Zum Jahresbericht 2009 - Onko Plus
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20JAHREQualitÄt<br />
undERFAHRUNG<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong><br />
Behandeln<br />
Beraten<br />
Begleiten<br />
Informieren<br />
Koordinieren<br />
Fortbilden
Inhalt<br />
3 <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> auf einen Blick<br />
4 Bericht des Präsidenten<br />
5 Bericht der Geschäftsführerin<br />
6 Statistische Angaben<br />
8 Ein grosses Dankeschön<br />
1 0 Spenden haben viele Gesichter<br />
1 1 Bilanz<br />
1 2 Betriebsrechnung<br />
1 4 Bericht der Revisionsstelle<br />
16 Team<br />
18 Stiftungsrat<br />
19 Ärztebeirat<br />
20 Porträt Jan Habersaat<br />
21 Einblicke
3<br />
Auf einen Blick<br />
<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> verfügt über 20 Jahre Qualität und Erfahrung<br />
in spitalexterner <strong>Onko</strong>logie- und Palliativ-Pflege!<br />
Angebot:<br />
• 24-h-Erreichbarkeit für unsere Patienten<br />
• Management und Linderung von schwer behandelbaren Symptomen<br />
wie Schmerzen, Übelkeit /Erbrechen, Obstipation, Dehydratation u.a.<br />
• Antizipieren und damit Vorbeugen von akuten Krisensituationen<br />
• Installation und Betrieb von Schmerzpumpen (subkutan, intravenös,<br />
intraspinal oder peridural)<br />
• Verabreichung von diversen Blutderivaten, Infusionen, Antibiotikatherapien<br />
• Totale parenterale Ernährung<br />
• Durchführen von Chemotherapien<br />
• Unterhalt von Port-Systemen, Zentralvenenkatheter<br />
• Handhabung und Kontrolle von Sonden, Kathetern und Drainagen etc.<br />
• Organisation und Leitung von Round-Table-Gesprächen<br />
• Erstellen einer individuellen Patientenverfügung<br />
• Notfallplanung /vorausschauende Planung<br />
• AURIS (Begleitung von Sterbenden durch Mediatoren)<br />
• Sprechstunden (Klinik, onkologische Praxis)<br />
• proaktives Schnittstellenmanagement in der interdisziplinären Zusammenarbeit<br />
• Fortbildungen und Fallbesprechungen intern und extern<br />
Zielgruppe: Menschen, die an einer Krebserkrankung oder an einer anderen<br />
chronischen Krankheit leiden und zu Hause im Kanton Zürich betreut werden<br />
möchten.<br />
Zusammenarbeit: <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> arbeitet sehr eng mit allen für den Patienten wichtigen<br />
Institutionen und Personen zusammen: Hausärzte, <strong>Onko</strong>logen, Spitäler,<br />
Spitex-Organisationen, Krebsliga und Freiwilligen-Dienste.<br />
Kosten: Patienten können die Leistungen von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> über die Krankenkasse<br />
abrechnen.<br />
Fachpersonal: Sämtliche Pflegefachpersonen von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> sind hoch qualifiziert<br />
und verfügen über jahrelange Erfahrung in der <strong>Onko</strong>logie- und Palliativ-<br />
Pflege.<br />
Spenden: <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> ist zur Erfüllung ihrer Aufgabe auf Spenden angewiesen.<br />
PC 80-38332-6<br />
Auskünfte und Anmeldung: Eine Telefonnummer für den ganzen Kanton<br />
Zürich: 043 305 88 70. Erreichbar montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr.<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong>
Bericht des<br />
Präsidenten<br />
<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> wurde vor genau zwanzig Jahren von einer Gruppe engagierter<br />
<strong>Onko</strong>logen und zweier Pflegefachfrauen als private gemeinnützige Stiftung gegründet.<br />
Ihr Ziel war damals, krebserkrankten Menschen die spezialisierte Pflege<br />
und Betreuung zu Hause zu ermöglichen. Mit der Zeit hat <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> den Pflegeauftrag<br />
über die Krebspatientinnen und -patienten hinaus auf alle Menschen,<br />
die sich in einer palliativen Situation befinden, ausgedehnt. Heute versteht sich<br />
<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> mit ihrer langen Erfahrung als gezielte Ergänzung dort, wo onkologisches<br />
und palliatives Wissen sowie fachspezifische Erfahrung von den Grundversorgern<br />
nicht allein erbracht werden können.<br />
Von schwerer Krankheit betroffen zu sein oder dem nahenden Tod in die Augen zu<br />
schauen, bedeutet für viele Menschen und ihre Nächsten einen schweren Schicksalsschlag.<br />
Grösster Wunsch der Betroffenen ist es, zu Hause, in der vertrauten<br />
Umgebung, betreut zu werden. <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> strebt in enger Zusammenarbeit mit<br />
Hausärzten und lokaler Spitex danach, eine fachlich hoch qualifizierte Beratung<br />
und Betreuung sowie die Erreichbarkeit während 24 Stunden zu sichern und so<br />
einen Verbleib daheim auch in anspruchsvollen Situationen zu ermöglichen.<br />
In Zukunft wird eine grössere Anzahl Menschen in der letzten Lebensphase mehr<br />
Betreuung benötigen. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Bevölkerung in<br />
der Schweiz immer älter wird und unheilbare, chronische Krankheiten im Alter<br />
häufiger auftreten. Aber auch jüngere schwerkranke Patientinnen und Patienten<br />
mit Krebsleiden, neurologischen Leiden, infektiösen oder chronischen Krankheiten<br />
benötigen oft über längere Zeit umfassende Betreuung. Nur die sektorübergreifende<br />
Verknüpfung von medizinischen und pflegerischen Leistungen bietet<br />
den Betroffenen die Chance, bis zum Tod ein Leben in grösstmöglicher Autonomie<br />
zu führen und die letzten Lebenswochen nach Wunsch zu gestalten.<br />
Wir werden all unsere Angebote und Massnahmen weiterhin darauf ausrichten,<br />
ein bestmögliches Leben oder Sterben zu Hause zu gewährleisten.<br />
Dr. Urs Huber<br />
Präsident des Stiftungsrates<br />
Zürich, 13. April 2010<br />
4
Bericht der<br />
Geschäftsführerin<br />
Unsere Pflegefachkräfte waren rund um die Uhr unterwegs, um über 400<br />
schwerstkranke Patienten zu Hause zu betreuen. Das Augenmerk lag hauptsächlich<br />
in der Förderung beziehungsweise Erhaltung einer bestmöglichen<br />
Lebensqualität. Die Hauptleistungen von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> betrafen die Information<br />
und Beratung der Patienten und ihres sozialen Umfeldes in Hinsicht auf<br />
die Auswirkungen der Krankheiten auf den Alltag, die Linderung belastender<br />
Symptome, die psychosoziale Begleitung, Krisenintervention sowie vorausschauende<br />
Planung der Betreuung und Eventualplanung möglicher akuter<br />
Komplikationen (Notfallplanung), Organisation von Spitalentlassungen sowie<br />
Koordination und Vernetzung aller involvierten Personen und Organisationen.<br />
Auch galt es, bei Bedarf ein erweitertes Betreuungsteam inkl. freiwilliger bzw.<br />
ehrenamtlicher Mitarbeitender hinzuzuziehen.<br />
Im Idealfall wurde <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> bereits frühzeitig in die Austrittsplanung aus dem<br />
Spital einbezogen. Die grosse Erfahrung unseres Teams ermöglichte so eine<br />
antizipierende Planung für die Situation zu Hause, indem für das Eintreten<br />
möglicher Komplikationen wie Schmerzdurchbrüche, Atemnot und andere<br />
Symptome entsprechende Vorkehrungen getroffen wurden. Da sich mit dem<br />
Fortschreiten der Krankheiten und der Zunahme der Abhängigkeit von hoch<br />
spezialisierten Diensten zwangsläufig auch Fragen der Finanzierung stellen, unterstützte<br />
<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> lokale Spitex-Organisationen und die Mitarbeitenden in<br />
Heimen mit bedarfsgerechten Schulungen, um deren Handlungskompetenzen<br />
zu erweitern und so die Einsatzstunden von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> zu senken.<br />
In diesem Sinne sind sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter äusserst moti-<br />
viert, die hohe Qualität im Dienste der betroffenen Menschen zu erhalten und<br />
wo immer möglich noch weiter zu steigern. Dabei sind wir glücklich, auch<br />
weiterhin auf die gute Zusammenarbeit mit den lokalen Grundversorgern und<br />
Spitälern zählen zu dürfen.<br />
Daniela Vas<br />
Geschäftsführerin<br />
Zürich, 13. April 2010<br />
5<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong>
Statistische<br />
Angaben<br />
Anzahl der betreuten PatientInnen<br />
Total<br />
Alle Zahlenangaben in Prozent<br />
Geschlecht der betreuten PatientInnen<br />
Frauen<br />
Männer<br />
Alter bei Pflegebeginn<br />
18 – 29<br />
30 – 39<br />
40 – 49<br />
50 – 59<br />
60 – 69<br />
70 – 79<br />
Über 80<br />
6<br />
Gründe für die erste Kontaktnahme<br />
Fachliche Informationen<br />
Symptomatische Anämie<br />
Andere Symptome<br />
Schmerzen<br />
Medikamentöser Therapiebedarf<br />
Planung des Spitalaustritts<br />
Andere<br />
2008 <strong>2009</strong><br />
343 412<br />
2008 <strong>2009</strong><br />
56 48<br />
44 52<br />
2008 <strong>2009</strong><br />
1 1<br />
2 3<br />
9 8<br />
17 16<br />
32 24<br />
25 30<br />
14 17<br />
2008 <strong>2009</strong><br />
50 45<br />
6 8<br />
4 4<br />
17 19<br />
16 16<br />
7 8<br />
0 0
Die häufigsten Erkrankungen<br />
Verdauungstrakt und Peritoneum<br />
Atmungs- und Thoraxorgane<br />
Brust weiblich<br />
Genitalorgane weiblich und männlich<br />
Harnorgane<br />
Maligne Lymphome und Leukämie<br />
Andere Lokalisationen<br />
Unbekannte Lokalisation<br />
Nicht-maligne Erkrankung<br />
7<br />
Zustand der betreuten PatientInnen<br />
Zu hundert Prozent bettlägerig<br />
Mehr als zur Hälfte bettlägerig<br />
Weniger als zur Hälfte bettlägerig<br />
Nicht bettlägerig<br />
Uneingeschränkt körperlich aktiv<br />
Hauptleistung von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />
Symptomkontrolle<br />
Beratung der Betroffenen<br />
Schmerztherapien<br />
Verbandwechsel / Verweilkatheter<br />
Medikamentöse Therapien<br />
Koordination/Organisation<br />
Transfusionen<br />
Ernährung /Ausscheidung<br />
Schulung Fachpersonal<br />
Andere<br />
2008 <strong>2009</strong><br />
31 32<br />
16 18<br />
15 10<br />
11 12<br />
6 5<br />
5 8<br />
7 8<br />
0 0<br />
9 7<br />
2008 <strong>2009</strong><br />
17 15<br />
40 41<br />
36 37<br />
6 7<br />
1 1<br />
2008 <strong>2009</strong><br />
30 28<br />
24 27<br />
15 14<br />
13 9<br />
9 9<br />
4 4<br />
3 5<br />
1 2<br />
0 1<br />
1 1<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong>
8<br />
Ein grosses<br />
Dankeschön<br />
Ein grosses Dankeschön allen, die uns <strong>2009</strong> unterstützt haben.<br />
Spender ab CHF 1000.– in alphabetischer Reihenfolge<br />
ABZ Allgemeine Baugenossenschaft Zürich • Alfred + Bertha Zangger-<br />
Weber Stiftung, Riedikon • Bosson Daniel, Zürich • English Speaking<br />
Catholic Mission Zurich • Evang.-ref. Kirchgemeinde Wülflingen • Fanny<br />
Häuptli-Stiftung, <strong>Zum</strong>ikon • FäWa-Elektronik AG, Hinwil • François<br />
Grütter, Volketswil • Gemeinnütziger Frauenverein Bülach • Holcim<br />
(Schweiz) AG, Zürich • Hülfsgesellschaft, Zürich • Jacqueline und<br />
Peter F. Weibel, Zürich • Kath. Pfarramt St. Katharina, Zürich • Landfrauenvereinigung<br />
des Bez. Dielsdorf • Lotte + Adolf Hotz-Sprenger Stiftung,<br />
Zürich • Martha Bock Stiftung, Winterthur • Ref. Kirchgemeinde<br />
Küsnacht • Wistrag AG, Winterthur • Zürcher Kantonalbank<br />
und allen anderen Spendern, die nicht genannt sein wollen, sowie auch<br />
Spendern, die uns mit Sach- und Zeitspenden unterstützt haben.<br />
Trauerspenden in Gedenken an in alphabetischer Reihenfolge<br />
Bischofberger Matthias • Blaser Werner • Ehrbar Willi • Forney Françoise •<br />
Freiburghaus Rosmarie • Frey Albert • Gfeller Edgar • Hägeli Jürg,<br />
Hirzel Susanne • Holliger Roland • Huber Werner • Prof. Dr. Albert<br />
Huch • Keller Kurt • Küng Georges • Kunz Barbara Eva • Locatelli<br />
Michelle • Manser Anton • Meier Gottfried • Oberle-Greub Adelheid,<br />
Orlandi Bruno-Luigi • Piaget Marianne • Pulver René • Ramel Jeanne,<br />
Rebmann Urs • Rickenbach Elke • Rückmar Ida • Schmid Hans • Schmid<br />
Hans Rudolf • Schneebeli Walter • Stadler-Berger Christine • Trümpy<br />
Fredi • Weber Bruno R. und alle anderen, die nicht genannt sein wollen.<br />
Unseren Mitarbeitenden<br />
Der Geschäftsführerin Daniela Vas, der Pflegeleiterin Karin Ritt, der medizinischen<br />
Praxisassistentin Sonja Dürst, der Spitex-Delegierten Andrea Bühner,<br />
den Pflegefachpersonen Deborah Ackermann, Claudia Erne, Markus Feuz,<br />
Barbara Karasek, Margrit Reinhard, Susanne Shorter und Yvonne Wildi<br />
sowie unserer freien Mitarbeiterin Aneta Vujic.<br />
Unserem AURIS-Team unter der Leitung von Gabriella Mariani, welches<br />
unsere Patienten und ihre Angehörigen ehrenamtlich begleitet.
9<br />
Allen Stiftungsräten<br />
Namentlich unserem Präsidenten Dr. Urs Huber, dem Vizepräsidenten Werner<br />
Hoppler, den Mitgliedern Susanne Bernasconi, Silvia Schmid, Dieter<br />
Burckhardt, Peter Binz, Dr. Christoph Seitler und Dr. Andreas Trojan.<br />
Unserem Fachbeirat und Konsiliararzt<br />
Der Präsidentin des Ärztebeirates Dr. Heidi Dazzi, Dr. Urs Breitenstein,<br />
Dr. Luzius von Rechenberg, Dr. Lucas Widmer und Dr. Miklos Pless<br />
sowie unserem Konsiliararzt Dr. Andreas Weber.<br />
Allen Ärzten und Kliniken<br />
Den Haus- und Fachärzten, den <strong>Onko</strong>logen, <strong>Onko</strong>-Ambulatorien, Spitälern und<br />
Kompetenzzentren, mit denen wir im Berichtsjahr zusammengearbeitet haben.<br />
Allen Partnerorganisationen in alphabetischer Reihenfolge<br />
u.a. Blutspendezentrum Zürich • Fachstelle für Palliative Care Stadt Zürich •<br />
Hospiz Zürcher Lighthouse • Kispex • Krebsliga Zürich • Lungenliga •<br />
<strong>Onko</strong>logiepflege Schweiz • Palliativ Care-Netzwerk ZH/SH • ParaHelp •<br />
SEOP-Organisationen in der ganzen Schweiz • Spitex-Organisationen im<br />
ganzen Kanton Zürich • Spitex Verband Kanton Zürich • Spitex Verband<br />
Schweiz • Team Auris • Verein WABE • Zürcher Vereinigung zur Beglei-<br />
tung Schwerkranker ZVBS sowie allen Lieferanten, die uns rasch und kompetent<br />
unterstützen.<br />
Unserem Treuhänder und Revisor<br />
Simon Mehr und seiner Mitarbeiterin Irene Bucher sowie Hansjörg Etter von<br />
der Provida St. Gallen.<br />
Allen Familienangehörigen, Freunden und Bekannten<br />
die uns immer wieder bei verschiedenen Aktionen tatkräftig unterstützen;<br />
insbesondere Thomi Meier von Meier Kommunikation und Rodolfo Sacchi<br />
von Sacchi Design sowie dem Künstler Jan Habersaat, der nicht nur unsere<br />
Patienten für den Jubiläumsbericht porträtiert hat, sondern uns als Freund auch<br />
sonst stets unterstützt.<br />
Allen Angehörigen und Freunden<br />
der Betroffenen für ihre Kraft und ihren enormen Willen, mit dem sie ihren<br />
Liebsten die Betreuung zu Hause erst ermöglicht haben – ohne ihre tatkräftige<br />
Unterstützung wäre vieles nicht machbar gewesen.<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong>
10<br />
Spenden haben<br />
viele Gesichter<br />
Einfache Spende: Wir freuen uns über jede Einzelspende.<br />
Förderer: Förderer unterstützen uns jährlich mit mind. 80 Franken.<br />
Gönner: Gönner unterstützen uns jährlich mit mind. 500 Franken.<br />
Geschenke: Sie feiern ein Fest? Rufen Sie Ihre Gäste dazu auf, anstelle<br />
eines Geschenks eine Spende zugunsten von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> zu tätigen.<br />
Legate: Sie möchten mit Ihrem Nachlass etwas Gutes bewirken?<br />
Gerne informieren wir Sie unverbindlich über die diversen Unterstützungs-<br />
möglichkeiten.<br />
Spendenmailing: Sie möchten uns ein Spendenmailing ermöglichen?<br />
Wählen Sie die Grösse des Adressstammes aus.<br />
Benefizkonzert: Egal ob Privatperson, Verein oder Firma:<br />
Wir freuen uns über jedes Benefizkonzert zugunsten von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />
und übernehmen für Sie gerne die Organisation des Anlasses.<br />
Weitere Ideen: Selbstverständlich sind wir für jede weitere Idee offen<br />
und freuen uns auf Ihre Vorschläge. Auch sind wir gerne bereit,<br />
unsere Organisation in Ihrem Wirkungskreis persönlich vorzustellen.<br />
Für Fragen: Daniela Vas, Geschäftsführerin, info@onko-plus.ch<br />
Tel. 043 305 88 70<br />
Wir sind auf Ihre Spende angewiesen<br />
Rund 40% der Kosten jeder einzelnen Pflegestunde muss <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> über<br />
Spenden finanzieren. Jede Spende wird sinnvoll und direkt eingesetzt, damit<br />
schwerstkranke Menschen mit Würde in ihrem Zuhause sterben können.<br />
Spenden können auch unter www.onko-plus.ch erfolgen.<br />
spendenkonto pC 80-38332-6
Bilanz<br />
11<br />
Vergleich<br />
Aktiven 31.12.09 31.12.08<br />
CHF CHF<br />
Flüssige Mittel 679‘788.44 730‘008.61<br />
Forderungen aus Lieferungen und Leistungen<br />
– gegenüber Dritten 115‘595.60 49‘280.90<br />
– Delkredere<br />
Andere kurzfristige Forderungen<br />
-11‘559.55 -4‘928.10<br />
– gegenüber Dritten 3‘784.75 1‘842.75<br />
Aktive Rechnungsabgrenzung 3‘189.85 3‘075.75<br />
Umlaufvermögen 790‘799.09 779‘279.91<br />
Büromobiliar 1.00 1.00<br />
EDV 5‘691.00 6‘261.00<br />
Fahrzeuge 1.00 1.00<br />
Materielles Anlagevermögen 5‘693.00 6‘263.00<br />
Anlagevermögen 5‘693.00 6‘263.00<br />
796‘492.09 785‘542.91<br />
Passiven 31.12.09<br />
Vergleich<br />
31.12.08<br />
Schulden aus Lieferungen und Leistungen<br />
CHF CHF<br />
– gegenüber Dritten 24‘475.50 39‘012.25<br />
Passive Rechnungsabgrenzung 90‘960.00 25‘370.00<br />
Kurzfristige Verbindlichkeiten 115‘435.50 64‘382.25<br />
Fremdkapital 115‘435.50 64‘382.25<br />
Einbezahltes Kapital (Stiftungskapital) 12‘000.00 12‘000.00<br />
Erarbeitetes Kapital 709‘160.66 779‘836.13<br />
Aufwandsüberschuss -40‘104.07 -70‘675.47<br />
Organisationskapital 681‘056.59 721‘160.66<br />
796‘492.09 785‘542.91<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong>
12<br />
Betriebsrechnung<br />
Vergleich<br />
<strong>2009</strong> 2008<br />
CHF CHF<br />
Ertrag Pflegedienst 271‘243.40 228‘871.65<br />
Veränderung Delkredere -6‘631.45 3‘283.55<br />
Debitorenverluste -6‘287.95 0.00<br />
Übriger Betriebsertrag 6‘023.00 3‘255.00<br />
Ertrag aus Leistungen 264‘347.00 235‘410.20<br />
Staatsbeitrag Kt. Zürich 33‘478.00 26‘373.00<br />
Beitrag Stadt Zürich 75‘000.00 100‘000.00<br />
Beitrag übrige Gemeinden 321‘149.70 170‘211.70<br />
Beitrag Krebsliga 0.00 22‘500.00<br />
Ertrag Beiträge 429‘627.70 319‘084.70<br />
Betrieblicher Ertrag 693‘974.70 554‘494.90<br />
Einkauf Medikamente /Med. Material -24‘340.85 -27‘244.65<br />
Personalaufwand -798‘004.25 -699‘694.60<br />
Büromiete -27‘872.30 -30‘243.55<br />
Unterhalt Fahrzeuge -30‘217.25 -29‘230.45<br />
Unterhalt Mobilien, Geräte -1‘551.50 -702.35<br />
Unterhalt EDV -15‘715.41 -9‘342.50<br />
Versicherungen, Abgaben, Gebühren -4‘995.65 -5‘664.85<br />
Büromaterial, Drucksachen -14‘789.90 -17‘647.50<br />
Telefon, Porti, Internet -20‘325.75 -14‘709.55<br />
Honorare Buchführung -12‘589.35 -12‘308.55<br />
Revisionskosten -1‘640.90 -1‘145.95<br />
Beratungen -5‘750.00 3‘820.00<br />
Helpline -4‘170.60 -2‘137.05<br />
Öffentlichkeitsarbeit -27‘112.10 -53‘171.25<br />
Übriger Betriebsaufwand -4‘671.60 -7‘053.70<br />
Zinsertrag 1‘456.15 4‘354.55<br />
Bankspesen -1‘384.90 -1‘286.85<br />
Ausserordentlicher Ertrag 11‘591.95 0.00<br />
Gewinn aus Verkauf Anlagevermögen 600.00 450.00<br />
Abschreibungen -4‘411.00 -3‘140.80<br />
Betrieblicher Aufwand -985‘895.21 -906‘099.60<br />
Betriebsverlust (Übertrag) -291‘920.51 -351‘604.70
13<br />
Vergleich<br />
<strong>2009</strong> 2008<br />
CHF CHF<br />
Betriebsverlust (Übertrag) -291‘920.51 -351‘604.70<br />
Spenden 225‘316.44 243‘679.23<br />
Legate 16‘000.00 22‘000.00<br />
Gönner 7‘800.00 9‘600.00<br />
Fördermitglieder 2‘700.00 5‘650.00<br />
Finanzierung Betriebsverlust 251‘816.44 280‘929.23<br />
Aufwandsüberschuss -40‘104.07 -70‘675.47<br />
Als Non-Profit-Organisation mit nicht kostendeckenden Tarifen ist <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />
dringend auf den Beitrag der öffentlichen Hand angewiesen, denn der Stundentarif<br />
für die Betreuung der Patienten durch hoch spezialisierte Pflegefachkräfte<br />
beträgt gemäss Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) lediglich 67 Franken.<br />
Nicht inbegriffen sind die Fahrtkosten, die aufgrund der kantonalen Tätigkeit<br />
(1729 km2 ) überdurchschnittlich hoch ausfallen sowie der Erhalt eines 24-Stunden-Pikettdienstes<br />
oder die Bereitstellung der technischen Hilfsmittel mit entsprechender<br />
Logistik für die Materialbeschaffung. Dieses Defizit muss zu einem<br />
grossen Teil durch Spendeneinnahmen gedeckt werden.<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong>
Bericht der<br />
Revisionsstelle<br />
Bericht der Revisionsstelle zur Eingeschränkten Revision an den<br />
Stiftungsrat der <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> Stiftung für mobile spezialisierte<br />
Palliativ- und <strong>Onko</strong>logiepflege, Zürich<br />
Als Revisionsstelle haben wir die Jahresrechnung (Bilanz und Betriebsrechnung)<br />
der <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> Stiftung für mobile spezialisierte Palliativ- und <strong>Onko</strong>logiepflege<br />
für das am 31. Dezember <strong>2009</strong> abgeschlossene Geschäftsjahr geprüft.<br />
Für die Jahresrechnung ist der Stiftungsrat verantwortlich, während unsere Aufgabe<br />
darin besteht, diese zu prüfen. Wir bestätigen, dass wir die gesetzlichen<br />
Anforderungen hinsichtlich Zulassung und Unabhängigkeit erfüllen.<br />
Unsere Revision erfolgte nach dem Schweizer Standard zur Eingeschränkten Revision.<br />
Danach ist diese Revision so zu planen und durchzuführen, dass wesentliche<br />
Fehlaussagen in der Jahresrechnung erkannt werden. Eine Eingeschränkte<br />
Revision umfasst hauptsächlich Befragungen und analytische Prüfungshandlungen<br />
sowie den Umständen angemessene Detailprüfungen der bei der geprüften<br />
Stiftung vorhandenen Unterlagen. Dagegen sind Prüfungen der betrieblichen<br />
Abläufe und des internen Kontrollsystems sowie Befragungen und weitere Prüfungshandlungen<br />
zur Aufdeckung deliktischer Handlungen oder anderer Gesetzesverstösse<br />
nicht Bestandteil dieser Revision.<br />
Bei unserer Revision sind wir nicht auf Sachverhalte gestossen, aus denen wir<br />
schliessen müssten, dass die Jahresrechnung nicht Gesetz und Stiftungsurkunde<br />
entsprechen.<br />
Provida Wirtschaftsprüfung AG<br />
Hansjörg Etter Christian Siebert<br />
zugelassener Revisionsexperte zugelassener Revisionsexperte<br />
Leitender Revisor<br />
St.Gallen, 23. Februar 2010<br />
14
Wir führen <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> zielgerichtet und<br />
organisieren den Pflegebetrieb effizient<br />
und kompetent. Für alle Fragen rund um<br />
die <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> stehen wir Ihnen gerne zur<br />
Verfügung.<br />
Unser diplomiertes Pflegefachpersonal<br />
ist speziell für die Betreuung von krebs-<br />
kranken Menschen ausgebildet und hat<br />
langjährige Erfahrung in der Diagnostik<br />
und Therapie von schwer behandelbaren<br />
Symptomen und Schmerzen.<br />
Team<br />
DANIELAVas<br />
Geschäftsleitung, MAS CRM<br />
SONJAdürst<br />
Administration, Medizinische Praxisassistentin<br />
DEBORAHaCkermann<br />
MAS Palliative Care, dipl. Pflegefachfrau DN II,<br />
FA Anästhesie, dipl. Case-Managerin NDS<br />
16<br />
KARINritt<br />
Leitung Fachbereich Pflege, dipl. Pflegefachfrau AKP,<br />
HöFa I <strong>Onko</strong>logie<br />
ANDREAbühner<br />
Spitex-Delegierte, dipl. Pflegefachfrau<br />
CLAUDIAerne<br />
Dipl. Pflegefachfrau AKP, HöFa I Akutpflege,<br />
cand. MAS Palliative Care
MARKUSfeuz<br />
MAS Palliative Care, dipl. Pflegefachmann AKP,<br />
HöFa I Pflege, dipl. Berufsschullehrer im<br />
Gesundheitswesen<br />
MARGRITreinhard<br />
Dipl. Pflegefachfrau AKP<br />
YVONNEWildi<br />
Dipl. Pflegefachfrau AKP, HöFa I Palliative Care,<br />
FA Anästhesie<br />
17<br />
BARBARAkarasek<br />
MAS Ethische Entscheidungsfindung im<br />
Gesundheitswesen, dipl. Pflegefachfrau AKP,<br />
HöFa I <strong>Onko</strong>logie<br />
SUSANNEshorter<br />
Dipl. Pflegefachfrau AKP, HöFa I Akutpflege,<br />
HöFa I <strong>Onko</strong>logie<br />
dr. med. ANDREASWeber<br />
Facharzt für Anästhesie und Reanimation FMH,<br />
Konsiliararzt <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong><br />
Als Konsiliararzt steht dem Team<br />
Dr. med. Andreas Weber zur Verfügung.
