Schwachsinn feststellen. Sie negieren zweitens den<br />

Komplex Zwangssterilisation, indem sie die Folgen auf<br />

das organisch Sichtbare, ‘eine Narbe nach Samenleiterdurchtrennung<br />

beiderseits’ reduzieren. Von einer gesundheitlichen<br />

Einschränkung, die zur Arbeitsunfähigkeit<br />

führt, kann also nicht gesprochen werden.<br />

Zwangssterilisation ist folgenlos<br />

Betroffene, die gesundheitliche Schäden als Folgeerscheinung<br />

geltend machen, werden als Simulanten<br />

bezeichnet. Die beiden bisher zitierten medizinischen<br />

Gutachten haben praktisch das Niveau der für das Erbgesundheitsverfahren<br />

gestellten medizinischen Diagnose<br />

nicht verlassen, da sie sich allein darauf beschränkten,<br />

die in den Akten immer wiederkehrende Behauptung<br />

einer geistigen Behinderung auf organische Ursachen<br />

hin zu untersuchen und den Komplex der Zwangssterilisation<br />

gar nicht erst zu berücksichtigen. Im Einklang<br />

mit LVA und Sozialgericht stellt sich für sie die Frage der<br />

Berufsunfähigkeit nur im Hinblick auf eine Einschränkung<br />

der geistigen Kräfte des Klägers.<br />

Da <strong>Paul</strong> W. nicht nachgibt und die LVA 1974 erneut<br />

mit dem ausdrücklichen Verweis auf die schwere körperliche<br />

und psychische Schädigung durch den zu Unrecht<br />

erfolgten Eingriff der Unfruchtbarmachung verklagt, ist<br />

das Sozialgericht Münster in der Sitzung vom 17.9.1975<br />

gezwungen, dem Antrag des Klägers stattzugeben, ein<br />

weiteres psychiatrisches Gutachten beizuziehen, das die<br />

psychische Komponente der Zwangssterilisation berücksichtigt.<br />

Dieses am 16.6.1976 erstellte Gutachten geht<br />

zwar erstmals auf den Sterilisationskomplex ein, ohne<br />

indes - analog zu den Vorgutachten - eine wesentliche<br />

gesundheitliche Einschränkung festzustellen, denn:<br />

»... daß ein junger Mann sich durch die Sterilisation sowohl<br />

in seinem Selbstbewußtsein als auch im sozialen<br />

Gefüge des Staates beeinträchtigt fühlt, steht außer<br />

Zweifel. Andererseits ist aber hervorzuheben, daß der<br />

Kläger vor dem Kriege als auch im Kriege als auch nach<br />

dem Kriege bis 1971 oder 1973 gearbeitet hat. « Dr. R.<br />

aus Dortmund läßt sich ganz im Einklang mit seinen<br />

Fachkollegen nur von seh – und meßbaren Faktoren<br />

beeindrucken, und die sind eindeutig: <strong>Paul</strong> W. hat trotz<br />

Sterilisation immer gearbeitet, also entfällt die Sterilisation<br />

als Grund für Arbeitsunfähigkeit. Aber ganz so<br />

einfach will er es sich auch nicht machen. Denn immerhin<br />

steht noch die Frage nach der geistigen Gesundheit<br />

von <strong>Paul</strong> W. im Raum. Und diese Frage verwirrt Dr. R.<br />

Einerseits haben die Fachkollegen einmütig eine Geistesschwäche<br />

diagnostiziert, andererseits muß er aber<br />

im Gespräch mit <strong>Paul</strong> W. feststellen, daß dieser durchaus<br />

über eine ‘zufriedenstellende Lebenserfahrung’ verfügt:<br />

»Wenn man sich mit dem Kläger unterhält und nicht<br />

gezielt Fragen nach dem Schulwissen etc. stellt, glaubt<br />

man gar nicht, daß er diese Lücken aufweist.« Dr. R.<br />

steht vor dem Dilemma, entweder die bisherigen Diagnosen<br />

ad absurdum zu führen oder aber eine Erklärung<br />

dafür zu finden, daß der Kläger zwar nicht schwachsinnig<br />

wirkt, de facto aber schwachsinnig ist.<br />

Dr. R. entscheidet sich für die letzte Variante, da nicht<br />

sein kann, was nicht sein darf, nämlich eine prinzipiell<br />

falsch gestellte medizinische Diagnose. Bei seiner Suche<br />

nach einer Begründung kommt ihm ein organischer<br />

Befund zur Hilfe: die zeitweiligen Anfälle von <strong>Paul</strong> W.<br />

Kernstück seines Gutachtens wird also die ausführliche<br />

Auswertung eines EEG-Befundes: ein ‘Krampfstrom-<br />

Herd’. Da Krankheiten und Unfälle, die eine derartige<br />

Gehirnschädigung hervorgerufen haben könnten,<br />

fehlen, ist davon auszugehen, »daß bei Herrn W. doch<br />

eine frühkindliche Hirnschädigung vorliegt«. Die vorher<br />

gestellten medizinischen Diagnosen waren nicht<br />

prinzipiell falsch, sondern nur nicht genügend wissenschaftlich<br />

untermauert: »Im Hinblick auf den krankhaften<br />

EEG-Befund ist zu sagen, daß der Kläger nicht<br />

an einer Geistesschwäche im Sinne einer Debilität<br />

leidet, sondern an einer Geistesschwäche, die durch die<br />

frühkindliche Hirnschädigung hervorgerufen worden<br />

ist.« Unklar bleibt allerdings, wie sich nun diese<br />

Geistesschwäche konkret äußert, denn außer dem organischen<br />

Befund von Geistesschwäche kann Dr. R. keinerlei<br />

Anzeichen von Geistesschwäche finden: »Was den<br />

psychiatrischerseits jetzt zu erhebenden Befund angeht,<br />

so ist derselbe, wie schon gesagt, einmal geprägt<br />

durch eine Geistesschwäche aufgrund der frühkindlichen<br />

Hirnschädigung, dies aber bei zufriedenstellender<br />

allgemeiner Lebenserfahrung.« Auffälligkeiten im Verhalten<br />

treten lediglich beim Thema Sterilisation auf:<br />

»Zudem bietet er Zeichen von Resignation und zeitweilig<br />

auch von Mißgestimmtheit, aber nur, wenn er<br />

auf das Thema ‘Sterilisation’ zu sprechen kommt.«<br />

Die Ausführungen von Dr. R. sind das perfekteste<br />

Exemplar eines biologistisch determinierten psychiatrischen<br />

Gutachtens. Der EEG-Befund deutet auf eine<br />

organische Hirnschädigung, also stimmt die Diagnose<br />

Geistesschwäche doch. Aus diesem experimentell nachweisbaren<br />

Faktum resultiert als logische Konsequenz,<br />

daß weitere Beweise von Geistesschwäche – z. B. mangelhaftes<br />

Schulwissen – unerheblich werden, ebenso wie<br />

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