Masterthesis - Gerda Tobler
Masterthesis - Gerda Tobler
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Masterthesis im Mai 2011
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Deine Sehnsucht
in Arbeit
Über künstlerisches Agieren in gesellschaftlicher Notwendung
Gerda Tobler Mentoren (Theorie/Praxis):
Matrikel-Nr. 09-537-697
Stud. Master of Arts in Public Spheres Dr. Armin Chodzinski, Hamburg
Kunst & Design, HSLU Manfred Seiler, Hamburg
1
Inhalt
Kurzfassung (abstract)....................................................................2
1. Interview mit Sofie Honig – eine Art Einleitung..............................3
2. Sofie Honigs Arbeit....................................................................8
2.1. Tätigkeiten der Sofie Honig................................................9
3. Sofie Honig – eine Spurensuche.................................................11
3.1. Wie die Figur mich fand...................................................12
3.2. Honig............................................................................12
3.3. Sofie, Sophie und Sophia.................................................14
3.4. Sofie Honig – eine vorläufige Charakterisierung...................21
4. Sofie Honig als Werkzeug im öffentlichen Raum...........................22
4.1. Ein Tätigkeitsbericht........................................................22
4.2. Die Gespräche................................................................25
4.3. Sofie Honig im FabLab.....................................................26
5. Rollenspiele und Erkenntnisprozesse...........................................28
5.1. Das Rollenspiel und das Selbst..........................................29
5.2. Sofie Honig Goes Rich.....................................................33
5.3. Von der Gabe.................................................................35
5.4. Vom Gelingen und vom Scheitern......................................36
6. Einsichten und Ausblicke..........................................................38
7. Anhänge.................................................................................42
7.1. Beispiele MEMOs............................................................42
7.2. Das 68-Milliarden-Ding.....................................................46
7.3. Stiftung Kulturimpuls Schweiz (Auszug).............................50
8. Literaturverzeichnis/Quellenangaben...........................................51
9. Dank ....................................................................................55
1
Kurzfassung (abstract)
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit künstlerischen Handlungsmöglichkeiten zu
den tiefgreifenden sozialpolitischen Problematiken ‚Existenzangst’ und ‚Arbeitsethik’.
Im Kontext der aktuell laufenden Diskussion zur Errichtung eines bedingungslosen,
existenzsichernden Grundeinkommens wird folgende Frage untersucht:
Wie würden sich Wahl, Motivation, Wohlbefinden und Qualität der Arbeitsleistung
individuell ändern, wenn diese nicht mehr unter dem Diktat der Existenzsicherung
erbracht würde
Die theoretische Ausleuchtung des Themas ist knapp gehalten. Im Vordergrund
steht die Entwicklung einer spezifischen, interview-artigen Aktionsform, die gleichzeitig
und gleichwertig auf verschiedenen Ebenen wirksam sein will: Individueller
Dienst am Mitmenschen (Wunsch-Formulierungs-Herausforderung, Stärkung durch
Ästhetisierung), Forschung (überindividuelle Muster, intermodale Kommunikation),
politische Bewusstseinsbildung (Relativierung von Denkzwängen). Und wird damit
zur sozialen Plastik: bewusste Gestaltung eines ort-zeitlichen Mikrokosmos in sozialer
und ästhetischer Dimension.
Zur Erleichterung der ‚absoluten Fokusierung auf den Gast’, die diese Aktionsform
erfordert, nimmt die Künstlerin Abstand zu sich selbst und nutzt die Figur der Sofie
Honig als Rollenidentität. Über diesen - zugefallenen - Namen kam das Projekt zu der
intuitiv-poetischen Dimension und Beflügelung, die für inspiriertes Schaffen letztlich
unerlässlich ist. So lotet die Autorin (durch die Studiumsanforderungen zu rationaler
Hinterfragung angehalten) sowohl die ‚Sofie’ - in Anlehnung an die ‚Sophia’ - wie
den ‚Honig’ recht gründlich auf ihren archetypischen Gehalt aus – nutzt aber ihre
Kunstfigur handkehrum auch wieder als Dialog-Partnerin, um sich selber Mut zu
machen zu kleinen Schritten in der immensen Arena, die sie sich als Handlungsort
ausgesucht hat.
oder kürzer und emotionaler:
„Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“ - fasst die Gruppe
‚Ja, Panik’ in greller Poesie Entfremdung und Mangeldenken zusammen. Dem hält
Sofie Honig – die be-Geisterte, die aus der Fülle schöpft – Frithjof Bergmanns
“Verwandle deine Sehnsucht in Arbeit“ entgegen. Und gliedert den Weg dahin – frei
nach Ludwig Hohl – in erste, überblickbare Schritte. In einer Serie von Interviews
mit Menschen quer durch alle Schichten erweckt sie im verbindlichen, dokumentierten
Gespräch jene Träume wieder, die Leben und Arbeit als Einheit sehen - jenseits
von entfremdeter Lohnarbeit und der auf fiktivem Mangel geschürten Existenzangst
Das so zu tun, dass sich individuell neue Perspektiven eröffnen und kollektiv etwas
davon sichtbar wird – nämlich der Grad der Freiheits-Mündigkeit der Mitmenschen –
das ist Gerda Toblers Kunst. Als Bodenbereitung der politisch-willentlichen Abschaffung
von Existenzangst. Z.B. über das bedingungslose Grundeinkommen für alle. Als
Voraussetzung für Khalil Gibrans höhere Vision: „Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe“.
(für Gerda Tobler zusammengefasst von Martin Flüeler, 12. Mai 2011)
2
1. Interview mit Sofie Honig
eine Art Einleitung
F: Ihr Kunstprojekt trägt den Titel: VERWANDLE DEINE SEHNSUCHT IN ARBEIT. Welche
Sehnsucht meinen Sie Und welche Arbeit
SH: Wir haben bekanntlich viele Sehnsüchte, auch solch kommune wie ‚einfachmal-am-Strand-
liegen’. Diese Seele-baumeln-lassen-Sehnsüchte sind hier aber nicht
gemeint. Sondern jene, die einen Tatendrang beinhalten.
Einige Menschen können ihre Träume auch heutzutage noch in Arbeit verwandeln,
und nicht selten werden sie damit sogar berühmt. Jene, die damit nicht berühmt
werden, sind ebenfalls zufrieden oder sogar glücklich. Ihre Arbeit wird geschätzt,
und es will ja auch nicht jeder berühmt werden.
Die meisten Menschen, sagen wir 90 %, arbeiten fremdbestimmt - sofern sie überhaupt
eine Stelle haben - und fügen sich in die vorgegebenen Profile. Viele von
ihnen hätten zwar eine Sehnsucht, haben jedoch eine falsche Arbeit.
Was meinen Sie mit ‚falscher Arbeit’
Ein Ingenieur und Familienvater träumt von der Erforschung und Entwicklung eines
grossen Flugzeugs auf Solarantriebsbasis, das eine völlig neuartige Kultur im Fernflugverkehr
zur Folge hätte. Statt dessen jobt er in einer Softwarebude und leidet
unter Stress, Depressionen und Kopfschmerzen.
Oder eine arbeitslose, alleinerziehende KV-Angestellte: sie würde am liebsten als
Biobäuerin arbeiten, vorzugsweise in einem Kollektiv. Statt dessen muss sie stempeln,
die erstbesten Jobs in ihrem Sektor annehmen und sich weiterhin allein durchstrampeln.
Sie arbeitet viel und bringt sich und ihre zwei Kinder trotzdem kaum über
die Runden. Eine typische Working-poor mit falscher Arbeit.
Was hindert diese 90% hauptsächlich daran, ihre Träume zu verwirklichen
Vor allem Existenzängste, fehlende Zeit, fehlender Mut, fehlende Ausbildung, fehlendes
Geld. Oft auch das Gefühl, keine Wahl zu haben, weil mit dieser Arbeit die
Familie ‚ernährt’ werden muss. Oder der uralte, meistens unbewusste Glaube, Arbeit
müsse ein Opfer sein. Einen Brotjob zu haben, ist ausserdem immer noch besser,
als keinen Job zu haben. Das ist verständlich, aber eben auch falsch! Lohnarbeit
ist grösstenteils eine moderne Form von Teilzeit-Versklavung, selbst wenn sie
hierzulande für manche Karriere, Wohlstand, relative Sicherheit und Statusgewinn
bedeutet. Doch die Sicherheit ist trügerisch. Erwerbslosigkeit und die damit verbundene
Gefahr, zu verarmen oder gar sozial randständig zu werden, können inzwischen
fast jeden von uns treffen.
Malen Sie da nicht zu schwarz
Nein. Zusammen mit Frithjof Bergmann bin ich der Überzeugung, dass sich Lohnarbeit
in den meisten Fällen wie eine lebenslange, bestenfalls milde Krankheit auswirkt:
‚Noch durchhalten bis zum Wochenende, ... bis zu den Ferien, ... bis zur
neuen Stelle’, ... bis zur Pensionierung’. Das hören wir doch so oft! Fremdbestimmte,
lohnabhängige oder sinnentleerte Arbeit kann den Menschen aber noch
3
viel tiefgreifender schädigen: durch Selbstentfremdung und –Ausbeutung entstehen
psychische und physische Verkrüppelungen und Krankheiten aller Art. Die Zahl der
Arbeitsplätze wird weiter sinken, parallel dazu wird die Zahl der Working-poor
wachsen. Unter solchen Umständen fragen sich natürlich nur die Wenigsten, was
oder woran oder wofür sie wirklich wirklich gerne arbeiten möchten. Die Sehnsüchte
verlagern sich auf’s Seele-baumeln-lassen. Und aufs Konsumieren. Neinsagen
zu einer Arbeit, die einem nicht entspricht, können sich nur die wenigsten
leisten.
Sehen Sie eine Möglichkeit, wie das verändert werden könnte
Als Erstes müssen die Menschen vom ökonomischen Druck, von der existenziellen
Abhängigkeit von einer Lohnarbeit befreit werden. Eine solche Befreiung wird in der
Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle angestrebt. Das heisst,
jeder Mensch erhält es, allein schon auf Grund seines Daseins. Es ist existenzsichernd
und wird ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt. Der Zwang zu einer ungeliebten,
sinnlosen oder gar schädlichen Arbeit fällt weg. Nein-sagen wird möglich.
Das Müssen wird ersetzt durch das Können und Wollen.
Besteht da nicht die Gefahr, dass niemand mehr arbeitet
Einige vielleicht, das ist doch auch jetzt schon so. Nichts Nützliches machen für die
Gemeinschaft – zum Beispiel eben Herumhängen - ist aber immer noch besser als
etwas Schädliches machen – zum Beispiel Waffen produzieren, Tiere massenschlachten
oder mit Geldern spekulieren. Aber ich bin überzeugt, dass der grösste
Teil der Menschen sich tätig und sinnvoll verwirklichen möchte. Die Befürchtung,
dass dann aber eben leider die anderen nichts mehr tun würden, ist jedoch weit
verbreitet. Da fehlt noch das Zutrauen in die anderen. Das ist ein Prozess, der noch
stattfinden muss. Aber er wird stattfinden.
Dennoch wird es immer weniger Arbeit geben.
Das stimmt nur insofern, als standardisierbare Arbeiten zunehmend von Maschinen
erledigt werden. Aber jene Arbeit, die nur von Menschen gemacht werden kann,
geht uns nicht aus. Zum Beispiel in Familie und Pflege, in Gesundheit, in den Künsten,
Kultur und Bildung, in nachhaltiger Landwirtschaft und qualitätsreichem Handwerk,
in der Forschung, in der Persönlichkeitsentwicklung und überhaupt im sorgfältigen
Umgang bei allen Tätigkeiten. Aber viele dieser Arbeiten können heute nicht
oder nur unzureichend finanziert werden. Gleichzeitig verursacht unser komplex
strukturiertes Sozialwesen hohe Kosten und sät Misstrauen. - Der Begriff ‚Arbeit’
muss ganz neu definiert und verstanden werden.
Können Sie das noch etwas näher erläutern
Wirkliche Arbeit ist nie nur für einen selbst, sondern immer auch für andere. Das ist
nicht nur eine Folge der Arbeitsteilung; das hat auch damit zu tun, dass wir grundlegend
voneinander abhängig und miteinander verbunden sind, auf vielen Ebenen.
Wir sind schon längst keine Selbstversorger mehr, auch wenn wir uns immer noch
so verhalten. Wir glauben noch immer, für uns selbst zu arbeiten. Aber stellen Sie
sich nur schon mal vor, Sie müssten alles selber herstellen, was sich in Ihrem
Kleider- oder Kühlschrank befindet! Von Ihrer Alltags-Elektronik und anderen nützlichen
Gerätschaften gar nicht zu sprechen. Darin steckt so unermesslich viel Arbeit
und Können und wertvolles Wissen von anderen Menschen und langen Traditionen.
4
Ausserdem wird manche Arbeit nicht sofort sichtbar, zum Beispiel in Forschung,
Künsten oder Spitzensport. Hier trägt der ‚Sockel der Unsichtbaren’ die Spitze der
Pyramide. Und in diesem Licht kann übrigens auch viel der sogenannten ‚Drecksarbeit’
neu definiert und bewertet werden, denn gerade sie ist zum Teil unerlässliche
und kostbare Arbeit für andere.
Ist die Finanzierung eines Grundeinkommens für alle denn überhaupt möglich
Im Grunde ist es bereits finanziert! Nur ist es heute in diverse Abgaben und soziale
Versicherungen verpackt. Und eben nicht bedingungslos. Das Problem ist nicht das
Geld; Geld ist 100%ig menschengemacht. Das Problem ist unser Glaube, es gebe
nicht genug. Die Fiktion vom Mangel sitzt tief in unseren Köpfen, obwohl wir in
einer unheilbringenden Flut von überflüssigen Waren zu ertrinken drohen. Natürliche
Ressourcen sind begrenzt. Obwohl... die Erde ist ja so unglaublich fruchtbar und
könnte mühelos uns alle ernähren, wenn wir mit der Natur und nicht gegen sie arbeiteten.
Wissen, Kreativität und Könnerschaft sind hingegen unerschöpfliche
Ressourcen. Das wahre Kapital ist unser schöpferisches Potenzial, ist unsere Arbeit!
Und nicht das Geld. Geld arbeitet nie! Es geht nun darum, dies zu erkennen. Nur so
können wir die Fiktion vom Mangel überwinden.
Was meinen Sie mit ‚Fiktion vom Mangel’ Tatsächlich gibt es ja immer mehr Armut und Not. Und
niemand hat mehr Zeit.
Da haben Sie natürlich recht. Aber das ist nur eine Frage der Verteilung. Von mächtigen
Männern - und vereinzelt auch Frauen - in der Politik-, Wirtschafts- und Medienwelt
wird uns täglich neu eingehämmert: „There is no alternative!“. Also: noch
mehr sparen, noch mehr optimieren und produzieren, noch mehr beschleunigen,
noch mehr Menschen, Tiere und Erde ausbeuten. Aber wenn wir mal ganz genau
hinschauen, müssen wir doch eigentlich feststellen, dass alles Sparen und Optimieren
nichts bringt. Ganze Staaten gehen bankrott. Die Gelder für Sozialleistungen,
Gesundheit, Kultur und Bildung werden immer weniger, dafür private Banken ‚gerettet’,
mit öffentlichen Geldern. Derweil die Wirtschaft wächst und die Reichen
reicher werden. „There are thousands of alternatives!” ist die einzig richtige Antwort
darauf. Eine dieser Alternativen ist das bedingungslose Grundeinkommen für alle.
Ein neues Denken aus der Fülle ist angesagt: Es reicht für alle! Das Geld kommt hier
endlich als Ermöglichung in Spiel, was seine eigentliche Bestimmung ist.