Der Stiftungsrat setzt sich aus Vertretern<br />
der Medizin, Wirtschaft, Politik und<br />
Pflegewissenschaft zusammen.<br />
Er arbeitet ehrenamtlich und trägt die<br />
Verantwortung für die strategische<br />
SUSANNEbernasConi<br />
Rechtsanwältin, Bereich Politik<br />
Ausrichtung der Stiftung.<br />
SILVIAsChmid<br />
Pflegewissenschaftlerin, Bereich Qualitätsentwicklung<br />
18<br />
Stiftungsrat<br />
dr. med. URS S.huber<br />
Facharzt FMH für <strong>Onko</strong>logie, Innere Medizin,<br />
<strong>Onko</strong>logie-Hämatologie, Präsident des Stiftungsrates<br />
PETERbinz<br />
COO /CFO PricewaterhouseCoopers AG,<br />
Bereich Finanzen<br />
dr. med. CHRISTOPHseitler<br />
Ärztlicher Leiter des Zentrums für Palliative Care<br />
am Kantonsspital Winterthur, Bereich Palliative Care<br />
WERNERhoppler<br />
Betriebsökonom, Vizepräsident des Stiftungsrates<br />
DIETERburCkhardt<br />
Burckhardt Consulting, Bereich Personelles<br />
pd dr. med. ANDREAStrojan<br />
Facharzt FMH für <strong>Onko</strong>logie und Innere Medizin,<br />
Bereich <strong>Onko</strong>logie
Ärztebeirat<br />
dr. med. HEIDIdazzi<br />
Fachärztin für Innere Medizin und<br />
<strong>Onko</strong>logie-Hämatologie, Tucare, Schlieren<br />
Präsidentin des Ärztebeirates<br />
dr. med. LUCASWidmer<br />
Facharzt FMH für <strong>Onko</strong>logie-Hämatologie<br />
<strong>Onko</strong>zentrum Hirslanden, Zürich<br />
19<br />
dr. med. LUZIUSVonreChenberg<br />
Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, Psychosomatische<br />
und Psychosoziale Medizin (APPM) Zürich<br />
dr. med. URSbreitenstein<br />
Facharzt für Innere Medizin und <strong>Onko</strong>logie-Hämatologie,<br />
<strong>Onko</strong>zentrum Klinik im Park, Zürich<br />
pd dr. med. MIKLOSpless<br />
Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie,<br />
Medizinische <strong>Onko</strong>logie und Tumorzentrum<br />
Kantonsspital Winterthur<br />
JAHRESberiCht<strong>2009</strong><br />
Der Fachbeirat besteht aus im Kanton<br />
Zürich tätigen <strong>Onko</strong>logen und Fach-<br />
ärzten. Er ist ehrenamtlich tätig, berät<br />
in Fachfragen, nimmt zum Pflege- und<br />
Betriebskonzept Stellung, bringt Vor-<br />
schläge für die fachliche Entwicklung<br />
ein und hat die wichtige Aufgabe,<br />
<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> mit den in der <strong>Onko</strong>logie<br />
tätigen Medizinern zu vernetzen.
JANhabersaat<br />
Jan Habersaat wurde 1950 in Wädenswil geboren und arbeitete während<br />
30 Jahren als Bankangestellter. Seit über zehn Jahren widmet sich Jan Haber-<br />
saat der Fotografie und hat diverse erfolgreiche Fotobücher herausgegeben.<br />
Jan Habersaat hat für <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> verschiedene betroffene Personen in ihrer<br />
augenblicklichen und schwierigen Lebenssituation dargestellt, sie porträtiert<br />
und ihnen ein Profil gegeben.
erfahrungen erlebnisse perspektiVen
«Was soll ich Ihnen erzählen; es gibt nicht viel…<br />
Im Freiamt, in einem kleinen Nest, überschaubar,<br />
erzkatholisch, verbrachte ich meine Jugend.<br />
Vater arbeitete bei Brown Boveri in Baden, jasste<br />
gerne, sang im Männerchor, spielte Theater.<br />
Mutter kam aus Zurzach. Fügte sich ein, übernahm<br />
ihre vorgeschriebene Rolle und war beliebt<br />
unter den Einheimischen. Dann, ich war<br />
zwei Jahre alt, geschah das Unfassbare. Eine<br />
Epidemie brach aus. Polio. Ein Anruf am Arbeitsplatz<br />
in Baden überbrachte die fürchterliche<br />
Nachricht. Meine Mutter hatte uns verlassen,<br />
wurde Opfer dieser Krankheit. 29 Jahre alt<br />
war sie. Ratlosigkeit herrschte. Was nun? Zwei<br />
blinde Tanten kümmerten sich um mich. Die<br />
Behörde war damit nicht einverstanden, und<br />
mein Vater wollte mich nicht ins entfernte Zur-<br />
zach zu den Schwiegereltern geben. Dann endlich<br />
wurde eine Lösung gefunden. Die jüngere<br />
Schwester der Mutter heiratete meinen Vater.<br />
Etwas Druck wurde schon ausgeübt. Das arme<br />
Kind – zu fremden Leuten, das darf doch nicht<br />
sein, das wird nicht gut enden. Sie war gut mit<br />
mir, wir hatten uns lieb. Ruhig, pflichtbewusst<br />
übernahm sie klaglos und zielstrebig die ihr<br />
übertragenen Aufgaben. Die Liebe, ja die Liebe,<br />
die sei später gewachsen, später eben. Dann,<br />
ich erinnere mich noch ganz genau, ich war vier<br />
Jahre alt, stand ein Kinderwagen in der Stube.<br />
Ich sollte ein Schwesterchen bekommen. Es lebte<br />
nicht. Die Nabelschnur erstickte das kleine<br />
Menschlein. Stumm, wortlos wurde es in die<br />
Wiege gelegt. Am anderen Tag kam der Gärtner<br />
mit einem kleinen blauen Sarg auf der Schulter.<br />
Blau, nicht weiss, denn die Kleine war nicht getauft.<br />
Sie gingen auf den Friedhof, legten den<br />
leblosen Körper in den Sarg meiner Mutter.»
«Wo ist meine kleine Schwester», wollte ich wissen. «Wo? Wo?»<br />
«An einem Ort, wo kein Freud und kein Leid ist.» «Entgeistert<br />
sass ich da. Mein Glaube wurde auf eine harte Probe gestellt.<br />
Ich, die, wie alle anderen Familienmitglieder, ja das ganze Dorf,<br />
am kirchlichen Leben teilnahm. Die Feiertage, wie Ostern und<br />
Weihnachten, liebte ich ganz besonders. Dann verwandelte sich<br />
mein Vater in einen feurigen Geschichtenerzähler, meine Augen<br />
leuchteten. Er nahm mich bei der Hand, und wir alle machten uns<br />
gemeinsam auf den Weg, das Wort Gottes zu hören.»<br />
«Ich war eine unauffällige und gute Schülerin. Wurde akzeptiert<br />
und nahm auch am Vereinsleben teil. Besonders stolz war mein<br />
Vater auf mich, als bei einer Theateraufführung des Männerchors<br />
mein Talent nachgefragt wurde. Die Schulnoten, ja, die wurden<br />
genau angeschaut – besonders die Note in Religion war wichtig.<br />
Warum, warum wohl? Jahre später erfuhr ich, dass seine Mutter<br />
mit den beiden Kindern meinem Grossvater nach Freiburg folgte.<br />
Dann plötzlich war er weg. Verschwunden, verschollen. Die Familie<br />
alleingelassen. Sie kehrten in die Heimat, ins Freiamt zurück.<br />
Jahrzehnte später erhielten wir die Kunde, dass er irgendwo in<br />
Frankreich eine neue Familie gegründet hatte. Nie sollte sich so<br />
etwas wiederholen. Eine glückliche, gläubige Familie mussten wir<br />
sein. Unauffällig, angepasst.» «Nach der Schule verbrachte ich<br />
einige Monate in Genf. Die Sprache sollte ich lernen. Die Grossstadt,<br />
die Hektik, dies alles behagte mir nicht. Heimweh quälte<br />
mich. Da ich Krankenschwester werden wollte, arbeitete ich in<br />
einem Sanatorium in Aegeri. Zuerst in der Kinderabteilung, dann<br />
in der Abteilung für ausländische Gäste. Eine Madame aus Frankreich<br />
verzauberte mich mit ihren Geschichten von der Weite der<br />
Landschaft, den Schlössern und Flüssen. Das mit eigenen Augen<br />
sehen, erleben, meinen Horizont erweitern. Vater war gar nicht<br />
einverstanden.» «Das kostet doch alles Geld und eigentlich wäre<br />
es an der Zeit, dass du etwas zum Haushalt beiträgst.» «Wenn es<br />
zwischen Mutter und Vater zu Spannungen kam, dann meistens<br />
des Geldes wegen. An Vereinsabenden wurde dringend benötigtes<br />
Geld ausgegeben. Eine böse Tante machte meiner Mutter das<br />
Leben schwer, denn alles wurde kommentiert, weitererzählt. Vater<br />
stand stumm da, hilf- und ratlos, denn der Hausfrieden musste<br />
gewahrt werden.» «Ich konnte mich durchsetzen und machte<br />
mich auf den Weg in die Fremde, nach Frankreich. Erstmals in<br />
meinem Leben. Stolz war ich, mächtig stolz. Es war eine wundervolle<br />
Zeit. Geprägt von Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, ein<br />
wirklich christlicher Geist herrschte. Nonne wollte ich werden!»<br />
«Zurück in der Schweiz, zurück im Alltag, entschied ich mich, im<br />
Theodosianum in Zürich zu arbeiten. Der Traum, Krankenschwester<br />
zu werden, stand wieder im Vordergrund. Doch bald schon<br />
hegte ich Zweifel. Ich las die Ärztezeitungen und bewarb mich<br />
als Arztgehilfin. In einem grossen, alten Haus war die Praxis untergebracht.<br />
Dort hatte ich auch mein Zimmer. Zaghaft begann<br />
ich die neue Freiheit zu entdecken. René, mein Freund aus alten<br />
Zeiten litt. Im Dorf glaubten sie fest daran, dass wir heiraten würden.<br />
Wetten wurden bereits abgeschlossen. Dann, an einem Fest,<br />
stand er vor mir. Neun Jahre älter, weltgewandt, aufgeschlossen<br />
und unterhaltsam. Mein Traummann – es war Liebe auf den ersten<br />
Blick. Maschineningenieur war er. In Neuhausen, in Delsberg<br />
lebten wir, bevor wir nach Fällanden umzogen. Malen war seine<br />
grosse Leidenschaft. H.A., mein Kunstmaler! Wir träumten von<br />
einem Haus im Piemont, umgeben von Natur, wir zwei, er mit der<br />
Staffelei und ich mit dem Schreibblock, denn ich korrespondierte<br />
angeregt mit vielen Freunden. Drei Söhne machten unser Glück<br />
vollkommen. Mein Mann litt unter Gefühlsschwankungen. Grenzenlose<br />
Glückseligkeit wechselte ab mit bleierner Passivität. Das<br />
war für alle nicht einfach. Mein Glauben half mir, diese emotionalen<br />
Achterbahnen zu bewältigen. Auch für die Kinder war dies<br />
eine grosse Herausforderung. Nach der Pensionierung erfüllten<br />
wir unseren Traum. Unser Glück war nur von kurzer Dauer. Unser<br />
Sohn starb, plötzlich, beängstigend rasch – Gehirntumor. Etwas<br />
zerbrach, starb in mir. War weggebrochen, für immer. Dann, vor<br />
neun Jahren, verspürte mein Mann ein Ziehen in der Lendengegend.<br />
Die Diagnose war niederschmetternd: Prostatakrebs. Er litt<br />
fürchterliche Schmerzen. Durch seinen Tod konnte ich mich endgültig<br />
von meinem Sohn lösen. Sein Schatten lastete nicht mehr<br />
auf meiner Seele.»<br />
«Der Alltag half mir. Aufgaben mussten erledigt werden. Gestärkt<br />
durch den Glauben, eng verbunden mit meinen beiden anderen<br />
Söhnen lebte ich weiter. Glücklich, ja, doch. Eines Tages machten<br />
sich leichte Bauchschmerzen bemerkbar. Vom Hausarzt wurde ich<br />
an einen Spezialisten weitergereicht. Dann, im Kreisspital, die Diagnose:<br />
Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ungläubig starrte ich den Arzt<br />
an. Als ob ein Fluch auf unserer Familie lastete. Gegen die Schmerzen<br />
bekomme ich Morphium. Freunde rufen mich an, unterhalten<br />
sich mit mir. Meine Söhne, meine Lieben, das Enkelkind sind für<br />
mich da, lenken mich ab, zeigen mir die schönen Seiten des Lebens.<br />
Seit kurzem verspüre ich eine innere Unruhe, Ratlosigkeit.<br />
Die Ungewissheit überschattet meinen Alltag. Dann übernachte<br />
ich bei Urs, meinem Sohn. Die Lieben geben mir Kraft, Mut. Die<br />
dunklen Wolken verziehen sich, dann lese ich. Tod. Tod, Todesangst?<br />
Ich weiss es nicht, tappe im Dunkeln, Schritt für Schritt,<br />
durch den Nebel, durch das Grau. Plötzlich ein Sonnenstrahl. Eine<br />
Freundin meldet sich, übernachtet bei mir. Mir wird leicht ums<br />
Herz. Alte Zeiten leben auf, ziehen an uns vorbei; das verbindet.<br />
Ein Leben nach dem Tode? Doch im Hier und Jetzt überfallen mich<br />
Fragen, Fragen ohne Antworten. Das ist nicht einfach. Ich nehme<br />
die Herausforderung an, sehe genauer hin, erfreue mich am Kleinen.<br />
Ich glaube an die Güte Gottes. Bin überzeugt, dass er mich<br />
leiten wird und lege mein Schicksal in seine Hände. Die Emotionen,<br />
auch die belastenden, akzeptiere ich. Mein Weg ist vorgezeichnet,<br />
ich werde ihn gehen im Vertrauen auf unseren Herrn!»
«Ja die Krankheit, dadurch werde ich sehr eingeengt. Ich kann<br />
nicht mehr spontan ins Glattzentrum fahren oder nach Spreitenbach<br />
– das hab ich doch so gerne gemacht. Gestern waren wir,<br />
zwei Töchter, eine Freundin und ich, in Hergiswil, in der Glasi. Unglaublich,<br />
was die dort alles machen. Ich konnte kaum mehr gehen.<br />
Feldenkrais, kennen Sie die Methode? Er war Physiker, Neurophysiologe.<br />
Nein? Nun, jeder hat ein Bild von sich selbst. Um<br />
die Art und Weise seines Tuns zu ändern, muss er das Bild von<br />
sich selbst ändern! Meine älteste Tochter macht mir Sorgen. Sie<br />
hat ein Geschwür genau hinter dem Sehnerv. Heute kann sie bei<br />
einem bekannten Professor am Unispital vorsprechen. Hoffentlich<br />
ist das Geschwür nicht gewachsen. Ja, so hat jeder seine kleinen<br />
und grossen Sorgen und Nöte.»
«In der Steiermark wurde ich geboren. Mein Vater stammte aus<br />
Böhmen. Zimmermann war er. Ein stattlicher, gut aussehender<br />
Mann. Ruhig, besonnen, mit Witz und Charme. Ich habe ihn geliebt!<br />
Im kleinen, abgelegenen Dorf, wo meine Mutter aufwuchs,<br />
begegneten sie sich. Sie war sechzehn, wurde schwanger. Das<br />
war natürlich schwierig, unmöglich, in einem katholischen kleinen<br />
Nest, zu jener Zeit. Man schaute weg. Kinder, viele Kinder, insgesamt<br />
elf, versammelten sich um den Tisch, mussten grossgezogen<br />
und ernährt werden. Arm waren wir, mussten mithelfen, teilweise<br />
waren wir auf Almosen angewiesen. Zeitungen vertragen, dem<br />
Nachbarn beim Heuen helfen. Eine schöne Jugend hatte ich –<br />
einfach toll. Wir spielten auf der Strasse, kletterten auf Bäume,<br />
stauten Bäche, sangen im Chor – Spielzeuge, nein die hatten wir<br />
nicht – zu teuer. Dann die grossen kirchlichen Anlässe, die Osterprozession,<br />
bunt, eindrücklich. Eines Tages wurde der Pfarrer,<br />
ein einfühlsamer Geistlicher, versetzt. Die Magd wurde auch nicht<br />
mehr gesehen. Man schwieg, schaute weg. Mein Vater zog in den<br />
Krieg, an die Westfront, war verschollen, kam in amerikanische<br />
Kriegsgefangenschaft. 1947 stand er am Bahnsteig.» «Geh nicht<br />
nach Hause», seine Schwester schaute ihn verlegen an. «Drei<br />
Kinder, Kriegskinder sassen am Tisch.» «Ich liebe meine Frau.»<br />
«Das Leben ging weiter – wortlos. Es wurde nicht viel gesprochen,<br />
schwierige Themen wurden ausgeklammert. Der Vater der drei<br />
Kinder, ein Nachbar, kehrte zu seiner Frau zurück. Er zeugte ein<br />
Kind, Anni wurde geboren. Ich bin das Produkt der stummen Versöhnung<br />
– auch ich wurde auf den Namen Anni getauft. Wir Versöhnungskinder<br />
besuchten die gleiche Schule. Ich wusste nichts<br />
von den Kriegsgeschwistern. Alle wussten es, nur wir nicht. Wir<br />
wurden gehänselt, ausgelacht, wussten ja nichts Näheres davon.<br />
Die Grossmutter lebte auf der anderen Strassenseite. Wir besuchten<br />
sie, schauten ihr zu, wie sie ihren Bohnenkaffee zubereitete.<br />
Bei uns war sie selten anzutreffen. Meine Mutter war eine starke,<br />
eine dominante Frau. Sie hatte das Sagen. Der harte Alltag prägte<br />
sie. Eines Tages begegnete mir auf dem Nachhauseweg ein älterer<br />
grauhaariger Mann. Den kenn ich doch! Wenig später sass er bei<br />
uns am Tisch.» «Anni, das ist dein Grossvater.» «Dann war er<br />
wieder weg. Er war krank.»<br />
«Aufgeklärt wurden wir nicht. Darüber wurde nicht gesprochen.»<br />
«Komm nur nie mit einem Kind nach Hause.» «Dann tauchte ein<br />
junger Mann auf. Ein Neffe des Metzgers. Er arbeitete dort und<br />
ich verliebte mich in ihn. Ich wurde schwanger. Musste das süsse<br />
Geheimnis natürlich für mich behalten. Niemand, nicht einmal<br />
meine Mutter, wusste etwas davon, sah etwas. Ich trug immer<br />
dasselbe Kleid. Dann, eines Tages, war es so weit. Meine Tochter<br />
wurde geboren. Im Elternhaus. Vater freute sich. Mutter schwieg.<br />
Ich musste arbeiten, dies und das. Das war nicht einfach. Meine<br />
grosse Liebe verdrückte sich, stand nicht zu mir. Für alles wurde<br />
ich gerufen. Ich konnte nicht Nein sagen, mich abgrenzen.<br />
Viele meiner Geschwister lebten im Ausland, in der Schweiz, in<br />
Deutschland. Ich wollte weg, entfliehen aus diesem engen und<br />
schwierigen Umfeld.»<br />
«In der Schweiz fand ich Arbeit.» «Ach, es war so schön! Ich fühlte<br />
mich frei, konnte selbst bestimmen, was ich tun wollte, konnte<br />
das Leben, die Welt entdecken. Am Buffet, im Service habe ich<br />
gearbeitet. Dort habe ich auch meinen Mann kennengelernt. Polizistensohn,<br />
aus Mettmenstetten. Ein toller Mann! Meine Tochter<br />
lebte immer noch bei meinen Eltern. Der Erzeuger wollte sie mir<br />
wegnehmen, denn seine Frau bekam keine Kinder. Meine Tochter,<br />
ungeheuerlich! Trotz der grossen Distanz hatten wir regen Kontakt<br />
mit ihr. Dann kam sie in die Schweiz. Wir haben noch zwei<br />
weitere Töchter. Alle sind wohlgeraten. Wir halten zusammen.<br />
Unternehmen viel. Ich war und bin eine leidenschaftliche Mutter.<br />
Es gibt nichts Schöneres auf der Welt! Immer wieder fuhren wir<br />
nach Österreich in Urlaub. Mein Vater sass auf seinem Schemel,<br />
erzählte mir von Amerika, dem vielen Essen, wie gut sie behandelt<br />
wurden und natürlich auch von den tollen Frauen. All das erfüllte<br />
mich mit einem grossen Glücksgefühl. Beide Eltern leben nicht<br />
mehr, trotzdem fahren wir immer wieder hin.»<br />
«Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ahnte etwas, verdrängte. Atemnot,<br />
Probleme mit der Schulter. Auch ich schwieg, schaute weg.<br />
Doch eines Tages konnte ich nicht mehr wegschauen. Die Ärzte<br />
waren sehr besorgt. Wochen, möglicherweise einige Monate<br />
würde ich noch leben. Meine Familie war entsetzt, geschockt. Es<br />
schien, als ob alles stillstehen würde. Eine junge Ärztin schlug eine<br />
Hormontherapie vor. Schlagartig verbesserte sich mein Zustand.<br />
Hoffnung keimte auf. Chemotherapien folgten. Stellen Sie sich<br />
vor, immer war jemand an meiner Seite! Mein Mann schlief im<br />
gleichen Zimmer, die Töchter besuchten mich täglich. Kurz vor<br />
dem Ausbruch meiner Krankheit verliess mein Mann den gemeinsamen<br />
Haushalt, wollte sich selbst verwirklichen. Sofort kehrte er<br />
zurück, stand mir beiseite. Ich habe mich doch etwas verändert,<br />
sehe genauer hin, beobachte, lebe bewusster, freue mich an den<br />
kleinen Dingen des Alltages. Nein, mit dem Schicksal hadere ich<br />
nicht. Schauen Sie sich doch die Nachrichten in der Tagesschau<br />
an. All das Elend! Millionen von Menschen, die kein fliessendes<br />
Wasser besitzen. Eine Schande! Da geht es mir, uns doch gut.<br />
Glauben Sie nicht auch?»
