10.11.2012 Aufrufe

Zum Jahresbericht 2009 - Onko Plus

Zum Jahresbericht 2009 - Onko Plus

Zum Jahresbericht 2009 - Onko Plus

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

20JAHREQualitÄt<br />

undERFAHRUNG<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong><br />

Behandeln<br />

Beraten<br />

Begleiten<br />

Informieren<br />

Koordinieren<br />

Fortbilden


Inhalt<br />

3 <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> auf einen Blick<br />

4 Bericht des Präsidenten<br />

5 Bericht der Geschäftsführerin<br />

6 Statistische Angaben<br />

8 Ein grosses Dankeschön<br />

1 0 Spenden haben viele Gesichter<br />

1 1 Bilanz<br />

1 2 Betriebsrechnung<br />

1 4 Bericht der Revisionsstelle<br />

16 Team<br />

18 Stiftungsrat<br />

19 Ärztebeirat<br />

20 Porträt Jan Habersaat<br />

21 Einblicke


3<br />

Auf einen Blick<br />

<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> verfügt über 20 Jahre Qualität und Erfahrung<br />

in spitalexterner <strong>Onko</strong>logie- und Palliativ-Pflege!<br />

Angebot:<br />

• 24-h-Erreichbarkeit für unsere Patienten<br />

• Management und Linderung von schwer behandelbaren Symptomen<br />

wie Schmerzen, Übelkeit /Erbrechen, Obstipation, Dehydratation u.a.<br />

• Antizipieren und damit Vorbeugen von akuten Krisensituationen<br />

• Installation und Betrieb von Schmerzpumpen (subkutan, intravenös,<br />

intraspinal oder peridural)<br />

• Verabreichung von diversen Blutderivaten, Infusionen, Antibiotikatherapien<br />

• Totale parenterale Ernährung<br />

• Durchführen von Chemotherapien<br />

• Unterhalt von Port-Systemen, Zentralvenenkatheter<br />

• Handhabung und Kontrolle von Sonden, Kathetern und Drainagen etc.<br />

• Organisation und Leitung von Round-Table-Gesprächen<br />

• Erstellen einer individuellen Patientenverfügung<br />

• Notfallplanung /vorausschauende Planung<br />

• AURIS (Begleitung von Sterbenden durch Mediatoren)<br />

• Sprechstunden (Klinik, onkologische Praxis)<br />

• proaktives Schnittstellenmanagement in der interdisziplinären Zusammenarbeit<br />

• Fortbildungen und Fallbesprechungen intern und extern<br />

Zielgruppe: Menschen, die an einer Krebserkrankung oder an einer anderen<br />

chronischen Krankheit leiden und zu Hause im Kanton Zürich betreut werden<br />

möchten.<br />

Zusammenarbeit: <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> arbeitet sehr eng mit allen für den Patienten wichtigen<br />

Institutionen und Personen zusammen: Hausärzte, <strong>Onko</strong>logen, Spitäler,<br />

Spitex-Organisationen, Krebsliga und Freiwilligen-Dienste.<br />

Kosten: Patienten können die Leistungen von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> über die Krankenkasse<br />

abrechnen.<br />

Fachpersonal: Sämtliche Pflegefachpersonen von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> sind hoch qualifiziert<br />

und verfügen über jahrelange Erfahrung in der <strong>Onko</strong>logie- und Palliativ-<br />

Pflege.<br />

Spenden: <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> ist zur Erfüllung ihrer Aufgabe auf Spenden angewiesen.<br />

PC 80-38332-6<br />

Auskünfte und Anmeldung: Eine Telefonnummer für den ganzen Kanton<br />

Zürich: 043 305 88 70. Erreichbar montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr.<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong>


Bericht des<br />

Präsidenten<br />

<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> wurde vor genau zwanzig Jahren von einer Gruppe engagierter<br />

<strong>Onko</strong>logen und zweier Pflegefachfrauen als private gemeinnützige Stiftung gegründet.<br />

Ihr Ziel war damals, krebserkrankten Menschen die spezialisierte Pflege<br />

und Betreuung zu Hause zu ermöglichen. Mit der Zeit hat <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> den Pflegeauftrag<br />

über die Krebspatientinnen und -patienten hinaus auf alle Menschen,<br />

die sich in einer palliativen Situation befinden, ausgedehnt. Heute versteht sich<br />

<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> mit ihrer langen Erfahrung als gezielte Ergänzung dort, wo onkologisches<br />

und palliatives Wissen sowie fachspezifische Erfahrung von den Grundversorgern<br />

nicht allein erbracht werden können.<br />

Von schwerer Krankheit betroffen zu sein oder dem nahenden Tod in die Augen zu<br />

schauen, bedeutet für viele Menschen und ihre Nächsten einen schweren Schicksalsschlag.<br />

Grösster Wunsch der Betroffenen ist es, zu Hause, in der vertrauten<br />

Umgebung, betreut zu werden. <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> strebt in enger Zusammenarbeit mit<br />

Hausärzten und lokaler Spitex danach, eine fachlich hoch qualifizierte Beratung<br />

und Betreuung sowie die Erreichbarkeit während 24 Stunden zu sichern und so<br />

einen Verbleib daheim auch in anspruchsvollen Situationen zu ermöglichen.<br />

In Zukunft wird eine grössere Anzahl Menschen in der letzten Lebensphase mehr<br />

