16 Tücken des Messens von Urs Allenspach Messen ist im Alltag eine meist verhältnismässig wenig problematische Angelegenheit. Wir legen den Sellerie vertrauensvoll auf die Waage des Detaillisten, schenken während des Autofahrens dem Tacho gelegentlich Beachtung oder werfen einen ungläubigen Blick auf das Thermometer, um dann kräftig die Heizung aufzudrehen. Nicht alles misst sich so leicht wie Temperatur, Geschwindigkeit und Masse. Die Messtheorie – nicht zu verwechseln mit der rein mathematischen Masstheorie – ist die Grundlagendisziplin, die systematisch untersucht und axiomatisiert, was wie zu messen ist und welche Merkmale ein bestimmtes Mass aufweist. Eine solche Eigenschaft ist zum Beispiel die additive Verknüpfbarkeit, welche der Masse zukommt, nicht aber der Temperatur: Legt man zwei Sellerie auf die Waage, so bemisst sich deren Masse als Summe der Einzelmassen der Gemüse; verbindet man hingegen zwei bewegte Körper, so werden mitnichten beide schneller. Der Prozess des Messens besteht darin, Objekten auf Grund einer Eigenschaft, die sie aufweisen, je eine Zahl zuzuordnen. Solche Zuordnungen sind jedoch bedeutungslos ohne eine Skala, die Aufschluss darüber gibt, in welchem Verhältnis diese Zahlen zueinander stehen. Angenommen die Raumtemperatur beträgt angenehme 20°C, während draussen 40°C im Schatten herrschen, so hängt es von der involvierten Skala ab – hier Celsius –, ob die Interpretation korrekt ist, dass es an der Sonne doppelt so warm ist wie drinnen. Die Interpretation ist falsch, was darauf zurückgeht, dass die Celsius-Skala einen bezogen auf die thermodynamische Eigenschaft der Wärme willkürlichen Nullpunkt hat, die Temperatur des schmelzenden Eises. Gemessen in Fahrenheit, einer anderen Temperaturskala mit willkürlichem Nullpunkt, betragen die Temperaturen 68°F bzw. 104°F. Einsichten darüber, wie viele Male wärmer es an einem Ort ist als an einem anderen, lassen sich nur mit einer Skala gewinnen, die hinsichtlich der gemessenen Eigenschaft ihren absoluten Nullpunkt hat. Für die Wärme liegt dieser da, wo die mittlere kinetische Energie 0 ist. Die Temperatureinheit Kelvin hat gerade dort ihren Nullpunkt, also ist es korrekt, das Verhältnis von 293.15°K und 313.15°K dahingehend zu interpretieren, dass es draussen rund 7% wärmer ist als drinnen. Die Möglichkeit der Quantifi zierung von Eigenschaften hat in der philosophischen Neuzeit grossen Eindruck hinterlassen. Die Objektivierung, die durch wissenschaftliches Arbeiten in diesem Fall erreicht wird, bestehe eben darin, das aufzuweisen, was wirklich dem Objekt eigen und nicht <strong>vom</strong> Subjekt abhängig sei – so eine verbreitete Ansicht. Wahrhaftige Eigenschaften statt fl üchtiger Relationen. Eine Gefahr, die von dieser Ansicht ausgeht, besteht darin, jedes Messverhalten für bare Münze zu nehmen. Das heisst zu glauben, dass jede Messung gelingen müsse, bei der Wissenschafter ein Messverhalten an den Tag legen, das allen Regeln der Messkunst entspricht. Ein Gegenbeispiel dafür haben bereits die Pythagoreer geliefert: Man kann einen Massstab konstruieren, wie man will, nie wird es im Allgemeinen gelingen, die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks damit zu messen, wenn man mit ihm die Länge der Katheten hat messen können. Angenommen die Längen der Katheten Angenommen die Längen der Katheten betragen 1, so kann man den Massstab noch so fein skaliert konstruieren, die Länge der Hypotenuse wird immer zwischen zwei Strichen liegen. betragen 1, so kann man den Massstab noch so fein skaliert konstruieren, die Länge der Hypotenuse wird immer zwischen zwei Strichen liegen. Allerdings täuscht man sich darüber leicht. Dieses historische Messproblem hat den Begriff der Inkommensurabilität geprägt, der längst ein Eigenleben angenommen und in allen möglichen Kontexten verwendet wird, in denen man zwei Dinge nicht mit demselben Mass messen könne oder solle. Wert Ein solcher Kontext ist die manchmal behauptete Inkommensurabilität von Werten. Die Frage des Schwangerschaftsabbruchs ist darum kontrovers, weil darin der Schutz menschlichen Lebens mit der Handlungsfreiheit der schwangeren Frau und deren Lebensumständen konfl igiert. Inkommensurabel – unverrechenbar – wären diese drei Werte dann, wenn kein Grad an besserer Verwirklichung des einen, eine graduell schlechtere Verwirklichung des anderen rechtfertigte. Der Umstand, dass die Schweizer Bevölkerung 2002 einer ziemlich fl exiblen Fristenlösung zugestimmt hat, deutet allerdings darauf hin, dass sie diese Werte nicht für unverrechenbar hält. Vielmehr gilt: Je stärker die Schwangere aufgrund ihrer Lebensumstände leiden würde und je geringer das heranwachsende Leben entwickelt ist, desto weniger Schutz verdient dieses vor der Handlungsfreiheit der Schwangeren. Eindeutigere Beispiele inkommensurabler Werte fi nden sich in der omnipräsenten Debatte über nachhaltige Entwicklung. Werte wie Biodiversität und Beschäftigung sind insofern bis zu einem gewissen Schwellenwert inkommensurabel, als sie beide bis zu diesem Schwellenwert systemkritisch sind: Weder ist uns ein dauerhaft gelungenes Zusammenleben möglich, wenn das Ökosystem zusammenbricht, noch wenn das Wirtschaftssystem kollabiert. Bevor nicht sicher- gestellt ist, dass beides abgewendet werden kann, ist nicht zu ermessen, wie viel an Biodiversität ein zusätzlicher Arbeitsplatz wert ist. Die Qualität unseres Zusammenlebens, das lässt sich aus der Nachhaltigkeitsdiskussion lernen, kann man nicht an einer einzigen Grösse ermessen. Der Druck, solche Grössen zu generieren, selbst wenn der Sache unangemessen, ist allerdings in vielen Lebensbereichen enorm. So versucht man heute mit Demokratiebarometern die Güte von Demokratien zu messen, mit Spitalindizes, die Qualität von Spitälern über einen Leisten zu schlagen oder mit Universitätsrankings
e die Hochschulen zu evaluieren. Dabei zeigen Wissenschafter bestes Messverhalten. Was sie messen ist allerdings in dem Sinne willkürlich, als es kein lebensweltliches Äquivalent für die erzeugten Daten gibt. Das Ziel dieser Übungen scheint einzig darin zu liegen, Ranglisten zu erstellen. Selbst wenn das, was sich messen lässt, in bestem Sinn real ist, lässt beliebiges Messverhalten nicht auf Reales schliessen. Kurz: Was nicht ist, lässt sich nicht messen. Daran ändert auch nichts, dass die erhobenen Daten und die erstellten Ranglisten zum Teil eine erstaunliche (politische) Wirkung entfalten. Die Daten sind bedeutungslos, aber offenbar nicht unbedeutend. 17