«Ja, hier in dieser Seegemeinde bin ich aufgewachsen. Hier wohne<br />
ich noch immer gerne, hier fühle ich mich zu Hause. Mein Vater<br />
arbeitete als Ingenieur. Anfänglich in Zürich, dann machte er<br />
sich selbstständig und eröffnete ein Geschäft in dieser Gemeinde.<br />
Meine Mutter war Haut-Couture-Schneiderin. Sie ist dankbar<br />
und glücklich darüber, dass sie, zu jener Zeit – ganz und gar nicht<br />
selbstverständlich – ihren Wunschberuf erlernen durfte. Eindrücke<br />
sammeln, im Kino, in den bunten Illustrierten, träumen von den<br />
Schönen und Reichen, deren Roben schneidern, das war ihre Welt.<br />
Das beglückte und beflügelte sie. Vater war der ruhende Pool, war<br />
da, wenn wir Kinder, meine Schwester und ich, ihn benötigten.<br />
Auf ihn konnten wir zählen. Wir, unsere Familie, unternahmen<br />
Ausflüge in die Natur, Wanderungen, Ski fahren. Sport spielte eine<br />
überragende Rolle bei uns. Meine Mutter war sehr stolz darauf,<br />
dass sie in ihrer Jugend im Ruderclub aktiv war. Mein Grossvater,<br />
in der Jugend aus dem Kanton Bern an den Zürichsee gezogen,<br />
erzählte uns Geschichten, nahm uns auf den Schoss. Liebkoste uns<br />
mit seinen von der schweren Arbeit gezeichneten Händen. Eine<br />
tolle, unbeschwerte Jugend mit viel Toleranz, viel Freiraum, um<br />
die Welt zu entdecken, um seinen eigenen Weg einzuschlagen.»
«In der Schule war ich immer ein bunter Vogel – ich hatte ja immer<br />
die verrücktesten Kleider, geschneidert von meiner Mutter. Schon<br />
früh äusserte ich mich, so wie mir der Schnabel gewachsen war.<br />
Sagte, was ich mitzuteilen hatte, spontan, unkompliziert, direkt.»<br />
Wieder leuchten die Augen, wieder zeigt sich dieser Schalk, dieses<br />
verschmitzte, selbstbewusste und herausfordernde Lächeln.<br />
«Ja, ich war dieser Person, all dem, schon einmal begegnet; vor<br />
über vierzig Jahren im Zug. Im Bummelzug, dem rechten Seeufer<br />
entlang. All das war immer noch da, lebendig wie eh und je.»<br />
«Meine Schwester besuchte die Handelsschule. Das war nichts<br />
für mich. Ich wollte mit Menschen zu tun haben. Da, eines Tages,<br />
betrat ich eine Apotheke in einer Nachbargemeinde und schon<br />
wenige Wochen später begann ich dort mit meiner Ausbildung.»<br />
«In der Badeanstalt, gleich gegenüber unserer Wohnung, lernte<br />
ich schon bald meinen jetzigen Mann kennen. Mein Badetuch<br />
war klein und nass. Da sass, nicht weit von mir, ein gut aussehender<br />
junger Bursche mit einem grossen, blauen. Das war doch die<br />
grosse Chance, die Herausforderung. So lernte ich ihn kennen,<br />
wir begegneten uns – und jetzt sind wir schon unzählige Jahre ein<br />
glückliches Paar. Viel wurde diskutiert, über alles, über Gott und<br />
die Welt. Ausstellungen besucht, die neuesten Filme angeschaut.<br />
Wir beide sind ja ebenfalls kreativ tätig. Schon als Dreikäsehoch<br />
spielte ich leidenschaftlich gerne Flöte, nervte die ganze Nachbarschaft<br />
mit meinen Fingerübungen. Später dann, Klavierunterricht,<br />
kleinere Aufführungen. Eine Welt für sich, voller Träume, voller<br />
Hoffnungen. Neben unserem Elternhaus stand eine verlassene<br />
Scheune. Dorthin zogen wir uns zurück, rauchten, kifften. Immer<br />
öfter verwischten sich die Welten, verwandelten sich graue Tage<br />
in bunte Bilder voller Licht und Farben. Dann, eines Tages, die Einladung,<br />
einen Urlaub mit Künstlern und Kunstbeflissenen in den<br />
Bergen im Engadin zu verbringen. Die frische Luft, die klare Sicht,<br />
gute Gespräche und einige wegweisende Bücher veränderten<br />
unseren Lebensrhythmus, unsere Lebenseinstellung. Mit den Kindern<br />
besuchten wir die Vereinigten Staaten. Genossen das Zusammensein.<br />
Auch hier spielte die persönliche Freiheit des Einzelnen<br />
eine wichtige, eine zentrale Rolle. Immer wieder verbrachten wir<br />
viel Zeit im Freien, in der so überwältigenden Natur. Den Körper<br />
stählen, den Geist herausfordern, denn wir bestehen aus Geist<br />
und können diesen beeinflussen, ihn in positive Bahnen lenken.<br />
Während Jahren begleitete ich eine krebskranke Bekannte. Erlebte<br />
hautnah die damit verbundenen Leiden und Hoffnungen. Vor<br />
zehn Jahren verspürte ich ein leichtes Ziehen in meiner Brust. Die<br />
ersten Untersuchungen verliefen ohne einen negativen Befund.<br />
Zeit verstrich, das Leben ging weiter. Doch dann, plötzlich und<br />
unerwartet, die neue, vernichtende Diagnose: Brustkrebs. Amputation.<br />
Nach dem ersten Schrecken erholte ich mich rasch wieder.<br />
Der Körper, die Hülle, hatte Schaden genommen, doch der Geist<br />
war stark, nahm die Herausforderung an. Fünf Jahre verstrichen.<br />
Dann die nächste Kampfansage. Ein kleines, nur einige Millimeter<br />
grosses Geschwür hatte sich in Windeseile ausgebreitet. Ich musste<br />
nochmals operiert werden. Die zweite Brust wurde entfernt.<br />
Chemotherapien folgten. Haarausfall, Übelkeit. Eine neue, grosse<br />
Aufgabe. Erstmals in meinem Leben konnte nicht ich bestimmen,<br />
was mit mir geschieht, sondern der stumme Gegner, der Krebs<br />
bestimmte meinen Tagesablauf. Meine Freunde, unsere Familie,<br />
schlossen mich in die Arme, waren für mich da. Halfen mir, mich<br />
neu zu orientieren. Wieder zersetzte sich ein Teil meiner Hülle,<br />
meines Körpers – mein Geist aber konnte nicht besiegt werden.<br />
Dann, Komplikationen, Intensivstation. Nein, ich konnte noch<br />
nicht abtreten, verschwinden. Die Stille der Bergwelt, die Schönheit<br />
des Engadins, all dies wollte ich nochmals sehen. Nein, ich<br />
lebe heute nicht bewusster, nicht intensiver, was heisst das schon?<br />
Ich geniesse den Tag, die Liebe meiner Nächsten, erfreue mich an<br />
den Schönheiten der Natur. All dies habe ich seit Jahren so wahrgenommen.<br />
Dafür bin ich dankbar, sehr dankbar, denn wenn ich<br />
erst jetzt, bedingt durch die Krankheit, so leben würde, wäre das<br />
für mich ernüchternd.»<br />
«Lebe den Tag, lebe die Stunde. Eine Aussage, eine Einstellung,<br />
die für mich noch wichtiger geworden ist. Meine erwachsenen<br />
Söhne gehen ihre Wege, machen das, woran sie sich erfreuen,<br />
lassen mich daran Anteil nehmen. Mein Mann und ich lieben uns<br />
noch immer, unternehmen gemeinsam interessante und spannende,<br />
kleine, unscheinbare Abenteuer – beinahe wie damals in<br />
der Scheune, auf unseren Reisen. Das ist das wahre Glück!»
«Im Toggenburg, in einem kleinen<br />
Nest, bin ich aufgewachsen. Ländlich,<br />
eng, überschaubar. Jeder kannte jeden.<br />
Meine Eltern entstammten aus Bauernfamilien.<br />
Mein Vater arbeitete als Zimmermann.<br />
Ruhig, stetig, gradlinig. Der<br />
Überlebenskampf, die Sorge um seine<br />
Familie, prägte den Alltag. Meine Mutter,<br />
treu an seiner Seite. Sechs Kinder<br />
hatte sie grosszuziehen. Eine Herausforderung,<br />
eine Aufgabe, die ihr alles<br />
abverlangte. Gefühle wurden kaum gezeigt,<br />
das gehörte sich nicht. Ich war der<br />
Jüngste, ein Nesthäkchen. Während die<br />
anderen Geschwister mithelfen mussten,<br />
schuf ich mir schon früh Freiräume,<br />
meine eigene Welt. Las unzählige Bücher,<br />
interessierte mich für viele rätselhafte<br />
Dinge des Lebens. Meine Lieben<br />
verstanden das nicht, schüttelten den<br />
Kopf und fragten sich, ob der Kleine<br />
wohl normal sei. Chemie, Physik fand<br />
ich besonders spannend, gaben mir<br />
Antworten auf drängende Fragen des<br />
Lebens. Meine Mutter flüchtete sich in<br />
den Glauben, suchte dort Kraft für die<br />
Unbill des Alltags. Wir Kinder mussten<br />
natürlich auch mit in den Gottesdienst,<br />
teilnehmen an den verschiedensten<br />
kirchlichen Anlässen. Für mich war das<br />
zu viel. Ich war ein guter Schüler, konnte<br />
spielend dem Unterricht folgen.»
«Alles, meine ganze Jugend verlief unspektakulär, harmonisch.<br />
Ich hatte ja meine kleine Welt, nur für mich! Musik, die Klänge<br />
aus der Karibik liessen mich träumen von fernen Ländern, von<br />
Abenteuern. Mit einigen Freunden zusammen gründeten wir eine<br />
Band. Spielten auf Anlässen, wurden im ganzen Tal eingeladen.<br />
Das gefiel mir natürlich sehr. Eine Drogistenlehre absolvierte ich.<br />
Musste dazu nach Uznach. Bald entdeckte ich jedoch, dass sich<br />
meine Berufsträume so nicht erfüllen würden. Ein ganzes Jahr<br />
reisten wir in Deutschland umher. Konzerte überall. Höhen und<br />
Tiefen wechselten sich ab.» Ein wehmütiges Lächeln macht sich<br />
breit, erhellt für Augenblicke nur den kargen Wohnraum. «Nein,<br />
diese Abenteuer haben mich nicht nachhaltig verändert, nein,<br />
nein. Bei Coop in Basel konnte ich mich weiterbilden. Meine Laufbahn<br />
führte stetig nach oben. In der Stadt am Rheinknie traf ich<br />
meine Frau. Ich wurde Vater von drei Töchtern.»<br />
«Entschuldigung, aber ich muss mir den Schweiss von der Stirne<br />
abputzen. Die Medikamente. Hormonschübe.» «Ja, ich war egoistisch,<br />
war es vermutlich schon immer. Musste das sein, um mich<br />
durchzusetzen. Im Detailhandel musst du flexibel sein. Wir zogen<br />
um. Einmal hierhin, dann wieder dorthin. Maus Konzern, PKZ.<br />
Menschen einstellen, beurteilen, entlassen. Das war nicht immer<br />
einfach. Gehörte zum Berufsleben. Schleichend, unmerklich begann<br />
der Bruch, die Entfremdung von meiner Familie, von mir<br />
selbst. Die Trennung, Scheidung. Abschied von einem überschaubaren<br />
Leben. Fünfzig Jahre alt war ich. Verliess meine drei erwachsenen<br />
Kinder, meine mir vertraute Umgebung, meine Heimat.»<br />
«Die Dominikanische Republik, die Karibik war mein Ziel. Ich war<br />
überwältigt. Sonne, Palmen, ein buntes Treiben, die Leichtigkeit<br />
des Seins umarmten mich, begrüssten mich stürmisch. Ich liess<br />
es zu, genoss das Leben, ganz unbeschwert ohne Sachzwänge.<br />
Dann fand ich einen Arbeitsplatz in einem Hotel. Arbeitete dort<br />
während zwölf Jahren. Zur Schweiz, zu meinen Kindern hatte ich<br />
nur wenig Kontakt. Ich wohnte mit den Einheimischen, lernte ihre<br />
Sprache, war Teil von ihnen. Die Liebe klopfte an meine Türe. Wir<br />
heirateten, waren glücklich. Ein Sohn wurde uns geschenkt und<br />
das Leben plätscherte dahin. Alles schien überflutet vom Licht der<br />
Sonne.»<br />
«Dann, eines Morgens, geschah das Unfassbare. Meine Frau war<br />
abwesend, in den USA. Mein Sohn in der Schule. Der Wecker<br />
klingelte, läutete einen neuen Tag ein. Doch, ich war entsetzt,<br />
bestürzt – meine Beine versagten, ich konnte nicht mehr gehen.<br />
Sofort wurde ich ins Spital eingeliefert. Verlegt in die Hauptstadt.<br />
Ärzte in weissen Kitteln standen ratlos herum. Hektik, Panik brach<br />
aus. Diagnosen wurden gestellt. Operationen angekündigt. Endlich,<br />
endlich, die Diagnose: Krebs. Bösartig, unheilbar. Meine Frau<br />
weinte, schrie, haderte mit dem Schicksal. Bald war klar, dass<br />
ich zurück in die Schweiz musste. In ein gut funktionierendes,<br />
kaltes Land. Behandlungen folgten, Gespräche, Kuren. Wochen,<br />
Monate verstrichen. Zähflüssig, langsam, trostlos. Dann, als sich<br />
mein Zustand stabilisierte, kehrte ich für einen Monat in meine<br />
zweite Heimat zurück. Konnte meine Lieben wieder in die Arme<br />
nehmen. Ich sass tagelang auf der Veranda. Die Sonne liebkoste<br />
meine Wangen. Der Blick auf das Meer. Das Rauschen, die Endlosigkeit,<br />
die Weite, liessen mein Herz höher schlagen. Abschied,<br />
ein Abschied für immer. Von Freunden, vom bunten Treiben, von<br />
den Gerüchen, dem Lachen. Das Flugzeug hob ab, entschwand in<br />
den Wolken. Ein Kapitel war beendet, endgültig, unwiderruflich.<br />
Ich fühlte mich wie ein Boxer, der unverhofft im Ring niedergeschlagen<br />
wurde. Neun, zehn. Ende!»<br />
«Meine Familie folgte mir in die Schweiz. Unserem Sohn gefällt<br />
es hier. Die Schule, die Freunde. Unvermittelt sind die Rollen neu<br />
verteilt. Ich brauche Hilfe, bin Bittsteller und nicht mehr der zupackende<br />
Macher. Wir haben uns gestritten. Es wurde auch schon<br />
einmal laut. Heimweh, Angehörige in der Ferne, Kälte, Nässe, all<br />
das trüben die Lebensfreude meiner Frau. Doch wir haben uns<br />
entschieden, wir halten zusammen, unsere Liebe wird das überstehen.<br />
Bis zum Ende, bis zum bitteren Ende. Ich hadere nicht mit<br />
dem Schicksal, blicke auf ein spannendes Leben zurück. Lese viel,<br />
bin mit dem Internet mit der ganzen Welt verbunden, habe mehr<br />
Zeit für meinen Sohn, Zeit, die ich für meine Töchter nicht oder<br />
nur teilweise aufbrachte. Sorgen mache ich mir um meine kleine<br />
Familie. Was geschieht mit ihr nach meinem Ableben? Das Geld<br />
ist knapp, wir überleben. Nicht mehr und nicht weniger. 18 bis 24<br />
Monate, so lange werde ich wohl noch leben.»
«Bis zu meinem achten Lebensjahr wohnten meine Schwester und<br />
ich in Bruno – in Brün in der tschechischen Republik. Mein Vater<br />
war Lehrer, meine Mutter arbeitete als Bibliothekarin. Meine Eltern<br />
waren keine Parteimitglieder. Meine Grosseltern wohnten<br />
ebenfalls bei uns. Der Grossvater war Metzger, fleissig und erfolgreich.<br />
Das gefiel nicht allen. Er wurde denunziert und verbrachte<br />
einige Zeit im Gefängnis. Über Gefühle, persönliche Anschauungen<br />
wurde nicht viel gesprochen. Das war zu gefährlich. Ich hatte<br />
meine Freundinnen, meinen Turnverein. Meinen Grossvater habe<br />
ich in guter Erinnerung. Er ass meine Resten auf und wenn ich<br />
etwas Süsses wollte, quirlte er ein Eigelb, versah es mit Zucker<br />
und liess so mein Kinderherz höher schlagen. Abends erzählte er<br />
uns spannende Geschichten. Oftmals musste ich ihn dafür wachrütteln,<br />
denn er hatte ja einen langen und arbeitsamen Tag hinter<br />
sich. Gegen 13 Uhr kamen wir von der Schule nach Hause. Unsere<br />
Eltern arbeiteten dann noch. Die Schönen Künste spielten bei uns<br />
eine grosse Rolle. Viele, unzählige Bücher begleiteten mich – entführten<br />
mich in eine andere Welt. Ich hatte eine beschauliche, behütete<br />
Jugend.»
«Die Hauswände waren voll mit Parolen und Plakaten, welche die<br />
klassenlose Gesellschaft, den Klassenkampf und die kommunistische<br />
Partei priesen. Staunend stand ich davor, bewunderte das<br />
blonde Mädchen, welches dem russischen Offizier einen Blumenstrauss<br />
schenkte und insgeheim hoffte ich, dass ich das auch einmal<br />
erleben würde.»<br />
«Der Prager Frühling – Träumen von einer freieren, offeneren Gesellschaft.<br />
Ein Ruck ging durch das Volk. Doch bald, allzu bald<br />
wurden die Hoffnungen zerstört – Panzer rollten auf den Stras-<br />
sen.» «Kommt Kinder, wir machen eine Reise – besuchen unsere<br />
Bekannten in Wien.» «Dort angekommen, fragten meine<br />
Eltern, ob es uns hier gefalle. Meine Schwester war begeistert<br />
von den Rolltreppen in den Warenhäusern, vom Glanz der Lichter.<br />
Auch mir gefiel es in der fremden Stadt. Am 1. Mai, am Tag der<br />
Arbeit, klopften wir an die Türen der Stadtpolizei in Zürich. Hundert<br />
Schweizer Franken drückten die Beamten uns in die Hände<br />
mit der Bitte, doch am nächsten Tage nochmals vorbeizukommen<br />
und unseren Asylantrag zu stellen. In Freiburg fand meine Mutter<br />
eine Anstellung als Bibliothekarin. Auch mein Vater arbeitete<br />
dort. Eine schöne, unbeschwerte Zeit. Der Fluss, die Höhlen in<br />
denen wir uns versteckten, uns unsere kleinen Geheimnisse anvertrauten.<br />
Romantisch – verträumt. Mein Vater studierte, denn<br />
er wollte unbedingt wieder als Lehrer tätig sein. Dann der Umzug<br />
nach Baar. Wieder eine neue Herausforderung, ein neuer Ort.<br />
Auch dort fand ich bald Anschluss. Unbeschwert, eingebettet<br />
in einem Umfeld voll von Musik, Kultur, einigen wenigen guten<br />
Freunden. Die Schule bereitete mir keine grossen Schwierigkeiten<br />
und so landete ich dann am Gymnasium und nach dem Abschluss<br />
wollte ich Französisch und Englisch studieren. Pubertät, Aufbegehren,<br />
Rebellion, das kannte ich nicht. Wir lebten in unserer<br />
Welt – geistreich, gesittet, wohl geordnet, ohne Überschwang<br />
und allzu viel Emotionalität. Dann die Uni Zürich. Neue Eindrücke,<br />
neue Freunde. Ich meldete mich an unzählige Kurse an –<br />
war voller Wissbegierde, wollte die Welt entdecken. Mein Herz<br />
schlug höher, einmal da, dann wieder dort. Immer unaufgeregt,<br />
wohltemperiert. Ein Tauchkurs, ein Anfängerkurs in einem Hallenbad<br />
veränderte mein Leben. Als ich die Luftblasen aufsteigen<br />
sah, da wusste ich, er ist es – mein Mann für eine gemeinsame,<br />
glückliche Zukunft.» Ein leises, verstohlenes Lächeln huscht über<br />
das würdevolle Gesicht. Kurz nur, aber umso strahlender. «Sein<br />
Umzug in eine andere Wohnung war geplant – Ende November.<br />
Doch es kam anders. Das Wetter war traumhaft und wir zogen<br />
mit dem Zelt in die Berge. Hoch über dem Nebel verbrachten wir<br />
die Nacht. Eine Überraschung sollte es werden. Ich musste meine<br />
Augen verschliessen, mich ihm anvertrauen. Er nahm mich bei<br />
der Hand und marschierte auf den Abgrund zu. Kurz zögerte ich,<br />
mich blind jemandem anzuvertrauen, die Herrschaft über mich<br />
aufzugeben. Dann, als ich meine Augen öffnete, strahlte uns der<br />
Vollmond an, erhellte die Nacht – vereinte uns. Immer wieder sind<br />
wir an diesen Ort zurückgekehrt – dort, wo wir spürten, dass wir<br />
zusammengehören. Jahre später haben wir geheiratet. Mein Vater<br />
wünschte sich das, bevor er, nach seiner Pensionierung, eine<br />
Weltreise begann.»<br />
«Mami, ich gehe noch mit Kollegen ins Glattzentrum.» «Mach<br />
deine Schulaufgaben und komm nicht zu spät.» «Zwei Söhne haben<br />
wir. In Schweden verbrachten wir wunderbare Ferien. Sehen<br />
Sie hier, an diesem Wasser und in diesen Wäldern – ganz alleine<br />
nur wir. Das war grossartig. Die Kanus dort vor unserem Haus, die<br />
haben wir in Schottland benutzt, um den Walen entgegenzupaddeln.<br />
Gemeinsam in der Natur, das verbindet, gibt Kraft. Im Urlaub<br />
an der Moldau entdeckte ich einen Knoten in meiner Brust. Das<br />
Geschwür war bösartig. Ich machte mir Vorwürfe, nicht genauer<br />
hingeschaut zu haben. Nach unzähligen Behandlungen dachte<br />
ich, alles wird wie bisher weitergehen. Mein Mann arbeitete als<br />
Turnlehrer an der Hochschule. Ich erteilte Französischunterricht<br />
und wir freuten uns an den Kleinigkeiten des Alltages und an<br />
unseren Kindern. Dann starb mein Vater, und kurze Zeit später<br />
schmerzte mein Nackenwirbel. Dieser war völlig zerfressen – wurde<br />
durch einen künstlichen Wirbel ersetzt. Niederschmetternd.<br />
Der Kreis, der Lebenskreis, wurde kleiner. Erneut eine Operation,<br />
dieses Mal im Unterleib. Ich geniesse die Zeit mit meinen Kindern<br />
und meinem Mann noch bewusster – schöpfe Kraft aus unserer<br />
Liebe.» Die zierliche Frau verharrt, ihre Stimme wird leise. Tränen<br />
kullern über ihre Wangen. Ihr Mann legt liebevoll einen Arm um<br />
ihre Schultern. Die Quelle der Kraft und der Zuversicht ist eben<br />
auch gleichzeitig Ursprung von Fragen, auf die es keine abschlies-<br />
sende Antwort gibt. «Was geschieht mit meinen Kindern, welchen<br />
Weg werden sie im Leben, in ihrem Leben gehen? Ich werde<br />
es nie wissen!» Stille erfüllt den Raum, Ratlosigkeit und Trauer<br />
liegen in der Luft. Es ist, als ob die Zeit innehalten würde. «Unsere<br />
Zeit auf Erden ist beschränkt – wir alle wissen es – wissen es,<br />
ohne uns zu fragen, was wir damit Sinnvolles machen können, ja<br />
müssen.»<br />
«Mein Lebenskreis ist vorgezeichnet, ist begrenzt. Vier Monate,<br />
fünf? Jeden Tag werde ich als Geschenk empfinden, bewusst erleben<br />
– fröhlich sein, aber auch Trauer zulassen. Auch Tränen, ja das<br />
tut gut, auch einmal schwach sein zu können und dürfen.»