Betreuung benötigen. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Bevölkerung in<br />

der Schweiz immer älter wird und unheilbare, chronische Krankheiten im Alter<br />

häufiger auftreten. Aber auch jüngere schwerkranke Patientinnen und Patienten<br />

mit Krebsleiden, neurologischen Leiden, infektiösen oder chronischen Krankheiten<br />

benötigen oft über längere Zeit umfassende Betreuung. Nur die sektorübergreifende<br />

Verknüpfung von medizinischen und pflegerischen Leistungen bietet<br />

den Betroffenen die Chance, bis zum Tod ein Leben in grösstmöglicher Autonomie<br />

zu führen und die letzten Lebenswochen nach Wunsch zu gestalten.<br />

Wir werden all unsere Angebote und Massnahmen weiterhin darauf ausrichten,<br />

ein bestmögliches Leben oder Sterben zu Hause zu gewährleisten.<br />

Dr. Urs Huber<br />

Präsident des Stiftungsrates<br />

Zürich, 13. April 2010<br />

4


Bericht der<br />

Geschäftsführerin<br />

Unsere Pflegefachkräfte waren rund um die Uhr unterwegs, um über 400<br />

schwerstkranke Patienten zu Hause zu betreuen. Das Augenmerk lag hauptsächlich<br />

in der Förderung beziehungsweise Erhaltung einer bestmöglichen<br />

Lebensqualität. Die Hauptleistungen von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> betrafen die Information<br />

und Beratung der Patienten und ihres sozialen Umfeldes in Hinsicht auf<br />

die Auswirkungen der Krankheiten auf den Alltag, die Linderung belastender<br />

Symptome, die psychosoziale Begleitung, Krisenintervention sowie vorausschauende<br />

Planung der Betreuung und Eventualplanung möglicher akuter<br />

Komplikationen (Notfallplanung), Organisation von Spitalentlassungen sowie<br />

Koordination und Vernetzung aller involvierten Personen und Organisationen.<br />

Auch galt es, bei Bedarf ein erweitertes Betreuungsteam inkl. freiwilliger bzw.<br />

ehrenamtlicher Mitarbeitender hinzuzuziehen.<br />

Im Idealfall wurde <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> bereits frühzeitig in die Austrittsplanung aus dem<br />

Spital einbezogen. Die grosse Erfahrung unseres Teams ermöglichte so eine<br />

antizipierende Planung für die Situation zu Hause, indem für das Eintreten<br />

möglicher Komplikationen wie Schmerzdurchbrüche, Atemnot und andere<br />

Symptome entsprechende Vorkehrungen getroffen wurden. Da sich mit dem<br />

Fortschreiten der Krankheiten und der Zunahme der Abhängigkeit von hoch<br />

spezialisierten Diensten zwangsläufig auch Fragen der Finanzierung stellen, unterstützte<br />

<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> lokale Spitex-Organisationen und die Mitarbeitenden in<br />

Heimen mit bedarfsgerechten Schulungen, um deren Handlungskompetenzen<br />

zu erweitern und so die Einsatzstunden von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> zu senken.<br />

In diesem Sinne sind sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter äusserst moti-<br />

viert, die hohe Qualität im Dienste der betroffenen Menschen zu erhalten und<br />

