Bewegte Klassenzimmer - Mayenfels
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Das Märchen und seine Bedeutung im<br />
Rudolf Steiner Kindergarten<br />
Das Märchen im Kindergarten in Lies-<br />
tal hat seinen Platz ganz am Schluss des Morgen-<br />
ablaufs. Der Morgen beginnt zwischen 7.30 und<br />
8.30 Uhr. Nachdem die Kinder mich begrüsst<br />
haben, dürfen sie spielen, wo sie wollen. Um<br />
9.00 Uhr folgen die Aktivitäten, wie Eurythmie,<br />
Malen, Zeichnen, Backen und Kneten. Nach<br />
dieser geführten Aktivität dürfen die Kinder noch<br />
einmal zurück ins Freispiel, bis dann um 9.30<br />
Uhr das Aufräumen beginnt. Wenn alles wieder<br />
an seinem Platz ist, kommt der Reigen. Zur Zeit<br />
der Herbstreigen: Wir erleben drinnen im Kreise,<br />
was draussen in der Natur gerade passiert - mit<br />
Liedern und bewegten Worten. Danach haben<br />
wir alle Hunger und wir stärken uns beim selbst<br />
zubereiteten Znüni. Nachdem wir etwa eine<br />
halbe Stunde draussen waren, kommen wir in<br />
die bereits vorher hergerichtete Märchenstube,<br />
wo das aktuelle Märchen erzählt oder gespielt<br />
wird. Die Kinder haben also schon viel erlebt<br />
beim Malen, Spielen oder im Reigen. Alles Tätig-<br />
keiten, wo sie äusserlich sichtbar tätig sind . Das<br />
Märchen ist ein Tätigsein nach innen.<br />
Jakob Streit beschreibt dies wie folgt:<br />
„Ist das Kinderspiel ein Tätigsein nach Aussen,<br />
so ist das Märchen anhören ein Tätigsein nach<br />
Innen. Erhält die Kinderseele nicht solche Nah-<br />
rung, so bleibt sie innerlich dumpf, gefühlsarm<br />
und unbeweglich. Sollte das Kind dazu noch in<br />
einer öden, naturarmen Umwelt leben, könnte<br />
es innerlich völlig veröden.<br />
Gerade in unserer immer mehr<br />
technisierten, an Naturerlebnissen immer karger<br />
werdenden Umwelt hat das Märchen eine noch<br />
grössere Mission als vormals. Von innen her, die<br />
Seele zu bewegen.“<br />
„In einer Zeit, wo das Wünschen<br />
noch geholfen hat.“ oder „Es war einmal, ja wo<br />
war es denn? Und wo war es denn nicht“ Mit<br />
einer von diesen kurzen Einleitungen versetzen<br />
wir Kinder wie Erwachsene in die Märchenwelt.<br />
In eine Welt, wo irdische Regeln nicht mehr<br />
zählen. Das Märchen spricht nicht von einer<br />
heilen Welt, sondern von heilenden Kräften in<br />
einer noch unheilen Welt.<br />
In fast allen Märchen gibt es Figu-<br />
ren, die das „Gute“ und das „Böse“ verkörpern.<br />
So wie Gut und Böse auch in unserem Leben<br />
jederzeit gegenwärtig sind und der Hang zu<br />
beiden in jedem Menschen liegt. Gerade diese<br />
Zweiheit verursacht das moralische Problem und<br />
erfordert den Kampf um die Lösung. Das Böse<br />
ist nicht ohne Faszination für das Kind und wird<br />
zum Beispiel durch die Kraft des Riesen oder des<br />
Drachen dargestellt. Oft gewinnt das Böse vorü-<br />
bergehend Oberhand und nimmt den Platz ein,<br />
der dem Helden zusteht. Nicht aber weil das<br />
Böse am Ende bestraft wird, trägt das Märchen<br />
zur moralischen Erziehung bei, sondern weil<br />
am Ende das Böse immer erliegt. Im Märchen<br />
wie im Leben wirkt weniger die Bestrafung oder<br />
die Angst davor abschreckend als vielmehr die<br />
Überzeugung, dass sich das Verbrechen nicht<br />
auszahlt. Nicht die Tatsache, dass die Tugend am<br />
Ende siegt, fördert die Moral, sondern das Vor-<br />
bild des Helden. Das Kind identifiziert sich mit<br />
dem Helden, es durchleidet mit ihm alle Mühen<br />
und Wirrsale und triumphiert mit ihm, wenn die<br />
Tugend schliesslich belohnt wird. Diese Iden-<br />
tifikation vollzieht das Kind von sich aus, die<br />
inneren und äusseren Kämpfe bilden die Moral.<br />
Typisch für ein Märchen ist seine po-<br />
etische Bildsprache. Den Unterschied zwischen<br />
einer lyrischen, bildhaften Sprache und einer<br />
realen, nüchternen Alltagssprache möchte ich an<br />
zwei Beispielen aufzeigen. Was Eduard Mörike<br />
in seinem Gedicht „Septembermorgen“ folgen-<br />
dermassen beschreibt...<br />
Im Nebel ruhet noch die Welt,<br />
noch träumen Wald und Wiesen.<br />
Bald siehst du wenn der Schleier fällt,<br />
den blauen Himmel unverstellt,<br />
herbstkräftig die gedämpfte Welt,<br />
in warmen Golde fliessen.<br />
... tönt in der sachlichen Nach-<br />
richtensprache eines Wetterberichts so: Nach<br />
Auflösung örtlicher Nebelfelder sonnig.<br />
Die Sprache auf Märchenkassetten<br />
und Platten wirkt oft künstlich aufgemotzt und<br />
dramatisiert und eignet sich eigentlich nicht so<br />
sehr für Kinder. Märchen stellen in bildhafter<br />
Form Wahrbilder dar. Beim Zuhören muss eine<br />
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