Und wie wollen Sie das als – entschuldigen Sie - kleine und unbekannte Sofie Honig wirksam in
die Welt bringen
Kein Problem. Ich bin mir bewusst, dass ich ‚die Welt’ nicht alleine verändern kann.
Wenn überhaupt. Ich verstehe mich jedoch als Teil von etwas viel Grösserem. Das
sind wir sowieso alle, einfach mehr oder weniger bewusst. - Rund um die Sache des
Grundeinkommens und einer Neudefinition von Arbeit kommt jetzt ganz konkret
auch auf politischer Ebene viel in Gang. Meine Arbeit ist lediglich ein Beitrag dazu.
Aber ich bewege mich damit nicht auf der politischen Bühne, sondern auf der Ebene
des Bewusstseins.
Wie kann man sich das vorstellen
Ich spreche mit Menschen, zum Beispiel in Sozialzentren, in Kiosken, in gesellschaftlichen
Randzonen, und, ja, durchaus auch mal am Strand. Ich frage nach den
Auswirkungen, die eine Befreiung von Existenzängsten für sie hätte. Ich lade sie ein,
5
ihre Wünsche und Träume zu sichten, ihren Sinn zu suchen, ihre Sehnsucht zu formulieren,
für die sie wirklich wirklich arbeiten wollten. Ich frage, was Reichsein,
reiches Sein, für sie bedeutet.
Darüber Nachdenken und vor allem darüber Sprechen ist bereits eine Form von Erkennen
und Handeln. Probehandeln. Das ist der erste Schritt. Veränderung kommt
‚von unten’, von uns. ‚Von oben’ ist da nicht viel zu erwarten. Herausfinden, was
mann oder frau selbstbestimmt und existenzangstbefreit wirklich arbeiten will, ist
von grosser Bedeutung. Und eine Frage, die Zeit braucht, weil sie alle Ebenen unseres
Seins durchdringt.
Und was hat das mit Kunst zu tun
Es entstehen neue Bilder, von uns selbst, von der Gesellschaft, von der Welt, von
einer möglichen Zukunft. Es entsteht eine grosse soziale Plastik. Daran gestalten ich
und wir alle mit. Mich selbst sehe ich dabei als Werkzeug, als Vermittlerin, auch als
eine Art Poetin, die innere Wahrheiten nach aussen bringt und sichtbar macht. Dies
trägt zu einem öffentlichen Diskurs und Bewusstseins- Prozess bei, der zum Ziel
hat, dass sich die Gesellschaft, die Wirtschaft, das Leben des Individuums endlich in
eine entspannte, menschliche und fröhliche Richtung entwickeln können.
Kunst ist ja schon lange nicht mehr nur das, was in den Museen hängt oder auf dem
Markt verhandelt wird. Kunst hat mit dem Leben zu tun – genau wie die Arbeit. Mit
erfülltem Leben. Mit dem schöpferischen und freien Menschen. Das ist die Vision.
Und das ist meine Sehnsucht, die ich in Arbeit verwandle.
Klingt eigentlich wie ein Schlusswort, nicht wahr
6
erste Postkarte von Sofie Honig an Gerda Tobler
7
2. Sofie Honigs Arbeit
Was das Höchste ist
Ich muss mich keinen Moment besinnen. Die richtige Arbeit.
Das Erkennen
Die richtige Arbeit IST das Erkennen.
Die höchste Erkenntnis
Die grösste Zahl von richtigen Arbeiten IST die höchste Erkenntnis.
Ludwig Hohl, 1944 A
Vor einigen Jahren stiess ich mit meiner Malerei an eine Art innere Grenzen. Ich
empfand sie als nicht mehr relevant für die drängenden Fragen unserer Zeit. Dort,
wo es relevant wird, geht es um Geld-, Wirtschafts- und Arbeits-Systeme, um Politik
und Öffentlichkeit. Themen, die ich lange Jahre links liegen gelassen habe. Erst
in Joseph Beuys’ erweitertem Kunstbegriff als gesellschaftsverändernder Praxis
konnte ich mich nach langer Suche wieder finden.
Mein Ansinnen ist es nun, mittels Kunst und Kommunikation tief in unsere Köpfe
eingeübte Denkmuster und von aussen ‚gegebene’ Dogmen in Frage zu stellen. Für
den Gewinn von mehr innerer Freiheit, die dann vielleicht im Äusseren und im Grossen
wirksam wird. Denn im Verwirklichungsprozess sind Denken, Sprechen und
Kommunizieren bereits erste Realitäten.
„Verwandle deine Sehnsucht in Arbeit“ 1 , lautet mein gegenwärtiges Projekt. Sofie
Honig ist dabei meine Kunstfigur und mein Werkzeug.
Meine schriftlichen Reflexionen basieren auf Grundannahmen, wie sie im Kulturimpuls
für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) formuliert werden. Darin ist
die Neudefinition von Arbeit von zentraler Bedeutung. Ebenso reflektiere ich eine
Kontextualisierung meiner neuen Rolle im Feld performativer und aktionistischer
Kunst. Und da dies alles auch viel mit Geist und Bewusstsein zu tun hat, erkunde
ich ausserdem die mythologischen Bedeutungen des Namens.
2.1. Tätigkeiten der Sofie Honig
Sofie Honig führt Gespräche. Folgende drei Fragen sind dabei ihr Leitfaden:
„Was verändert sich in Ihrem Leben, wenn für Ihr Grundeinkommen gesorgt ist“
„Was oder woran oder wofür möchten Sie wirklich wirklich 2 arbeiten“
„Was macht Sie reich“
A
Hohl 1981, S. 33
1
Dies ist einer der Kernslogans aus Frithjof Bergmanns Plädoyer für Neue Arbeit. Er geht davon aus, dass die meisten Menschen unter einer
‚Armut der Begierde’ leiden und darum nicht tun resp. arbeiten, was sie wirklich und wahrhaftig aus tiefstem Herzen und mit aller Hingabe
wollen und können. Bergmann 2004, S. 134 ff.
2
Diese Wort-Verdoppelung ist eine Wortschöpfung Bergmanns. Sie steht für die ureigene Sehnsucht mit Tatendrang (s. Fussnote 1 ).
8
Rex-Aktion, Herbst 2010
Meine Tätigkeit besteht aus 7 Schritten:
Ich gehe auf die Person zu und mache mein Gesprächsangebot.
Ich erläutere bei Gesprächsbeginn meinen Identitätswechsel.
Mein Gegenüber und die drei Fragen stehen nun ganz im Zentrum.
Ich zeichne das Gespräch wenn möglich auf und mache Handnotizen für das
Kurzprotokoll, genannt MEMO 3 .
Mein Gegenüber hat (das kommt neu hinzu) die Gelegenheit, mit eigenen Händen
eine einfache und spontane Kleinskulptur anzufertigen.
Wir überreichen uns unsere GABEN...
und schliessen ab, indem wir nochmals kurz gemeinsam Revue passieren.
Vor Gesprächsbeginn führe ich also meine Kunstfigur Sofie Honig ein als jene, die
aus der Fülle schöpft und die für mein ‚Alter Ego’ resp. für eine ‚höhere Vision meiner
selbst’ steht. Ich mache damit einerseits klar, dass mir als Gerda Tobler die Sorgen
und Nöte des Lebens und die Grenzen des Alltags und meiner Person nicht
fremd sind. Andererseits kann ich so meine Gegenüber dazu einladen, es mir versuchsweise
‚gleich’ zu tun und über ihre Alltagsidentität hinauszuwachsen. Meine
Rollentransparenz erachte ich als für beide Beteiligten hilfreich, um leicht(er)füssiger
in unser spielerisches und dennoch ernst zu nehmendes Gespräch einzusteigen.
Durch Sprechen wird hör- und sichtbar, was bisher vielleicht nur gedacht oder geträumt
wurde. Dies zu kommunizieren, schafft eine erste Ebene von Wirklichkeit.
Gesprochene Worte haben mehr Verbindlichkeit als Gedanken (ausser, diese werden
sehr klar und sehr oft und über eine lange Zeit immer wieder gedacht). Sprechen
hilft, Unschärfen im eigenen Denken zu erkennen. Oder hinderlichen Glaubenssätzen
wie zum Beispiel ‚Das steht mir doch gar nicht zu’, oder ‚Das kann ich nicht’ etwas
3
s. Beispiele auf S.24 und S. 27, sowie im Anhang
9
mehr auf die Spur zu kommen. Und um die eigenen Wünsche klarer zu erkennen.
Sprechen ist eine erste Form von Probehandeln.
Jedes MEMO versehe ich mit einer individuellen, zur Person und zum Gespräch mir
passend erscheinenden Skizze. Dieses überreiche ich als kleines, originales Künstlergeschenk.
Die (Gegen-)GABE meines Gegenübers ist natürlich freiwillig. Während der Zeit
meiner ‚MEMOrisierung’ besteht jedenfalls in meiner nächsten Aktion die Möglichkeit,
eine spontane Kleinplastik aus erhitztem ‚Polymorph’ zu formen. Polymorph
ist eine wachsähnliche Kunststoffmasse, die während fünf Minuten mit blossen
Händen bearbeitbar ist. Die Hände bleiben dabei sauber. Das eigenhändige Formen
setzt, als wahrscheinlich ungewohnter und überraschender Akt, ein symbolisches
Zeichen für neue Möglichkeiten. Die GABE symbolisiert ausserdem jenen Reichtum,
die jeder Mensch sein ganzes Leben lang in sich trägt: sein Vermögen, etwas zu
erschaffen und etwas von sich zu geben. Selbst, wenn er ‚nichts (mehr) hat’.
Das Zusammenspiel von Sprechen, Text, Bild und Form macht das Ereignis unserer
Begegnung ganzheitlicher und nachhaltiger.
Objekt und MEMO (in Fotokopie) werden in die wachsende Präsentation vor Ort
integriert, später dann auch auf Sofie Honigs Webseite (alles in anonymisierter
Form). Das Öffentlichmachen ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit.
10
3. Sofie Honig - eine Spurensuche
Das menschliche Arbeiten, das weltverändernde Wirken, vollzieht sich in drei
Stufen:
1. Die grosse Idee.
2. Die (der grossen Idee entsprechenden) Einzelvorstellungen [...]
3. Die (den Einzelvorstellungen entsprechenden) Einzelausführungen.
Kurz gesagt: Die grosse Idee, die kleinen Ideen, die kleinen Taten. [...]
Diese drei Stufen sollen das Ganze des menschlichen Handelns bilden
Sie bilden das Ganze, sind alles.
Wo bleibt dann die grosse Tat Folgt dann die grosse Tat etwa von selber
Nein. Sie ist schon geschehen.
Ludwig Hohl, 1944 B
Zuerst war da nur der Name, dann folgte die Figur. Sie ist ein veritabler Zufall, den
ich spontan und intuitiv ergriffen habe. Ich mime sie, obwohl sie keine von mir Getrennte
ist, denn sie ist sowohl Ich als auch Nicht-Ich. In der Stille ist sie mein unerschrockenes
Du. In der Begegnung mit Menschen ist sie ein erklärtes Sinnbild für
meine eigene Sehnsucht nach einer grösseren, weiteren Vision ‚der Welt’, der Arbeit,
der Kunst, meiner selbst. Mit dieser Transparenz lade ich meine Gegenüber
dazu ein, abgesteckte Grenzen im Denken zu überwinden und längst abgeschriebene
oder neu keimende Träume und Sehnsüchte mit Tatenpotenzial sichtbar werden zu
lassen. Sofie Honig ist ein Kunstgriff, der beiden dienen will.
Wandlung von Gerda Tobler ... ... zu Sofie Honig
Die äusserlichen Unterschiede sind diskret: Gerda T. trägt oft Hosen, sitzt kaum je
‚normal’ auf einem Stuhl, Sofie H. trägt immer einen gelben Jupe und ein
Ohrgehänge mit Stern. Top und Strümpfe variieren saisonbedingt. Sie sitzt unauffälliger,
wirkt vielleicht insgesamt etwas ‚weiblicher’, damenhafter – ein bisschen
mehr ‚comme il faut’ – nicht gerade aufregend, dafür ohne Irritationen.
B
Hohl 1981, S. 23/24
11
3.1. Wie die Figur mich fand
An einem grauen Wintertag im Januar 2010 besuchte ich zusammen mit meinem
Praxis-Mentor Manfred Seiler das mit ihm befreundete Künstlerpaar Constanze und
Norbert Illig 4 in Worms (DE). Wir sprachen intensiv über meine ‚68 Milliarden-Initiative’
5 . Mit dem ersten Entwurf bewarb ich mich für das Masterstudium ‚Arts in
Public Spheres’. Eine künstlerische Initiierung desselben hatte ich zu jenem Zeitpunkt
noch immer fest im Sinn. Während einer gemeinsamen Köpfe-Verlüftungs-
Pause auf dem alten jüdischen Friedhof begegneten wir uns:
Sofie Honig, seit bald 90 Jahren namentlich in Stein gemeisselt (1845 – 1924), und
ich, klamm vor Kälte und in Anbetracht meines grossen Vorhabens ziemlich verzagt.
„Was für ein schöner Name! So hiesse ich für’s Leben gerne!“ rief ich spontan.
„Dann nenn dich doch so für dein Projekt!“ rieten mir darauf die Illigs. Das leuchtete
mir sofort ein. Ich vergass die Kälte und war begeistert. Sofie Honig würde mir als
Schutzschild dienen für die Meisterung meines 68Giga-Projektes. Obwohl ich noch
keine Ahnung hatte, wie. ‚So tun als ob’ und damit ein Stück über mich selber hinaus
wachsen - diesen Spielraum versprach sie mir.
Vom Namen unmittelbar bezaubert, hatte ich bald einmal grosse Lust, mehr darüber
zu erfahren. Zumal eine gängige Redensart lautet: nomen est omen. ‚Sofie Honig’
als Zeichen Programm Oder gar mein Wesen Die Recherchen führten mich an
reiche Töpfe und in teilweise unbekanntes Neuland:
3.2. Honig
„Wer ist näher beim Honig als ein Imker“, dachte ich, und wurde dort dann auch
schnell fündig. Der deutsche Imker Werner Förster 6 hat aus verschiedenen Kulturen
Wissenswertes rund um Honig zusammen getragen. Er schreibt unter anderem, dass
Honig nicht nur Urnahrung ist, sondern in allen Überlieferungen des Orients und
Okzidents ein Sinnbild für Reichtum und Gerechtigkeit sowie ein Symbol der Erkenntnis,
des Wissens und der Weisheit war.
Im Gelobten Land respektive im Paradies fliessen Milch und Honig in Strömen, so
verspricht es uns das alte Testament. Das über 3000 Jahre alte Buch der Psalmen
(griechisch Lobgesang) erwähnt Honig als Synonym für Das Wort, das in
„[...]meinem Munde süßer (ist) denn Honig.“ 7 Die Kelten brauten aus Honig Met, ihr
Getränk für die Unsterblichkeit; und auch im griechischen Olymp war Honigwein der
Trank der Götter. Vielleicht sind diese beiden ‚Fakten’ so zu verstehen, wie bereits
viel früher in den vedischen Lehren 7 , der Basis der indischen, weltältesten
Philosophietradition, ausgeführt wird: ‚Amrita’ (Sanskrit) heisst dort der süsse Trank
der Unsterblichkeit. Er wird in unserer Hypophyse produziert und strömt im
4
Auch ‚die Illigs’ befassen sich in ihrem Kunstschaffen mit den Themen Gesellschaft, Arbeit und Geld. http://www.arbeitsagenten.de/
5
68 Milliarden = der analoge Frankenbetrag der im Jahr 2008 bundesrätlich gesprochenen Summe zur Rettung der privaten Grossbank UBS.