wo immer möglich noch weiter zu steigern. Dabei sind wir glücklich, auch<br />

weiterhin auf die gute Zusammenarbeit mit den lokalen Grundversorgern und<br />

Spitälern zählen zu dürfen.<br />

Daniela Vas<br />

Geschäftsführerin<br />

Zürich, 13. April 2010<br />

5<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong>


Statistische<br />

Angaben<br />

Anzahl der betreuten PatientInnen<br />

Total<br />

Alle Zahlenangaben in Prozent<br />

Geschlecht der betreuten PatientInnen<br />

Frauen<br />

Männer<br />

Alter bei Pflegebeginn<br />

18 – 29<br />

30 – 39<br />

40 – 49<br />

50 – 59<br />

60 – 69<br />

70 – 79<br />

Über 80<br />

6<br />

Gründe für die erste Kontaktnahme<br />

Fachliche Informationen<br />

Symptomatische Anämie<br />

Andere Symptome<br />

Schmerzen<br />

Medikamentöser Therapiebedarf<br />

Planung des Spitalaustritts<br />

Andere<br />

2008 <strong>2009</strong><br />

343 412<br />

2008 <strong>2009</strong><br />

56 48<br />

44 52<br />

2008 <strong>2009</strong><br />

1 1<br />

2 3<br />

9 8<br />

17 16<br />

32 24<br />

25 30<br />

14 17<br />

2008 <strong>2009</strong><br />

50 45<br />

6 8<br />

4 4<br />

17 19<br />

16 16<br />

7 8<br />

0 0


Die häufigsten Erkrankungen<br />

Verdauungstrakt und Peritoneum<br />

Atmungs- und Thoraxorgane<br />

Brust weiblich<br />

Genitalorgane weiblich und männlich<br />

Harnorgane<br />

Maligne Lymphome und Leukämie<br />

Andere Lokalisationen<br />

Unbekannte Lokalisation<br />

Nicht-maligne Erkrankung<br />

7<br />

Zustand der betreuten PatientInnen<br />

Zu hundert Prozent bettlägerig<br />

Mehr als zur Hälfte bettlägerig<br />

Weniger als zur Hälfte bettlägerig<br />

Nicht bettlägerig<br />

Uneingeschränkt körperlich aktiv<br />

Hauptleistung von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />

Symptomkontrolle<br />

Beratung der Betroffenen<br />

Schmerztherapien<br />

Verbandwechsel / Verweilkatheter<br />

Medikamentöse Therapien<br />

Koordination/Organisation<br />

Transfusionen<br />

Ernährung /Ausscheidung<br />

Schulung Fachpersonal<br />

Andere<br />

2008 <strong>2009</strong><br />

31 32<br />

16 18<br />

15 10<br />

11 12<br />

6 5<br />

5 8<br />

7 8<br />

0 0<br />

9 7<br />

2008 <strong>2009</strong><br />

17 15<br />

40 41<br />

36 37<br />

6 7<br />

1 1<br />

2008 <strong>2009</strong><br />

30 28<br />

24 27<br />

15 14<br />

13 9<br />

9 9<br />

4 4<br />

3 5<br />

1 2<br />

0 1<br />

1 1<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong>


8<br />

Ein grosses<br />

Dankeschön<br />

Ein grosses Dankeschön allen, die uns <strong>2009</strong> unterstützt haben.<br />

Spender ab CHF 1000.– in alphabetischer Reihenfolge<br />

ABZ Allgemeine Baugenossenschaft Zürich • Alfred + Bertha Zangger-<br />

Weber Stiftung, Riedikon • Bosson Daniel, Zürich • English Speaking<br />

Catholic Mission Zurich • Evang.-ref. Kirchgemeinde Wülflingen • Fanny<br />

Häuptli-Stiftung, <strong>Zum</strong>ikon • FäWa-Elektronik AG, Hinwil • François<br />

Grütter, Volketswil • Gemeinnütziger Frauenverein Bülach • Holcim<br />

(Schweiz) AG, Zürich • Hülfsgesellschaft, Zürich • Jacqueline und<br />

Peter F. Weibel, Zürich • Kath. Pfarramt St. Katharina, Zürich • Landfrauenvereinigung<br />

des Bez. Dielsdorf • Lotte + Adolf Hotz-Sprenger Stiftung,<br />

Zürich • Martha Bock Stiftung, Winterthur • Ref. Kirchgemeinde<br />

Küsnacht • Wistrag AG, Winterthur • Zürcher Kantonalbank<br />

und allen anderen Spendern, die nicht genannt sein wollen, sowie auch<br />

Spendern, die uns mit Sach- und Zeitspenden unterstützt haben.<br />

Trauerspenden in Gedenken an in alphabetischer Reihenfolge<br />

Bischofberger Matthias • Blaser Werner • Ehrbar Willi • Forney Françoise •<br />

Freiburghaus Rosmarie • Frey Albert • Gfeller Edgar • Hägeli Jürg,<br />

Hirzel Susanne • Holliger Roland • Huber Werner • Prof. Dr. Albert<br />

Huch • Keller Kurt • Küng Georges • Kunz Barbara Eva • Locatelli<br />

Michelle • Manser Anton • Meier Gottfried • Oberle-Greub Adelheid,<br />

Orlandi Bruno-Luigi • Piaget Marianne • Pulver René • Ramel Jeanne,<br />

Rebmann Urs • Rickenbach Elke • Rückmar Ida • Schmid Hans • Schmid<br />

Hans Rudolf • Schneebeli Walter • Stadler-Berger Christine • Trümpy<br />

Fredi • Weber Bruno R. und alle anderen, die nicht genannt sein wollen.<br />

Unseren Mitarbeitenden<br />

Der Geschäftsführerin Daniela Vas, der Pflegeleiterin Karin Ritt, der medizinischen<br />

Praxisassistentin Sonja Dürst, der Spitex-Delegierten Andrea Bühner,<br />

den Pflegefachpersonen Deborah Ackermann, Claudia Erne, Markus Feuz,<br />

Barbara Karasek, Margrit Reinhard, Susanne Shorter und Yvonne Wildi<br />

sowie unserer freien Mitarbeiterin Aneta Vujic.<br />

Unserem AURIS-Team unter der Leitung von Gabriella Mariani, welches<br />

unsere Patienten und ihre Angehörigen ehrenamtlich begleitet.


9<br />

Allen Stiftungsräten<br />

Namentlich unserem Präsidenten Dr. Urs Huber, dem Vizepräsidenten Werner<br />

Hoppler, den Mitgliedern Susanne Bernasconi, Silvia Schmid, Dieter<br />

Burckhardt, Peter Binz, Dr. Christoph Seitler und Dr. Andreas Trojan.<br />

Unserem Fachbeirat und Konsiliararzt<br />

Der Präsidentin des Ärztebeirates Dr. Heidi Dazzi, Dr. Urs Breitenstein,<br />

Dr. Luzius von Rechenberg, Dr. Lucas Widmer und Dr. Miklos Pless<br />

sowie unserem Konsiliararzt Dr. Andreas Weber.<br />

Allen Ärzten und Kliniken<br />

Den Haus- und Fachärzten, den <strong>Onko</strong>logen, <strong>Onko</strong>-Ambulatorien, Spitälern und<br />

Kompetenzzentren, mit denen wir im Berichtsjahr zusammengearbeitet haben.<br />

Allen Partnerorganisationen in alphabetischer Reihenfolge<br />

u.a. Blutspendezentrum Zürich • Fachstelle für Palliative Care Stadt Zürich •<br />