«Ich habe viel nachgedacht, sehr viel. Vor Jahren schon habe ich<br />
das Weinen verlernt. Nein, nicht unsensibel, gar nicht. Orgelmusik<br />
in einer barocken Kirche, die Kinder, das berührt mich sehr –<br />
harte Schale, weicher Kern, so in diese Richtung. In Vers bin ich<br />
aufgewachsen. Mein Vater war Beamter, Steuerbeamter. Meine<br />
Mutter kommt aus Bad Gastein, arbeitete als Bankangestellte. Als<br />
die Kinder zur Welt kamen, gab sie ihren Beruf auf, versorgte uns<br />
und sorgte sich liebe- und hingebungsvoll um uns. Ich war der<br />
Erstgeborene – ein Wunschkind. Meine Schwester ist zwei Jahre<br />
jünger als ich. Mein Bruder ganze sieben. Meine Mutter ist eine<br />
kultivierte, liebenswürdige Frau. Vielseitig interessiert. Mein Vater,<br />
zuverlässig, eher der ruhige Typ. Schon früh spürten wir, dass<br />
unsere Eltern uns vorbehaltlos unterstützten, uns vertrauten. In<br />
der Nachbarschaft lebten viele Kinder. Das war grossartig, denn<br />
immer wurde etwas unternommen. Wir strichen um die Häuser,<br />
spielten und genossen die tolle unbeschwerte Zeit.»
«Mein Vater half mit im Roten Kreuz, sammelte Geld, organisierte<br />
Anlässe. Meine Mutter war eine fleissige Kirchgängerin – fand<br />
darin Kraft und Gelassenheit. In der Schule, wir waren sechsunddreissig<br />
in einer Klasse, gehörte ich immer zu den besten Schülern.<br />
Schon früh entwickelte ich einen gesunden Ehrgeiz, denn<br />
meine Eltern freuten sich über gute Noten. Oftmals kramte mein<br />
Vater ein Geldstück aus seiner Tasche und schob es mir über den<br />
Esstisch zu. «Gut mein Junge, mach weiter so!» Darüber habe ich<br />
mich natürlich immer sehr gefreut. Mit meiner Schwester gab es<br />
immer wieder Diskussionen, denn ich wollte sie ebenfalls zu guten<br />
Leistungen ermuntern. Sie fand das aber nicht so besonders<br />
erbaulich. In die Ferien fuhren wir zu unseren Grosseltern nach<br />
Bad Gastein. Berge, überall Berge und die Verwandten, traumhafte,<br />
unvergessliche Augenblicke. Der Mann meiner Patentante<br />
war Arzt, eine Respektsperson im Dorf. Weltmännisch und sehr<br />
gebildet. Das imponierte mir. Seine rhetorischen Fähigkeiten habe<br />
ich mir angeeignet. In der Pubertät fuhren meine Kameraden mit<br />
dem Moped von einem Ort zum anderen. Das war nicht meine<br />
Welt. Ich ging lieber mehrmals die Woche zum Fussball, war auch<br />
ein begabter Spieler. Ich hatte immer viele Freunde, denn meine<br />
aufrichtige und hilfsbereite Art wurde von allen sehr geschätzt.<br />
Mit sechzehn fuhr ich per Anhalter durch ganz Europa. Mit den<br />
Lastwagenfahrern bis nach Amsterdam, London und Paris. Neugierde<br />
war die Triebfeder. Ich hatte ja schon viel gelesen über andere<br />
Länder und Kulturen. Jetzt wollte ich all dies sehen, spüren.<br />
Zuschauen, wie die Hippies in Amsterdam ihre Joints drehten,<br />
wie die Leute auf ihren schweren Fahrrädern gegen den Wind<br />
ankämpften. Nein, verändert haben mich diese Reisen nicht. Ich<br />
war immer gradlinig, wusste, was ich wollte. Hatte mein Ziel vor<br />
Augen.»<br />
«Dann zog ich in die Hauptstadt. Studierte an der dortigen Universität.<br />
Es war Liebe auf den ersten Blick. Wien, eine Stadt mit<br />
grosser Vergangenheit. In den Schankstuben diskutierten wir über<br />
Gott und die Welt. Aufregend, bereichernd. Immer wieder entdeckte<br />
ich neue Gassen, stille Winkel. Dann wurde ich zum Militärdienst<br />
beordert. Eine Zeit ohne grosses Gehalt. In Wien wurde<br />
ich von einem Schweizer Professor eingeladen, an der ETH zu studieren.<br />
Ich wurde wie ihr eigener Sohn von ihnen aufgenommen.<br />
Eine tolle Bleibe, mit schrägen Wänden und zwei Meter hohen<br />
Räumen, dort spielte sich meine Freizeit ab. Wenige Jahre später<br />
schrieb ich meine Doktorarbeit und erhielt dafür eine Anerkennungsmedaille<br />
der ETH. Skitouren im Hochgebirge, ausgedehnte<br />
Wanderungen, auch das gehörte dazu. In einer Hütte begegnete<br />
ich meiner jetzigen Frau. Sie hatte irgendetwas vergessen. Natürlich<br />
half ich ihr, borgte ihr den Gegenstand. So entstand aus<br />
Freundschaft allmählich Liebe. Sie wohnte ganz in meiner Nähe<br />
– ein glücklicher Zufall. Einladungen, an renommierten Universitäten<br />
zu studieren, folgten auf meine Doktorarbeit. Wir heirateten<br />
und entschieden uns, nach San Diego umzuziehen, wo wir uns,<br />
dann dreieinhalb Jahre aufhielten. Die Arbeit war anstrengend,<br />
viel Freizeit hatte ich nicht.»<br />
«Zurück in Zürich wurde der Wunsch nach eigenen Kindern immer<br />
grösser. Zeit verstrich, ohne dass sich eine Schwangerschaft<br />
einstellte. Untersuchungen, Hoffnungen. ergebnislos. Wir entschieden<br />
uns für eine Adoption. Fuhren nach Indien. Sammelten<br />
Eindrücke. Bei Mutter Theresa in Bombay wurden wir von einer<br />
mürrischen Schwester empfangen. Ein zweites Schweizer Ehepaar<br />
sass neben uns. Ich konnte die Leiterin von unseren Absichten<br />
überzeugen. Fotos wurden uns gezeigt. Fotos von indischen<br />
Kindern, die alle einen Geburtsfehler aufwiesen. Dann ging die<br />
Türe auf, ein kleines Mädchen, zweieinhalb Jahre jung, wurde hereingeführt.<br />
Sofort wussten wir, das ist unsere Tochter. Ein unbeschreibliches,<br />
überwältigendes Gefühl. Einmalig. Ein halbes Jahr<br />
später durften wir sie für immer zu uns nehmen. Ein Herzfehler<br />
wurde operativ behoben. Wieder fuhren wir in das Land Gandhis,<br />
denn unsere Tochter sollte ein Brüderchen oder Schwesterchen<br />
bekommen. Die leuchtenden, grossen braunen Augen auf dem<br />
Foto waren hinreissend, voller Lebensfreude. Ein kleiner Junge,<br />
unser kleiner Junge. Gross war unsere Dankbarkeit, vollkommen<br />
unser Glück.»<br />
«Am Unispital leite ich eine Abteilung. Eine anspruchsvolle, hochinteressante<br />
Arbeit. Nach unserer ersten Indienreise verspürte ich<br />
ein Sodbrennen – fühlte mich unwohl. Die ersten Untersuchungen<br />
ergaben keinen schlüssigen Befund. Alles verlief wieder wie<br />
immer. Viel Arbeit, mit den Kindern spielen, wandern. Die schöne<br />
Natur geniessen. Dann im November letzten Jahres wieder diese<br />
Beschwerden. Ich meldete mich für eine gründliche Untersuchung<br />
an. Drei Wochen musste ich warten, hätte beinahe den Termin<br />
vergessen. Der Befund war eindeutig. Ich war gefasst, ruhig. Mein<br />
erster Gedanke – Gott sei Dank traf es mich und nicht meine Frau<br />
oder meine Kinder. Ein Anruf an meine Frau, ein Gespräch mit<br />
meinem Vorgesetzten. Ich kannte diese Schicksale – aus der Literatur,<br />
aus meinem Arbeitsumfeld. Ja, nun hatte es mich erwischt.<br />
Weitere Untersuchungen folgten. Weitere schlechte Nachrichten.<br />
Operationen. Nein, ich hinterfrage mein Schicksal nicht. Bin ruhig.<br />
Möchte meine Würde behalten. Den Tod fürchte ich nicht,<br />
nein, warum auch. Meine mentale Stärke, die hilft, spendet Kraft,<br />
bringt alles wieder ins Gleichgewicht. Natürlich gibt es auch<br />
schwierige Momente. Auch diese werde ich meistern, davon bin<br />
ich überzeugt.»<br />
«Ich will nüd, dass sie trurig sind, wänn ich nüme bi inne bin!»
«Meine Eltern stammen aus dem Kanton Thurgau. Auf dem Land,<br />
ganz abgelegen, sind sie auf einem Bauernhof aufgewachsen.<br />
Karg, enthalt- und arbeitsam war das Leben, der Kampf um das<br />
tägliche Brot prägte den Alltag. Es wurde nicht viel gesprochen,<br />
Gefühle nicht gezeigt. Alle mussten schuften, immer, unaufhaltsam.<br />
Monoton, gleichmässig, tagein, tagaus. Mein Vater zog nach<br />
Zürich. Suchte und fand Arbeit. Seine Verlobte folgte ihm nur wenig<br />
später. Sie war vierundzwanzig. Erstmals in ihrem Leben wohnte<br />
sie in einer grossen, aufregenden, ihr fremden Stadt. Staunend<br />
fuhr sie mit dem Tram kreuz und quer durch die Strassenschluchten.<br />
Verwirrt von all den neuen, aufwühlenden Eindrücken. In<br />
Wollishofen, in einer Genossenschaftssiedlung, wohnten wir. Einzelkind.<br />
In der Siedlung wimmelte es von Kindern. Der nahe Entlisberg<br />
lockte. Auf der Strasse wurde gespielt, geschrieen, gelacht.<br />
Eine schöne, unbeschwerte Zeit.»
«Bald gründete mein Vater sein eigenes Geschäft. Mutter musste<br />
mithelfen. Ein Schlüssel wurde mir mitgegeben; ein Schlüsselkind<br />
war ich. Gesprochen wurde nicht allzu viel. Die Arbeit rief, es gab<br />
immer viel zu tun im Geschäft. Tiefkühlanlagen für Restaurants,<br />
die wurden verkauft und repariert. Stolz war er auf seine Arbeit.<br />
Mutter war unsicher, zögerlich. Mit Fragen musste ich zum Vater.<br />
Die Ferien verbrachte ich bei meinen Grosseltern auf dem Bauernhof.<br />
Ruhig, idyllisch, einfach schön! Weiden, Tiere, Stille.»<br />
«Mami, Mami, schwatzen alle Leute so viel?» «Ich arbeitete einige<br />
Tage in einem Coiffeursalon, interessierte mich für eine Lehrstelle.<br />
Ich war entsetzt, überfordert von dem Geschnatter der Kundinnen.<br />
Nein, diese Arbeit gefiel mir nicht. Um Himmels willen!<br />
Floristin habe ich dann gelernt. Eigentlich gefiel mir die Aufgabe.<br />
Die Kolleginnen vertrug ich nicht. Sie glaubten, etwas Besseres zu<br />
sein. Kleine Künstler eben. Grässlich.»<br />
«Dann, in einem Restaurant, lernte ich meinen Mann kennen.<br />
Er stammte aus Deutschland. Aus dem Norden. Aufgewachsen<br />
ebenfalls auf einem Bauernhof. Die Eltern wurden geprägt von<br />
den Wirren des Krieges. Stalingrad, verschollene Verwandte. Entbehrungen<br />
hielten sie fest im Würgegriff. Dann ging alles sehr<br />
schnell. Ich wurde schwanger, wir heirateten. Das erste Kind starb<br />
kurz nach der Geburt. Das zweite verlor ich nach vier Monaten.<br />
Reglos zog sich mein Mann zurück, flüchtete in die Arbeit. Stumm,<br />
unnahbar. Dann durften wir wieder hoffen. Die Gebärmutter wurde<br />
zugeschnürt, um eine neuerliche Frühgeburt zu verhindern.<br />
Ich aber konnte und wollte mich doch nicht wochenlang hinlegen.<br />
Musste meinem Mann im Geschäft helfen. Wir hatten ja in<br />
der Zwischenzeit das Unternehmen meines Vaters gekauft. Zwei<br />
Kinder, einen Sohn und eine Tochter haben wir. Auch ein Auto<br />
konnten wir uns leisten. Mein Mann benötigte den fahrbaren Untersatz,<br />
um seine Kundschaft zu besuchen. Jedes Jahr fuhren wir<br />
über den Sustenpass. Immer und immer wieder, der Sustenpass.<br />
Wir stiegen auf der Passhöhe aus, ein kleiner Rundgang folgte.<br />
Mein Mann blieb im Auto zurück, immer in kurzen Hosen. Er<br />
konnte und wollte nicht aussteigen, denn es war zu kalt. Als wir<br />
dann eine andere Reiseroute vorschlugen, wurden keine Ausflüge<br />
mehr unternommen. Ende, aus. Mein Mann schuftete, schuftete<br />
ununterbrochen. Tag und Nacht. Mit den Kindern habe ich gespielt,<br />
Ausflüge gemacht, gelacht und gestritten.»<br />
«Am Stammtisch meines Mannes lernte ich die Frau eines Bekannten<br />
kennen. Ja, mit ihr pflege ich einen freundschaftlichen<br />
Kontakt. Meine Tochter begleitete ich bei ihren Landhockey-<br />
Spielen. Auch dort lernte ich eine Frau kennen. Unglaublich aber<br />
wahr, wenn es mir schlecht geht, spürt sie das und ruft mich an.<br />
Oh, nein, selbst würde ich sie deswegen nicht anrufen. Im Verein<br />
habe ich dann gewisse Arbeiten übernommen. Das fand ich toll,<br />
gab mir viel, sehr viel. Nein, Liebesfilme im Fernsehen schau ich<br />
mir nicht an. Das ist doch alles Kitsch, zu süss. Nein, nein.»<br />
«Dann das: Meine Tochter heiratete im Juni 2004. Ich wollte einige<br />
Kilos abnehmen. Hatte keinen Appetit. Ich dachte an ein Magengeschwür.<br />
Ich ging nicht zum Arzt, zuerst das Fest, der grosse<br />
Tag. Erst dann zur Untersuchung; die Diagnose: Krebs. Sieben<br />
Liter Wasser im Körper. Jetzt wusste ich, warum ich nicht essen<br />
konnte! Nur kurze Zeit später, drei Liter Eiter. Was sollte, was<br />
konnte ich tun? Nichts, hinnehmen, akzeptieren. Ohne grosse<br />
Worte, sprachlos, stumm stand mein Mann vor mir, als ich ihm die<br />
schlechte Kunde übermittelte. Arbeit, noch mehr Arbeit, das war<br />
seine Reaktion darauf. Vor Jahren durchlebte ich eine schwierige<br />
Zeit, schrieb meine eigene Todesanzeige. Diese zerriss ich, warf<br />
sie weg, als ich von meiner Krankheit erfuhr. Einen Glauben besitze<br />
ich schon, nur mit dem Bodenpersonal, ja, da habe ich meine<br />
liebe Mühe. Der Tod. Tod? Nein, davor fürchte ich mich nicht!<br />
Nur leiden möchte ich nicht, das ist mein inniger Wunsch.» Ein<br />
unscheinbares Lächeln huscht über ihr feines Gesicht. «Ich lebe,<br />
ich lebe, will sehen, wie mein Enkel heranwächst, darf die Liebe<br />
meiner Kinder geniessen. Ihre Hingabe. Nicht ganz einfach, denn<br />
ich gebe lieber, als dass ich empfange. Was will ich mehr?»
«Ja, diese vielen alten Fotos, sie zeigen meinen Vater. Er war ein<br />
toller Mann, immer liebenswürdig und hilfsbereit, immer ein offenes<br />
Ohr für uns Kinder. Bahnfahrer war er, sehen Sie nur, da war er<br />
neunzehn. Im Gaswerk arbeitete er. Eigentlich hätte er ja Priester<br />
werden sollen – ging in Einsiedeln in die Klosterschule, doch dann<br />
wurde er an die Grenze abberufen, in den Jura nach Delémont.<br />
Dort traf er meine Mutter und es wurde geheiratet. Mein Bruder<br />
starb mit siebzehn. Ein geplatzter Blinddarm. Ein Ärztepfusch.<br />
Stellen Sie sich das vor! Meine Mutter hat das nie verkraftet. Sie<br />
war immer schon etwas eigen – krank eben, krank an der Seele.<br />
Wir hatten ein angespanntes Verhältnis. Mein Bruder war ihr Fixstern.<br />
Doch ich hatte ja den Vater!»
«Ich war ein fröhliches, aufgewecktes und selbstständiges Kind.<br />
Wir hatten eben eine schöne Jugend. Aufmüpfig bin ich gewesen.<br />
Bei einem frommen Onkel mussten wir immer beten, Hände<br />
gefaltet und nach oben gerichtet. Das habe ich nie so gemacht.<br />
Nach unten schauten sie. Ein Zwick mit der Rute gab es dafür. Das<br />
war mir aber gleichgültig. Nurse wollte ich werden. Ging eigens<br />
dafür nach Rorschach in eine Spezialschule. Ziel war Genf. In einer<br />
englischen Familie hätte ich auf die Kinder aufpassen sollen. Doch<br />
dann brach der Krieg aus und mein Vater liess mich nicht ziehen.<br />
Jahre später kaufte er mir einen Coiffeursalon am Stauffacher.<br />
Eine tolle, spannende Tätigkeit. Viele Menschen, viele Schicksale,<br />
unzählige Frisuren. Auch meine Tochter hat mitgeholfen. Beide,<br />
mein Sohn und sie, wohnten lange bei mir. Wir hatten es einfach<br />
gut zusammen. In unserem Haus lebten auch Emigrantenfamilien<br />
aus Italien und Spanien. Die Eltern waren vollauf beschäftigt, Geld<br />
zu verdienen. Ja, dann habe ich mich um deren Kinder gekümmert.<br />
Deutsch mussten sie lernen. Die Schulaufgaben machen. Ja,<br />
man muss doch Gutes tun, wo man kann, denn das Gute wie das<br />
Böse kommen irgendeinmal zurück. Patentante wurde ich von<br />
vielen Flüchtlingskindern. Das ehrte und freute mich sehr. Hunde<br />
hatte ich auch. Sehen sie den dort unten?» «Die Urnen all meiner<br />
treuen Begleiter stehen im Gang. Ich will nicht ins Grab. Nein,<br />
das ist mir zu eng. Verstreut sollen sie werden, meine Überreste,<br />
zusammen mit der Asche meiner Vierbeiner, irgendwo an einem<br />
schönen Ort. Alles schon organisiert.»<br />
«Schon 25 Jahre wohne ich hier. Meinen Mann lernte ich in der<br />
Hälftibar kennen. Er spielte dort die Handorgel. Mensch, war der<br />
eifersüchtig! War ja auch vierzehn Jahre älter als ich. Ein Leben<br />
nach dem Tode? Ach wissen Sie, manchmal wünschte ich mir<br />
das schon – aber eben… Wer weiss denn, wie es sein wird... Da<br />
wollten wir mit den Kindern in den Urlaub fahren. Eine Erkältung<br />
zwang uns, den Arzt zu rufen. Eine Penizilinspritze sollte Erleichterung<br />
bringen – sie brachte den Tod. In wenigen Stunden starb<br />
mein Mann! Unglaublich, unfassbar. Anstatt weisser Strand, die<br />
Totenglocken. Friedlich lag er auf unserem Ehebett, so, als ob er<br />
seinen wohlverdienten Mittagsschlaf machen würde. Den Män-<br />
nern vom Bestattungsinstitut befahl ich, behutsam mit der Leiche<br />
umzugehen. Sie brachten den Sarg beinahe nicht zur Zimmertüre<br />
raus. Da wollte ich meinen Gatten nochmals sehen, nochmals<br />
Abschied nehmen. Ich brach in Tränen aus. Verändert, verängstigt<br />
sah er aus. Am nächsten Tag setzte ich mich mit dem Kindermädchen<br />
aufs Ehebett. Wir besprachen die Situation und weinten zusammen.<br />
Unerwartet, ja beinahe gespenstisch, öffnete sich, wie<br />
von Geisterhand, die Zimmertüre – und schloss sich wieder. Wir<br />
sahen uns ungläubig an. Nun wussten wir, dass er sich für immer<br />
verabschiedet hatte. Nein, über dieses traurige und bestürzende<br />
Ereignis haben wir nie gesprochen, die Kinder und ich. Das Leben<br />
musste ja weitergehen. Ich war noch jung, Zweiunddreissig, in<br />
den besten Jahren. Meine Arbeit half mir weiter, gab mir Kraft<br />
und Freude. Mein Sohn verbrachte fünf Jahre bei meinen Eltern.<br />
Die hatten ja sehr früh eines ihrer geliebten Kinder verloren, waren<br />
pensioniert, hatten Zeit und freuten sich auf die neue Aufgabe.<br />
Das passte dann irgendwie alles zusammen. Nein, nein, geheiratet<br />
habe ich nie mehr. Das musste ich meinem Mann versprechen.<br />
Man kann das Leben ja auch so geniessen.» «Stellen Sie sich vor,<br />
eines Tages kam unser Hausarzt zu mir in den Salon.» «Sie sollten<br />
den jüdischen Flüchtlingen die Haare gratis schneiden!» «Als Gegenleistung<br />
betreute er uns medizinisch – gratis natürlich. Ja, das<br />
war eine aufregende Zeit. Viele der Betroffenen wanderten nach<br />
Amerika aus. Mit den anderen habe ich teilweise noch heute einen<br />
ausgezeichneten Kontakt. Die schönste Zeit meines Lebens?<br />
Ach, eigentlich gibt es davon mehr als genug. Im Internat, da hat<br />
es mir besonders gut gefallen. Die vielen Mitbewohner, die vielen<br />
Kolleginnen, das war aufregend, abwechslungsreich. Ich war ja<br />
eher eine Einzelgängerin. Wussten Sie, dass wir noch Benimmunterricht<br />
hatten? Da wurde uns beigebracht, wie sich ein Mädchen<br />
und wie sich die Jungen zu benehmen hatten. Das waren<br />
noch Zeiten! Herrgott, wenn ich das mit der heutigen Jugend ver-<br />
gleiche… Nein, nein, eine grosse Operation will ich nicht, auch<br />
wenn der Doktor versichert, dass ich diese gut überstehen würde.<br />
Bums und fertig, tot umfallen, das ist doch eine viel befreiendere<br />
Vorstellung, als noch Jahre vor sich hinzudämmern.»