Die im Mai 2009 zusammen mit Martin Flüeler formulierte ‚68er-Initiative’ war ein erster Versuch, auf jenen absolut undemokratisch
gefällten Entscheid eine schöpferische Antwort zu finden. Zitat aus unserer Einführung: „[...] Wir müssen uns lösen von der absurden Idee
des Mangels inmitten einer weltweiten Absatz- und Überflusskrise. Wir setzen auf die Fülle (geistig und materiell), um nun auch das von der
UBS hinterlassene Problem anzugehen. Frischgeld soll unter den Menschen in Umlauf gebracht werden, statt in neuen Spekulationsblasen zu
verpuffen. [...])“ Das Arbeitspapier befindet sich im Anhang.
6
Förster, Werner: Herr der Bienen- Bienen und Honig in der Mythologie. http://werner-foerster.de/seiten/f_werner1.htm. online 25.2.11
7
Biblos.comm 2004 – 2011, Psalm 119/103. Lutherbibel 1912 http://bibeltext.com/psalms/119-103.htm, online 11.4.11.
7
Vedische Schriften (zB BhagavadGita, Upanischaden, YogaSutras) bilden im allgemeinen die ‚Theroie’ jeder ernsthaften yogischen Praxis.
12
Augenblick der Selbsterkenntnis, hier gemeint als Vereinigung des individuellen mit
dem überindividuellen Selbst, als unbeschreiblich köstliche Süsse durch die menschliche
Kehle. Das Paradies liegt also in uns. - Vielleicht ist dies mit ein Grund,
weshalb „[...]Honig auch in der modernen Psychoanalyse das ‚Über-Ich' symbolisiert, als
letzte Stufe der Arbeit an sich selbst.“ 9
Ausserdem ist Honig von alters her in allen Kulturen für seine heilende Wirkkraft
bekannt und er wird heute in der Medizin wieder neu entdeckt.
„Da immer weniger neue Antibiotika entwickelt werden und die Resistenz gegen
die ‚alten’ Antibiotika rasant zunimmt, kommt es jetzt im modernen Wundmanagement
zu einer beeindruckenden Renaissance: das älteste Süssungsmittel
der Welt wird wieder verstärkt zur Wundheilung eingesetzt. Besondere Bedeutung
hat medizinischer, enzymreicher Honig bei schlecht heilenden und eitrigen
Wunden.“ 10
Honig ist gesund, das ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass Honig gut ist für unser
Gehirn. Er regt die Bildung der hormonähnlichen Substanz Serotonin an, was unser
Wohlbefinden und die Fähigkeit zu Konzentration 11 merklich steigert.
3.2.1 Honig und Kunst
Das Geheimnis der Bienen und des Honigs wurde von Rudolf Steiner (1861–1925)
auf alchimistische und gleichzeitig moderne Weise erforscht 12 Joseph Beuys (1921–
86) setzte sich mit Steiners Anthroposophie intensiv auseinander. Dies kommt auch
in seiner Installation ‚Honigpumpe am Arbeitsplatz’, die er 1977 erstmals für die
‚Documenta 6’ aufbaute, sehr deutlich zum Ausdruck:
150 kg Honig zirkulierten ununterbrochen durch ein Adersystem aus transparenten
Kunststoff-Schläuchen durch Untergeschoss, Treppenhaus und Obergeschoss des
Museums Fridericianum. Im lichtdurchfluteten Obergeschoss wurde täglich diskutiert.
Joseph Beuys sprach mit den BesucherInnen über seinen Erweiterten Kunstbegriff
und die Soziale Plastik 13 und die Direkte Demokratie. Er verglich dabei das
Modell des Bienenstaates mit dem ‚Wärmecharakter der Sozialen Plastik’. - Die Bienen
produzieren Wärme in ihrem Stock und regulieren auch gemeinsam die genau richtige
Nestwärme für die gewünschte Gehirnentwicklung ihrer Brut. 14
9
WUND-Management Tirol, 2011: http://www.wundmanagement-tirol.at/files/honig_petra_lanner_sarah_gunsch_2010.pdf , vom 13.3.11
10
Lanner/Gunsch ebd.
11
TopLife, 2003-11. Wie wirkt Honig auf die Gesundheit http://www.toplife.at/gesundheit/artikel153.html, online 15.4.11
12
Board für Steiner und Grenzwissenschaften, 2001-2009 WoltLab GmbH. Das Geheimnis des Bienenhonigs.
http://www.boards-4you.de/wbb26/64/thread.phpthreadid=23&sid=4b13b090bdf875d7e950b65dcdf3e4e3, online 11.4.11
13
[...]unter der er eine kreative Mitgestaltung an der Gesellschaft durch die Kunst verstand, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Beuys,
11.3.11. online 20.4.11
14
[...] Forscher vom Biozentrum der Uni Würzburg haben herausgefunden, dass [...] der gesamte Bienenstock darüber entscheidet, wie die
zukünftige Arbeitsteilung im Staat aussehen wird. [...] Bienen könnten als Modellsystem dienen, um den Einfluss von Umweltfaktoren auf
das Gehirn zu untersuchen.“ vgl. http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/gesundheit/das-wohltemperierte-revier-die-waerme-imbienenstock/507276.html
vom 15.4.11.
13
14
2. Postkarte von Sofie Honig an Gerda Tobler
Die ‚Honigpumpe am Arbeitsplatz’ stand als Metapher für den menschlichen und
den gesellschaftlichen Organismus: Die elektrisch angetriebene Pumpe war das
Herz, der zirkulierende Honig das Blut, dieser ‚besondere Saft’ (so Goethes Faust)
und Träger unserer Lebensenergie.
Beuys’ Installation ist ohne Zweifel auch als Plädoyer zu verstehen für eine neue
Sicht auf Arbeit und Einkommen: alle arbeiten füreinander, analog dem Beispiel der
Bienen. Inspiriert von Steiners Geisteswissenschaften veranschaulichte Beuys damit
auch dessen Überzeugung, dass das
„Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen um so größer ist, je
weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das
heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je
mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den
Leistungen der anderen befriedigt werden.“ 15
Ich fasse kurz zusammen: Honig ist ein Sinnbild für Reichtum, Gerechtigkeit, Erkenntnis,
Wissen, Weisheit und glücklichem Sein. Honig kann heilen. Honig ist auch
Das Wort. Er steht für die vollendende Arbeit an sich selbst. Und für das Blut, Träger
unserer Lebensenergie. Ausserdem ist er süss, gesund und nährend. Er fördert
unser Wohlbefinden und die Intelligenz.
Kurz: ‚Honig’ entpuppt sich als perfekter Nachname für eine Aktivistin, die sich
vorgenommen hat, aus der Fülle zu schöpfen. Und Sofie
3.3. Sofie, Sophie und Sophia
Sofie
Via Internet habe ich eine Doppelgängerin ausgemacht: Sofie Honig (*1967) aus
Hamburg. Sie ist Journalistin. Mit ihr werde ich vor meiner für Sommer 2011 geplanten
Hamburgreise Kontakt aufnehmen. Eine Begegnung mit ihr könnte spannend
werden.
Sophie
Sophie Hunger (*1983) ist Schweizer Sängerin und Songwriterin. Eigentlich heisst
sie Emilie Jeanne-Sophie Welti. Zu Beginn einer neuen Bekanntschaft wird mein
Name aufgrund der phonetischen Nähe oft mit ihr in Verbindung gebracht. Das war
mir bei meiner Spontanwahl nicht bewusst. Beim Nachdenken fand ich aber doch
noch mehr Verbindung. ‚Hunger’ könnte durchaus am anderen Ende von ‚Honig’
stehen, und ‚Hunger’ könnte auch ‚Sehnsucht’ heissen. Sehnsucht nach Sättigung -
mit Honig. In Sophie Hungers Liedern schwingt die Sehnsucht übrigens immer mit.
Mit der französischen Konzept- und Fotokünstlerin Sophie Calle (*1953) verbindet
mich ausser dem Vornamen auch der Zufall. Zu ihrem Werdegang sagt sie, dass sie
rein zufällig Künstlerin geworden sei. Es zirkulieren allerdings auch andere Versionen
ihrer Biografie. Sophie Calle ist eine raffinierte und faszinierende Meisterin des Mimikri,
der Verschleierung und der Täuschung. Sie schafft Wahrheiten, indem sie diese
fotografisch dokumentiert (oder inszeniert) und mit wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen
Geschichten bestückt. Auch rückwirkend. Sie ist gleichzeitig Voyeuse
und Exhibitionistin des Privaten und Intimen - ob ihres eigenen oder jemandes Frem-
15
vgl. Steiner, Rudolf. Geisteswissenschaft und soziale Frage. Drei Aufsätze. Dornach 1989, S. 22 – 23.
15
den -, immer auf Messers Schneide zwischen banalem Klischee und assoziationsreichen
Anspielungen. Und immer wieder stellt sie in ihrem Spiel mit Wahrheiten die
Frage nach der Identität. Sie ist eine virtuose Künstlerin, die mir - wie übrigens auch
der Hannover Kuratorin Inka Schube 16 - eine Art unfassbaren Unbehagens bereitet.
Auf ihr eindrückliches Werk ‚The Blind’ möchte ich nachfolgend etwas näher eingehen.
1986 befragte Sophie Calle 23 blindgeborene Männer, Frauen und Kinder,
was deren Vorstellung von Schönheit sei. Sie porträtierte ihre Gesichter von nahe,
frontal, in schwarzweiss. Unser Blick trifft nun direkt auf blinde Augen, von denen
wir wissen, dass sie nie zurückblicken können. (Das Gefühl, als Betrachterin unausweichlich
zur Mit-Voyeuse zu werden, bewirkt eine grosse Ambivalenz.) Die Kernaussagen
über Schönheit hielt Sophie Calle in kurzen Sätzen als schwarz gerahmte
Textbilder fest. Und sie visualisierte diese Aussagen mit einer oder mehreren farbigen
Reproduktionen von vorgefundenem Bildmaterial, ebenfalls dick und schwarz
gerahmt. 17
Calles Befragung war paradox. Es ist zwar anzunehmen, dass auch Blinde eine eigene
Vorstellung, oder besser: Erfahrung von Schönheit haben. Es verblüfft darum,
dass die meisten Blinden mit Metaphern von Sehenden antworteten. Sie mussten
sich also auf Aussagen von Dritten stützen. Zum Beispiel „Grün ist schön. Immer wenn
mir etwas gefällt, sagt man mir, es sei grün. [...].“ 18 Nur wenige verliessen sich auf ihre
eigensinnliche Erfahrung von Schönheit, die sie zum Beispiel durch Berührung oder
Klang machen. Ein einziger der Befragten verweigerte sich jedoch „[...] der Bilder im
Kopf, da er die Schönheit, von der geredet wird, nicht zu erfassen vermag [...].“ 19
Das Gemeinsame und gleichzeitig Trennende unserer Arbeit fasse ich so zusammen:
Wir beide befragen Menschen und wollen deren Vorstellung von Schönheit – was
aus meiner Perspektive auch ein anderes Wort sein kann für Fülle - sichtbar machen.
Calles Ansatz ist, wie übrigens ihr gesamtes Werk, eine Art Spurensicherung, die
jedoch nicht weiter führt. Und die das auch nicht anstrebt. Sie hält fest, was gerade
‚der Fall’ ist. Nichts führt über die Gegenwart hinaus, nur allenfalls in die Vergangenheit.
Mit meiner Arbeit möchte ich hingegen vom bewusst wahrgenommenen und reflektierten
Jetzt, ausgelöst durch die drei Fragen, in eine mögliche Zukunft führen, die
eine eigene Entwicklung nicht nur beinhaltet, sondern auch anstrebt.
Die amerikanische Malerin Agnes Martin (1912-2004), die sich in ihrem Werk stets
mit Schönheit und Wahrheit auseinandersetzte, begleitet mich seit bald 20 Jahren
mit folgender Aussage, die mich immer wieder inspiriert:
„Wenn ich an Kunst denke, denke ich an Schönheit. Schönheit ist das Geheimnis
des Lebens. Sie liegt nicht im Auge. Sie liegt im Innern. In unserem Innern
gibt es Erkenntnis von Vollkommenheit.“ 20
Bis anhin stellte ich mir immer vor, dass blinde, und umso mehr blindgeborene Menschen
‚von selbst’ mehr nach innen schauen. Vielleicht war diese meine Vorstellung
16
vgl. Schube 2002, S. 19 - 27
17
Schube a.a.O. S. 41 - 87
18
ebd. S. 49
19
ebd. S. 26
20
vgl. Schwarz 1992
16
‚falsch’. Oder vielleicht war Sophie Calles Frage an die Blindgeborenen ‚falsch’. Die
Antwort muss in der Schwebe bleiben – was ihrer Kunst eigentlich sehr entspricht.
Sophia...
.. die grosse Namensschwester von Sofie und Sophie, ist die Bekannteste von allen.
Vorwiegend als ‚die andere Hälfte’ von Philos, Theos und Anthropos. Auch ich
kannte sie bislang vor allem so. Sophia, griechisch für Weisheit, galt als Mutter der
sieben freien Künste Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Musik, Arithmetik, Geometrie
und Astronomie (übrigens allesamt Töchter).
Sophia trat auch als machtvolle weibliche Gottheit oder Archetyp auf, je nach Zeitepoche
und Kultur unter vielen verschiedenen Namen und in verschiedenen Formen
21
Zum lebensfrohen König Salomo (10. Jh. vor Chr.), der ausser seinen 1000 Frauen
die Weisheit über alles liebte, soll sie wie folgt gesprochen haben:
Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf,
seit Anbeginn. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.
[...] Da er die Himmel bereitete, war ich daselbst, da er die Tiefe mit seinem Ziel
faßte. [...] da er dem Meer das Ziel setzte und den Wassern, daß sie nicht
überschreiten seinen Befehl, da er den Grund der Erde legte: da war ich der
Werkmeister bei ihm und hatte meine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit. 22
Sophia war also von Anfang an dabei. Die englische Autorin und Priesterin Caítlin
Matthews hat weitreichend geforscht und spannt Sophias Bogen von uralten, sowohl
westlichen wie östlichen, philosophischen und mystischen Traditionen bis
hinein in unsere säkularisierte, männlich dominierte Gegenwart.
Nachfolgend ein Auszug aus dem Vorwort ihres Buches SOPHIA – Goddess of
Wisdom 23 :
21
Im hinduistischen und buddhistischen Kulturraum ist sie, um nur die wichtigsten zu nennen, Shakti, Saraswati, Durga, Maya, Radha, Kali,
Maha Devi, Tara, Yin, Kuan Yin; im abendländischen und nahöstlichen Kulturraum ist sie die Jungfrau Maria, die Schwarze Madonna, die
Heilige Geistkraft (Ruach), Gaia, Lilith, Isis, Shekinah. vgl. Matthews 1992.
22
Altes Testament, Sprüche 8, 22 – 30. vgl. Bible Study Tools, 2011, http://www.biblestudytools.com/lut/sprueche/passage.aspx
q=sprueche+8:22-30, online 1.3.11
23
vgl. Matthews 1992, S. 5 – 12.
17
aus dem Vorwort ‘SOPHIA – Goddess of Wisdom’
„[…] Sophia appears in nearly every culture and society. She is clearly distinguished
by unique qualities and symbolic representations: she is the leavening influence of
life. Without Wisdom, life is dull. Without Wisdom’s serendipity, things remain in
pieces. Wisdom connects, enlivens. She plays her game seriously, and her work
playfully, while we mortals work seriously and play playfully. She is a shy Goddess
and a queenly one, she is a protecting Goddess and a hidden one. Sophia is both
silent and veiled, unlike her partner, the Logos, who goes forth speaking openly.