Hospiz Zürcher Lighthouse • Kispex • Krebsliga Zürich • Lungenliga •<br />

<strong>Onko</strong>logiepflege Schweiz • Palliativ Care-Netzwerk ZH/SH • ParaHelp •<br />

SEOP-Organisationen in der ganzen Schweiz • Spitex-Organisationen im<br />

ganzen Kanton Zürich • Spitex Verband Kanton Zürich • Spitex Verband<br />

Schweiz • Team Auris • Verein WABE • Zürcher Vereinigung zur Beglei-<br />

tung Schwerkranker ZVBS sowie allen Lieferanten, die uns rasch und kompetent<br />

unterstützen.<br />

Unserem Treuhänder und Revisor<br />

Simon Mehr und seiner Mitarbeiterin Irene Bucher sowie Hansjörg Etter von<br />

der Provida St. Gallen.<br />

Allen Familienangehörigen, Freunden und Bekannten<br />

die uns immer wieder bei verschiedenen Aktionen tatkräftig unterstützen;<br />

insbesondere Thomi Meier von Meier Kommunikation und Rodolfo Sacchi<br />

von Sacchi Design sowie dem Künstler Jan Habersaat, der nicht nur unsere<br />

Patienten für den Jubiläumsbericht porträtiert hat, sondern uns als Freund auch<br />

sonst stets unterstützt.<br />

Allen Angehörigen und Freunden<br />

der Betroffenen für ihre Kraft und ihren enormen Willen, mit dem sie ihren<br />

Liebsten die Betreuung zu Hause erst ermöglicht haben – ohne ihre tatkräftige<br />

Unterstützung wäre vieles nicht machbar gewesen.<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong>


10<br />

Spenden haben<br />

viele Gesichter<br />

Einfache Spende: Wir freuen uns über jede Einzelspende.<br />

Förderer: Förderer unterstützen uns jährlich mit mind. 80 Franken.<br />

Gönner: Gönner unterstützen uns jährlich mit mind. 500 Franken.<br />

Geschenke: Sie feiern ein Fest? Rufen Sie Ihre Gäste dazu auf, anstelle<br />

eines Geschenks eine Spende zugunsten von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> zu tätigen.<br />

Legate: Sie möchten mit Ihrem Nachlass etwas Gutes bewirken?<br />

Gerne informieren wir Sie unverbindlich über die diversen Unterstützungs-<br />

möglichkeiten.<br />

Spendenmailing: Sie möchten uns ein Spendenmailing ermöglichen?<br />

Wählen Sie die Grösse des Adressstammes aus.<br />

Benefizkonzert: Egal ob Privatperson, Verein oder Firma:<br />

Wir freuen uns über jedes Benefizkonzert zugunsten von <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />

und übernehmen für Sie gerne die Organisation des Anlasses.<br />

Weitere Ideen: Selbstverständlich sind wir für jede weitere Idee offen<br />

und freuen uns auf Ihre Vorschläge. Auch sind wir gerne bereit,<br />

unsere Organisation in Ihrem Wirkungskreis persönlich vorzustellen.<br />

Für Fragen: Daniela Vas, Geschäftsführerin, info@onko-plus.ch<br />

Tel. 043 305 88 70<br />

Wir sind auf Ihre Spende angewiesen<br />

Rund 40% der Kosten jeder einzelnen Pflegestunde muss <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> über<br />

Spenden finanzieren. Jede Spende wird sinnvoll und direkt eingesetzt, damit<br />