«Also, in Altstetten bin ich aufgewachsen. In diesen riesigen Hochhäusern<br />
– viele Kinder wohnten dort. Alles Spielgefährten. Immer<br />
war etwas los, denn damals konnten wir noch auf der Strasse spielen,<br />
der Wald war ganz in der Nähe. Ach so, ja, meine Eltern. Mein<br />
Vater war auch Lokomotivführer. Er starb jung. Sechs Monate vor<br />
meiner Konfirmation. Das war nicht leicht für meine Mutter und<br />
ganz besonders für meinen sechs Jahre jüngeren Bruder. Wütend<br />
war sie, unglaublich wütend, als ein Beistand ins Haus kam und<br />
nachfragte, wie… Regelrecht rausgeworfen hatte sie diese Amtsperson,<br />
denn schliesslich musste sie ja als junges Mädchen auf ihre<br />
drei kleineren Schwestern aufpassen. Schneiderin war sie und mit<br />
viel Fleiss verdiente sie unser tägliches Brot. Darauf bin ich stolz.<br />
Nein, viel wurde bei uns zu Hause nicht gesprochen. Jeder erfüllte<br />
seine Pflicht. Wie soll ich sagen? Ja, so war es eben. Die Schule beeindruckte<br />
mich nicht besonders. Rechnen und Schreiben. Oftmals<br />
legte sich die Stirn meiner Mutter in Sorgenfalten und sie teilte<br />
mir mit, dass aus mir wohl nichts Rechtes werden würde.»
«Im Walchwiler Berg baute die Jugendgruppe der ehemaligen<br />
Konfirmanden ein Haus. Da gab es immer etwas zu tun. Da wurde<br />
gelacht, gearbeitet und natürlich auch hie und da ein Streich<br />
gespielt.»<br />
«Ein Zentimeter entschied meine berufliche Laufbahn! 1,60 Meter<br />
gross mussten die Lehrlingsanwärter sein, denn nur dann hatten<br />
sie die nötige Grösse, um an der Werkbank ihr Handwerk zu<br />
erlernen. Während der Lehrzeit bin ich dann stolze 24 cm gewachsen.<br />
In den SBB-Werken in Altstetten wurde ich zum Maschinenschlosser<br />
ausgebildet. Bei Escher Wyss arbeitete ich als<br />
Monteur. Das gefiel mir nicht besonders, denn ich war nicht gerne<br />
unterwegs. 1952 kehrte ich dann in die Fahrdienst-Werkstätte<br />
zurück. Als Heizer musste ich meine Sporen abverdienen. Tonnenweise<br />
Kohle habe ich geschaufelt. Mein Ziel war es aber immer,<br />
ebenfalls Lokomotivführer zu werden. Diesen Beruf übte ich<br />
dann zwischen 1958 bis zu meiner Pensionierung aus. Nein, nein,<br />
die Landschaft, die vorbeiziehenden Dörfer und Städte konnte<br />
ich nicht geniessen. Dazu war die Arbeit zu anstrengend, zu<br />
anspruchsvoll. Immer wieder neue Lokomotiven, Signale, immer<br />
die vorgeschriebene Geschwindigkeit einhalten. Ja, da musste ich<br />
mich ganz auf meine Pflichten konzentrieren. Nach meinen Ferien<br />
stapelten sich die neuen Anweisungen und Richtlinien in meinem<br />
Kästchen. Am Klopfen der Weichen konnte ich erkennen, wo der<br />
Zug sich befand. Das war schon ein tolles Gefühl. Ich bin eher ein<br />
Einzelgänger – da fühlte ich mich natürlich in der Führerkabine<br />
besonders wohl. Zuhause erholte ich mich beim Basteln von Lokomotiven,<br />
Wagons und der dazugehörenden Eisenbahnstrecke. Ja,<br />
wie soll ich sagen? So bin ich eben. Ich hatte ein schönes Leben.<br />
Natürlich wurde in der spärlich bemessenen Freizeit auch einmal<br />
ein Jass geklopft. Die Solidarität war gross. Meistens blieb es jedoch<br />
bei einem freundlichen Gruss und einem spannenden Spiel.<br />
Einmal wöchentlich sang ich im Lokomotivführer-Chor – Singen<br />
ist eine schöne Freizeitbeschäftigung. Später wurde ich Mitglied<br />
im Kirchenchor, weil dort auch sakrale Lieder gesungen wurden,<br />
was mir gut gefiel. Oftmals traten wir in Altersheimen oder bei<br />
Veranstaltungen auf.»<br />
«Nachdem ein Lokomotivführer-Chor aus Finnland uns in Zürich<br />
besuchte, fuhren wir in den Norden. Dort traf ich meine Frau,<br />
auch ihr Vater war Lokführer und weil ihre Mutter nicht mitwollte,<br />
begleitete sie ihn. Bald wurde geheiratet – Kinder haben wir keine.<br />
Sie engagierte sich im Dorfleben, denn seit vierzig Jahren wohnen<br />
wir nun schon in Regensdorf. Das Haus bauten wir, weil ihr Bru-<br />
der Diabetes hatte und niemand wusste, was mit ihm geschehen<br />
würde, wenn die Mutter sterben würde. Er heiratete dann, und so<br />
zogen wir beide alleine in unser schmuckes Heim.»<br />
«Nein, nein, mich hat das nie gestört, wenn mein Mann abends in<br />
seinem Zimmer seine Eisenbahnwagen zusammensetzte. Ist doch<br />
viel besser, als wenn ich ihn in der Beiz hätte abholen müssen.»<br />
«Ich hatte einen fürchterlichen Katarrh und Hustenanfälle. Der<br />
Katarrh verschwand, der Husten blieb und die Ärztin machte<br />
sich grosse Sorgen.» «Sagen Sie es mir ruhig, wenn etwas nicht<br />
stimmt.» «Ja, dann wusste ich, dass mein linker Lungenflügel<br />
meine Raucherei nicht überstanden hat. Ich trage es mit Fassung,<br />
mit einer inneren Ruhe. Ein schönes Leben hatte ich ja, ich kann<br />
ganz ruhig diese Welt verlassen. Mache mir auch gar keine Gedanken<br />
darüber. Ich möchte nur in meinen vier eigenen Wänden<br />
abtreten. Das ist mein letzter und einziger Wunsch. Mit meinem<br />
Bruder habe ich ein inniges Verhältnis. Wir telefonieren täglich,<br />
erzählen uns das Neueste. Ja, es ist schon grossartig, einen solchen<br />
Bruder zu haben.»<br />
«Mit dem Pfarrer habe ich bereits gesprochen, den kenne ich ja<br />
vom Kirchenchor. Wenn der Lokomotivführer-Chor ein Abschiedslied<br />
singen will, dann sollen sie das ruhig tun. Ich hab ja dann<br />
nichts mehr davon.»<br />
«Mich ärgert schon, dass ich meine Verabredungen oftmals kurzfristig<br />
absagen muss. Anstelle einer Begegnung, Sauerstoff mit<br />
anschliessendem Schlaf. Wirklich nicht berauschend. Auch mit<br />
dem Hund kann ich keine Spaziergänge mehr machen. Nun, das<br />
ist ja auch nicht so schlimm. Denken Sie doch einmal an all die<br />
Menschen, denen es noch viel schlechter geht als mir – und ganz<br />
besonders an diese gehetzten und immer schlecht gelaunten.<br />
Das Leben ist doch viel zu kurz, um sich den Tag vermiesen zu<br />
lassen. Ich nehme alles an und mache das Beste daraus. Das habe<br />
ich bestimmt von meiner Mutter geerbt, die war auch so. Was<br />
nachher ist – wer weiss das schon? Ich mache mir darüber keine<br />
Gedanken.»<br />
«Ja, ich bin zufrieden, hatte ein glückliches und beschauliches<br />
Leben. Dafür bin ich dankbar und hoffe, dass ich noch einige Zusatzrunden<br />
drehen darf, bevor das Licht erlischt und der Vorhang<br />
fällt.»
«Am Rheinknie in Basel verbrachte ich meine ersten Lebensjahre.<br />
Vater arbeitete als Koch, später bei der Rheinschifffahrt. Mutter<br />
stammte aus Österreich. Bald schon, nur wenige Jahre nach meiner<br />
Geburt, wurde ich bei meinen Grosseltern im Oberwallis untergebracht.<br />
Grossmutter gebar zehn Söhne und eine Tochter. Einfach,<br />
entbehrungsreich war das Leben. Geprägt durch Arbeit, Gebet<br />
und Schweigen. Auf dem Bauernhof gab es immer viel Arbeit.<br />
Trotzdem, es war die Zeit meines Lebens, in der ich Liebe, wahre,<br />
unverfängliche Liebe empfand. Einmal in der Woche stiegen wir<br />
den Berg hinauf zum Broothüsli. Alle, wortlos, erwartungsfroh.<br />
Der Duft des frischen Brotes lag in der Luft – beglückte uns, liess<br />
unsere Augen erleuchten. Abends sassen wir, Knecht, Erntehelfer,<br />
die Grosseltern, mein Bruder, der in der Zwischenzeit auch zu uns<br />
gestossen war, um den grossen Esstisch, falteten die Hände zum<br />
Gebet. Wir bildeten eine verschworene Gesellschaft. Wöchentlich<br />
mussten wir mehrere Kilometer unter die Füsse nehmen, um in der<br />
Kirche voller Kerzen und Weihrauchduft die Messe zu hören, die<br />
Beichte abzulegen. Elektrizität und sanitäre Einrichtungen gab es<br />
damals noch nicht.»
«Mit dem Grossvater, den Geissen auf die Voralp, die Landschaft<br />
geniessen, im Heu übernachten, wie wunderbar! Oftmals winkte<br />
die Grossmutter mit dem Leintuch, dann wussten wir, die Essenszeit<br />
naht. In der Schule hatte ich einen schweren Stand – das Kind<br />
von geschiedenen Eltern, nein, um Gottes willen, mit dem durften<br />
meine Mitschüler nicht spielen. Man weiss ja nie, das passte nicht<br />
in ihr Weltbild. Eines Tages erschien eine Diakonissin, mein Bruder<br />
wurde an die Hand genommen und fremdplatziert. Irgendwo im<br />
Kanton Solothurn. Dann, unerwartet und unverhofft, stand er vor<br />
mir. Mein Vater. Er hatte wieder geheiratet und holte mich zurück<br />
nach Basel. Seine neue Frau war nur zehn Jahre älter als ich. Zweiundzwanzig.<br />
Entwurzelt, tief traurig, verliess ich die Bergwelt, um<br />
in der Grossstadt wieder Fuss fassen zu müssen. Nur wenige Wochen<br />
später standen wir vor dem grossen Spital. Mein Vater kaufte<br />
Blumen und teilte mir mit, dass ich noch ein Geschwisterchen<br />
bekommen werde. Es war eine schwierige, ja schreckliche Zeit.<br />
Arbeiten, arbeiten, den Haushalt machen, auf den kleinen Bruder<br />
aufpassen. Tagein, tagaus. Gespräche wurden keine geführt.<br />
Fragen wurden mit bösen Blicken oder Schlägen beantwortet.<br />
Irgendwo entdeckte ich das Familienbüchlein. Und siehe da, da<br />
stand es schwarz auf weiss. Ich hatte noch eine kleine Schwester.<br />
Ein Schwesterchen, das bei Adoptiveltern in der Ostschweiz lebte.<br />
Schweigen, immer wieder dieses Schweigen auf drängende<br />
Fragen. Dann, eines Nachts, kam er zu mir, mein leiblicher Vater,<br />
schlich sich in mein Bett, betastete mich, zwang mich Dinge<br />
zu tun, die ich nicht wollte. Immer wieder, immer wieder dieser<br />
Mann, mein Vater, der sich an mir versündigte. Stumm, stumm<br />
wie immer, liess ich es geschehen. Ein Albtraum ohne Ende, kein<br />
Ausweg, keine Hoffnung. Als eines Tages Verwandte zu Besuch<br />
kamen, schrie ich das Unglaubliche heraus. Erbrach das Geheimnis,<br />
konnte mich teilweise davon befreien. Ungläubiges Erstarren,<br />
Betroffenheit. Doch schon bald die Vorwürfe.» «Du kannst das<br />
nicht weitersagen. Vater verliert seine Stelle, muss ins Gefängnis,<br />
wir werden kein Geld mehr haben.» «Also schwieg ich, etwas,<br />
das ich ja bis dahin immer getan hatte. Kinderkrankenschwester<br />
habe ich gelernt, denn ich liebte diese unschuldigen Wesen, wollte,<br />
dass es ihnen besser geht. Dann endlich, endlich, die Befreiung.<br />
Volljährigkeit. Ohne Geld und ohne Habe zog ich zu einer<br />
Bekannten nach St. Gallen. Weg, nur weg von all dieser Ungerechtigkeit.<br />
Nach der Arbeit servierte ich noch, half beim Ausschank.<br />
Das gefiel mir, denn dort lernte ich Menschen kennen,<br />
durfte zuhören, Eindrücke sammeln. Aus einem Gast wurde mein<br />
Ehemann. Die Frauen, sein Fuhrpark und die Kiesgrube waren ihm<br />
wichtiger als das traute Heim. Nach vielen Jahren, ein Kind, unser,<br />
mein Kind. Ein Junge. Bald darauf die Scheidung. Morgens, wenn<br />
der Kleine noch schlief, trug ich in unserer Gemeinde Zeitungen<br />
aus. Tagsüber hütete ich Kinder, war Tagesmutter. Abends putzte<br />
ich dann noch für eine Stunde in der Migros die Metzgerei. Natürlich<br />
war mein Sohn immer dabei, denn ich wollte ihn ja nicht alleine<br />
lassen. Bald arbeitete ich dort vermehrt und dort traf ich ihn,<br />
meinen zweiten Mann. Ein Südländer, ein Italiener. Alle wussten,<br />
dass er gewisse Probleme hatte und natürlich dauerte es nicht<br />
lange, bis meine Kolleginnen mich fragten, ob ich denn wieder<br />
auf die Nase fallen wolle? Es ist ja schliesslich meine Nase, gab<br />
ich ihnen zur Antwort. Seit vierzehn Jahren sind wir nun glücklich<br />
verheiratet. Die Zeit war entbehrungsvoll, geprägt von Kampf und<br />
Mühsal. Wir haben alles gemeinsam gemeistert. Darauf bin ich<br />
stolz. Meinem Sohn war er von Anfang an ein guter Freund. Wie<br />
oft haben wir in unserer Stube die Spiele der Kloten Flyers mitverfolgt.<br />
Gelitten und geschrien. Ein Glas Wein, viele Bekannte. Das<br />
war toll! Wunderschön! Ja, wir gehören und halten zusammen.<br />
Ferien im Wallis, in den Bergen, in der freien Natur. Dann, vor zwei<br />
Jahren. Ein Kontrolluntersuch, ein vernichtender, niederschmetternder<br />
Befund: Krebs, unheilbar. Ich fühlte mich wie tot, niedergestreckt<br />
von einer eisernen Faust. Endlich hatte ich Frieden, eine<br />
liebe Familie und jetzt das. Ungeheuerlich, ungerecht, grauenvoll.<br />
Doch langsam, sehr langsam nur erwachte ich aus diesem Albtraum.<br />
Brauchte viel Zeit, Zeit für mich, Zeit, um über das Leben,<br />
mein Dasein nachzudenken. Immer wieder keimte Hoffnung auf.<br />
Eine Therapie, da ein Eingriff, dort Schmerzen, die Leber streikte,<br />
die Haut schwoll an. Immer wieder Morgenröte, wo es eigentlich<br />
nie eine gab. Jetzt, seit einigen Monaten habe ich die Krankheit<br />
akzeptiert. Ich kämpfe nicht mehr, ich lebe. Das klingt eigenartig,<br />
aber ich habe immerfort gekämpft ums Überleben, gegen das Unrecht,<br />
das mir angetan wurde. Ich verspüre dadurch eine grosse<br />
Erleichterung, eine Befreiung. Endlich angekommen, kann ich gelassener<br />
und entspannter das Schicksal, meine Zeit auf Erden hinnehmen.<br />
Das schärft meinen Blick, stimmt mich grosszügiger. Ich<br />
kann meinen Peinigern vergeben. Das ist unbestritten ein gutes,<br />
befreiendes Gefühl. Mein Mann, mein toller Sohn, meine Freundin,<br />
die ich ja im Spital kennengelernt habe, begleiten mich, teilen<br />
den Alltag noch inniger, noch herzlicher mit mir. Meinem Vater<br />
bin ich nur noch einmal begegnet. Mein Bruder starb vor zwei<br />
Jahren. Meine Schwester, die kenne ich nicht. Obwohl eigentlich<br />
meine Nächsten, waren sie letztlich nur Wegelagerer auf einer<br />
langen, mühsamen Wanderung. Traurig stimmt mich nur, dass ich<br />
wohl nie ein Enkelkind in den Armen halten werde.»<br />
«Den Tod fürchte ich nicht. Ich bin schon so viele Tode gestorben.<br />
Ich bete, meine Gebete, die mir aus früher Kindheit vertraut sind.<br />
Sie geben mir Kraft. Kraft, den letzten Abschnitt meines Lebens<br />
zu gehen, den Weg in den Himmel. Von dort werde ich dann auf<br />
die Erde schauen, Anteil nehmen und schmunzeln.»
«Nur wenige Hundert Meter von hier entfernt, im Gaswerk, bin<br />
ich aufgewachsen. Dort arbeitete mein Vater, dort wohnten wir.<br />
Der Kreis 4 und 5 trennten nur wenige Hundert Meter und doch<br />
Welten. Dort die Arbeiter, mit ihrer eigenen Sprache. Hier die Beamten.<br />
An schulfreien Nachmittagen gab es regelmässig Strassenkämpfe<br />
zwischen den Jugendlichen aus den jeweiligen Kreisen.<br />
Meine beiden Geschwister durften ins Schulhaus um die Ecke. Ich<br />
musste die magische Grenze überschreiten, um mein kleines ABC<br />
zu lernen. Da wurde ich natürlich entsprechend kritisch empfangen<br />
und lernte mich gleichzeitig früh durchsetzen. Jede Genossenschaftssiedlung<br />
war eine Welt für sich. Wir durften die anderen<br />
Siedlungen nicht betreten. Gemüse wurde angebaut. Ein Kindergarten<br />
befand sich im Hof. Es gab gute und schlechte Eltern. Jene,<br />
welche die Kinder mit Schlägen auf den Kopf, auf den Hintern und<br />
mit dem Gürtel züchtigten. Wir, mein Bruder und meine Schwester,<br />
wurden nie geschlagen. Meine Grosseltern und Eltern waren<br />
Anhänger der reformierten Religions- und Sozialbewegung, die<br />
von Leonhard Ragaz ins Leben gerufen wurde. Das Limmathaus<br />
war Ort der Begegnung.»
«Meine Mutter verbrachte ihre Jugendjahre in einem Armenhaus<br />
in Mogelsberg. Der Vater, ein unbekannter Soldat, die Mutter eine<br />
junge Frau. Beide unauffindbar – weg. Trotz den erschwerten<br />
Umständen verlebte sie eine schöne Jugend. Genügend Nahrung,<br />
eine enge Beziehung zu den drei Töchtern des Heimleiters und<br />
viel, viel Freiraum – Viehmärkte, Volksfeste. Dann Wegzug in die<br />
ferne, unbekannte Grossstadt.»<br />
«Vaters Grosseltern kamen aus gutem Hause. Er gebildet, Mittelschullehrer,<br />
heiratete eine um Jahre jüngere Frau mit gutem<br />
Ruf. Sieben Kinder. Auch sie unterstützen die Ideen von Leonhard<br />
Ragaz. Gewährten Darlehen – dann die Wirtschaftskrise, das Geld<br />
war weg. Ein Schock, ein schmerzlicher Verlust, über den nie, nie<br />
gesprochen wurde.»<br />
«Im Apollo trafen sich die Roten Falken, die Jung-Sozis. Voller<br />
Energie und Tatendrang und mit grossen Plänen. Mittwoch wurde<br />
auf der grossen Bühne gesungen. Die Besten erhielten einen<br />
Nussgipfel geschenkt. Wo es spannend und lustig war, dort war<br />
auch meine Mutter anzutreffen. Meine Mutter servierte, kochte,<br />
half wacker mit, wo es Arbeit gab. Die Familie meines Vaters<br />
war ganz und gar nicht begeistert von der Wahl ihres Sohnes.<br />
Nicht standesgemäss. Unter der Woche arbeitete mein Vater – da<br />
blieb wenig Zeit für die Familie. An den Wochenenden fuhren<br />
wir ins Grüne. Die Roten Falken besassen auf den Lägern eine<br />
Hütte. Dort spielten wir mit den Kindern der Genossen, freuten<br />
uns am Lagerfeuer, an der Natur. Unsere Mutter erzählte uns Geschichten,<br />
hatte immer ein offenes Ohr, war verlässlicher Anker<br />
in unserem Leben. Doch unmerklich, schleichend verdüsterte<br />
sich der Horizont. Meine Mutter wollte mehr. Wollte Anerkennung,<br />
Bestätigung. Immer war sie da, um die Telefonanrufe für<br />
das Gaswerk zu beantworten. Nie ein Dankeschön, nie ein Blumenstrauss.<br />
Plötzlich war sie, für einige Stunden nur, weg. Jassen,<br />
dann Glücksspiel, Spielautomaten. Im Laden nebenan borgte sie<br />
sich Geld. Bald bemerkte ich, dass sich ihr Leben veränderte. Ich<br />
half, wo ich konnte. Machte einen grossen Bogen um die Gläubiger.<br />
Als der Vater davon erfuhr, hagelte es böse Worte. Von Scheidung<br />
war die Rede – dann lebten sie stumm nebeneinander her.<br />
Tabletten, immer mehr Tabletten schluckte sie, sie die immer vom<br />
grossen Gewinn träumte. Sie, die das Geld auf den Küchentisch<br />
legen wollte und damit die Anerkennung erzwingen wollte, die<br />
ihr nicht gewährt wurde. Traurig.»<br />
«In Rüschlikon besuchte ich im Bodmergut das bäuerliche Haushaltsjahr.<br />
Arbeiten, arbeiten in geordneten Verhältnissen, das gefiel<br />
mir. Dann, bei Forster an der Bahnhofstrasse, erlernte ich den<br />
Beruf der Tapeziernäherin. Als ich mich dann für eine Arbeiterin<br />
einsetzte, wurde ich fristlos entlassen. Die Gewerkschaft hat sich<br />
dann für uns eingesetzt und so entstand mein Kontakt zu der Sozialdemokratischen<br />
Partei und zur Gewerkschaft. Max Weber, ein<br />
Bundesrat, gründete einen Fonds, um Gewerkschaftsfunktionäre<br />
auszubilden. Davon profitierte ich, bildete mich weiter, arbeitete<br />
für das Schweizerische Arbeiterhilfswerk, war Zahlstellenleiterin<br />
der Krankenkasse SKBH, entwickelte Projekte für Arbeitslose. Von<br />
1979 bis 1993 war ich Mitglied des Kantonsrats.»<br />
«Ich lese viel, male Bilder. Sehen Sie, die sind auch von mir. Das<br />
rechts an der Wand entstand 1990, als ich in einer Krise steckte.<br />
Das ganz links entstand, als ich von meiner Krankheit erfuhr. Ach,<br />
mit den Männern, ja, das hat nie ganz funktioniert. Wer weiss,<br />
vielleicht ist es besser so. Vielleicht wäre ich in der Zwischenzeit<br />
schon längst geschieden. Nein, das beschäftigt mich nicht. Ich<br />
glaube nicht, dass ich da Grosses verpasst habe. Kinder konnte ich<br />
ja keine bekommen. Da bin ich lieber gereist. Nach China, Nepal,<br />
Jemen, Guatemala – fremde Länder, neue, inspirierende Eindrücke.<br />
Faszinierend, bereichernd. Das beglückte mich. Bücher lesen,<br />
eintauchen in andere Lebensweisen, in Abenteuer. Die Arbeit im<br />
Parlament, die Arbeit für die Benachteiligten – einen, meinen<br />
Beitrag leisten für eine humanere Welt, das bewegte, motivierte<br />
mich.»<br />
«Dann, im Frühjahr 2003 musste ich mich immer wieder übergeben,<br />
fühlte mich elend. Die Gallenblase wurde entfernt und<br />
am Zwölffingerdarm wurde ich operiert. Die Diagnose: Ein sehr<br />
seltener Darmkrebs. Lebenserwartung: Höchstens sechs Monate.<br />
Ich lebe noch immer, bin dankbar dafür – bin grosszügiger geworden.<br />
Unglaublich, meine erste Reaktion war eine gewisse Erleichterung,<br />
endlich eine Pause. Doch dann, die Auseinandersetzung<br />
mit dem Tode – die Frage nach dem Wert des Lebens. Kein Selbstmitleid,<br />
nein, nein. Das Dasein ist ein Kreislauf – ich bin Energie<br />
und werde wieder zu Energie. Es ist wie Frühling, Sommer, Herbst<br />
und Winter. Jede Jahreszeit verzaubert, birgt Schönheiten und<br />
Herausforderungen. Ich erwartete von den Hilfesuchenden, die<br />
ich begleitete ja auch, dass sie ihr Leben in die eigenen Hände<br />
nehmen, meistern. Da werde ich jetzt auch selbst mit dieser Aufgabe<br />
fertig!»