But the silence of Wisdom precedes the speech of the Logos. […]”
„[...] Sophia is the great lost Goddess who has remained intransigently within
orthodox spiritualities. She is veiled, blackened, denigrated and ignored most of the
time: or else she is exalted, hymned and pedestalled as an allegorical abstraction of
female divinity. She is allowed to be a messenger, a mediator, a helper, a
handmaid: she is rarely allowed the privilege of being seen to be in full charge, fully
self-possessed and creativley operative.[…]
Wisdom is neither good or bad, male or female, Christian or Pagan: she is no-one’s
personal possession. The Goddess of Wisdom reaches down to the depths of our
need. Her simple being is so vastly present that we have not noticed it. Indeed, we
haven’t known the depths of our need nor that any assuaging wisdom was near at
hand.
[…] Where is Wisdom to be found asks the Book of Wisdom. This question is the
preoccupation of philosophers and theologians who make it their profession to find
out. But it is also the question of ordinary folk too: ‘How can I best do this What
does this mean’ are typical questions to find the wisest course. Between the one
and other there is a world of difference; it is what divides the theoreticist and the
practitioner. Once we allow Sophia to become an abstraction, we lose touch with
her. Our culture tells us that there is a great deal of difference between Divine and
Earthly Wisdom: that one is to be sought, while the other is to be despised. My
thesis is, that Divine and Earthly Wisdom, though having different appearances,
nevertheless partake of the same essence. Our society has mainly lost sight of
Sophia and attempted to split her into various manageable parcels. Frequently
reduced to God’s secretary who nevertheless still supplies all the efficiency of the
divine office, she is from all time the treasury of creation, the mistress of
compassion.
[…] We have been raised to think of Deity as masculine and therefore a goddess is
a shocking idea. But we do not speak here of a goddess, rather of the Goddess,
and we speak it boldly and with growing confidence, because we find we like the
taste of the idea.
When did we make up this idea some ask. We didn’t invent the Goddess. She was
always there, from the beginning, we tell them. Somehow, humanity left home and
forgot its mother. Perhaps our ancestors took her for granted so much that they
lost touch Well, our generation wants to come back home now and be part of the
family in a more loving way, because the West has still got a lot of growing up to
do and the Goddess has a lot to teach us.
18
What or who is the Goddess then Deity is like colourless light which can be
endlessly refracted through different prisms to create different colours. As the poet
William Blake said: ‘All deities reside in the human breast.’ The images and
metaphors which we use to describe deity often reflect the kind of society and
culture within which we have grown up. After two thousand years of masculine
images, the time of Goddess reclamation has arrived. […]
The re-emergence of the Divine Feminine – the Goddess – in the twentieth century
has begun to break down the conceptual barriers erected by othodox religion and
social conservatism. For the first time in two millennia, the idea of a Goddess as
the central pivot of creation is finding a welcome response. The reasons are not
difficult to seek: our technological world with its pollution and imbalanced ecology
has brought our planet face to face with its own mortality; our insistence on the
transcendence of Deity and the desacralization of the body and the evidence of the
senses threatens to exile us from our planet.
The Goddess appears as a corrective to this world problem on many levels. In past
ages she has been venerated as the World-Soul or spirit of the planet as well as
Mother of the Earth. Her wisdom offers a better quality of life, based on balanced
nurturing of both body and spirit, as well as satisfaction of the psyche. But we live
in a world in which the Goddess does not exist, for a vast majority of people. They
have no concept of a feminine aspect of God as immanent in creation, pervading
and penetrating all things, though found in the book of Wisdom, has almost been
forgotten. The Asian religions with their clear recognition of the feminine aspect of
God and of the power of God, the divine Shakti permeating the universe, may help
us to get a more balanced view of the created process. Today we are beginning to
discover that the earth is a living being, a Mother who nurishes us and of whose
body we are members.
[…] Perhaps the greatest factor in the re-emergence of the Goddess is the
Women’s Movement. Historically, women have been the bearers of children and the
makers of the home: natural roles which have been unfailingly reinforced by the
political and spiritual regimes of the past two millennia. With the advent of better
technology and contraception, women have at last become free to demand equal
status with men, to exercise their creativity and spirituality.
[…] She is distinguishable from many popular forms of the Divine Feminine by the
fact that she is a Black Goddess. She is black because she is primal. Hers is not a
blackness of skin (although she is frequently represented in this way) rather, like
Isis, she keeps her glory veiled. She often takes the appearance of a hag, an aged
widow or a dispossessed woman. Like Kali, she can shock and terrify. But she is
primarily the keeper of earthly and heavenly wisdom and the Guardian of its laws.
At the other end of the archetype, Sophia is gloriously beautiful, ageless, eternal,
mediating, transcendent spirituality.
[…] The greatest strength of Lady Wisdom is that she transcends the dualism that
has bedevilled our Western society since the fading of the prehistoric and Classical
eras when the Goddess was last manifest as a powerful entity of wholeness.[…]”
von Caítlin Matthews
19
Für uns Heutige ist Sophia im Allgemeinen ein Name, oder sie steht abstrakt für
Weisheit, mehr nicht. Hingegen spielt sie in Steiners Geisteswissenschaft eine herausragende
Rolle für Anthropos, den Menschen. Hier ist sie „die grosse Wurzel der
Gesamtheit alles Geschaffenen, d.h. die ganze Schöpfung und nicht bloss alles Geschöpfte. Die
Sophia ist [...] die ideale Person der Welt, ihr formender Grund, [...], die ewige Braut des
Logos. [...]“ 24 Anthropos, der sich durch sein Tun weiter entwickelt und so die Erde
verwandelt, erkennt sich selbst im Spiegel Sophias und findet so zu einem neuen
Gemeinschaftssinn. 25
Die anthroposophische Wirtschaftslehre mit ihrer ‚sozialen Dreigliederung’ 26 bringt ausserdem
zum Ausdruck, dass wirkliche Arbeit eben letztlich immer Arbeit für andere
und niemals nur für sich alleine sei. Und dass „[...]für die Mitmenschen arbeiten und ein
gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.“ 27 Das erklärt
möglicherweise, weshalb sich auffallend viele Menschen mit anthroposophischem
Hintergrund für ein von Arbeit entkoppeltes Grundeinkommen stark machen. Sophia
sitzt da quasi mitten im ‚Matronatskomitee’. Ich betrachte das eine beglückende
Koinzidenz meiner Namensfindung.
So erstaunt es vielleicht nicht mehr, dass ich Sophia, der mir bislang ebenfalls Unbekannten,
so viel Platz eingeräumt habe. Das ‚weibliche Element’, oder ‚Sophias
Geist’, manifestiert sich offenbar überall dort, wo Menschen heilende, verbindende,
schöpferische und gewaltfreie Strategien und Modelle entwickeln für eine gesellschaftliche
Notwendung.
Zum Abschluss meines Sophia-Exkurses zitiere ich darum die letzten Worten aus
‚Faust II’, Goethes letztem Werk, das mit verblüffender Klarheit die umwälzende
und fatale Entwicklung der modernen Geld- und Marktwirtschaft vorweg nimmt 28 :
Nachdem die ‚seligen Knaben’ berichten, Fausts einst dem Teufel verkaufte Seele sei
nun doch gerettet, spricht der ‚Chorus mysticus’:
„Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig- Weibliche,
Zieht uns hinan.“ 29
Wenn ich Fausts ‚Teufel’ (diabolus) ethymologisch etwas genauer unter die Lupe
nehme, wird sein Spielpartner hochaktuell: ‚dia’, griechisch ‚auseinander, entgegengesetzt’,
und ‚ballein, griechisch ‚werfen, treiben’, ergeben zusammen ‚die
24
Debus 2000, S. 101.
25
Debus a.a.O., S. 184.
26
Darunter wird ein Leitbild für gesellschaftliche Entwicklung verstanden, das in den Jahren 1917–20 von Rudolf Steiner entwickelt wurde.
Es gründet auf „Freiheit im Geistesleben“ / „Geschwisterlichkeit im Wirtschaftsleben“ / „Gleichheit im Rechtsleben“. Interessant ist hier auch
der Ansatz zur Überwindung von Lohnarbeit: „Neben die Umwandlung des alten Eigentumbegriffs hinsichtlich der Produktionsmittel tritt die
Grundüberzeugung, dass Arbeit nicht bezahlbar ist, mithin nicht gekauft werden kann. Der Warencharakter der menschlichen Arbeit ist nach
Ansicht Steiners eine Restform der Sklaverei, deren vollständige Überwindung erst mit der Abschaffung des Lohnprinzips gegeben ist.[...]“ .
vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Dreigliederung, 13.4.2011, online 4.5.11
27
Steiner 1989, S. 22 – 23.
28
vgl. Binswanger 2005.
29
Goethe1832., vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Faust._Der_Trag%C3%B6die_zweiter_Teil, 10.4.11, online 14.4.11
20
Kraft, die auseinandertreibt und spaltet’. Darauf liess sich Dr. Faustus also mit Leib
und Seele ein. Unsere Zeit, unser Denken und Handeln sind, metaphorisch gesprochen,
durchdrungen von solch auseinandertreibenden, teilenden und spaltenden
Kräften. Die Kernspaltungstechnologien können so als ultimativer Ausdruck dieser
Kräfte gelesen werden, deren nicht mehr kontrollierbaren Folgen im Falle von Supergaus
und atomaren Kriegen die Welt an den Rand des Abgrunds treiben.
Ich fasse zusammen: Meine ‚grosse Namensschwester’ Sophia, die Weisheit, das
‚Ewig-Weibliche’, verstehe ich nun als die integrierende, verbindende, emanzipierende,
lebendige, schöpferische und weise Kraft. In uns allen. - Ein besserer Name
hätte mir gar nicht zufallen können.
3.4. Sofie Honig – eine vorläufige Charakterisierung
Der Unterschied zwischen Gerda Tobler und Sofie Honig ist, rein äusserlich gesehen,
minim. Von ‚innen’ gesehen ist sie eine grössere Vision meiner Selbst. Weshalb
sie, metaphorisch gesprochen, ‚eine oder zwei Stufen höher steht’ als ich. Das ist
alles. Ihr Äusseres ist schlicht. Sie ist ohne Glamour; mann kann sie leicht übersehen,
zumal sie schon fast 60 ist. Eine reife Frau mit sichtbaren Lebensspuren. Ihr
Inneres ist jedoch heller, weiter, höher, tiefer. Das heisst, sie ist liebevoller, mutiger,
klarer, geduldiger, fröhlicher, radikaler als ich. Mein Alter Ego halt.
Gemeinsamkeiten: Der Hang zu grossen Themen. Die Sehnsucht nach Einfachheit
und die gleichzeitige Anziehung von Komplexitäten (wie auch die vorliegende Arbeit
veranschaulicht). Sie liebt zum Beispiel denselben Mann wie ich (der genial ist, aber
manchmal ziemlich kompliziert). Ausserdem lieben wir Katzen und sowieso alle Tiere,
vom Wurm bis zum Elefanten (die Mücken respektieren wir). Wir praktizieren beide
Yoga von Kopf bis Fuss und tanzen fürs Leben gern. Und tun es dennoch viel zu
wenig.
Der silberne, sternförmige Ohrhänger symbolisiert eine Verbindung zu Sophia.
21
4. Sofie Honig
als Werkzeug im öffentlichen Raum
Es kommt darauf an, das Richtige zu tun; ARBEITEN IST DIE REALISIERUNG DES
ERKENNENS. Aus Erkennen genährt, nährt es das Erkennen. Das Erkennen
nährt sich nicht selber.
Ludwig Hohl, 1944 C
4.1. Ein Tätigkeitsbericht
Kurz vor und hauptsächlich während meines ersten, dreiwöchigen Testlaufs als
Sofie Honig im Sozialinfo REX 30 führte ich insgesamt 38 Gespräche. Davon sind 27
aufgezeichnet. Von allen 38 gibt es ein Kurzprotokoll, das sogenannte MEMO. Mein
Arbeitsplatz befand sich im Warteraum, an desseb offenen Infodesk Sozialarbeiter-
Innen im Turnus Dienst leisteten. Meine Gesprächsecke hob sich vom restlichen
Mobiliar lediglich durch den rot gestrichenen Tisch und die an die Wand gelehnte,
rote Tischlerplatte ab, auf welche die drei Fragen weiss gestempelt waren. An der
von innen beleuchteten, milchgläsernen Trennwand hinter mir hing, lose angeordnet,
eine wachsende Zahl von MEMOs.
Rex-Aktion, Herbst 2010, Gesprächsecke samt Fragen-Tafel und MEMOs
Die meisten Gespräche (mit REX-‚Klienten’ 31 , Ausstellungs-BesucherInnen und vier
Rex-SozialarbeiterInnen) fanden hier statt. Die vom ‚bildhauerischen Aspekt’ her
eher umstrittene (zumindest von Seiten meines praktischen Mentors) Seilbahngondel
C
Hohl 1981, S. 40.
30
Das Sozialinfo REX ist ein niedrigschwelliger Erst-Beratungsdienst des Sozialdienstes Luzern. Vom 20.9. – 8.10.2010 bespielten ein Teil
der MAPS-Studierenden diese Räume. Titel der Ausstellung: ‚reich!’.
31
Menschen in prekären Situationen, die für eine anmeldungsfreie, soziale Erstberatung oder für eine Auskunft ins Rex kamen
22
landete schliesslich mangels Platz im Aussenraum. Sie wurde jeweils in Betrieb
genommen, wenn es im Info-Rex zu umtriebig oder laut war (insgesamt 5x).
Um mit den Rex-‚Klienten’
ins Gespräch zu kommen,
machte ich – von ein paar
wenigen Ausnahmen abgesehen
- jeweils den ersten
Schritt. Ich verliess
mich hier ganz auf meine
Wahrnehmung und Intuition.
Ein Gespräch dauerte
in der Regel zwischen 15
bis 25 Minuten; vier Gespräche
wuden durch ein
offizielles Erst-Beratungsgespräch
mit dem/der SozialarbeiterIn
unterbrochen.
Da diese Erstberatungen
ohne Voranmeldung
möglich sind, war eine zeitliche Koordinierung manchmal schwierig. Nach einem
solchen Unterbruch nochmals das Interview aufzunehmen, erwies sich ebenfalls
als schwierig. Konkret hatte dies zur Folge, dass ich
ein unterbrochenes Interview nicht mehr zu Ende führen konnte (wir wurden bei
Frage 2 unterbrochen),
vier Personen nach dieser Erstberatung sofort gehen mussten, weil sie irgend
etwas zu erledigen hatten. Sie konnten also auch nicht mehr auf ihre fast fertigen
MEMOs warten, kamen aber (mit einer Ausnahme) an einem anderen Tag
wieder vorbei, um diese abzuholen.
In zwei weiteren Fällen (wir hatten noch nicht oder kaum zu reden angefangen)
verschoben wir unser Gespräch auf einen anderen Tag. Was ein guter Entscheid
war.
Die Interviews zeichnete ich auf - sofern genehmigt - und machte dazu Handnotizen,
die ich unmittelbar danach für das Kurzprotokoll (MEMO) verwendete. Diese
MEMOs versuchte ich während jener Zeitspanne zu realisieren, da die Person ihre
Sozialberatung erhielt (ca. 20 Minuten). Was meistens gelang.
Die Idee für die MEMOs tauchte schon in den ersten Anfängen des Projektkonzipierung
auf. Da ein Interview in der Regel ein flüchtiges Ereignis ist, sollte das MEMO
für mehr Nachhaltigkeit sorgen, als eine Art ‚Spurensicherung’ oder ,Knoten im Taschentuch’.
Ausserdem versah ich diese Protokolle mit individuellen Skizzen, was
jedes Blatt in ein kleines ‚Kunstoriginal’ verwandelte. Das MEMO unterstreicht und
unterstützt nicht nur den Handlungs-Vorbereitungs-Charakter für die Sprechenden
durch das Nichtflüchtige von Schrift und Bild. Es ist auch ein Symbol für Entstehung
von Fülle durch Geben. (Mehr dazu unter 5.3 – von der Gabe).