schwerstkranke Menschen mit Würde in ihrem Zuhause sterben können.<br />

Spenden können auch unter www.onko-plus.ch erfolgen.<br />

spendenkonto pC 80-38332-6


Bilanz<br />

11<br />

Vergleich<br />

Aktiven 31.12.09 31.12.08<br />

CHF CHF<br />

Flüssige Mittel 679‘788.44 730‘008.61<br />

Forderungen aus Lieferungen und Leistungen<br />

– gegenüber Dritten 115‘595.60 49‘280.90<br />

– Delkredere<br />

Andere kurzfristige Forderungen<br />

-11‘559.55 -4‘928.10<br />

– gegenüber Dritten 3‘784.75 1‘842.75<br />

Aktive Rechnungsabgrenzung 3‘189.85 3‘075.75<br />

Umlaufvermögen 790‘799.09 779‘279.91<br />

Büromobiliar 1.00 1.00<br />

EDV 5‘691.00 6‘261.00<br />

Fahrzeuge 1.00 1.00<br />

Materielles Anlagevermögen 5‘693.00 6‘263.00<br />

Anlagevermögen 5‘693.00 6‘263.00<br />

796‘492.09 785‘542.91<br />

Passiven 31.12.09<br />

Vergleich<br />

31.12.08<br />

Schulden aus Lieferungen und Leistungen<br />

CHF CHF<br />

– gegenüber Dritten 24‘475.50 39‘012.25<br />

Passive Rechnungsabgrenzung 90‘960.00 25‘370.00<br />

Kurzfristige Verbindlichkeiten 115‘435.50 64‘382.25<br />

Fremdkapital 115‘435.50 64‘382.25<br />

Einbezahltes Kapital (Stiftungskapital) 12‘000.00 12‘000.00<br />

Erarbeitetes Kapital 709‘160.66 779‘836.13<br />

Aufwandsüberschuss -40‘104.07 -70‘675.47<br />

Organisationskapital 681‘056.59 721‘160.66<br />

796‘492.09 785‘542.91<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong>


12<br />

Betriebsrechnung<br />

Vergleich<br />

<strong>2009</strong> 2008<br />

CHF CHF<br />

Ertrag Pflegedienst 271‘243.40 228‘871.65<br />

Veränderung Delkredere -6‘631.45 3‘283.55<br />

Debitorenverluste -6‘287.95 0.00<br />

Übriger Betriebsertrag 6‘023.00 3‘255.00<br />

Ertrag aus Leistungen 264‘347.00 235‘410.20<br />

Staatsbeitrag Kt. Zürich 33‘478.00 26‘373.00<br />

Beitrag Stadt Zürich 75‘000.00 100‘000.00<br />

Beitrag übrige Gemeinden 321‘149.70 170‘211.70<br />

Beitrag Krebsliga 0.00 22‘500.00<br />

Ertrag Beiträge 429‘627.70 319‘084.70<br />

Betrieblicher Ertrag 693‘974.70 554‘494.90<br />

Einkauf Medikamente /Med. Material -24‘340.85 -27‘244.65<br />

Personalaufwand -798‘004.25 -699‘694.60<br />

Büromiete -27‘872.30 -30‘243.55<br />

Unterhalt Fahrzeuge -30‘217.25 -29‘230.45<br />

Unterhalt Mobilien, Geräte -1‘551.50 -702.35<br />

Unterhalt EDV -15‘715.41 -9‘342.50<br />

Versicherungen, Abgaben, Gebühren -4‘995.65 -5‘664.85<br />

Büromaterial, Drucksachen -14‘789.90 -17‘647.50<br />

Telefon, Porti, Internet -20‘325.75 -14‘709.55<br />

Honorare Buchführung -12‘589.35 -12‘308.55<br />

Revisionskosten -1‘640.90 -1‘145.95<br />

Beratungen -5‘750.00 3‘820.00<br />

Helpline -4‘170.60 -2‘137.05<br />

Öffentlichkeitsarbeit -27‘112.10 -53‘171.25<br />

Übriger Betriebsaufwand -4‘671.60 -7‘053.70<br />

Zinsertrag 1‘456.15 4‘354.55<br />

Bankspesen -1‘384.90 -1‘286.85<br />

Ausserordentlicher Ertrag 11‘591.95 0.00<br />

Gewinn aus Verkauf Anlagevermögen 600.00 450.00<br />

Abschreibungen -4‘411.00 -3‘140.80<br />

Betrieblicher Aufwand -985‘895.21 -906‘099.60<br />

Betriebsverlust (Übertrag) -291‘920.51 -351‘604.70


13<br />

Vergleich<br />

<strong>2009</strong> 2008<br />

CHF CHF<br />

Betriebsverlust (Übertrag) -291‘920.51 -351‘604.70<br />

Spenden 225‘316.44 243‘679.23<br />

Legate 16‘000.00 22‘000.00<br />

Gönner 7‘800.00 9‘600.00<br />

Fördermitglieder 2‘700.00 5‘650.00<br />

Finanzierung Betriebsverlust 251‘816.44 280‘929.23<br />

Aufwandsüberschuss -40‘104.07 -70‘675.47<br />

Als Non-Profit-Organisation mit nicht kostendeckenden Tarifen ist <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />

dringend auf den Beitrag der öffentlichen Hand angewiesen, denn der Stundentarif<br />

für die Betreuung der Patienten durch hoch spezialisierte Pflegefachkräfte<br />

beträgt gemäss Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) lediglich 67 Franken.<br />

Nicht inbegriffen sind die Fahrtkosten, die aufgrund der kantonalen Tätigkeit<br />

(1729 km2 ) überdurchschnittlich hoch ausfallen sowie der Erhalt eines 24-Stunden-Pikettdienstes<br />

oder die Bereitstellung der technischen Hilfsmittel mit entsprechender<br />

Logistik für die Materialbeschaffung. Dieses Defizit muss zu einem<br />

grossen Teil durch Spendeneinnahmen gedeckt werden.<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong>


Bericht der<br />

Revisionsstelle<br />

Bericht der Revisionsstelle zur Eingeschränkten Revision an den<br />

Stiftungsrat der <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> Stiftung für mobile spezialisierte<br />

Palliativ- und <strong>Onko</strong>logiepflege, Zürich<br />

Als Revisionsstelle haben wir die Jahresrechnung (Bilanz und Betriebsrechnung)<br />

der <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> Stiftung für mobile spezialisierte Palliativ- und <strong>Onko</strong>logiepflege<br />

für das am 31. Dezember <strong>2009</strong> abgeschlossene Geschäftsjahr geprüft.<br />

Für die Jahresrechnung ist der Stiftungsrat verantwortlich, während unsere Aufgabe<br />

darin besteht, diese zu prüfen. Wir bestätigen, dass wir die gesetzlichen<br />

Anforderungen hinsichtlich Zulassung und Unabhängigkeit erfüllen.<br />

Unsere Revision erfolgte nach dem Schweizer Standard zur Eingeschränkten Revision.<br />