«Was soll ich erzählen?» «Mein Vater, mit dem habe ich es sehr<br />
gut – ich bewundere ihn. Zwei Brüder habe ich noch. Mit dem<br />
sechs Jahre jüngeren verstehe ich mich besonders gut. Ich hatte<br />
eine Jugend ohne grössere Probleme. Meine Mutter war nicht<br />
besonders zärtlich und einfühlsam. Immer wieder musste ich alle<br />
möglichen Arbeiten im Hause verrichten, denn auch sie arbeitete<br />
aushilfsweise in einer Bäckerei. Ich war eben der flinkste von uns<br />
Buben. Trotzdem blieb noch Zeit, um mit dem Zelt und dem Töffli<br />
meine kleine Welt zu entdecken. Zeichnen, das macht mir auch<br />
grosse Freude. Mein Vater arbeitete viel, gab sein Bestes und wurde<br />
überall dafür respektiert. Für die Belange der Arbeiter setzte er<br />
sich ein, war in der Gewerkschaft. Das Wochenende war dann für<br />
die Kinder reserviert. Ausflüge in die Natur liebte ich ganz besonders.<br />
Da wurden dann auch Gedanken ausgetauscht. Unser erster<br />
Urlaub im Ausland war natürlich ein ganz besonderes Erlebnis –<br />
Italien, der Süden, Sonne und Meer. Die Mutter begleitete uns selten,<br />
fand das alles unnütz. Schade eigentlich.»
«Nach Oerlikon zur ABB ging ich in die Lehre. Elektromechaniker,<br />
das war mein Traumberuf. Weitergebildet habe ich mich und bald<br />
wurde ich in der ganzen Schweiz auf Montage geschickt. Einmal<br />
durfte ich sogar nach Spanien. Kollegen hatte ich viele, denn ich<br />
hatte immer gute Ideen und das fanden sie natürlich toll.»<br />
«Da sass ich mit einem Kumpel in einem Restaurant. Zwei junge<br />
Frauen kamen herein und wollten das Lokal wieder verlassen, weil<br />
die Preise zu teuer waren. Diese Gelegenheit liessen wir uns natürlich<br />
nicht entgehen und luden die beiden ein. Daraus entstand<br />
eine Freundschaft und einige Jahre später heirateten wir. Das war<br />
ein Glücksfall – schon zwanzig Jahre gehören wir nun zusammen.<br />
Ich spürte bald, dass diese Herzlichkeit, diese offene und liebevolle<br />
Art genau das ist, was ich schon immer gesucht hatte.»<br />
«Natürlich gibt es auch bei uns Meinungsverschiedenheiten. Oft<br />
ärgere ich mich, dass die Sachen nicht immer an ihrem Platz sind.<br />
Wenn ich bedenke, dass bei uns zu Hause alles immer millimetergenau<br />
ausgerichtet in den Schränken versorgt wurde. Doch dann<br />
lachen wir darüber und alles ist wieder gut.»<br />
«Eine unserer Töchter ist taub. Zuerst war das ein Schock für uns.<br />
Wie wird sie das Leben meistern? Wie wird sie sich zurechtfinden?<br />
Ich musste vermehrt körperliche Nähe zulassen. Umarmungen,<br />
Chüssli, das war nicht einfach, war eine grosse Herausforderung<br />
für mich. Aber schön ist es! Ich wechselte den Arbeitsplatz, fand<br />
eine tolle Stelle hier in der Stadt, denn ich wollte doch bei meinen<br />
Kindern sein, wollte an ihrem Leben, ihren kleinen und grossen<br />
Sorgen teilhaben. Ich bin ein glücklicher Vater – vier Kinder wurden<br />
uns geschenkt. Zwischen achtzehn und zehn Jahre alt. Drei<br />
Töchter und ein Sohn. Die jüngsten sind Zwillinge.»<br />
«Dann, vor einem Jahr, kurz nach dem grossen Stadtfest, verspürte<br />
ich einen Schmerz im Rücken. Nein, zum Doktor wollte<br />
ich nicht. Das geht schon wieder vorbei. Wenig später wurde<br />
ich notfallmässig ins Spital eingeliefert. Grauenvolle, grässliche<br />
Schmerzen. Untersuchungen, nachdenkliche Gesichter. Dann die<br />
Diagnose: Unheilbar, sechs Monate… Mein Zimmer teilte ich mit<br />
Schicksalsgenossen. Dreissig Jahre alt war er, mein Kollege, eine<br />
Tochter, sechs Monate alt. Wir erzählten uns Geschichten, weinten<br />
zusammen. Dann, eines Abends, wurde er aus dem Zimmer<br />
geführt, wenige Stunden später verstarb er.»<br />
«Warum gerade ich? Warum ich, ich bin doch erst 43 Jahre alt!<br />
Die Kinder, meine Frau, sie wissen ja gar nicht, was auf sie zukommt!<br />
Genug, genug.»<br />
«Alles ist verätzt. Ich kann nicht mehr essen. Ha, ich lebe noch –<br />
die sechs Monate sind schon längst abgelaufen. Für wie lange?<br />
Niemand weiss es. Tage, Wochen?»
«In Staufen, im Kanton Aargau bin ich aufgewachsen, mit einer<br />
Zwillingsschwester und drei weiteren Geschwistern. Ausserhalb<br />
der Gemeinde, dort, wo die Hasen und Füchse sich gute Nacht<br />
sagen, baute mein Vater ein grosses Haus. Er war ein schweigsamer<br />
und fleissiger Staatsangestellter. Meine Mutter verdiente<br />
als Heimarbeiterin mit. Früher trugen die Frauen der besseren Gesellschaft<br />
noch Mieder und dort mussten, in mühseliger Kleinarbeit,<br />
die Häkchen angebracht werden. Immer derselbe monotone<br />
Arbeitsablauf. Jede Woche mussten meine Schwester und ich die<br />
Ware im Leiterwagen in der sechs Kilometer weit entfernt gelegenen<br />
Fabrik abliefern. Auf dem Heimweg stritten wir dann herzhaft,<br />
wer im leeren Wagen Platz nehmen durfte. Die anderen Geschwister<br />
waren einige Jahre älter und somit hatte ich mit diesen<br />
wenig zu tun. Alle Grosseltern waren bereits gestorben, und auch<br />
unter den Familienmitgliedern wurde nicht viel diskutiert und unternommen.»
«Mein Vater war ein guter und leidenschaftlicher Sänger. Immer<br />
wieder hörten wir schon von weitem seine tolle Stimme die gängigen<br />
Lieder singen. Alle in unserer Familie sangen und so kam<br />
es, dass wir Zwillinge bald an jedem Fest die Gäste unterhielten.<br />
Wenn unsere Mutter an einer Hochzeit für das Wohl der Festgemeinde<br />
sorgte, wurden wir in eine Tracht gesteckt, mit Lackschuhen<br />
und Seidenhosen versehen, und schon erklangen unsere<br />
reinen Stimmen im Duett. Die grosse Küche war unser Lebensmittelpunkt.<br />
Das Wohnzimmer war für uns Kinder Sperrzone, dorthin<br />
durften wir nicht. Da wurde teilweise noch mit Holz geheizt.<br />
Rauchig und stickig war es – aber auch gemütlich. Immer wieder<br />
klopften Fremde an die Tür. Ihnen wurde eine Suppe gereicht,<br />
bevor sie dann ihre Reise fortsetzten. Samstags wurde gejasst.<br />
Gerne schaute ich meiner Mutter über die Schultern und schon<br />
bald war ich Dreikäsehoch ein ausgewiesener Fachmann. Mit den<br />
Jungen aus der näheren Umgebung tollten wir im Wald herum,<br />
sammelten Tannenzäpfe und verkauften diese für ein bescheidenes<br />
Taschengeld. Die Milch der umliegenden Bauern brachten wir<br />
in die Käserei und auf dem Heimweg wurde viel geschwatzt. Mein<br />
Vater kaufte immer wieder Liegenschaften. Häuser, die sonst niemand<br />
wollte. Wir, die ganze Familie, mussten dann an den Wochenenden<br />
mithelfen, diese wieder auf Vordermann zu bringen.<br />
Das war eine anstrengende Arbeit, aber noch heute profitiere ich<br />
davon.»<br />
«In der Schule hatte ich keine Probleme. Alles verlief ohne grosse<br />
Aufregungen – unspektakulär eben. Dann nach der Sekundarschule<br />
ging es für ein Jahr in die französische Schweiz. Bei einem<br />
Bäcker musste ich jeden Morgen die frischen Backwaren austragen.<br />
Französisch wurde nicht allzu oft gesprochen, denn all meine<br />
Freunde kamen aus unserer Gegend. Die Hausmädchen, welche<br />
das Frischgebackene entgegennahmen, waren meistens auch<br />
aus der deutschen Schweiz. Beim Notar unseres Dorfes wurde<br />
ich Verwaltungslehrling. Vater war mächtig stolz und schenkte<br />
mir eine Hermes Schreibmaschine, eine der ersten in der Gegend.<br />
Nach Lenzburg musste ich in die Berufsschule und im Winter mit<br />
dem Fahrrad in die verschiedenen Gemeinden rund um den Hall-<br />
wilersee, denn dort wurden wir in Staatskunde unterrichtet. Meine<br />
erste Arbeitsstelle trat ich beim Strassenverkehrsamt der Stadt<br />
Zürich an, als Kanzlist dritter Klasse. Nur der Kanzlist erster Klasse<br />
durfte mit dem Chef sprechen. Ja, so war das damals! Dann,<br />
nach einigen weiteren kurzen Tätigkeiten, arbeitete ich während<br />
Jahrzehnten als Steuersekretär in zwei Seegemeinden am linken<br />
Seeufer und für den Kanton. Bei den Mitarbeitern war ich beliebt.<br />
Immer wenn irgendwo was zu besprechen war, kamen sie zu mir<br />
und gemeinsam konnten wir unsere Belange durchsetzen. Seit<br />
einigen Jahren betreibe ich ein Treuhandbüro, in dem einer meiner<br />
Söhne auch mitarbeitet. Diese Aktivitäten machen mir noch<br />
heute viel Spass.»<br />
«Die Liebe, ja die Liebe, ein grosses Wort, ein Wort, auf das wohl<br />
jeder Mensch seine ganz spezielle Antwort hat. In Lausanne, als<br />
kleiner, junger und unschuldiger Bursche von knapp sechzehn Jahren<br />
öffnete eine ebenso junge Hausangestellte mir die Haustüre,<br />
um die Backwaren entgegenzunehmen. Wir trafen uns, hin und<br />
wieder. Dann sass sie bei uns zu Hause am Küchentisch. Sie sei ein<br />
anständiges Mädchen – davon war meine Mutter überzeugt. Mit<br />
zweiundzwanzig Jahren verlobten wir uns. Ein Jahr später wurde<br />
geheiratet. Eine Schicksalsgemeinschaft… Ich war ein strenger,<br />
aber gerechter Vater. Im Keller hatten wir eine Eisenbahn – dort<br />
spielten wir, dort waren wir zusammen. Meine Eltern luden die<br />
ganze Familie jedes Jahr in die Ferien ein. Gemeinsam erkundeten<br />
wir die Gegend, die Natur. Meine Frau, sie war Mutter, ich<br />
Steuersekretär. So verging die Zeit. Wir lebten unter einem Dach,<br />
gemeinsam, aber ohne allzu viele Gemeinsamkeiten.»<br />
«Doch, doch, ich bin ein stiller Geniesser, liebe das Leben, gehe<br />
mit offenen Augen durch den Alltag und freue mich, wenn kleine<br />
und grosse Überraschungen sich unverhofft anbieten. Da bin ich<br />
nicht abseitsgestanden.» Die Augen leuchten verschmitzt. «Jeder<br />
ist eben doch seines eigenen Glückes Schmied, muss die Gelegenheiten<br />
beim Wickel packen. In meiner Wohngemeinde gründete<br />
ich eine Seniorenblasmusik. Keine einfache Angelegenheit, denn<br />
jeder bringt ja seine Macken mit. Ich selbst spiele Sousaphon. Natürlich<br />
jasse ich auch noch wöchentlich und da geht es, weiss<br />
Gott, oft hoch zu und her. In einem der Restaurants des Dorfes<br />
bin ich regelmässig am Stammtisch anzutreffen. Trinke meinen<br />
Tee und höre mir die neuesten Geschichten und Gerüchte an,<br />
sehe Freundschaften entstehen und zerbrechen.»<br />
«Vor wenigen Monaten dann die ernüchternde Diagnose: Darmkrebs,<br />
Chemotherapie. Ich konnte es nicht fassen. Leber, Herz und<br />
Nieren funktionieren ja einwandfrei! Ich war schockiert. Sollte das<br />
das Ende sein? Nein, sicher nicht. Mir gefällt es auf dieser Erde,<br />
mit all diesen vielfältigen kleinen und grossen Geschichten. Vor<br />
dem Tode fürchte ich mich nicht, aber das letzte Kapitel, das darf<br />
noch nicht geschrieben sein.»
«Meine Eltern stammen aus der Gegend von Padua. Beide kamen<br />
in die Schweiz, nach Zollikon. Mein Vater arbeitete als Strassenbauer.<br />
Meine Mutter diente in den Haushaltungen reicher Leute.<br />
Beim Tanz lernten sie sich kennen.» «Pass auf, das ist ein ganz<br />
Gefährlicher», so lauteten die Kommentare von den Verwandten.<br />
Doch schon bald waren die beiden ein Paar. In Italien wurde Hochzeit<br />
gefeiert. Ein schönes Fest – alle Verwandten waren anwesend.<br />
Die Kirchenglocken läuteten – das Glück war perfekt. «Mein Bruder<br />
ist vier Jahre älter als ich. Wie der Vater, eher der ruhigere Typ.<br />
Ich war der Liebling von allen. Lange, dunkle, glänzende Haare mit<br />
wunderschönen Locken. Meine Mutter hatte das Sagen zu Hause.<br />
Sie übernahm die Verantwortung, schaute, dass alles mit rechten<br />
Dingen zu und her ging, das Geld nach Hause geschickt wurde.<br />
Viel Zeit für die Kinder blieb da nicht. Trotzdem, ein leichter Klaps,<br />
ein liebevoller Blick, das waren Zeichen der tiefen, umfassenden<br />
Zuneigung. Ich wusste, ich spürte, dass ich geliebt wurde. «Mit<br />
Vater machte ich samstags, nach dem Einkaufen, einen Ausflug an<br />
den Weiher oberhalb von Küsnacht. Da stand er, schaute aufs Wasser,<br />
fasste meine Hand und mit leiser, etwas wehmütiger Stimme<br />
erzählte er kleine Geschichten aus seiner so innig geliebten und<br />
vermissten Heimat. Ich schaute den Enten zu, umgarnt von all diesen<br />
lebendigen und bunten Bildern des Südens.»
«Am Sonntag versammelten sich alle Italiener im grossen Park.<br />
Die Frauen erzählten sich die neuesten Geschichten, laut, lachend,<br />
fröhlich. Die Männer spielten Boccia. Es ging um Sieg und Ehre.<br />
Die Kinder rannten wie wild um die Feuerstelle. Das grosse Gelage<br />
gehörte dazu. Alle um einen Tisch versammelt. Eine verschworene<br />
Gesellschaft, geprägt durch dieselben Sehnsüchte, Nöte und<br />
Hoffnungen und geheimen Wünsche.»<br />
«In der Schule wurde ich anfänglich nicht gut aufgenommen. Ich<br />
war ein Ausländerkind – eine Fremde. Doch durch meine fröhliche<br />
und unkomplizierte Art änderte sich das bald. Der erste Schulschatz,<br />
der darauffolgende Liebeskummer. Dann, als junge Frau,<br />
schlich ich mit meiner ersten Liebe zum Jachthafen runter. Dunkel<br />
war es und niemand sah, wie wir unter der Plane eines Segelschiffes<br />
verschwanden. Dort geschah es – zum ersten Mal.»<br />
«Bei Feldpausch ging ich in eine Verkäuferinnenlehre. Die Welt<br />
der Mode, der eleganten Frauen, das gefiel mir natürlich besonders<br />
gut. Ich hatte grossen Erfolg, alle wollten von mir bedient<br />
werden. Das war ein beglückendes Gefühl.»<br />
«Nach der Lehre wollte ich etwas ganz anderes machen. Servierte<br />
im «Splendid» im Niederdorf. Heuerte beim Zirkus Royal an.<br />
Als Mädchen für alles. Diese besondere Welt, die Manege, voller<br />
Zauber, der Geruch nach Tieren und der Applaus der begeisterten<br />
Zuschauer, welch ein Leben! Als Clown trat er auf im Scheinwerferlicht.<br />
Brachte die Leute zum Lachen. Es war Liebe auf den<br />
ersten Blick. So, als ob wir uns in einem früheren Leben schon<br />
einmal begegnet wären. Heute empfinden wir immer noch so,<br />
wie damals – ein Glücksfall und wunderbar. Auftritte in vielen<br />
Ländern folgten. Oftmals war ich dabei, wenn nicht, arbeitete ich<br />
in Zürich. Dann wollte ich für einige Monate in die Ferne, in die<br />
Vereinigten Staaten von Amerika. Dorthin, wo so viele Vorfahren<br />
meiner Eltern ihr Glück versuchten. Viel habe ich gesehen, gelernt.<br />
Die Eindrücke haben Spuren hinterlassen. Trotzdem war ich<br />
froh, nach einigen Monaten meinen Freund wieder in die Arme<br />
schliessen zu können. Wir heirateten und bekamen einen Sohn.<br />
Ein toller junger Mann!»<br />
«Eines Morgens, vor gut vier Jahren, wachte ich auf und verspürte<br />
einen Knoten in meiner Brust. Was soll das denn, das kann<br />
doch nicht sein. Meine Freundin, eine Ärztin, brachte mich sofort<br />
ins Spital. Wenige Tage später wurde operiert. Die Brust war<br />
weg. Meine Brust – Teil meiner Weiblichkeit. Schlimm – warum<br />
gerade jetzt? Wir haben es doch so schön. Zögernd frage ich<br />
meinen Mann, wie ich denn aussehe, so, so ohne….» «Ach das<br />
macht doch nichts. Es ändert doch an unserer Liebe nichts.» «Das<br />
beruhigte mich sehr, gab mir Kraft. Chemotherapien verbesserten<br />
die Situation. Wir flogen auf die Malediven, liebten das Leben,<br />
liebten uns genauso wie vor vielen Jahren. Im Dezember letzten<br />
Jahres verschlechterte sich die Situation zusehends. Die Krankheit<br />
breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Ich habe Schmerzen,<br />
kann nur noch mit leiser Stimme sprechen. Ich habe mich entschieden,<br />
ich will nicht mehr weiterleben – will keine lebensverlängernden<br />
Medikamente. Meinen Entschluss besprach ich mit<br />
meinen Angehörigen. Tränen flossen, doch die Liebe war grösser,<br />
bildet das Fundament, so dass wir alle die ausweglose Lage akzeptieren<br />
können. Meinem Sohn habe ich einen langen Brief geschrieben,<br />
hab ihm erklärt, dass Mami jetzt gehen möchte auf<br />
eine grosse Reise, – dass sie aber immer bei ihm sein werde. Eine<br />
lustige Beisetzung soll es werden, ich will nicht, dass alle traurig<br />
sind. Wir hatten und haben es doch so gut zusammen. Wer kann<br />
denn das so uneingeschränkt von sich behaupten? Angst verspüre<br />
ich nicht. Respekt schon. Respekt vor dem Unbekannten – dem<br />
Abschiednehmen von dieser Erde und dem Hinübergleiten ins Unbekannte.<br />
Ich stelle mir das als eine grosse, helle Ebene vor – mit<br />
vielen bunten Blumen, wohl duftend, frisch.»<br />
«Wenn ich in meinem Bett liege und ein neuer Tag anbricht, dann<br />
geh ich auf Reisen – einmal stehe ich mit meinem Vater am Weiher,<br />
lausche seinen Worten. Ein andermal rieche ich den Pferdemist<br />
aus der Manege und schaue in die leuchtenden Augen des<br />
Clowns, meines Mannes. Gute, beglückende, stärkende Gefühle.<br />
Dankbarkeit erfüllt mich, denn ich durfte all dies während Jahren<br />
erleben.»<br />
«Als Kind wusste ich, wohin ich gehörte. Ein Blick, ein Händedruck.<br />
Ich hatte Boden unter den Füssen. Sah immer das Gute<br />
und Positive. Erfreute mich an den kleinen Dingen des Lebens.»<br />
«Heute erlebe ich die gleichen Emotionen. Sie geben mir Kraft,<br />
den inneren Frieden, die Gewissheit, dass alles gut werden wird.<br />
Dass mein Mann, mein Sohn, meine Mutter ihren Weg gehen<br />
werden und nach dem Trennungsschmerz, gestärkt durch diese<br />
wundervolle Liebe, ihr Glück wieder finden werden. Ich werde sie<br />
begleiten, werde in Gedanken einige Blumen pflücken und ihnen<br />
damit Freude bereiten.»