23
24
MEMO Rex-Aktion
4.2. Die Gespräche
Nachfolgend eine kurze Zusammenfassung der Gespräche - als Stimmungsbild:
zu Frage 1: „Was würde sich in Ihrem Leben verändern, wenn für Ihr
Grundeinkommen gesorgt wäre“
Abgesehen von einer Ausnahme hätten sich alle Interviewten unmittelbar entlasteter
gefühlt, auch rückblickend auf ihr ehemaliges Arbeitsleben. Ohne Ausnahme würden
alle ihre Lohnarbeit (so sie denn eine hatten) reduzieren, selbst wenn sie diese gerne
machen. Die neu gewonnene Zeit würden sie wahrnehmen für mehr Müssiggang,
mehr Zeit für sich, für eine Vertiefung anderer Interessen, für mehr Anteilnahme am
Leben anderer Menschen und Lebewesen (das Helfenkönnen wurde sehr oft erwähnt)
und für mehr Freude am Leben und Arbeiten überhaupt. 32
zu Frage 2: „Was oder Woran oder Wofür würden Sie dann wirklich
wirklich arbeiten wollen“ (Weil Sie es gut können oder gerne machen
oder für sinnvoll oder notwendig erachten.)
Etwa zur Hälfte wurde geantwortet, dass es dieselbe Arbeit wäre, einfach weniger
davon, dafür besser ausgeführt. Die andere Hälfte wollte etwas ganz Neues arbeiten,
erlernen oder studieren. Hier wurde auch die Sehnsucht Thema: An etwas mit
viel Herzblut und Leidenschaft arbeiten können; kreative, humanitäre, handwerkliche
oder subsistente und sowieso eine sinnstiftende Arbeit machen. Vor allem von Seiten
der Arbeitslosen war der dringende Wunsch unüberhörbar, wieder gebraucht zu
werden, sich tätig für etwas oder jemand einsetzen zu können und dafür auch Wertschätzung
zu erhalten. 33
zu Frage 3: „Was macht Sie reich“
Von über 2/3 der Befragten wurde an erster Stelle Freiheit und Selbstbestimmtheit
genannt, sowie Grosszügigkeit, etwas von seinen Gaben an ‚die Welt’ weitergeben
zu können. Ausserdem das Gelingen von Arbeiten und Beziehungen, Zufriedenheit,
Verbindung zur Natur und anderen Menschen/Lebewesen, Geborgenheit in der
Familie, die Teilhabe an Bildung, Kultur und Gemeinschaft, die Vermehrung von
Wissen. Manchmal wurde hier sogar der Wert von Erfahrungen wie Nichtgelingen
oder einer (überstandenen) schweren Krise/Krankheit genannt, als Herzöffner für
mehr Mitgefühl, Lebenstiefe. Krisen als Chance für inneres Wachstum. Das Geld
kam - mit einer einzigen und sehr expliziten Ausnahme - erst an letzter Stelle. Einfach
gerne genügend davon haben, damit man sich nicht sorgen muss. Das schon.
Nachklang der Gespräche
Die Begegnungen und Gespräche empfand ich als Bereicherung. In meiner Rolle war
mir von Anfang an wohl; sie entsprach mir, und sie kam gut an. Für alle diese Erfahrungen
war und bin ich sehr dankbar. Einige GesprächspartnerInnen besuchten
mich Tage später nochmals, um sich ein weiteres Mal zu bedanken. - Während meiner
Arbeitszeit im Rex konnte ich mit vier Rex-MitarbeiterInnen ein Interview führen;
zwei von ihnen hatten einen regelmässigen Beratungsturnus am Infodesk, sodass
32
Ich verweise in diesem Zusammenhang gerne auch auf die vielen schriftlichen Statements und gefilmten Interviews auf der Webseite der
Grundeinkommens-Initiative. http://initiative-grundeinkommen.ch/content/stat/
33
sämtliche MEMOs sind auf meiner Webseite gerdatobler.ch oder sofiehonig.ch zu finden
25
wir uns mit der Zeit fast wie Arbeitskolleginnen wahrnahmen. Der Abschied am
Ende der dreiwöchigen Praxis war von gegenseitigem Bedauern begleitet. Wir hätten
noch eine gute Weile so weiter machen können. 34
Die Rex-Kontakte erfuhren dennoch keine Fortsetzung. Da ich nicht in Luzern lebe,
gab es keine zufälligen Wiederbegegnungen. Hingegen sind ein paar der Gespräche,
die ich vorgängig in meiner eigenen Umgebung führte, nachhaltig. Aus mindestens
drei Gesprächen mit mir vorher fremden Menschen hat sich eine Art von loser
Freundschaft entwickelt. Bei einer zufälligen Begegnung finden keine Höflichkeits-
Smalltalks statt. Unsere Gespräche sind wesentlicher. Die drei Fragen wirken nach.
4.3. Sofie Honig im FabLab
Anlässlich der FabLab-Eröffnung 35 vom 24.-26. Februar 2011 trat ich am 26.2. erneut
als Sofie Honig auf. Bei dieser Aktion war ich selber unterwegs, ausgerüstet
mit Notizblock und Aufnahmegerät. Ich mischte mich unter die zahlreichen BesucherInnen
und sprach sie nach Gutdünken an. ‚Verwandle Deine Sehnsucht in Arbeit’
war nun mein formuliertes Test-Leitmotiv (mit dem Grundeinkommen als ‚Hintergrund-Rauschen’).
FabLab, 26.2.2011. Die Arbeits-Wunsch-Tafel wird von Gesprächsteilnehmern beschriftet.
Innerhalb von sechs Stunden ergaben sich sieben interessante Gespräche, diesmal
vor allem mit AkademikerInnen. Sie dauerten 15 – 30 Min. Meine neuen MEMO-
Formulare waren für diesen Anlass etwas kleiner.Ich konnte sie, da skizzenfrei, fast
unmittelbar nach dem Interview überreichen. Für eine aktivere Partizipation der
GesprächspartnerInnen bot ich die Möglichkeit, ein eigenes Résumé auf die grosse
schwarze Tafel in meiner improvisierten Ecke zu schreiben. Vier Personen nahmen
diese Möglichkeit wahr.
34
Ausserdem organisierte ich für 7.10.2011 ein Podiumsgespräch im Rex zum Thema ‚Existenzangstbefreiung’ mit Dr. Jair Stern (Neustart
Schweiz und Transition Town Movement), Albert Jörimann (Basic Income Earth Network Schweiz), Martin Flüeler (68er-Initiative) und
Nadine Wietlisbacher (Moderation). Unter den rund 25 (allesamt schulexternen) Teilnehmenden befanden sich auch 2 Rex-MitarbeiterInnen
und 2 Rex-KlientInnen.
35
Das FabLab ist eine Initiative des Interdisziplinären Schwerpunkts CreaLab (HSLU), wo ich unter Prof. Simone Schweikert (sel.) im 3.
Semester Pilot-Gaststudentin und teilweise Studienaufbau-Assistentin war. http://luzern.fablab.ch
26
Die dritte und eigentlich ‚intimste’ Frage (Was macht Sie reich) liess ich dieses Mal
bewusst weg, denn dafür war zu wenig Ruhe im Raum. Die Vermutung, dass es
aber genau diese Frage ist, welche die Gespräche rund um Arbeit und Sein tiefgründiger
abrundet, bestätigte sich. Eine wichtige Erkenntnis.
Die Gespräche mit den beruflich und gesellschaftlich besser situierten Menschen,
die sich für die Eröffnungstage ins FabLab begaben, unterschieden sich sonst kaum
von jenen im Rex.
MEMO FabLab-Aktion
27
28
dritte Postkarte von Sofie Honig an Gerda Tobler
5. Rollenspiele und Erkenntnisprozesse
Arbeit ist Bewegung ..., ABER DIE UNSRIGE. Wir haben die verhängnisvolle Fähigkeit,
andere nachahmen zu können, z.B. ein Mühlrad.
Das wirkliche Mühlrad, das sich dreht, arbeitet: denn das Drehen ist seine
Bewegung, ist seine volle Möglichkeit. Auch die Katze arbeitet mit ihren Bewegungen,
sie ist vollständig da in ihnen, vollführt sie zu ihrem Fortschritt. Und
die Kinder vorwiegend. Wer das hohe Lob der Kinder im Neuen Testament -
eine der eigentümlichsten und vielleicht die modernste Seite dieser interessanten
Schrift [...] – wer dieses unvermittelt hervorbrechende, intensive Lob der
Kinder nicht voll begreift, sondern mühsam erklären muss – was ungefähr das
Gegenteil ist von vollem Begreifen - , ja, der hat auch nicht begriffen, was
Arbeit ist.
Ludwig Hohl, 1944. D
5.1. Das Rollenspiel und das Selbst
Der amerikanische Soziologe Erving Goffman (1922 – 1982) ging in seinen Forschungen
36 von der Grundannahme aus, dass wir alle Theater spielen, ob bewusst
oder unbewusst. Denn wir können gar nicht anders, als uns in irgend einer Weise zu
(ver)halten und etwas darzustellen, ob mit oder ohne sozialer Interaktion.
Auf der Bühne des Lebens sind wir laut Goffman immer sowohl darstellende Person
(griechisch ‚Maske’), als auch Teil des Publikums. Wir betrachten das Spiel der Anderen,
reagieren, interagieren und werden selber wieder zu Akteuren. Der Rollen
sind viele, sowohl im Sozialleben wie in der Arbeitswelt.
[In diesen Rollen] „erkennen wir einander; [..] erkennen wir uns selbst. In einem
gewissen Sinne und soweit diese Maske das Bild darstellt, das wir uns von uns
selbst geschaffen haben – die Rolle, die wir zu erfüllen trachten -, ist die Maske
unser wahreres Selbst: das Selbst, das wir sein möchten.“ 37
Üblicherweise identifizieren wir uns mit unserer jeweiligen Rolle; wir sagen beispielsweise
„Ich bin Kellner“, „Ich bin Hausfrau“, „... Künstlerin“, „... Manager“ usw.
Schon in der Sprache zeigt sich: die Identität wird mit der Rolle gleichgesetzt, sowohl
von einem selbst, als auch vom Publikum, vor allem, wenn die Rolle gut gespielt
ist.
[Dieses) „[...] Selbst als dargestellte Rolle ist also kein organisches Ding, das einen
spezifischen Ort hat und dessen Schicksal es ist, geboren zu werden, zu reifen
und zu sterben; es ist eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten
Szene entfaltet, und der springende Punkt, die entscheidende Frage ist,
ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist.“ 3 8
In beruflichen wie sozialen bis hin zu geschlechts- und rollenspezifischen Kontexten
gibt es einen ganzen Kanon von Symbolen, Posen, Kleidungs- und Sprachkodexen.
D
Hohl 1981, S. 13
36
Goffmann 1969.
37
Goffmann a.a.O. S. 21.
38
ebd. S. 231.
29
Jede Gruppe/Institution hat dazu ihre eigenen, oft ungeschriebenen Gesetze, Werte
und Codes. Letztlich sind das alles äussere Zeichen, Teile der Maske.
Des Weiteren hätten wir, so Goffmann, als DarstellerInnen die Tendenz, beim Publikum
einen idealisierten Eindruck zu erwecken:
„Versuchten wir niemals, ein wenig besser zu scheinen, als wir sind, wie könnten
wir uns dann bessern oder uns selbst ‚von aussen nach innen erziehen’
Dieser Impuls, der Welt einen besseren oder idealisierten Aspekt unserer selbst
zu zeigen, findet sich auch in den verschiedenen Berufsgruppen und Klassen, in
ihrer Gesamtheit.“ 3 9
Ich bezeichne meine Kunstfigur als mein Ideal, das mich im Rollenspiel auch ‚von
aussen nach innen erzieht’. Aber eigentlich doch mehr ‚von innen nach aussen’. In
meinem Spiel geht es ja nie um Goffmanns ‚Impression-Management’ 40 für einen
angestrebten beruflichen und sozialen Aufstieg. Es geht auch nicht um ein Zuschreibungsprodukt
(man ist das, als was einen die anderen wahrnehmen oder wahrzunehmen
haben). - Wenn es mir gelingt, durch das Spiel auch in meinem Gegenüber
einen Übungsraum für eine grössere Vision ihrer oder seiner selbst zu öffnen, dann
haben wir beide etwas Wesentliches gewonnen. Denn alles Üben wirkt längerfristig
zurück auf die Übenden, so wie jede Arbeit zurück wirkt auf die Arbeitenden.
Übung macht die Meisterin, wusste schon der Volksmund. Die Frage nach dem Selbst
ist ausschlaggebend dafür, ob die Meisterin stimmig und glaubwürdig wird. Wenn
sich nämlich eine Rolle auch nach längerem Üben (zum Beispiel in der Arbeit) nicht
als natürlich und dem eigenen Wesen entsprechend anfühlt, ist sie wahrscheinlich
falsch. Das führt auf die Dauer zu Entfremdung und Zynismus. Ausserdem ist es
unter solchen Umständen kaum möglich, echte Meister- resp. Könnerschaft zu erreichen.
Um nicht der Gefahr einer (Selbst-)Täuschung zu erliegen, ist aufrichtige,
kritische Selbstreflexion ein unerlässliches Instrument. Das gilt meines Erachtens für
alle, auch für mimetisch arbeitende KünstlerInnen. Nüchterne intellektuelle Analyse
ist die eine Seite davon. Die andere heisst: Wahrnehmung aus dem Herzen.
Im Gegensatz zu Erving Goffmann verstehe ich das Selbst nicht als Resultat eines
erfolgreichen ‚Impression Managements’, sondern als den ‚Kern’ unseres Wesens,
ob wir es nun Seele, (höheres) Bewusstsein oder wie auch immer nennen. Das
Selbst ist für mich das ‚im Hintergrund’ respektive in unserem Inneren stets gegenwärtige,
aber nicht greifbare Ich. Es ist meine konstante innere Zeugin (jenseits von
Gut und Böse), welche wahrnimmt, dass ich immer Ich bin, ungeachet der wechselnden
mentalen, psychischen und physischen Zustände und Rollenspiele des ‚vordergründigeren’
Ichs, unserem Ego, mit dem wir uns normalerweise mehr identifizieren
. Es ist mir wichtig, hier auf diese Unterscheidung hinzuweisen.
Im naturwissenschaftlich-empirischen Weltbild hat es keinen Platz und auch keine
Notwendigkeit für so etwas wie ‚Seele’, die zudem weder mess- noch beweisbar
ist. Ausser, unsere komplexe Psyche ist damit gemeint. Die Neurowissenschaften
erklären uns das Bewusstsein als ein Produkt komplizierter Vorgänge im Gehirn,
diesem Supercomputer und biochemischen Labor. Und unser Sein dauert sowieso
nur bis zum physischen Verfalldatum. Als Yogini sage ich jedoch, dass wir alle be
39
ebd. S. 35.
40
vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Erving_Goffman#Impression_Management, 1.5.2011, online 6.8.11
30
vierte Postkarte von Sofie Honig an Gerda Tobler
31
wusste, individuelle Seelen sind, die einen Körper angenommen haben. Dass also
unsere eigentliche Identität, unser Selbst, viel höher, weiter, tiefer reicht als unser
Ego. Sein schöpferisches Potenzial 41 , das sich in lebendigem Sein und Tun erkennen
und verwirklichen will, ist im Grunde unermesslich.