Danach ist diese Revision so zu planen und durchzuführen, dass wesentliche<br />

Fehlaussagen in der Jahresrechnung erkannt werden. Eine Eingeschränkte<br />

Revision umfasst hauptsächlich Befragungen und analytische Prüfungshandlungen<br />

sowie den Umständen angemessene Detailprüfungen der bei der geprüften<br />

Stiftung vorhandenen Unterlagen. Dagegen sind Prüfungen der betrieblichen<br />

Abläufe und des internen Kontrollsystems sowie Befragungen und weitere Prüfungshandlungen<br />

zur Aufdeckung deliktischer Handlungen oder anderer Gesetzesverstösse<br />

nicht Bestandteil dieser Revision.<br />

Bei unserer Revision sind wir nicht auf Sachverhalte gestossen, aus denen wir<br />

schliessen müssten, dass die Jahresrechnung nicht Gesetz und Stiftungsurkunde<br />

entsprechen.<br />

Provida Wirtschaftsprüfung AG<br />

Hansjörg Etter Christian Siebert<br />

zugelassener Revisionsexperte zugelassener Revisionsexperte<br />

Leitender Revisor<br />

St.Gallen, 23. Februar 2010<br />

14


Wir führen <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> zielgerichtet und<br />

organisieren den Pflegebetrieb effizient<br />

und kompetent. Für alle Fragen rund um<br />

die <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> stehen wir Ihnen gerne zur<br />

Verfügung.<br />

Unser diplomiertes Pflegefachpersonal<br />

ist speziell für die Betreuung von krebs-<br />

kranken Menschen ausgebildet und hat<br />

langjährige Erfahrung in der Diagnostik<br />

und Therapie von schwer behandelbaren<br />

Symptomen und Schmerzen.<br />

Team<br />

DANIELAVas<br />

Geschäftsleitung, MAS CRM<br />

SONJAdürst<br />

Administration, Medizinische Praxisassistentin<br />

DEBORAHaCkermann<br />

MAS Palliative Care, dipl. Pflegefachfrau DN II,<br />

FA Anästhesie, dipl. Case-Managerin NDS<br />

16<br />

KARINritt<br />

Leitung Fachbereich Pflege, dipl. Pflegefachfrau AKP,<br />

HöFa I <strong>Onko</strong>logie<br />

ANDREAbühner<br />

Spitex-Delegierte, dipl. Pflegefachfrau<br />

CLAUDIAerne<br />

Dipl. Pflegefachfrau AKP, HöFa I Akutpflege,<br />

cand. MAS Palliative Care


MARKUSfeuz<br />

MAS Palliative Care, dipl. Pflegefachmann AKP,<br />

HöFa I Pflege, dipl. Berufsschullehrer im<br />

Gesundheitswesen<br />

MARGRITreinhard<br />

Dipl. Pflegefachfrau AKP<br />

YVONNEWildi<br />

Dipl. Pflegefachfrau AKP, HöFa I Palliative Care,<br />

FA Anästhesie<br />

17<br />

BARBARAkarasek<br />

MAS Ethische Entscheidungsfindung im<br />

Gesundheitswesen, dipl. Pflegefachfrau AKP,<br />

HöFa I <strong>Onko</strong>logie<br />

SUSANNEshorter<br />

Dipl. Pflegefachfrau AKP, HöFa I Akutpflege,<br />

HöFa I <strong>Onko</strong>logie<br />

dr. med. ANDREASWeber<br />

Facharzt für Anästhesie und Reanimation FMH,<br />

Konsiliararzt <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong><br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong><br />

Als Konsiliararzt steht dem Team<br />

Dr. med. Andreas Weber zur Verfügung.