«In Langnau am Albis bin ich aufgewachsen. Vierzehn Kinder<br />
waren wir zu Hause. Meine Mutter war eigentlich meine Grossmutter.<br />
Ja verrückt, aber dazu mehr später. Aus Stettin waren sie<br />
während des Krieges in die Schweiz geflohen. Mein Grossvater<br />
war ja Schweizer. Dort, in der Ferne, besassen und verwalteten sie<br />
ein riesiges Landgut. Dann, in der neuen Heimat, die Arbeit in der<br />
Spinnerei, der soziale Abstieg, die Schmach, der Neuanfang ohne<br />
Hoffnung. Der Kampf ums Überleben, unerbittlich, hart. Drei in<br />
einem Bett – drei Betten in einem Zimmer. Oftmals mussten wir<br />
sogar im Kerzenlicht den Landstreifen, den wir zwischen Fluss und<br />
Bahnschiene zugewiesen bekamen, umpflügen, damit die Kartoffelschösslinge<br />
gesetzt werden konnten. Grossvater starb früh. Diskutiert<br />
wurde nicht viel, die Müdigkeit wog bleiern in den Gliedern,<br />
nebelte uns ein, lähmte uns. Eine Ohrfeige war die Antwort auf<br />
eine kleine Untat. In einem alten Riegelhaus wohnten wir. Früher<br />
wurden hier die Pferde gewechselt auf der Reise in den Süden. Am<br />
ersten Schultag musste jeder Schüler vor die Klasse treten, seinen<br />
Namen und den seines Vaters und dessen Beruf mitteilen. «Äh, de<br />
Richi isch es unehelichs Chind.» Ich schaute immer genau hin – bei<br />
den Bauern, denen ich in der Freizeit helfen musste, auf den Ausflügen<br />
in die Wälder. Ich wollte etwas leisten, wollte immer mein<br />
Bestes geben. Den geraden, schnörkellosen Weg einschlagen. Nur<br />
nie in die Spinnerei – das war mein erklärtes Ziel. Durch Leistung<br />
verschaffte ich mir Respekt, gewann dadurch Freunde. Der Kleingeist,<br />
die Missgunst, die unaufrichtige Freundlichkeit begleiteten,<br />
irritierten mich, verwandelten mich zum stillen Rebellen.»
«Achtzehn Jahre alt war ich, als ich erfuhr, dass eines der vielen<br />
Kinder meiner Grossmutter meine leibliche Mutter war. Auch<br />
sie wollte es besser haben – verliebte sich, erhoffte sich dadurch<br />
die Flucht in eine bessere Welt. Sie wurde schwanger und als ihr<br />
Freund entdeckte, dass er gar nicht der Erzeuger von mir war,<br />
machte er sich aus dem Staube. Aus einem Bruder wurde ein<br />
Halbbruder. Plötzlich hiess ich nicht mehr Kohler, sondern Avesani.»<br />
«Herr Avesani, wir wollen Ihre Zeugnisse sehen, nicht die vom<br />
Kohler.» «Das war dann wirklich eine groteske Situation.»<br />
«Ich spielte Fussball, ging in den Musikverein. Trompete spiele ich,<br />
ausgezeichnet sogar. Auftritte, auch internationale – das waren<br />
natürlich tolle, unvergessliche Erlebnisse. Farbtupfer in einem arbeitsamen<br />
und oftmals entbehrungsreichen Alltag. In die Mechanikerlehre<br />
fuhr ich jeden Tag mit dem Rad nach Adliswil. Auch<br />
dort musste ich unten durch, aber es war eine abwechslungsreiche<br />
Zeit. Viel Neues habe ich gesehen, viel gelernt. Dann bot<br />
sich mir die Gelegenheit, einen Betrieb zu übernehmen. Tag und<br />
Nacht schuftete ich. Doch die Firma ging Pleite, weil sich die wirtschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen veränderten. Ja, so kann das<br />
Leben sein. Anderthalb Jahre stand ich dann nach der regulären<br />
Arbeit hinter dem Korpus im Bahnhofskiosk, um meine Schulden<br />
zu begleichen. Das war Ehrensache! Was ich anpacke, will ich gut<br />
und richtig machen – gradlinig, schnörkellos eben. Oftmals habe<br />
ich mich für die rechte Sache ins Zeug gelegt. Das gefiel natürlich<br />
nicht immer allen. Aber so bin ich eben, dafür setze ich mich ein.<br />
Dort im Bahnhofskiosk habe ich meine Frau kennengelernt. Bald<br />
entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, eine Liebe, die bis zum<br />
heutigen Tage anhält. Wir sind irgendwie seelenverwandt. Eine<br />
Tochter und einen Sohn brachte sie mit in die Beziehung. Sieben<br />
und neun Jahre alt waren sie. Richi ist autistisch. Ein toller Kerl,<br />
der oftmals mit unerwarteten Streichen aufwartet. Nein, damit<br />
haben wir gar kein Problem; hätten wir noch einen zweiten Richi,<br />
wir würden uns darüber freuen. Jahre später erst haben wir<br />
geheiratet – war ja nicht nötig. Wo Liebe herrscht, braucht es ja<br />
dafür nicht zwingend einen Trauschein, oder? Meine Stieftochter<br />
war unsere Trauzeugin – wir mussten ja für die Zukunft vorsorgen.<br />
AHV und so.»<br />
«Weil ich so viel arbeitete, blieb mir wenig Zeit, um nachzudenken.<br />
Zu müde, zu erschöpft fühlte ich mich. Trotzdem, über Wirtschaft<br />
weiss ich alles, die Börsen in aller Welt sind mir nicht fremd.<br />
Astrologie fasziniert mich. Die Zusammenhänge ergründen, die<br />
grossen, die kosmischen. Naturverbunden sind wir auch, schöpfen<br />
Kraft, erfahren dort ganz intensiv unser Zusammensein, unsere<br />
Liebe. Das ist bereichernd, wunderbar. Nein, an Gott glaube ich<br />
nicht, war nie ein Thema in meinem Leben. Natürlich dürfen die<br />
anderen daran glauben – ich verlasse mich auf meine innere Stärke.<br />
Gott wird ja für viele Menschen erst dann ein Thema, wenn<br />
sie selbst keinen Ausweg mehr finden. Nein, dann zähle ich lieber<br />
auf meinen eigenen Überlebenswillen.»<br />
«Am 5. August, am Geburtstag meiner Frau, da verspürte ich ein<br />
Sodbrennen. Komisch, dachte ich und dann die Diagnose: Ein<br />
grosses, hässliches Krebsgeschwür zwischen Speiseröhre und Magen.<br />
Was nun? – Sofort operieren, erwiderte ich dem Arzt. Dann<br />
fuhr ich zur Arbeit, erledigte das Nötige und auf einem Flipchart<br />
erklärte ich meinen Kollegen, was genau Sache war.»<br />
«Drei Wochen waren vorgesehen, fünf Monate wurden es dann<br />
– teilweise auf der Intensivstation im Unispital, im Koma. Wirre<br />
Bilder, Träume verfolgten mich. Hundertfach stand ich auf einer<br />
vereisten Kreuzung irgendwo in Sibirien, Panzer und schwere<br />
Lastwagen fuhren unentwegt vorbei. Abends durfte ich in einer<br />
Hütte auf dem Fell schlafen – das war tröstlich. Eine Reisegruppe<br />
fuhr zu Maggi, um dort Kartoffelpüree zu essen. Ich bekam<br />
nichts, nie – das war grässlich, denn ich hatte riesigen Hunger und<br />
Durst. Mit meiner Frau konnte ich nicht sprechen, denn meine<br />
Stimme versagte – unzählige, quälende Tage lang. Wir sahen uns<br />
in die Augen, hielten uns die Hände – wussten, dass wir füreinander<br />
da sind, auch und gerade in schwierigen Zeiten. Es musste<br />
ja weitergehen, daran bestand nie ein Zweifel. Nein, mit dem<br />
Schicksal habe ich nie gehadert. Krebs ist eine Krankheit wie jede<br />
andere. Ich muss sie hinnehmen, akzeptieren – weiterschauen, in<br />
die Zukunft blicken. Den Augenblick geniessen. Grossvater bin ich<br />
geworden, vor einigen Wochen. Ein schönes Gefühl, zeigt doch,<br />
dass das Leben weitergeht. Strahlende Kinderaugen sind wie Kerzen<br />
in dunkler Nacht.»<br />
«Bald werde ich nochmals operiert. Doch dann, vielleicht nächstes<br />
Jahr, werden wir wieder Pilze sammeln, gemeinsam die Natur geniessen.<br />
So hoffe ich wenigstens – ja und wenn nicht? Gradlinig,<br />
schnörkellos, furchtlos werde ich meinen Weg weitergehen, wie<br />
immer, so bin ich eben. Klagen nützt nichts, ist Zeitverschwendung,<br />
oder?»
«Meinem Mann geht es plötzlich schlecht. Ich weiss nicht, ob er<br />
sich zu uns setzen wird. Früher, vor der hinterhältigen Krankheit<br />
buk mein Mann die Süssigkeiten. Er wollte ja ursprünglich Konditor<br />
werden, nicht Kaufmann. Seine beiden Töchter aus erster Ehe<br />
leben in Stuttgart, sind uns aber keine grosse Hilfe. Seit drei langen<br />
Jahren bin ich mehr oder weniger Tag und Nacht für ihn da.<br />
Früher konnten wir noch kleine Ausflüge machen. Ein kleiner Spaziergang<br />
im Quartier. Doch diese Zeiten sind vorbei – seit vielen<br />
Monaten schon ist mein Mann an den Rollstuhl gebunden. Sein,<br />
unser Lebenskreis wird immer kleiner, immer eingeengter. Kein<br />
Tag ist wie der andere. Nie wissen wir, wie viel Kraft er besitzt,<br />
wenn er morgens die Augen öffnet. Nichts lässt sich planen.»
«Jede Stunde, ja jede Minute müssen wir nehmen, akzeptieren,<br />
so, wie sie auf uns zukommt. Das ist schwierig, stimmt uns zuweilen<br />
auch traurig und nachdenklich. Wir sind überglücklich,<br />
dass wir zusammen in unseren eigenen vier Wänden uns auf den<br />
Abschied vorbereiten dürfen. Als Tierärztin hinterfrage ich vieles.<br />
Wurde deswegen schon oft als schwierig abgestempelt. Im Spital<br />
musste mein Mann darunter leiden. Seine Wünsche wurden nicht<br />
berücksichtigt. Ein Sterbender, der sich nicht aufgehoben fühlte<br />
in der Maschinerie und der Hektik dieser Institution. Die Anonymität,<br />
die Geschäftigkeit belasteten uns sehr. Wir wurden Mitglieder<br />
bei EXIT, haben uns erkundigt, führten auch schon Gespräche,<br />
das gibt uns zusätzlichen Halt.»<br />
«Ich hole jetzt meinen Mann. Er mag nicht mehr, schläft den ganzen<br />
Tag. Er hat mit dem Leben abgeschlossen – das gestand er mir<br />
vor kurzem erstmals ein.» Wenige Augenblicke später sitzt Herr<br />
Karst am Tisch. Ein beeindruckender Mann. Gefasst, würdevoll,<br />
beinahe aristokratisch wirkend. «Aus Baden (Baden-Württemberg)<br />
stamme ich. Meine Familie war tief religiös, Pietisten – deren<br />
gibt es viele in dieser Gegend. Nur das Wort Gottes ist Leitfaden,<br />
Richtschnur für das Handeln und Sein. Dann, als junger Mann,<br />
wurde ich als Soldat eingezogen. Nach Frankreich. Dort geriet ich<br />
in Gefangenschaft. Auf Reih und Glied mussten wir antreten. Geschossen<br />
wurde und meine Kameraden, links und rechts fielen<br />
vornüber, starben einen unwürdigen, leisen Tod. Ich überlebte<br />
und konnte fliehen. Zu Fuss den weiten Weg zurück in meine vom<br />
Krieg gezeichnete Heimat. Später arbeitete ich als Personalchef in<br />
einer Schmuckfirma in Pforzheim. Die Arbeit gab mir neue Kraft<br />
und half mir, den Glauben an die Menschen wieder zu finden.»<br />
Die Stimme versagt. Müde und erschöpft ergreift er die Hand seiner<br />
Frau. Sie erzählt weiter. Geschichten aus deren Leben.<br />
«Nur wenige Monate nach meiner Geburt musste mein Vater an<br />
die Ostfront. Geriet in Gefangenschaft. Als er nach vielen Jahren<br />
heimkehrte, stand ein fremder Mann vor mir. Nein, Sie sind nicht<br />
mein Vater. Dies ist mein Vater – ich zeigte auf ein kleines, vergilb-<br />
tes Bild, das bei uns auf dem Regal stand. Mutter war herzkrank.<br />
Musste in Dresden weit laufen, um Brot für die Familie zu kaufen.<br />
Meine Schwester und ich fürchteten uns, wussten nie, ob sie zurückkehren<br />
würde. Dann, die Nacht des Grauens, die Bombardierung<br />
dieser wunderschönen Stadt. Im Keller verbrachten wir die<br />
endlosen Stunden. Nie werde ich das vergessen. Nein, nicht die<br />
Toten sind es, sondern die Schreie der Verletzten, der Flehenden,<br />
die Hilflosigkeit, die bis heute immer wieder ihre Schatten werfen.<br />
Unsere Erfahrungen im Krieg verbinden uns, schweissen uns zusammen.<br />
Unsere Liebe basiert auf Vertrauen, Hochachtung und<br />
Hingabe. Was ich für ihn tue, würde er genauso für mich machen.<br />
Loyalität, das zählt, gibt Kraft und Gewissheit, nie alleine gelassen<br />
zu werden.»<br />
«Mit der Liebe, ja das war schon so eine Angelegenheit. Ich fühlte<br />
mich unsicher. Die magische rote Lampe leuchtete rasch auf. Auszeit,<br />
Gefahr, aufpassen. Eine Freundin veranstaltete ein kleines<br />
Fest. Ein stattlicher Herr aus Deutschland war unter den Gästen.<br />
Er wirkte etwas verhalten, unbeholfen. Das weckte mein Interesse.<br />
Wir schlossen eine Wette ab. Ich verlor und wir trafen uns<br />
daher in einer Eisdiele. Dann, ja dann, war das Eis gebrochen.»<br />
Die Blicke der beiden treffen sich. Ein verschmitztes, ja mädchenhaftes<br />
Lächeln huscht über ihr Gesicht. «Nun muss ich meinen<br />
Mann wieder hinlegen. Er mag nicht mehr.» Schweigend, beinahe<br />
lautlos verlassen sie das Wohnzimmer.<br />
«Ein Pferd, ein Schimmel, der gehört zu unserer kleinen Familie.<br />
Diese Dynamik, die stolze Haltung, das Aufbegehren, das alles<br />
beeindruckt mich. Oft verbringe ich meine Zeit dort. Schau dem<br />
Tier bei seinem Auslauf zu. Versinke in alte Erinnerungen, als mein<br />
Mann noch mitkam und ebenfalls seine helle Freude an diesem<br />
wunderbaren Hengst hatte.»<br />
«Ja es tut weh, zuschauen zu müssen, wie das Liebste immer<br />
hilfloser wird, sein Abschied immer näher rückt. Sein Lebenswille<br />
nachlässt. Ich werde ihn begleiten bis zu seinem letzten Atemzug.<br />
Das ist Ehrensache, das ist Liebe.»
«Meine Mutter verbrachte ihre Jugend in der Lenzerheide. Ihr Vater<br />
war Schuhmacher. Viele Geschwister, eine Grossmutter mussten<br />
ernährt werden. Da kam es oftmals vor, dass das junge Mädchen<br />
bis spät in die Nacht geflicktes Schuhwerk nach Parpan oder<br />
in andere umliegende Gemeinden austragen musste. Die Schule<br />
besuchen und auch im Haushalt fleissig mithelfen, dies war ihre<br />
Aufgabe. Die Berge, die Natur stärkten ihre Seele, machten aus ihr<br />
einen herzlichen, unkomplizierten Menschen.» Sein Vater stammt<br />
aus Peking. Früh schon verlor er den Vater. Ein Onkel, Politiker<br />
aus einer angesehenen Händlerdynastie, schaute nach dem Jungen.<br />
Wohlhabend und noch ganz im Konfuzianismus verwurzelt,<br />
wuchs er auf. Der Stiefvater, der Bruder seines Vaters, fördernd,<br />
unterstützend, die Schwiegermutter – aristokratisch, unnahbar.<br />
1947 gewann er ein Stipendium und damit den Zugang zur Universität.<br />
Bald darauf brachen die Unruhen aus. Mao übernahm die<br />
Macht und der junge Student blieb für immer im fremden Land.<br />
An der Hochschule studierte er und verdiente sein Geld mit dem<br />
Zeichnen von Kalligrafien. Dort in der Kantine begegnete er einer<br />
jungen Frau, die in Zürich als Au-Pair-Mädchen und im Service<br />
ihren Lebensunterhalt verdiente. Hier der feingliedrige, exotische<br />
Student, dort das stramme, rotbäckige Mädchen von der<br />
Alp. Dann geschah, was geschehen musste. Sie war schwanger.<br />
Die Reise in die Lenzerheide war nicht einfach, denn ihr Grossvater<br />
war ja streng katholisch, ihre Brüder breitschultrig, gross und<br />
stark. Nicht einfach für den kleinen Chinesen und seine Braut. Da<br />
sein Vater den Flüchtlingsstatus besass, konnten seine Eltern nicht<br />
heiraten, denn sonst hätte seine Mutter das Bürgerrecht verloren.<br />
«Ja, so waren damals noch die Bräuche!»
«Schwamendingen, dort wuchsen meine beiden Brüder und ich<br />
auf. Eine Jugend, wie sie Tausende von Kindern erleben. Streiche,<br />
Spiele auf der Strasse. Ein buntes, unbeschwertes Treiben. Früh<br />
schon ärgerte ich mich über den Kleingeist und die Ungerechtigkeiten.<br />
Immer wurden die Gleichen für ihre kleinen Sünden grob<br />
bestraft, obwohl jedermann wusste, dass die Übeltäter andere<br />
waren. Mein Vater lebte in seiner eigenen, verschlossenen Welt.<br />
Eine Krankheit aus der Jugendzeit brach wieder aus und seine<br />
Seele blieb verschlossen, geprägt von der Vergangenheit. Doch,<br />
und das werde ich nie vergessen, in einer lauen, sternenklaren<br />
Nacht nahm er mich bei der Hand, und wir schauten gemeinsam<br />
in die leuchtende Pracht des Universums. Mit leiser Stimme erklärte<br />
er mir die Geheimnisse der funkelnden Sterne. Geraume<br />
Zeit später legte er mir wortlos ein Buch über Sternkunde auf<br />
meinen Nachttisch. Aus den nötigen Materialien bastelte ich mir<br />
ein Teleskop, denn von da an wollte ich genau wissen, was die<br />
Unendlichkeit für Geheimnisse barg. Die Ausflüge zu unseren Verwandten<br />
in die Berge waren immer voller Freude und Abenteuer.<br />
Die Wälder, Flüsse, die Weite des Tales, die unkomplizierten Spielgenossen<br />
mit ihrem eigenen Dialekt, das gefiel mir ganz besonders.<br />
An Weihnachten traf Post aus der ganzen Welt ein. Fotos<br />
von exilierten chinesischen Familien mit Kindern, von Freunden<br />
meines Vaters aus der alten Heimat. Mahnend erhob er dann den<br />
Finger und erklärte uns, dass die Kinder allesamt studierten. Ich<br />
hasste diese Eierköpfe mit ihren Harry-Potter-Brillen. Doch auch<br />
ich fand den Weg ans Gymnasium. Der Schul- und Notenterror<br />
war grässlich und wurde erst erträglich durch die spannenden<br />
und abwechslungsreichen Mittagstreffen im Mittelschulfoyer.<br />
Dort wurde nicht nur über Gott und die Welt diskutiert, nein, dort<br />
versammelten sich auch junge Frauen der «Tö»! Das Gitarrenspiel<br />
und die Liebe und Bewunderung für Bob Dylan entdeckte<br />
ich auch in dieser aufregenden Zeit. Linke sind bessere Menschen,<br />
dachte ich. Spätestens an einer Demonstration in Winterthur, als<br />
alle Solidaritätsparolen skandierten und weiterliefen, als ich tätlich<br />
angegriffen wurde, hegte ich meine diesbezüglichen Zweifel. Drei<br />
Jahre war ich Reallehrer, nachdem ich das Oberseminar absolviert<br />
hatte. Dann ging es zum Psychologiestudium an die Uni. Das waren<br />
aufregende Jahre. Bald wurde mein Talent für das Entwickeln<br />
von Software entdeckt, und ich durfte meine Fähigkeiten im Rechenzentrum<br />
der Uni anwenden. Das war natürlich eine Adrenalinspritze<br />
für einen eher etwas in sich gekehrten jungen Mann.<br />
Auch bei Ringier war ich ein gerne gesehener Spezialist. Dann, ja<br />
dann gründete ich mein eigenes Unternehmen. Mitten in Zürich<br />
hatten wir unsere Büros. Den Aufenthaltsraum teilten wir uns mit<br />
den Angestellten der anderen Unternehmungen, die sich auch in<br />
dieser Liegenschaft befanden. Dort traf ich meine Frau. Aus Zuneigung<br />
wurde in Windeseile Liebe, eine tiefe, unerschütterliche<br />
Liebe, die unvermindert anhält.»<br />
«Im letzten Herbst verbrachte ich mit meiner Tochter und Freunden<br />
Ferien am Roten Meer. Ich fühlte mich müde, abgespannt,<br />
dachte, das Herz streike, denn ich war ja ein bekennendes Arbeitstier<br />
– Zigaretten, Kaffee meine ständigen Begleiter.»<br />
«Nein, das Herz ist es nicht», erklärte mir mein Freund, der Arzt.<br />
«Dann die Diagnose: Lungenkrebs, Lungenkrebs im Alter von<br />
fünfzig Jahren, mit einer lieben Frau und einer wundervollen dreizehnjährigen<br />
Tochter. Es war, als ob die Welt stillstehen würde,<br />
als ob der Wind versteinerte. Leise, unmerklich begannen sich die<br />
Dinge, die Menschen, meine Lieben wieder zu bewegen. Doch zu<br />
meinem grossen Erstaunen, zu meiner Überraschung und Freude<br />
war die frühere Hektik wie weggefegt. Plötzlich hatte ich Zeit,<br />
Musse, all die Schönheiten der Natur genau, innig und mit allen<br />
Sinnen zu betrachten, zu berühren, zu entdecken. Welch eine<br />
grosse Gnade. Nein, den Tod fürchte ich nicht. Ein Herzinfarkt, du<br />
fällst um wie ein gefällter Baum – aus und vorbei. Ich dagegen<br />
habe Zeit, Zeit, mich vorzubereiten. Wie ein Schnellzug, der in<br />
den Bahnhof einfährt, so fühle ich mich. Oft höre ich die alten<br />
Lieder von meinem Idol, Bob Dylan. Sie bedeuten mir plötzlich<br />
nicht mehr so viel. Die Stimme, zu aufreizend. Die Texte, zu viele<br />
Fragen – Fragen ohne Antworten. Oft schliesse ich die Augen,<br />
kehre in mich, bin ganz bei mir, ruhe in mir selbst, geniesse die<br />
Stille und die Leere, so wie damals, als ich staunend an der Hand<br />
meines Vaters das Leuchten der Sterne bewunderte. Ruhig, gefasst<br />
gehe ich meinen Weg, ohne Angst und ohne Selbstmitleid.<br />
Die Liebe, die Fürsorge meiner grossartigen Frau und meiner lebensfrohen<br />
Tochter geben mir Kraft, geben mir Sicherheit. Nur die<br />
Liebe, nur diese eine Liebe zählt.»<br />
«Schauen Sie sich den Sternenhimmel an, dieses unendliche Licht<br />
– strahlend auch dann noch, wenn der Stern bereits erloschen ist.<br />
Wie klein und unwichtig sind wir in diesem grossen Universum!<br />
Ich lebe hier und jetzt. Morgen, übermorgen. Wir werden alles<br />
getrost annehmen, mit offenem Herzen akzeptieren und dankbar<br />
sein für die erhaltene Liebe, für den begrenzten Aufenthalt in der<br />
Natur, in dieser Welt.»