Yoga- und Meditationstechniken begleiten mich seit 20 Jahren in Theorie (u.a. die
vedischen Schriften) und Praxis. Beide haben mein Denken und Arbeiten, die Selbstund
Welt-Wahrnehmung beeinflusst und erweitert. Zur Veranschaulichung nachfolgend
eine Erfahrung aus meiner Arbeit als Yogalehrerin, die ja eigentlich auch
schon eine Sofie-Honig-Rolle war:
Von 1998 bis 2005 unterrichtete ich in der Strafanstalt von Regensdorf. Dort hatte
ich etliche ‚harte Kerle’ in wechselnder Gruppenzusammenstellung vor mir: Verwahrte
und ‚Lebenslängliche’, verurteilt als Mörder, Vergewaltiger, Raubüberfäller,
Drogendealer, Betrüger, militanter Umwelt-Terrorist. Diese zum Teil auch physisch
mächtigen und gepanzert wirkenden Männer liessen sich von mir kleiner Frau zu
Körperübungen, Achtsamkeit, Stille und Entspannung anleiten. Freiwillig. Im Verlauf
der Stunde lösten sich die Rollenzuweisungen (ich: Lehrerin und ‚gut’, sie: Schüler
resp. Kriminelle und ‚böse’) jeweils auf. Das gemeinsame Tun und Sein im Hier und
Jetzt spielte sich nun auf einer viel grundlegenderen Ebene ab. Hinter unseren Rollen
begann, zumindest in meiner Wahrnehmung, das Selbst und seine eigentliche Unversehrtheit
und ‚Gutheit’ aufzuleuchten. Es ist schwierig, das in Worte zu fassen.
Jedenfalls war etwas Inniges und Freudvolles im Raum, und wir waren ‚im Flow’.
Die Männer hätten vielleicht andere Worte dafür gewählt, wenn überhaupt. Unser
gegenseitiger Dank am Ende der Stunde war echt.
Ausgehend von dieser Erfahrung möchte ich nochmals bei Erving Goffmann anknüpfen,
zumal die Welt auch aus vedischer Sicht eine Bühne ist: für ‚Lila’ 42 , das
göttliche Spiel. Gerda Tobler spielt und übt gegenwärtig und unter anderen ihre
Rolle als Sofie Honig; das ‚Publikum’ spielt und übt genauso seine Rolle(n).
Wir alle spielen – mal mehr, mal weniger bewusst. Wenn wir gut spielen respektive
die richtige Arbeit tun, leuchtet darin unser Selbst auf: Selbstverständlich und
selbstbewusst, einzigartig und doch verbunden mit allem, was ist. Was sehr
beglückend ist. So verwirklichen wir, wer und was wir im gegenwärtigen
Augenblick sind, und entwickeln uns weiter zu unserer Vision von uns selbst. Das
ist ein lebenslanger Prozess.
41
Dazu die deutsche Philosophin und Ökonomin Christine Ax (*1952): „Jedes Kind, das geboren wird, kommt vollkommen und mit dem
Bewusstsein seiner Vollkommenheit auf die Welt, weil es nicht nur alle Möglichkeiten, sondern auch das Bewusstsein seiner Möglichkeiten in
sich trägt. Im Laufe seiner Entwicklung finden die wichtigen, seine Möglichkeiten beschneidenden oder ausschöpfenden Prägungen statt.
Jedem von uns sind in der Auseinandersetzung mit der Welt Grenzen gesetzt. Die Erfahrung der inneren und äusseren Grenze kann in das
Glück münden, an den Grenzen zu wachsen. Das Leiden unserer westlichen Kultur an der Welt erwächst aus dem Leid, das ein in diesem
Sinne ungelebtes Leben erzeugt.“ Die Könnensgesellschaft, Berlin 2009, S. 261.
42
“The basic recurring theme in Hindu mythology is the creation of the world by the self-sacrifice of God - ‘sacrifice’ in the original sense of
‘making sacred’ - whereby God becomes the world which, in the end, becomes again God. This creative activity of the Divine is called lila,
the play of God, and the world is seen as the stage of the divine play. Like most of Hindu mythology, the myth of lila has a strong magical
flavour. Brahman is the great magician who transforms himself into the world and performs this feat with his ‘magic creative power’, which
is the original meaning of maya in the Rig Veda. The word maya - one of the most important terms in Indian philosophy - has changed its
meaning over the centuries. From the might, or power, of the divine actor and magician, it came to signify the psychological state of
anybody under the spell of the magic play. As long as we confuse the myriad forms of the divine lila with reality, without perceiving the
unity of Brahman underlying all these forms, we are under the spell of maya. (...) In the Hindu view of nature, then, all forms are relative,
fluid and ever-changing maya, conjured up by the great magician of the divine play. The world of maya changes continuously, because the
divine lila is a rhythmic, dynamic play. The dynamic force of the play is karma, important concept of Indian thought. Karma means ’action’.
It is the active principle of the play, the total universe in action, where everything is dynamically connected with everything else. In the
words of the Gita, Karma is the force of creation, wherefrom all things have their life.” — Fritjof Capra (*1939), The Tao of Physics (1975) -
http://en.wikipedia.org/wiki/Lila , 2.5.11, online 8.5.2011
32
Der Künstler ist nur eine GRÖSSERE QUANTITÄT als irgendein Mensch – nicht
etwas ANDERES. Wir können also, wenn wir sein Gesetz erforschen – wozu die
Umstände eben der grösseren Quantität wegen sich vorzüglich eignen - , zu
dem für alle Menschen Gültigen gelangen.
Also: Leben ist gleich Kunstprodukt und Kunstprodukt ist gleich wahrem Leben.
Das eine wie das andere erreichen besteht in einem richtigen Verhalten,
Zeugnis geben, das ist Darstellen eines Innen durch ein Aussen; kurz, besteht
in Bejahung des Lebens, somit: Vermehrung des Lebens; ist Kommunikation
mit den andern, Arbeiten.
Ludwig Hohl, 1944 E
5.2. Sofie Honig Goes Rich
Mein ursprüngliches Vorhaben, auch sehr vermögende Menschen in mein Projekt zu
involvieren, musste ich schliesslich aus pragmatischen Gründen verschieben auf die
Zeit nach Studienabschluss. Dennoch beschäftigte ich mich bereits seit einiger Zeit
intensiv mit ‚den Reichen’. Mit dem Ziel, auch mit ihnen ins Gespräch zu kommen
über Sehnsucht, die sich vielleicht noch nicht in Arbeit verwandeln konnte. Andererseits
möchte ich Gelder äuffnen für eine Verlosung
von ‚Grundeinkommen-auf-Zeit’. Um
mich besser in diese Art von Reichsein einzufühlen,
riet mir der Geldfachmann Peter
Koenig 43 anfangs 2011 zu einer mimetischen
Feldstudie vor Ort. Am 1. März war es dann
so weit: Ich dinierte in der ‚Kronenhalle’ 44 , offiziell
angemeldet als Sofie Honig. Zusammen
mit meiner Freundin M., der einzigen sehr reichen
Person, die ich persönlich kenne. Entgegen
ihren Einwänden bestand ich darauf, sie
einzuladen. Das gehörte zu meiner Übung.
Das Essen wurde aufwändig serviert, war
aber (mit Ausnahme des Desserts) nicht eigentlich
gut, nur teuer. Meine eher schüchterne
Tischgefährtin, die „viel lieber in ein Migros-Restaurant geht als ins ‚Dolder’“ 45 ,
äusserte ihre Kritik nur mir gegenüber. Vielleicht macht frau das hier nicht öffentlich.
Und eine ‚reiche Dame’ sowieso nicht. Es könnte kleinlich wirken und mich
verraten; ich war mir da nicht sicher. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit (als
ehemalige Wirtstochter) sagte also auch ich nichts. Zumal ich meinen Gast nicht in
Verlegenheit bringen wollte. Ausserdem war der Kellner sehr charmant. Er spielte
seine Rolle perfekt.
E
Hohl 1981, S. 97/98.
43
Peter Koenig veranstaltet internationale Geldseminare und ist Autor des Buche „30 dreiste Lügen über Geld“ (2006). Mehr zu seiner
Person auf seiner Webseite http://peterkoenig.typepad.com/de/
44
das berühmte alte Zürcher Nobel-Speiserestaurant am Bellevue mit viel Tradition und hochwertiger Original-Kunst aus der klassischen
Moderne, wo auch Frisch und Dürrenmatt u.v.a.m. verkehrten.
45
ein weiteres, berühmtes Super-Nobel-GrandHotel und Restaurant auf dem Zürichberg
33
34
fünfte Postkarte von Sofie Honig an Gerda Tobler
Ich wusste, dass meine Freundin M. ihren Reichtum, der mit dem Erbe ihres Vaters
zu einem Vermögen angewachsen war, lange Zeit als Last empfand. Sie wagte damals
nicht, aus ihrer materiellen Fülle auch für sich selbst und ohne Schuldgefühle
zu schöpfen (im Geben war sie seit jeher grosszügig). Das hat sich nach einem
Geldseminar mit Peter Koenig geändert. „Reichtum verpflichtet“, sagte sie mir im Rex-
Interview, für das sie eigens aus Zürich angereist war. Und: „Reich ist, wer nicht mehr
braucht als er oder sie hat. Viele Reiche sind so gesehen arm. Und viele Arme reich. Mich
persönlich machen meine vielseitigen Begabungen reich, die mir wiederum geschenkt, mit ins
Leben mitgegeben wurden.“
Mit unserem Essen feierten wir auch die Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens
für alle, dessen Grundidee sie erst kürzlich in ihrer ganzen Radikalität erfasst
hatte. Nun war sie sehr begeistert. Nicht, weil sie es bräuchte. Sondern weil
es einerseits mehr soziale Gerechtigkeit herstellen würde. Und weil es sie andererseits
mit ‚dem Rest’ der Gesellschaft mehr verbindete, also eine Art Gleichstellung
bewirkte. - Auch für Menschen am ‚oberen Ende’ der sozialen Skala ist Integration
offenbar ein Thema. Auch darum werde ich am Thema der ‚ReichenGespräche’ bleiben.
Mein Rollenspiel als reiche Dame war dank der Begleitung meiner Freundin eine vergnügliche
‚Performance’. Aber einmal genügt; diese Art von Reichsein interessiert
mich persönlich zu wenig, und diese Rolle liegt mir auch nicht wirklich. Der Erkenntnisgewinn
hält sich denn auch in Grenzen. Er geht in Richtung: ‚Auch die Reichen
kochen mit Wasser, nur teurer’. Das ‚wusste’ ich eigentlich schon vorher.
5.3. Von der Gabe
Gebenkönnen (egal ob Arbeit/Hilfeleistungen, Hinwendung/Zeit oder Dinge/Geld) ist
ein Ausdruck von Reichtum und Reichsein. Es stand bei vielen Befragungen im Vordergrund,
am Dringendsten bei den materiell Wenig-bis-Nichts-Habenden. Was sich
vielleicht aus der oft sehr einschneidenden Erfahrung von materiellem Mangel und
dem damit verbundenen sozialen Abstieg erklärt. „Was bleibt von mir übrig, wenn
ich nichts mehr habe, nichts mehr tun kann, sozial und beruflich ein nobody bin“
Diese Frage ist existenziell, denn nicht nur das Ego ist verletzt. Das Selbst ist in
seiner Bestimmung, sich zu entfalten, grundlegend verhindert. Ohne (Gott)-Vertrauen
oder die Erfahrung, dass unsere eigentliche Identität viel tiefer geht, ist das
wie Sterben.
Gabe – Begabung. Wir alle haben viele Begabungen. Die heilende, integrierende, alle
bereichernde Wirkung des Gabenteilens und Gebenkönnens wird darum in meinen
nächsten Aktionen mehr an Bedeutung gewinnen. Unabhängig davon, ob die Begegnung
am oberen oder am unteren Ende der sozialen Skala stattfindet. Zumal das Geben
(statt Verkaufen) seiner Arbeitskraft und die Begabung auch in der Idee des
Grundeinkommens sowie der Neudefinition von Arbeit zentral sind.
Mit der eingangs erwähnten, von blosser Hand geformten Kleinskulptur entsteht die
GABE, das heisst eine ‚Gegen’gabe für Sofie Honig. Die GABE ist ein spielerisches
und einfaches Sinnbild für die Erschaffung von Fülle. Durch Begabungen, die jeder
Mensch in sich trägt.
35
5.4. Vom Gelingen und vom Scheitern
Jedes Gelingen ist Geschenk, ist eine Mischung von Gabe, Können und ‚Schicksal’.
Jedes Nichtgelingen gehört zum Üben und Lernen, jedes Scheitern ist eine (manchmal
sehr schmerzhafte) Schulung in Demut. Gelingen und Scheitern gehören zum
Leben – eine Binsenwahrheit. Wenn alles immer nur gelänge, würden wir vielleicht
überheblich; Scheitern führt uns an den Grund der Dinge, öffnet unser Herz, macht
uns mitfühlend.
„Je besser wir im Laufe unseres Lebens befähigt werden, uns produktiv mit
unseren eigenen Grenzen und den Grenzen, die uns gesetzt sind, auseinanderzusetzen
und an ihnen zu wachsen, desto grösser ist unsere Chance auf Zufriedenheit
und Glück.“ 4 5
Dennoch geht es dabei immer auch wieder um die Frage, ob ‚das Glas nun halbvoll
oder halbleer’ sei. Eine entscheidende Betrachtungsweise.
Variante 1: Das halb volle Glas.
Ich bin dran geblieben, beharrlich weiter übend, immer wieder Mut schöpfend, fasziniert
von neuen Erkenntnissen und Begegnungen, begeistert von der Vision. Vieles
ist gelungen, zum Beispiel das (Er-)Finden und Beleben meiner Kunstfigur, ihre bisherigen
Aktionen, der ganze Prozess von dort nach da. Oder die vorliegende ‚Hausaufgabe’
fristgerecht abliefern. Das wachsende Verständnis für die komplexe Thematik
und damit verbunden eine wachsende Selbstsicherheit im Tun. Das sind alles
Dinge, die ich vor zwei Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte. Das Leben ist
spannend.
Variante 2: Das halb leere Glas.
Als Künstlerin bin ich, gemessen an den handelsüblichen Kriterien, schon längst gescheitert
46 , souverän und bewusst. Dennoch: der Wechsel von meinem vorherigen
Selbstverständnis in den Rollen als selbstbestimmte Malerin, Dozentin, Yogalehrerin
hin zur ‚Studienplan-geführten’ (Alt-)Studentin fühlte sich an wie eine Tabula rasa.
Mein Studium ist eine Geschichte voller Niederlagen. Das Herunterbrechen meines
riesigen Vorhabens, der grossen Idee (‚das 68-Milliarden-Ding’) in kleinere Ideen und
kleine Taten war eine enorme Herausforderung. (Das Nicht-Herunterbrechen wäre es
natürlich genauso gewesen.) Etliches gelang nicht, auch wenn mein Alter-Ego Sofie
Honig heisst.
Karma-Yoga, der Jahrtausende alte Yoga des Handelns, lehrt, dass wir zwar ein
Recht auf Taten, jedoch kein Recht auf die ResulTaten haben. Das heisst: ich gebe in
meiner Arbeit, in meinem Spiel, mein Bestmögliches, ohne jedoch an den Ergebnissen
zu hängen, ob Erfolg oder Misserfolg. Ich vertraue in die Fülle, selbst wenn
dieser süsse Topf manchmal unerreichbar scheint. Das ist der ‚Kunstgriff’, die tägliche
Übung im Hier und Jetzt. Sie gelingt mir längst nicht immer. Aber immer wieder
mal.
45
Ax 2009, S. 261.
46
Gemäss dem Kunstkritiker, Medientheoretiker und Philosophen Boris Groys (*1947) ist ein Scheitern souveräner KünstlerInnen und
Autoren früher oder später unausweichlich. Er beschreibt in seiner ‚Topologie der Kunst’ ausserdem einen schillernd fatalen, in sich
geschlossenen Kunst- und Welt-Zirkus, wo jeder Mensch dazu verurteilt sei, Künstler zu sein, denn keiner könne es vermeiden, konsumierend
zu selektieren und somit als Repräsentant eines bestimmten Lebensstils früher oder später ebenfalls zu scheitern. vgl. Groys 2003, S. 9 - 23.