Der Stiftungsrat setzt sich aus Vertretern<br />

der Medizin, Wirtschaft, Politik und<br />

Pflegewissenschaft zusammen.<br />

Er arbeitet ehrenamtlich und trägt die<br />

Verantwortung für die strategische<br />

SUSANNEbernasConi<br />

Rechtsanwältin, Bereich Politik<br />

Ausrichtung der Stiftung.<br />

SILVIAsChmid<br />

Pflegewissenschaftlerin, Bereich Qualitätsentwicklung<br />

18<br />

Stiftungsrat<br />

dr. med. URS S.huber<br />

Facharzt FMH für <strong>Onko</strong>logie, Innere Medizin,<br />

<strong>Onko</strong>logie-Hämatologie, Präsident des Stiftungsrates<br />

PETERbinz<br />

COO /CFO PricewaterhouseCoopers AG,<br />

Bereich Finanzen<br />

dr. med. CHRISTOPHseitler<br />

Ärztlicher Leiter des Zentrums für Palliative Care<br />

am Kantonsspital Winterthur, Bereich Palliative Care<br />

WERNERhoppler<br />

Betriebsökonom, Vizepräsident des Stiftungsrates<br />

DIETERburCkhardt<br />

Burckhardt Consulting, Bereich Personelles<br />

pd dr. med. ANDREAStrojan<br />

Facharzt FMH für <strong>Onko</strong>logie und Innere Medizin,<br />

Bereich <strong>Onko</strong>logie


Ärztebeirat<br />

dr. med. HEIDIdazzi<br />

Fachärztin für Innere Medizin und<br />

<strong>Onko</strong>logie-Hämatologie, Tucare, Schlieren<br />

Präsidentin des Ärztebeirates<br />

dr. med. LUCASWidmer<br />

Facharzt FMH für <strong>Onko</strong>logie-Hämatologie<br />

<strong>Onko</strong>zentrum Hirslanden, Zürich<br />

19<br />

dr. med. LUZIUSVonreChenberg<br />

Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, Psychosomatische<br />

und Psychosoziale Medizin (APPM) Zürich<br />

dr. med. URSbreitenstein<br />

Facharzt für Innere Medizin und <strong>Onko</strong>logie-Hämatologie,<br />

<strong>Onko</strong>zentrum Klinik im Park, Zürich<br />

pd dr. med. MIKLOSpless<br />

Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie,<br />

Medizinische <strong>Onko</strong>logie und Tumorzentrum<br />

Kantonsspital Winterthur<br />

JAHRESberiCht<strong>2009</strong><br />

Der Fachbeirat besteht aus im Kanton<br />

Zürich tätigen <strong>Onko</strong>logen und Fach-<br />

ärzten. Er ist ehrenamtlich tätig, berät<br />

in Fachfragen, nimmt zum Pflege- und<br />

Betriebskonzept Stellung, bringt Vor-<br />

schläge für die fachliche Entwicklung<br />

ein und hat die wichtige Aufgabe,<br />

<strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> mit den in der <strong>Onko</strong>logie<br />

tätigen Medizinern zu vernetzen.


JANhabersaat<br />

Jan Habersaat wurde 1950 in Wädenswil geboren und arbeitete während<br />

30 Jahren als Bankangestellter. Seit über zehn Jahren widmet sich Jan Haber-<br />

saat der Fotografie und hat diverse erfolgreiche Fotobücher herausgegeben.<br />

Jan Habersaat hat für <strong>Onko</strong> <strong>Plus</strong> verschiedene betroffene Personen in ihrer<br />

augenblicklichen und schwierigen Lebenssituation dargestellt, sie porträtiert<br />

und ihnen ein Profil gegeben.


erfahrungen erlebnisse perspektiVen


«Was soll ich Ihnen erzählen; es gibt nicht viel…<br />

Im Freiamt, in einem kleinen Nest, überschaubar,<br />

erzkatholisch, verbrachte ich meine Jugend.<br />

Vater arbeitete bei Brown Boveri in Baden, jasste<br />

gerne, sang im Männerchor, spielte Theater.<br />

Mutter kam aus Zurzach. Fügte sich ein, übernahm<br />

ihre vorgeschriebene Rolle und war beliebt<br />

unter den Einheimischen. Dann, ich war<br />

zwei Jahre alt, geschah das Unfassbare. Eine<br />

Epidemie brach aus. Polio. Ein Anruf am Arbeitsplatz<br />

in Baden überbrachte die fürchterliche<br />

Nachricht. Meine Mutter hatte uns verlassen,<br />

wurde Opfer dieser Krankheit. 29 Jahre alt<br />

war sie. Ratlosigkeit herrschte. Was nun? Zwei<br />

blinde Tanten kümmerten sich um mich. Die<br />

Behörde war damit nicht einverstanden, und<br />

mein Vater wollte mich nicht ins entfernte Zur-<br />

zach zu den Schwiegereltern geben. Dann endlich<br />

wurde eine Lösung gefunden. Die jüngere<br />

Schwester der Mutter heiratete meinen Vater.<br />

Etwas Druck wurde schon ausgeübt. Das arme<br />

Kind – zu fremden Leuten, das darf doch nicht<br />

sein, das wird nicht gut enden. Sie war gut mit<br />

mir, wir hatten uns lieb. Ruhig, pflichtbewusst<br />

übernahm sie klaglos und zielstrebig die ihr<br />

übertragenen Aufgaben. Die Liebe, ja die Liebe,<br />

die sei später gewachsen, später eben. Dann,<br />

ich erinnere mich noch ganz genau, ich war vier<br />

Jahre alt, stand ein Kinderwagen in der Stube.<br />

Ich sollte ein Schwesterchen bekommen. Es lebte<br />

nicht. Die Nabelschnur erstickte das kleine<br />

Menschlein. Stumm, wortlos wurde es in die<br />

Wiege gelegt. Am anderen Tag kam der Gärtner<br />

mit einem kleinen blauen Sarg auf der Schulter.<br />

Blau, nicht weiss, denn die Kleine war nicht getauft.<br />

Sie gingen auf den Friedhof, legten den<br />

leblosen Körper in den Sarg meiner Mutter.»