«In Schwamendingen, in der Au, bin ich als jüngstes von fünf Mädchen aufgewachsen.<br />
Mein Vater arbeitete als Strassenteerer. Als städtischer Arbeiter lebten wir in<br />
einem kleinen Häuschen, ohne Zentralheizung, aber mit einem riesigen Garten. Alles<br />
war sehr einfach, Platz war wenig vorhanden. Ich schlief im Elternschlafzimmer.<br />
Meine Geschwister gingen ihre eigenen Wege, denn sie waren ja viel, viel älter<br />
als ich. Ich hörte ihren Geschichten zu, erfuhr von Dingen, die mir weitgehend unbekannt<br />
waren. Oft hänselte ich sie, dann merkten sie, da war ja noch die kleine<br />
Schwester, das Nesthäkchen. Unsere Mutter war sehr streng mit uns, dominant,<br />
unerbittlich. Sie versorgte den ganzen Haushalt, schaute, dass das spärliche Geld<br />
ausreichte. Putzte, Akkordbüglerin war sie auch, ja, das gab es damals noch. Wenn<br />
Vater von der Arbeit zurückkam, schuftete er im Garten. Obstbäume, Gemüsebeete,<br />
Kaninchen, all dies musste gepflegt und gehegt werden, half uns über die Runden.<br />
Noch heute isst eine meiner Schwestern kein Kaninchenfleisch. Mama kam aus<br />
einer wohlhabenden Familie. Verbrachte eine unerfreuliche Jugend. Immer wieder<br />
musste sie sich anhören, dass sie der Grund für die Heirat war. Sie hütete ein<br />
schreckliches, grauenvolles Geheimnis. An ihr wurde ein Verbrechen begangen. Das<br />
prägte sie, das belastete diese Frau, Mutter von fünf Mädchen. Mein Vater musste<br />
als Verdingbube auf einem Bauernhof viel und hart arbeiten. Da blieb keine Zeit für<br />
Liebe und Verständnis. Sein Erzeuger arbeitete als Melker, kümmerte sich nicht um<br />
die beiden Söhne und zog von Hof zu Hof. Seine Mutter verstarb schon früh.»
«Beim Tanzen lernten sich die beiden kennen. Hofften auf ein<br />
besseres Leben, glaubten an die Liebe, an Nähe und Verständnis.<br />
Die Schatten waren aber zu dunkel, zu lang. Ihre Wünsche, ihre<br />
Sehnsüchte gingen nicht in Erfüllung. Harte Arbeit, der freudlose<br />
Überlebenskampf prägte ihren, unseren Alltag.»<br />
«Als Kind war ich viel krank. Dann, und nur dann, kümmerte sich<br />
meine Mutter um mich. Gab mir Ratschläge, ich verspürte so etwas<br />
wie Verständnis, erlebte einen Hauch von Zärtlichkeit. Am<br />
Esstisch erzählte uns Vater von der Arbeit, wir hörten stumm zu.<br />
Plötzlich, unvermittelt, wurde eine Tochter mit gepacktem Koffer<br />
vor die Haustüre gesetzt. Wegen Kleinigkeiten, wegen einer Lappalie.<br />
Wer gegen die Regel verstiess, wurde von unserer Mutter<br />
abgestraft. Das führte dazu, dass viele meiner Geschwister während<br />
Jahren keinen Kontakt mehr mit den Eltern pflegten. Auch<br />
ich durchlebte eine solche Zeit. Vater besass ein Motorrad. Viele<br />
Stunden fuhr er damit durch die Gegend, liess sich den Wind<br />
um die Ohren blasen, genoss die sorgenlosen Augenblicke. Dann<br />
kehrte er nach Hause zurück, arbeitete, erfüllte seine Pflicht – malochen,<br />
immer wieder malochen, im Garten und als Teermeister.<br />
Müde von all diesen Anstrengungen zog er sich schweigend zurück,<br />
schlief auf dem Sofa ein. Meine Mutter brachte mich in den<br />
Kindergarten. Ein Kindergarten ausserhalb des Quartiers. Daher<br />
kannte ich niemanden dort. Fühlte mich einsam. Erst ein Jahr<br />
später wechselte ich in die unmittelbare Gegend. Dort lernte ich<br />
dann auch einige Kinder kennen. Ich durfte niemand mit nach<br />
Hause nehmen. Wir hatten ja nicht genügend Platz; das wollte<br />
meine Mutter nicht. Doch die Küchentüre, die stand immer offen,<br />
führte in den grossen, riesigen Garten. Dieser bedeutete für mich<br />
die Freiheit, dort entdeckte ich meine kleine Welt, die Käfer, die<br />
Ameisen, die summenden Bienen, all dies erwärmte mein Herz,<br />
erfüllte mich mit grosser Freude. Bis zur Hecke, nur bis zur Hecke<br />
durfte ich gehen. Das war eine dieser unumstösslichen Gesetze.<br />
Schon als junges Mädchen las ich unzählige Bücher. Fasziniert von<br />
all diesen spannenden Geschichten, diesen Abenteuern, tauchte<br />
ich ein in die grosse, unbekannte Welt. Berauschend!»<br />
«Irgendwann stand ein Auto vor der Türe. Jahrelang hatte mein<br />
Vater dafür gespart. Wir fuhren ins Tessin, ja einmal verbrachten<br />
wir sogar Ferien in Rimini. Unsere Gastfamilie zog während dieser<br />
Zeit in den Keller und wir verbrachten die schönsten Tage des<br />
Jahres in ihrer Wohnung. Das war aussergewöhnlich, unglaublich.<br />
Pizza, Sonne, Meer, all die tollen Italiener. Umzug in eine Vorortsgemeinde<br />
in der Nähe des Flughafens. Mein Vater fand dort<br />
eine Stelle als Zentrumshauswart. Ich war todunglücklich. Weg,<br />
weg von meinem Garten, meiner Welt, ab in eine kleine, miefige<br />
Wohnung in einer grauen, unpersönlichen Siedlung. Endlich war<br />
die Schule beendet. Ein Haushaltsjahr in der grossen Stadt folgte.<br />
Ich genoss die neuen Freiheiten. Black out, Mascotte, dort tanzten<br />
wir. Das Neue erforschen, Begegnung mit den Männern. All dies<br />
kannte ich ja nur aus dem «Bravo», das mir meine Mutter kommentarlos<br />
auf den Küchentisch legte. Es war eine wilde, bunte,<br />
aufregende Zeit. Bald hatte ich meine eigene kleine Wohnung<br />
– alle wollten zu mir kommen. Spaghetti kochen, der Enge des<br />
Alltags, dem kleinbürgerlichen Mief entrinnen.»<br />
«An der Fasnacht begegnete ich erstmals meinem Mann. Zuerst<br />
beachtete ich ihn kaum. Doch schon bald änderte sich das! Ein<br />
neues Leben begann für mich. Wir wussten, dass wir für immer<br />
zusammengehören, dass es die grosse Liebe ist und heute, nach<br />
22 Jahren, immer noch ist. Wir waren jung, sehr jung, kaum viel<br />
mehr als zwanzig Lenze alt. Trotzdem heirateten wir. Voller Abenteuerlust<br />
fuhren wir mit unserem Golf GTI und unserem Vierbeiner<br />
in den Süden, nach Spanien, auf die Hochzeitsreise. Unzählige<br />
Reisen haben wir unternommen. Nach Syrien, in den Jemen,<br />
Kreuzfahrten. Neue Eindrücke, fremde Länder.»<br />
«Mein Darm war es, der mir immer wieder Kopfzerbrechen bereitete,<br />
mir Sorgen machte. Ich habe Darmkrebs. Das war meine<br />
Aussage, meine Befürchtung. Schon eine meiner Schwestern und<br />
mein Vater sind an dieser Krankheit gestorben. Meine Vermutung<br />
bestätigte sich, wurde zur bitteren Wahrheit – Lebenserwartung,<br />
fünf Jahre. Operationen, Bestrahlungen folgten. Zehn Jahre arbeitete<br />
ich am selben Ort. Mir wurde gekündigt, der mühsame Gang<br />
zu den verschiedenen Ämtern folgte. Eine leid- und schmerzvolle<br />
Erfahrung. Ich verlor viele meiner sozialen Kontakte, wurde ein<br />
zweites Mal vom Leben bestraft. Selbstmitleid, Wut verspüre ich<br />
nicht. Ich glaube daran, dass nach dem Tod etwas Neues beginnt,<br />
dass ich auf einer Kreuzung stehe und einen anderen Weg einschlagen<br />
werde. Die Diagnose hat mein Leben verändert. Ich sehe<br />
genauer hin. Erlebe die kleinen Freuden des Alltages bewusster,<br />
intensiver. Ärgere mich nicht mehr über Kleinigkeiten. Traurig<br />
stimmt mich einzig und allein, dass ich mich an der Wegscheide<br />
von meinem wunderbaren Mann verabschieden muss, dass wir<br />
dann eigene Wege gehen werden.»<br />
«In einem Kloster in den Bergen begegnete ich vielen Menschen<br />
mit dem gleichen Schicksal. Dort erfuhr ich viel Nächstenliebe,<br />
tauchte ein in eine für mich völlig neue und fremde Welt. Die<br />
Welt der Rituale, des Lichtes. Das war eine sehr bereichernde und<br />
tiefgreifende Erfahrung. Ich ging als Raupe dorthin und verliess als<br />
farbenfroher Schmetterling diesen Hort der Begegnung.»
«Als ich aus der Operation erwachte und mich im Spiegel betrachtete,<br />
da erschrak ich.» «Das kann, das darf es nicht sein. Reiss dich<br />
zusammen, das Leben muss weitergehen.» «Wir lieben uns, lieben<br />
uns noch inniger als vor dem Unglück. Ich kann meine Frau doch<br />
nicht im Stich lassen! So, jetzt doch nicht! Ach wissen Sie, wäre<br />
ich alleine gewesen, ja, wer weiss, was dann geschehen wäre. Geschenkte<br />
Jahre waren die verflossenen, wie eine Zugabe in einem<br />
Konzert. Unerwartet und daher so grenzenlos bereichernd. Wir<br />
sind glücklich, sind füreinander da. Meine Frau muss ja die Dreckarbeit<br />
machen. Sie ist ängstlich – war schon immer so. Ich ermuntere<br />
sie dann, richte sie auf. Bauchschmerzen plagten mich – vor Jahren<br />
schon. Ich dachte, das würde vorübergehen. Dann war es Darmkrebs.<br />
Nein, mit dem Schicksal habe ich nicht gehadert. Hingenommen<br />
habe ich diese niederschmetternde Nachricht. Pech gehabt.<br />
Punkt. Vorwärtsschauen, was bleibt mir denn anderes übrig?»
«Ein uneheliches Kind bin ich. Mein Vater war ein Lebenskünstler,<br />
Weltenbummler, Nichtsnutz – je nachdem, je nach Sichtweise.<br />
Einziges Kind eines Briefträgers aus Wädenswil. 1929, der Zürichsee<br />
war zugefroren und Fasnacht wurde gefeiert, überquerte er<br />
das Eis. In Stäfa traf er sie, meine Mutter, Textilarbeiterin aus dem<br />
Tessin. Dort geschah es, und wenig später wurde ich in Zürich<br />
geboren. In ein Heim für eben solche Kinder wurde ich gesteckt.<br />
Er war nicht da, kam und ging, mein Vater. Arbeitete auf fremden<br />
Bauernhöfen, mal da, mal dort. Bis nach Frankreich verschlug<br />
es ihn. Mit sechs Jahren nahm ich ihn erstmals bewusst wahr.<br />
Trotzdem, wir liebten uns. Eher wie ein guter Onkel als wie ein<br />
Vater. Ich schwänzte die Schule, um meinen Erzeuger am Bahnhof<br />
in die Arme zu schliessen – das waren Glücksmomente! Ach,<br />
wo war ich stehen geblieben? Richtig, im Säuglingsheim blieb ich<br />
nur für kurze Zeit, denn mein Grossvater kam, sah und entschied,<br />
dieses Buebli mitzunehmen. So wuchs ich also bei meinen Grosseltern<br />
auf. Ich hatte eine schöne Jugend – ja, das kann ich ruhig<br />
sagen. Schon sehr früh lebte ich mein eigenes Leben. Bewegte<br />
mich in meiner Welt. Schwierig, rebellisch sei ich gewesen. Die<br />
Grossmutter stammte aus dem Muotathal, aus der Innerschweiz,<br />
katholisch. Das war zu dieser Zeit viel zu viel für Wädenswil. Ihr<br />
Ehemann hatte klare Vorstellungen von Gut und Böse. Immer geradeaus,<br />
ja nie links und rechts hinschauen. Stur, ein Dickschädel<br />
eben. Am Zahltag wurden die guten Vorsätze ignoriert. Betrunken<br />
kam er nach Hause, schrie und tobte. Ein Monatsendtrinker<br />
eben. Ich grenzte mich ab, schlich mich des Nachts aus den gemeinsamen<br />
vier Wänden und entdeckte meinen eigenen Kosmos.<br />
Die Mitschüler hänselten mich. Unehelich, pätsch. Ich wehrte<br />
mich, natürlich, das liess ich mir nicht gefallen. Mein guter Ruf litt<br />
darunter. Da war es verständlich, dass ich plötzlich in einem Heim<br />
landete. Im Albisbrunn.»<br />
Was soll aus diesem Jungen werden? Schreiner, Mechaniker, Gärtner?<br />
«In der Gärtnerei versuchte ich mein Glück. Als ich dann<br />
über Weihnachten nur kurz nach Hause durfte, wurde es mir dort<br />
zu bunt. Ich verschwand. In die Westschweiz. Dort hatte ich Verwandte.<br />
Das war für mich eine andere Welt. Toll fand ich das. Ich<br />
kehrte zurück ins Heim. Aber schon bald ging meine Reise weiter.<br />
Nicht nach Wädenswil, nein, nach Zürich zu meiner leiblichen<br />
Mutter, die nun Meier hiess. Zu meinem Halbbruder. Ich hatte ja<br />
noch zwei im Tessin, komisch, finden Sie nicht auch? Der Meier<br />
sah mich und entschied, dass ich bei ihnen bleiben soll. Meier<br />
Transporte & Kohle. War ein aufrichtiger Mann. Bodenständig.<br />
Da gab es keine emotionalen Zusatzschlaufen. Bei uns wurde viel<br />
gesungen, gelacht. Die Familienmitglieder aus der Sonnenstube<br />
reisten an, versprühten ihre Lebensfreude. Das waren glanzvolle<br />
Zeiten. Nein, oh Gott, Vereinsmitglied war ich nie. Eher Einzelgänger.<br />
Über einen Sieg des FCZ freute ich mich. Eine Niederlage<br />
nahm ich gelassen hin. Meier schuftete, war da für die Familie,<br />
konnte sich aber auch handgreiflich durchsetzen. Dann, wenn er<br />
sich ungerecht behandelt fühlte. Ein Polizist am Bellevue musste<br />
das einmal schmerzlich erfahren.»<br />
«Maurer habe ich dann gelernt. Das gefiel mir, machte mir Spass.<br />
Eine kaufmännische Ausbildung, das Technikum habe ich anschliessend<br />
noch besucht und abgeschlossen. Dort, in der vorderen<br />
Reihe entdeckte ich sie, die hübsche, etwas schüchterne<br />
Frau. Wir haben geheiratet. Viel Arbeit wartete auf uns. Zuerst ein<br />
eigenes Geschäft, Baustellen, Hektik, das irre Auf und Ab. Jahre<br />
später, Bauführer, dann Angestellter. Die Zeit verging. Gute, schöne<br />
Augenblicke, mit einer grossartigen Frau an meiner Seite.»<br />
«Drei Monate lag ich im Bett. In einem Spitalbett in Männedorf.<br />
Plötzlich, unverhofft, von der Überholspur auf die Kriechspur, vom<br />
fünften in den zweiten Gang schalten. Vom Akteur zum Zuschauer.<br />
Schwierig, eine neue Aufgabe. Doch was will ich? So ist das<br />
Leben. Eine permanente Herausforderung. Ich habe sie angenommen.<br />
Plötzlich Zeit im Überfluss. Ruhe, Stille. Die drei Spatzen auf<br />
dem Fenstersims wurden meine Freunde. Zeigten mir, dass das<br />
Leben weitergeht. Auch für mich. Das ist gut so. Trotz meiner<br />
Krankheit entschieden wir uns, eine Reise in die USA zu unternehmen.<br />
Ein lang gehegter Traum ging in Erfüllung. Schön war<br />
es, unvergesslich, niemand kann uns das wegnehmen.»<br />
«In meiner Freizeit befasse ich mich mit Computern. Das gefällt<br />
mir. Teile zu kaufen und sie zusammenzusetzen. Ich war schon<br />
immer en Chlütteri, en Baschtler. Früher habe ich Motoren auseinandergenommen.<br />
Alle Bekannten kamen und baten mich um<br />
Hilfe. Ruhiger ist es geworden, stiller.»<br />
«Meine Zeit auf Erden ist wie eine Theateraufführung. Am Ende<br />
des letzten Aktes fällt der Vorhang. Ratsch, von oben nach unten.<br />
Ende. Einige im grossen Auditorium fanden die Vorstellung gut,<br />
klatschen, wieder andere schütteln den Kopf. So ist es, wird immer<br />
so bleiben!»
«Nein, im Kongo wird kein Frieden einkehren. Die Bodenschätze,<br />
alle wollen davon profitieren. Die Alten und die Kinder müssen<br />
darunter leiden. Ich sende regelmässig Hilfsgüter, um den Ärmsten<br />
zu helfen. Immer wieder sammle ich, das schulde ich meinen<br />
Mitmenschen. Mein Vater war Lokomotivführer, reiste durch das<br />
ganze Land. Aufgeschlossen und unternehmungslustig. Eine junge<br />
Frau aus dem Nachbardorf sollte er heiraten. Eine Bekannte teilte<br />
der Familie mit, dass sie einen ganz besonders guten Charakter<br />
hat. Fünfzehn Jahre alt war sie. Wenig später wurde der Bund<br />
fürs Leben geschlossen. Doch schon bald starb eine Schwester und<br />
meine Mutter musste für die vier Waisen aufkommen. Das ist so<br />
üblich in der Gegend, aus der ich komme. Vier eigene Kinder kamen<br />
dazu. Ich war der zweitälteste. Eines Tages fehlte in unserer<br />
Gemeinde ein Pastor. Ja, wir sind Protestanten – Livingston war<br />
ja vor den Belgiern hier. Die Dorfältesten versammelten sich und<br />
wählten meinen Vater zum Nachfolger.»
«So wuchs ich also in einer Pastorenfamilie auf. Wir beherbergten<br />
viele Missionare aus aller Welt. Es wurde viel gesungen, diskutiert,<br />
gelacht und natürlich gebetet. Gott war allgegenwärtig. Fernsehen<br />
kannten wir nicht. Wir waren das Fernsehen. Wir erfanden<br />
Geschichten, spielten Fussball, rannten um die Wette. Grossartig,<br />
einfach schön war meine Jugend. Meine Eltern liebten sich innig,<br />
waren füreinander da. Jeder an seinem vom Schöpfer vorgegebenen<br />
Platz. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich eine höhere<br />
Schule besuche. 14 km zu Fuss – zur nächsten Gemeinde, das<br />
jeden Tag. Es war eine katholische Bildungsanstalt. Da musste ich<br />
mich in ihrem Glauben taufen lassen.» «Kein Problem», meinte<br />
mein Vater, «wir beten ja zum selben Gott!» «So kam es vor, dass<br />
ich morgens den katholischen und abends den evangelischen<br />
Gottesdienst besuchte. Mir gefiel das – es vermittelte Halt, gab<br />
Kraft und ich spürte etwas ganz Besonderes. Eines Tages, kaum<br />
war die Predigt beendet, brach mein Vater zusammen. Herzversagen.<br />
Meine Mutter litt Qualen – musste die Siedlung verlassen.<br />
Das ist so Brauch im Kongo. In die Hauptstadt flüchtete sie. Mühevoll,<br />
aufopfernd kämpfte sie für das tägliche Brot. Ich besuchte<br />
die Universität, studierte und wurde Pädagoge. Als junger Lehrer<br />
erlebte ich Ungerechtigkeit, Korruption. Das konnte ich als Christ<br />
nicht hinnehmen. Ich wehrte und exponierte mich. Gewerkschaften<br />
wurden gegründet, ich als Führer gewählt. Mitstreiter<br />
verschwanden. Gerüchte kursierten über Folter und Todschlag.<br />
Freunde verschwanden, wurden in den Kerker geworfen – nie<br />
wieder hörten wir von ihnen. Die Angst war unser ständiger Begleiter.<br />
Zwei Monate streikten alle Lehrer im Lande. Einige hatten<br />
über ein Jahr lang kein Gehalt mehr erhalten. Dann, plötzlich und<br />
unerwartet, meine Flucht. Diese endete hoch über dem Walensee<br />
im November 1984. Sechzig Menschen, Menschen aus allen Erdteilen<br />
– das gleiche Schicksal, die gleichen Hoffnungen. Der erste<br />
Schwarze – mit grossen Augen, mit viel Unmut wurde ich von den<br />
Einheimischen betrachtet.» «Du musst bei dir beginnen, wenn<br />
du die Welt verändern willst.» «Das waren Vaters weise Worte.<br />
Täglich zehn Wörter deutsch wollte ich lernen. Bald half ich den<br />
Kindern der Heimleiterin bei den Hausaufgaben. Zu Schulausflügen<br />
durfte ich mitgehen. Als Kellner, in der Metallindustrie und<br />
an vielen anderen Orten versuchte ich mein Glück. In Wil SG war<br />
es, eines Abends, ich wartete vergebens auf einen Bekannten. Da<br />
sass sie neben mir. Schon vorher war mir die hübsche blonde Frau<br />
aufgefallen. In unserem Restaurant bediente ich sie einige Male.<br />
Auch ihre Mutter kannte ich flüchtig. Nein, nein, einfach so mit<br />
dir weggehen, das will ich nicht. Wir trafen uns sonntags in der<br />
Kirche, immer wieder. Dann wurde sie schwanger und jetzt sind<br />
wir schon viele Jahre verheiratet, haben drei Kinder 18, 17 und 15<br />
Jahre alt. Die Familie bedeutet mir alles. Er ist mein Lebensmittelpunkt.<br />
Für mich ist es nicht immer einfach zu sehen, wie in der<br />
Schweiz, in diesem Land des Überflusses, viele junge Menschen<br />
alleine gelassen werden, verwahrlosen, Drogen konsumieren. Das<br />
schmerzt mich sehr. In Afrika ist das doch alles überschaubarer.<br />
Die Menschen sind hilfsbereiter und wissen um ihren Platz in der<br />
Gesellschaft. Sicher, auch dort beginnen diese Werte zu zerfallen.<br />
Das ist bedenklich und stimmt mich traurig.»<br />
«Vor einigen Monaten stolperte ich über ein Kabel, fiel hin und<br />
konnte mich nicht mehr erheben. Die Ärzte waren sehr besorgt.<br />
Untersuchungen folgten. Der Ungewissheit folgte die niederschmetternde<br />
Diagnose. Seit einigen Wochen sitze ich im Rollstuhl.<br />
Das Leben hat sich radikal verändert. Meinem Beruf als<br />
Emigrantenbetreuer kann ich nicht mehr nachgehen. Viel Zeit<br />
bleibt mir, um über alles nachzudenken. Die Beziehung zu meiner<br />
Familie ist noch inniger geworden. Plötzlich bekommt die Vergänglichkeit<br />
von uns Menschen ein Gesicht, wird zu einem alltäglichen<br />
Bestandteil meines Seins. Nein, kein hässliches Antlitz,<br />
nein! Erinnert euch an Moses und seine Leiden und die erfolgte<br />
Erlösung. Ich glaube an ein Leben nach dem Tode. Ich bin davon<br />
überzeugt, dass unser Vater weiss, was er tut und was er will.<br />
Dieser Glauben, diese Gewissheit gibt mir Kraft, gibt mir Mut und<br />
Hoffnung.»<br />
«In wenigen Tagen fahre ich für einige Wochen in den Kongo.<br />
Meine Mutter, ja meine Mutter hat gespürt, dass ihr Sohn gesundheitliche<br />
Probleme hat. Einer guten Mama kann niemand<br />
etwas vormachen. Natürlich freue ich mich auf den Besuch. Vielleicht<br />
wird es ein Abschied für immer sein. Ich bin gespannt zu<br />
sehen, wie sich das Land, meine Freunde verändert haben. Die<br />
Dämmerung, die verschiedenen Gerüche und Geräusche, ja sie<br />
werden mich an längst vergangene Zeiten erinnern, werden mich<br />
träumen lassen.»
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