36
sechste Postkarte von Sofie Honig an Gerda Tobler
37
6. Einsichten und Ausblicke
Eine Tätigkeit nährt die andere, wenn sie nicht für andere, sondern für sich
getan ist. Wenn sie dagegen nicht für sich getan ist, kommt sie weder anderen
noch sich zugute.
In solchem Zusammenhang zu verstehen ist die Zeile:
DER MENSCH HAT DIE PFLICHT, REICH ZU SEIN. –
Dahin gehört auch der Satz: „Fest soll sein alle Tage. “Kann denn alle Tage Fest
sein“ – Es hängt nur an dir. Nur muss die Produktion BE- GEISTERT werden,
alles andere ist ein falscher Weg.
Oder: „Man kann nicht immer im Rausch leben.“ Kann man es nicht Man muss
ihn nur richtig orientieren!
Ludwig Hohl, 1944 F
Gerda Tobler und Sofie Honig im Gespräch.
GT: Im Verlauf des Schreibens fragte ich mich des öftern, für wen ich das denn
eigentlich mache. Für mich Für ‚die Welt’ Für die Schule Oft sass mir die imaginäre
Master-Jury förmlich im Nacken. Dann drehte ich meine Sätze ein weiteres
Mal, löschte oder verschob sie, legte Worte nochmals auf die Waagschale, verwarf
Gedanken, vergass oder verlor dabei etliche, fand neue, stöhnte unter der Last der
akademischen Auflagen. - Was hältst du nun vom Ergebnis
SH: Deine Arbeit ehrt und freut mich sehr. So viel Sofie und so viel Honig! Gerade darum finde
ich, du hättest sie etwas leichtfüssiger und freier schreiben können.
Das wollte ich ja eigentlich auch, aber ich erlag immer wieder mal meinem alten
Hang zu Pathos. Zumal der Lauf der Dinge in der Welt alles andere als erfreulich
war. Während des Schreibens bebte es in Japan und der atomare Supergau wurde
zur fatalen Tatsache. Die arabische Welt brach in Revolten aus, und auf Lybien wirft
die NATO inzwischen Bomben. Osama Bin Laden wurde auf fragwürdigste Weise
eliminiert (wenn es denn wahr ist). Da sind neue Kriege um Ressourcen und westliche
Vormachtstellungen voll im Gang... TINA lässt grüssen. Das Ozonloch wächst,
die Zahl der Armen wächst, ebenso die Gewinne der Superreichen. Und eine meiner
wertvollsten Freundschaften ging dieser Tage in Brüche. Das alles hat mich sehr bedrückt.
Derweil – als ob nichts wäre – vor der Tür ein betörender Frühling blühte
wie schon lange nicht mehr. Leider fast ganz ohne mich. Was die Sache auch nicht
einfacher machte.
Ich verstehe. Es ist tatsächlich sehr viel im Umbruch. Alte Werte und Rollen werden hinfällig. Die
Probleme sind komplex und die Verunsicherungen gross. Die Gewalt nimmt weltweit zu. Alle sind
extrem gefordert, und es ist schwierig, einen klaren Kopf und ein mutiges Herz zu bewahren.
Trotzdem wollte oder konnte ich irgendwie nicht aufgeben. Ich fühlte mich herausgefordert
von der Diskrepanz zwischen meiner Erfahrung von Einfachheit und Natürlichkeit
in meiner Praxis und der Komplexität und Schwierigkeit in meiner Auseinandersetzung
mit dem Thema auf theoretischer Ebene. Darum nahm ich die ‚Hausaufgabe’
der schriftlichen Arbeit schiesslich doch sehr viel ernster, als ich ursprünglich
dachte. Auch wenn ich nichtsdestotrotz immer wieder mal mit deren Sinn haderte
F
Hohl 1981, S. 97.
38
und an meinem Können zweifelte. Zum Glück hast du mir ab und zu Grüsse gesandt.
Das machte mir wieder Mut. Vielen Dank, Sofie!
Sehr gern geschehen. Von mir aus hättest du diese ‚Hausaufgabe nicht machen müssen. Aber ich
sehe, dass du damit nochmals ein Stück gewachsen bist. Und das ist gut. Nur schon dafür haben
sich deine Mühen gelohnt. Ausserdem löst sich der schulische Druck nun bald auf. Erzähl doch
mal, wie’s praktisch weitergehen soll.
Im Juni findet unsere Aktion im Littauer-Kiosk statt – höchste Zeit also für konkrete
Vorbereitungen. Die Sofie-Honig-Webseite aufzuschalten, schaffe ich vielleicht auch
noch vorher. Aber danach möchte auch ich wieder mal ‚meine Seele baumeln lassen’.
Und zwar ausgiebig!
Ab Herbst werden wir dann tatsächlich leichtfüssiger, das heisst mit leichtem Gepäck
unterwegs sein. Ich möchte eine Art ‚Moderatorenkoffer’ zusammen stellen, in
dem alles drin ist, was wir brauchen, um die Gespräche mit den Menschen fortzusetzen
und sichtbar zu machen, wo und wann immer wir wollen: an jedem Energieund
Wirtschaftsgipfel, in jedem Kiosk und in jeder Randzone.
Auch in der Zone der Reichen
Ja. Diese Idee lässt mich nicht los: Ich möchte mit den Reichen in wesentliche Gespräche
über die drei Fragen kommen. Und sie zudem für die Finanzierung meines
Spiels mit Echtgeld gewinnen: die Verlosung von ein paar ‚Grundeinkommen-auf-
Zeit’. Das wäre eine Kleinstvariante des ursprünglichen 68-Milliarden-Dings. An
dieser Verlosung dürften alle teilnehmen, die ein eigenes Projekt haben oder eine
konkrete Idee für Arbeit formulieren, die von der jeweiligen Person wirklich wirklich
getan werden will. Eine einfache schriftliche Eingabe genügte. Die Verlosung würde
nicht nur in unsere öffentlichen Aktionen etwas mehr Pfeffer streuen. Sie würde
auch zu einer aufregenden Erfahrung, sowohl für die empfangenden Gewinner wie
für die gebenden Reichen. Ein Spiel mit offenem Ausgang und viel Denkpotenzial
rund ums Grundeinkommen.
Bis anhin empfandest du die Hürden zu den Reichen als zu hoch. Aber ich ver spreche, dir zur
richtigen Zeit die richtigen Worten zukommen zu lassen, damit du diese Hürde nehmen kannst.
Darauf bin ich aber gespannt! Bis jetzt hast du dich diesbezüglich ja ziemlich in
Schweigen gehüllt, obwohl ich solches schon vor längerer Zeit wollte.
Sorry. Aber ich fand, du seist anderweitig wirklich bereits genug gefordert.
Da hast du allerdings recht. Ich hatte kaum noch Spielraum.
Dafür wirst du jetzt noch besser vorbereitet sein für dein Spiel ‚in der Welt’, auch in der
Kunstwelt. Sofern du auch dort mal auftreten möchtest.
Wenn es sich ergibt, gerne. Ich habe mir jedoch vorgenommen, zu finden und nicht
mehr zu suchen. Ob mein Vorsatz naiv ist oder genau richtig, wird sich zeigen.
Nicht schlecht: finden statt suchen! Da spricht ja eine veritable und reiche Sofie Honig aus dir.
Ich bin am Lernen... Ausserdem haben ja auch wir uns gefunden und nicht gesucht.
Stimmt! – Und nach dem Studium wirst du sowieso endlich Zeit haben, auch andere zu finden, um
dich freundschaftlich und sinnvoll zu vernetzen. Das wird deine Arbeit befruchten und auch sonst
sehr hilfreich sein. Denn in Zukunft wird oft ein rauher Wind gehen, da ‚draussen in der Welt’.
39
Da sagst du etwas, was mir manchmal nachts den Schlaf raubt. Dann fürchte ich,
dass es nicht nur rauher winden, sondern heftig rütteln und stürmen wird. Auch bei
uns. In solch nächtlichen Gedankengespinnsten bin ich jeweils ohne deine Zuversicht.
Und kein Honig weit und breit. So von allen guten Geistern verlassen frage
ich mich dann, ob es nicht vielleicht schon längst zwölf geschlagen hat, nur hat es
niemand gehört in all dem Lärm. Vergebliche Liebesmüh...
Es ist nicht vergeblich! Erinnerst du dich an jenes Graffiti aus den 80ern „Wir haben keine
Chance, also nutzen wir sie!“ Womit ich nicht etwa sagen will, wir hätten keine Chancen. Diese
grossen Krisen sind zugleich DIE grossen Chancen für die Menschheit! Aber es gibt noch sehr viel
zu tun. Du streust Samen für das Neue, das jetzt in die Welt kommen will, in die Herzen der
Menschen. Das ist
DEIN BEITRAG IST DEINE ÜBUNG IST DEINE KUNST IST DEINE SEHNSUCHT IST DEINE ARBEIT
IST DEIN SPIEL.
Und das ist gegenwärtig vollkommen genug.
Jede Arbeit geht von selber dahin, wo sie keine mehr ist.
[...]
Wie schon oft gesagt worden ist und stets wiederholt werden
muss, haben sich die meisten Menschen vor dem Arbeiten geflüchtet
nicht in die Bewegungslosigkeit, sondern in eine total tote
Bewegung.
Ludwig Hohl, 1944 G
G
Hohl 1981, S. 14
40
siebte Postkarte von Sofie Honig an Gerda Tobler
41
7.1. Beispiele von MEMOs
42
7.1.
Das 68-Milliarden-Ding
eine kühne Volksinitiative angedacht
(work in progress, Version 2.1)
Die Schlechte Nachricht zuerst:
Am 16. Oktober 2008 entlarvte der Bundesrat die flächendeckende Sparwut der
Schweizer Politiker mit einem einzigen Federstrich als politische Kurzsicht und
Kleinkrämerei: mit weiteren 60 Milliarden wurde der UBS ihr Problem abgekauft,
sozusagen bedingungslos, abgrundtief undemokratisch und ungerecht. Derweil die
Folgen der von ihr mitverursachten Finanz- und Systemkrise für die Bevölkerung nun
täglich spürbarer werden. Das Geld fliesst noch weniger als bisher dorthin, wo es
gebraucht wird. Nahtlos wird wieder um Klassengrössen und Subventiönchen
gefeilscht. Existenzängste wuchern.
Die Gute Nachricht wurde noch gar nicht richtig gehört:
Seit dem 16. Oktober 2008 ist der Einwand ‚nicht finanzierbar’ kein ernst zu
nehmendes Argument mehr, um auch nur ‚wünschbare’, geschweige denn wichtige
Projekte zu bodigen. Geld ist keine natürlich beschränkte Ressource. Bei sinnvollem
Bedarf können wir ohne weiteres neues Geld schöpfen, die Frage ist: Wer bestimmt,
was sinnvoller Bedarf ist. Das führt uns auf die konstruktive Auswertung des UBS-
Skandals:
Es braucht nun eine kraftvolle, beflügelnde Erinnerung daran, dass wir Menschen
das wahre Kapital sind. Wir schaffen alle Dinge und Leistungen, die dem Geld als
Tauschmittel überhaupt Wert verleihen. Wir müssen uns lösen von der absurden
Idee des Mangels inmitten einer weltweiten Absatz- und Überflusskrise. Wir setzen
auf die Fülle (geistig und materiell), um nun auch das von der UBS hinterlassene
Problem anzugehen. Frischgeld soll unter den Menschen in Umlauf gebracht
werden, statt in neuen Spekulationsblasen zu verpuffen. Die aktuellen
wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen können in eine schöpferische
Neuausrichtung münden.
Die 68er-Initiative (vorläufiger Arbeitstitel)
Das Schweizer Volk schafft sich 68 Milliarden Franken Neugeld, um damit
seine 5% initiativsten BürgerInnen 5 Jahre lang für „gute“ Projekte freizustellen.
Ihnen wird aus diesem nationalen Vertrauenskapital für diese
Zeit und für diesen Zweck ein ausreichendes Einkommen garantiert.
46
Denn trotz Krise sollen die notwendigen Arbeiten vollbracht werden
können. Dank Massnahmen, die unmittelbar die Nachfrage fördern und
neue Arbeitschancen schaffen. So mutig, zukunftsoffen und nachhaltig,
wie wir es eben im Durchschnitt können und wollen.
Was ein „gutes Projekt“ ist, wird markt-demokratisch ermittelt: JedeR
BürgerIn kann die ihm/ihr zustehenden fünf Vertrauens-Aktien (von zB je
SFR 5'000) nach Gutdünken auf Projekt-Initiativen verteilen. Jede Projekt-
Initiative versucht, genügend Vertrauenskapital anzuwerben, um ihr
voraussichtliches Budget zu decken. Wenn sich genügend Mitmenschen
resp. ‚Aktien’ für ein Projekt gefunden haben, schaffen diese eine 5-
Jahres-Freistellung für eine oder mehrere am Projekt beteiligte Personen
(nachfolgend als GrundeinkommensPionierIn (GP) bezeichnet).
ein paar gute Gründe für die 68er-Initiative
krisenberuhigend:
Gesellschaftlich wichtige Arbeiten (Oekologie, Forschung, Bildung, Kultur, Gesundheitsund
Sozialwesen, etc.) können notfalls als 68-er-Projekte der Krise trotzen.
Start-Up-Unternehmen in der Durststrecke bekommen als 68-er-Projekt eine verlängerte
Bewährungs-Chance.
Die Sozialversicherungen (ALV, IV, AHV) werden entlastet, weil viele LeistungsbezügerInnen
wieder selber aktiv werden können.
Auch an vielen anderen Stellen entlasten vermutlich 68-er-Projekte durch
Überschneidung die regulären Budgets wohltuend und bedarfsgerecht.
konjunkturbelebend:
Auf unmittelbar Nachfrage-wirksame Weise wird Geld direkt ins System gespiesen, weil
die Empfänger es sogleich wieder in Umlauf bringen (Lebensunterhalt, Projektrealisierungskosten,
Konsum).
Arbeitsplätze: freigestellte GPs arbeiten an ihren Projekten, derweil ihre ehemaligen
Stellen für den Arbeitsmarkt frei werden.
Eine Geldschöpfung dieser Grössenordnung wird etwas auf die Wechselkurse drücken,
was die Exportindustrie freut.
langfristig-tiefgründig:
Durch das Innovationspotenzial der Projekte sind positive Auswirkungen auf die gesamte
Gesellschaft und Wirtschaft zu erwarten.
In unseren Köpfen und Herzen vollzieht sich ein Wandel von grosser Bedeutung:
Vertrauen in sich und die Mitmenschen ist die weitaus bessere Basis für Leben und
Arbeit als Misstrauen, Neid und Angst.
47
Ideensplitter und mögliche Ausgestaltungsdétails (prov.)
Wer kann GP werden
JedeR volljährige CH-EinwohnerIn (auch Fürsorge- und AHV-BezügerInnen) aller sozialen
Schichten und Berufssparten.
Auswahl der Projekte
JedeR wird sich zunächst ernsthaft der Frage stellen müssen/wollen: Habe ich ein
eigenes Anliegen/Projekt Was wäre mein konstruktivster Beitrag Oder aber: Welchem
Projekt - aus meinem Bekanntenkreis oder aus bevorzugten Fachgebieten - möchte ich
meine Vertrauens-Aktien geben
Das Internet wird hier mit entsprechend eingerichteten und strukturierten Blogs und
Programmen sowohl als demokratischer Marktplatz, Diskussionsforum, Projektbörse und
für Projekt-Vernetzungen dienen und so an herausragender öffentlicher Bedeutung
gewinnen.
Projektbeispiele
Der Begriff ‚Projekt’ soll hier sehr offen verstanden werden: von alltäglich-nützlich
über normal-seriös-innovativ bis zu kühn-schräg-exotisch. Die folgenden Beipiele
mögen dies illustrieren. Letztlich entscheidend ist jedoch einzig, dass es einer
Initiative (ob als Einzel-, Partner- oder Kollektivprojekt) gelingt, ausreichende Fremd-
Unterstützung auf sich zu vereinigen.
„Gut, dann machen wir jetzt endlich die neue Kinderkrippe im leer stehenden Lokal
gleich um die Ecke.“
„Ich (Quartier-Original BB) will 5 Jahre als Pfleger und Hüter des Parksabschnitts XY
wirken.“
„Ich will (innerhalb der Firma) meine Produkte-Idee XY trotz Krise fertig entwickeln.“
„Mein Forschungsprojekt zur Musikalität der Ameisen wurde vom Nationalfonds
abgelehnt. Ich will es dennoch versuchen.“
Ergänzende Spielregeln
Jugendliche und Kinder erhalten auf Anfrage ausserschulische Bildungsgutscheine.
Studierende und forschende GPs stellen ihre geistigen Erkenntnisse unter ihrem Namen
(zitatpflichtig) der Öffentlichkeit zur Verfügung (Open Source).
Reinerträge durch die Entwicklung neuer Produkte/Patente, die ein herkömmliches
Unternehmen erzielt dank der teilweisen oder ganzen Freistellung von MitarbeiterInnen
als GPs, kommen in einen Fortsetzungsfonds. Dies gilt auch für alle anderen GP-
Einnahmen.
Patentrechte auf neue Produkte, die solcherart entstehen, müssen von einer Firma
zurückgekauft werden, wenn sie Anspruch auf Exklusivrechte erheben will.
Begleitung und Öffentlichkeit
48
Ein kleines Label (zB zum Anstecken, als Logo) macht die GPs während ihres Tätigseins
öffentlich erkennbar, hebt sie aus der Anonymität heraus, ermuntert zum Ansprechen.
Einerseits fördert dies ihre eigene GP-Identität sowie eine ‚Corporate Identity’. Anderer-
seits erinnert es immer wieder an den Vertrauensvorschuss vonseiten Aktien-Sponsoren
und Gesellschaft.
Kunst- und Medienschaffende GPs begleiten eine Auswahl von Projekten, bereiten diese
auf für öffentliche Dialoge und Diskurse oder dokumentieren sie: konstruktiv und
kritisch, poetisch und visionär, politisch und philosophisch, spielerisch und ernst. Und
frei.
Alle GPs ermöglichen einer kleinen Öffentlichkeit in gewissen zeitlichen Abständen
Zwischeneinblicke in ihr Tun.
Gelingen und Scheitern
Die öffentliche Hand, Fachverbände/Fachhochschulen/Unis schaffen bei sich
abzeichnendem Bedarf Beratungsstellen für gelingende Projektbegleitungen.
Dennoch ist es möglich, dass ein Projekt scheitern kann - und darf.
Ein geringes Betrugs-Risiko bleibt natürlich weiterhin bestehen – that’s life.
Denn diese Initiative will auch ein Test sein für die Vermutung, dass
Menschen sich selbst und den andern dann am besten dienen, wenn sie -
frei von Existenzängsten und Hackordnungen – das arbeiten, was sie am
besten können und am liebsten machen.
Wenn es sich bewährt, können wir dieses Experiment fortsetzen,
ausweiten, vereinfachen und ins normale Wirtschaftsleben einbetten: als
– letztlich bedingungsloses - Grundeinkommen für alle (siehe dazu auch
www.initiative-grundeinkommen.ch).
Weiteres Vorgehen zur Schaffung einer 68er-Volksinitiative:
Sommer/Herbst 2009: Vertieftes Nachdenken im Austausch mit vielerlei GesprächspartnerInnen.
Gründung eines bunt-motivierten Initiativ-Komitees.
Dieser Prozess sollte sich für alle Beteiligten lohnen, selbst wenn er nicht in einer
Volksinitiative münden sollte. Und falls es aus rein zeitlichen Gründen nicht mehr
reichen sollte, in die aktuelle Krise einzugreifen, so wäre das Ganze immerhin eine
Vorbereitung für die nächste Krise, die mit Bestimmtheit kommen wird, wenn
weiterhin ‚Blasengeld’ ins System gepumpt wird...
Gerda Tobler
am 5. Juni 2009
Martin Flüeler
Gerda Tobler, *1951, freie Kunst-Schaffende und –Dozentin ZHdK, Yogalehrerin,
www.gerdatobler.ch
Martin Flüeler, *1956, dipl. Ing. ETH, Werklehrer, Ingenieur-Künstler, Initiator Tüftel-Labor für
Jugendliche und Kinder, www.tuelab.ch
49
7.3.
Auszug aus dem Stiftungsheft der Stiftung Kulturimpuls
Schweiz
Kulturimpuls Grundeinkommen – wozu
Erfolg hat Folgen. Früher stand den Bedürfnissen nach Waren und
Dienstleistungen Mangel gegenüber, heute herrscht Überschuss. Wir verdanken
es den Leistungen der Generationen vor uns und den Menschen mit uns, den
Fortschritten in der Technik und dem erfolgreichen Handeln in der Wirtschaft.
Während Maschinen uns zunehmend von standardisierbaren Arbeiten entlasten,
wächst der Bedarf bei Arbeiten, die nur von Menschen gemacht werden können
– in der Familie, in der Pflege und Gesundheit, in der Bildung und
Persönlichkeitsentwicklung, und im sorgfältigen Umgang bei allen Tätigkeiten.
Viele dieser Arbeiten können heute nicht oder nur unzureichend finanziert
werden, während unser komplex strukturiertes Sozialwesen hohe Kosten
verursacht und Misstrauen sät. Das bedingungslose Grundeinkommen
ermöglicht, dass Menschen vermehrt aus der Kraft ihrer je eigenen Antriebe und
Talente tätig werden können – aus freiem Willen, aus eigener Initiative, aus
persönlicher Betroffenheit; zum Wohle der Gesellschaft als Ganzes.
Das bedingungslose Grundeinkommen schafft Freiraum für mehr
Selbstverantwortung. Es vereinfacht das staatliche Sozialwesen und macht es
transparenter. Es ermutigt zu einer eigenständigeren, sinnstiftenden
Lebensgestaltung und Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe. Damit schafft
es eine solide Basis für eine menschliche, zukunftsfähige Leistungsgesellschaft.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist die erste massgebende Idee des 21.
Jahrhunderts – und die privilegierte, direktdemokratische Schweiz das Land, das
Vorreiterin werden kann in der Einführung eines zeitgemässen, nachhaltigen
Gesellschaftsvertrages.
Die Stiftung Kulturimpuls Schweiz unterstützt die Initiative für ein
bedingungsloses Grundeinkommen als Kulturimpuls: Jede und jeder soll die
Möglichkeit haben, die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens kennen zu
lernen und zu hinterfragen, wo sie einen hinführt, wo sie Angst macht, und was
sie freisetzt.
*(Publiziert im Frühling 2011, www.stiftung-kulturimpuls.ch)
50
8. Literaturverzeichnis/Quellenangaben
Das erste Interview mit Sofie Honig (S. 2 – 5) vermeidet aus gestalterischen
Gründen formelle Zitate. Es stützt sich auf Aussagen und Thesen von:
Frithjof Bergmann (s.u.)
Enno Schmidt (s.u.; sein Vortrag ist zu finden auf www.grundeinkommen.ch
Stiftung Kulturimpuls Schweiz (s. vorhergehende Seite50).
Zitiert wird dort des weiteren Margaret Thatchers berühmt-berüchtigtem Slogan, der
sich als das sog. ‚TINA-Prinzip’ (there is no alternative) weltweit zur neoliberalen
Doktrin mauserte sowie das von der Globalisierungskritikerin Susan George als
Antwort geschaffene ‚TATA-Prinzip’ (there are thousands of alternatives), das als
Slogan des Weltsozialforums von Porto Allegre 2001 ebenfalls Weltberühmtheit
erlangte (z.B. als Leitmotiv für NGOs)
Zitate und Quellentexte aus nachfolgenden Büchern:
Ax, Christine (2009):
Die Könnensgesellschaft. Berlin, Rhombos-Verlag.
Bergmann, Frithjof (2004):
Neue Arbeit, Neue Kultur’. Freiamt, Arbor-Verlag, 5. Auflage 2008.
Binswanger, Hans Christoph (2005):
Geld und Magie – Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust. Hamburg,
Murmann-Verlag, 3. Auflage 2009.
Debus, Michael (2000):
Maria-Sophia - Das Element des Weiblichen im Werden der Menschheit. Stuttgart,
Verlag Freies Geistesleben.
Goethe, Johann Wolfgang (1832):
Faust. Der Tragödie zweiter Teil.
Goffmann, Erving(1969:
Wir alle spielen Theater. München, Piper Verlag.
Groys, Boris (2003):
Topologie der Kunst. München, Hanser Verlag.
Hohl, Ludwig (1981):
Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung (1944 / 1954). Frankfurt am
Main, Suhrkamp.
Martin, Agnes (1992):
The Writings. Hsg. Dieter Schwarz, Kunstmuseum Winterthur.
Matthews, Caítlin (1992):
SOPHIA – Goddess of Wisdom. London, Aquarian Press.
51
Schmidt, Enno (2006):
Die Begründung des Grundeinkommens aus der Sicht der Kunst. Karlsruhe,
Universitätsverlag.
Schube, Inka (2002):
Sophie Calle. Hannover, Sprengel Museum.
Steiner, Rudolf (1989):
Geisteswissenschaft und soziale Frage - Drei Aufsätze. Dornach, Rudolf Steiner
Verlag.
Zitate und Textquellen aus dem Internet:
6
Förster, Werner:
http://werner-foerster.de/seiten/f_werner1.htm. online 25.2.11
7
Biblos.comm 2004 – 2011:
http://bibeltext.com/psalms/119-103.htm, online 11.4.11.
9
WUND-Management Tirol, 2011:
http://www.wundmanagement-tirol.at, online 13.3.11
11
TopLife, 2003-11:
http://www.toplife.at/gesundheit/artikel153.html, online 15.4.11
12
Board für Steiner und Grenzwissenschaften:
http://www.boards4you.de/wbb26/64/thread.php
threadid=23&sid=4b13b090bdf875d7e950b65dcdf3e4e3, online 11.4.11
13
Joseph Beuys:
http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Beuys, 11.3.11, online 20.4.11
14
Tagesspiegel:
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/gesundheit/das-wohltemperierte-revierdie-waerme-im-bienenstock/507276.html,
online 15.4.11. 1 4
22
Bible Study Tools, 2011:
http://www.biblestudytools.com/lut/sprueche/passage.aspxq=sprueche+8:22-
30, online 1.3.11
26
Soziale Dreigliederung Rudolf Steiner:
http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Dreigliederung, 13.4.2011, online 4.5.11
29
Goethe1832:
http://de.wikipedia.org/wiki/Faust._Der_Tragödie_zweiter_Teil, 10.4.11, online
14.4.11
40
Erving Goffmann, Impression Management:
http://de.wikipedia.org/wiki/Erving_Goffman#Impression_Management, 1.5.2011,
online 6.8.11
1
52
weitere Literaturhinweise
Arendt, Hannah:
Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München, Zürich, 1967, 2005.
Bennholdt-Thomsen, Veronika:
Geld oder Leben – Was uns wirklich reich macht. München, 2010.
BIEN-Schweiz:
Die Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Genf, 2010.
Laske, Otto E.:
Potenziale in Menschen erkennen, wecken und messen. Cambridge, Medford,
1988, 2010.
Mäder, Ueli (Aratnam G., Schilliger S.):
Wie Reiche denken und lenken. Basel, 2010.
Marchart, Oliver:
Neu beginnen - Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung.
Wien/Berlin, 2005
P.M.:
Neustart Schweiz – So geht es weiter. Solothurn, 2008.
Ruh, Hans:
Anders, aber besser. Die Arbeit neu erfinden – für eine solidarische und
überlebensfähige Welt. Frauenfeld, 1995.
Scharmer, Claus Otto:
Theorie U – Von der Zukunft her führen. Heidelberg, 2009
Schwarz, Fritz (INWO Schweiz):
Das Experiment von Wörgl. Bern, 1951.
Stachelhaus Heiner:
Joseph Beuys. Düsseldorf, 1987.
53
Bildnachweise
Titelblatt Flüeler, Martin: Sofie Honig auf der Leiter, FabLab Luzern, 26.2.11
Seite 7
Postkarte 1: Derlath, Volker:
Rettet die Zärtlichkeit. huraxdaxverlag.de.
Seite 9 Kumar, Vijaya: Sofie H. im Gespräch (Sozialinfo Rex). Videostill, 7.10.10
Seite 11 Flüeler, Martin: Die Wandlung von Gerda T. zu Sofie H., 21.4.11
Seite 14
Postkarte 2: Laib, Wolfgang:
Die fünf unbesteigbaren Berge (1984), Installationsfoto aus dem Internet,
Autor nicht erruierbar..
Seite 21 Flüeler, Martin: äussere Merkmale der SH, 21.4.11
Seite 22 Kumar, Vijaya: Installationsansicht (Sozialinfo Rex), Videostill, 7.10.10
Seite 23 Flüeler, Martin: Gondel im Innenhof (Aussenraum, Sozialinfo Rex), 22.9.10
Seite 24
Tobler, Gerda (gt): Scan eines Original-MEMOs, Rex-Aktion
Seite 26 gt: Fotos aus FabLab-Aktion, 26.2.11
Seite 27 gt: Scan eines Original-MEMOs, FabLab-Aktion 2011
Seite 28
Seite 31
Postkarte 3: Werbekarte Vexer-Verlag:
Das ganze Leben. Künstlerbuch Thomas Müllenbach, 2001.
Postkarte 4: W.M.: KuanYin. 10.2.11. Bearbeitet von gt.
Seite 33 W.M: Mit Sofie Honig in der Zürcher Kronenhalle, 1.3.11
Seite 34 Postkarte 5: Hage, Tina: Universal Patterns II, 2008.
Seite 37
Seite 41
Postkarte 6: Gantenbein, H.H.:
Heuet. Werbekarte AR-Volkskundemuseum 2006.
Postkarte 7: Lundgren, Wassink:
Empty Bottles, 2006/7. Mit einem Zitat (rückseitig) von Andreas
Spechtl, Gitarrist der Gruppe ‚Ja, Panik’
Seite 42-45 Scans von Original-MEMOs, Rex-Aktion 2010
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9. Dank
Auf dem Übungsweg zur Könnerschaft sind wir nie allein. Darum danke ich an dieser Stelle
allen Denkerinnen und Schreibern, Pragmatikerinnen und Theoretikern, von denen ich bisher
lernen durfte.
Spezieller Dank geht heute an meine beiden Hamburger-Mentoren Dr. Armin Chodzinski
(Theorie) und Manfred Seiler (Praxis), sowie an meinen Weggefährten Martin Flüeler: ohne
ihre kundige, weitblickende, scharfsinnige und einfühlsame Begleitung wäre ich nicht, wo
ich heute stehe. Letzterem danke ich ausserdem für sein Abstract und die Last-Minute-Layout-Dienste,
deren Resultat Sie jetzt in Händen halten.
Ausserdem danke ich meiner im Januar 2011 unerwartet früh verstorbenen Austausch-
Semester-Professorin Dr. Simone Schweikert (CreaLab HSLU) und Suzan Curtis (Dozentin
HSLU) für die intensiven Gespräche und inspirierenden Hinweise.
Allen fühle ich mich von Herzen verbunden.
Gerda Tobler, 12. Mai 2011
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