«Wo ist meine kleine Schwester», wollte ich wissen. «Wo? Wo?»<br />

«An einem Ort, wo kein Freud und kein Leid ist.» «Entgeistert<br />

sass ich da. Mein Glaube wurde auf eine harte Probe gestellt.<br />

Ich, die, wie alle anderen Familienmitglieder, ja das ganze Dorf,<br />

am kirchlichen Leben teilnahm. Die Feiertage, wie Ostern und<br />

Weihnachten, liebte ich ganz besonders. Dann verwandelte sich<br />

mein Vater in einen feurigen Geschichtenerzähler, meine Augen<br />

leuchteten. Er nahm mich bei der Hand, und wir alle machten uns<br />

gemeinsam auf den Weg, das Wort Gottes zu hören.»<br />

«Ich war eine unauffällige und gute Schülerin. Wurde akzeptiert<br />

und nahm auch am Vereinsleben teil. Besonders stolz war mein<br />

Vater auf mich, als bei einer Theateraufführung des Männerchors<br />

mein Talent nachgefragt wurde. Die Schulnoten, ja, die wurden<br />

genau angeschaut – besonders die Note in Religion war wichtig.<br />

Warum, warum wohl? Jahre später erfuhr ich, dass seine Mutter<br />

mit den beiden Kindern meinem Grossvater nach Freiburg folgte.<br />

Dann plötzlich war er weg. Verschwunden, verschollen. Die Familie<br />

alleingelassen. Sie kehrten in die Heimat, ins Freiamt zurück.<br />

Jahrzehnte später erhielten wir die Kunde, dass er irgendwo in<br />

Frankreich eine neue Familie gegründet hatte. Nie sollte sich so<br />

etwas wiederholen. Eine glückliche, gläubige Familie mussten wir<br />

sein. Unauffällig, angepasst.» «Nach der Schule verbrachte ich<br />

einige Monate in Genf. Die Sprache sollte ich lernen. Die Grossstadt,<br />

die Hektik, dies alles behagte mir nicht. Heimweh quälte<br />

mich. Da ich Krankenschwester werden wollte, arbeitete ich in<br />

einem Sanatorium in Aegeri. Zuerst in der Kinderabteilung, dann<br />

in der Abteilung für ausländische Gäste. Eine Madame aus Frankreich<br />

verzauberte mich mit ihren Geschichten von der Weite der<br />

Landschaft, den Schlössern und Flüssen. Das mit eigenen Augen<br />

sehen, erleben, meinen Horizont erweitern. Vater war gar nicht<br />

einverstanden.» «Das kostet doch alles Geld und eigentlich wäre<br />

es an der Zeit, dass du etwas zum Haushalt beiträgst.» «Wenn es<br />

zwischen Mutter und Vater zu Spannungen kam, dann meistens<br />

des Geldes wegen. An Vereinsabenden wurde dringend benötigtes<br />

Geld ausgegeben. Eine böse Tante machte meiner Mutter das<br />

Leben schwer, denn alles wurde kommentiert, weitererzählt. Vater<br />

stand stumm da, hilf- und ratlos, denn der Hausfrieden musste<br />

gewahrt werden.» «Ich konnte mich durchsetzen und machte<br />

mich auf den Weg in die Fremde, nach Frankreich. Erstmals in<br />

meinem Leben. Stolz war ich, mächtig stolz. Es war eine wundervolle<br />

Zeit. Geprägt von Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, ein<br />

wirklich christlicher Geist herrschte. Nonne wollte ich werden!»<br />

«Zurück in der Schweiz, zurück im Alltag, entschied ich mich, im<br />

Theodosianum in Zürich zu arbeiten. Der Traum, Krankenschwester<br />

zu werden, stand wieder im Vordergrund. Doch bald schon<br />

hegte ich Zweifel. Ich las die Ärztezeitungen und bewarb mich<br />

als Arztgehilfin. In einem grossen, alten Haus war die Praxis untergebracht.<br />

Dort hatte ich auch mein Zimmer. Zaghaft begann<br />

ich die neue Freiheit zu entdecken. René, mein Freund aus alten<br />

Zeiten litt. Im Dorf glaubten sie fest daran, dass wir heiraten würden.<br />

Wetten wurden bereits abgeschlossen. Dann, an einem Fest,<br />

stand er vor mir. Neun Jahre älter, weltgewandt, aufgeschlossen<br />

und unterhaltsam. Mein Traummann – es war Liebe auf den ersten<br />

Blick. Maschineningenieur war er. In Neuhausen, in Delsberg<br />

lebten wir, bevor wir nach Fällanden umzogen. Malen war seine<br />

grosse Leidenschaft. H.A., mein Kunstmaler! Wir träumten von<br />

einem Haus im Piemont, umgeben von Natur, wir zwei, er mit der<br />

Staffelei und ich mit dem Schreibblock, denn ich korrespondierte<br />

angeregt mit vielen Freunden. Drei Söhne machten unser Glück<br />

vollkommen. Mein Mann litt unter Gefühlsschwankungen. Grenzenlose<br />

Glückseligkeit wechselte ab mit bleierner Passivität. Das<br />

war für alle nicht einfach. Mein Glauben half mir, diese emotionalen<br />

Achterbahnen zu bewältigen. Auch für die Kinder war dies<br />

eine grosse Herausforderung. Nach der Pensionierung erfüllten<br />

wir unseren Traum. Unser Glück war nur von kurzer Dauer. Unser<br />

Sohn starb, plötzlich, beängstigend rasch – Gehirntumor. Etwas<br />

zerbrach, starb in mir. War weggebrochen, für immer. Dann, vor<br />

neun Jahren, verspürte mein Mann ein Ziehen in der Lendengegend.<br />

Die Diagnose war niederschmetternd: Prostatakrebs. Er litt<br />

fürchterliche Schmerzen. Durch seinen Tod konnte ich mich endgültig<br />

von meinem Sohn lösen. Sein Schatten lastete nicht mehr<br />

auf meiner Seele.»<br />

«Der Alltag half mir. Aufgaben mussten erledigt werden. Gestärkt<br />

durch den Glauben, eng verbunden mit meinen beiden anderen<br />

Söhnen lebte ich weiter. Glücklich, ja, doch. Eines Tages machten<br />

sich leichte Bauchschmerzen bemerkbar. Vom Hausarzt wurde ich<br />

an einen Spezialisten weitergereicht. Dann, im Kreisspital, die Diagnose:<br />

Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ungläubig starrte ich den Arzt<br />

an. Als ob ein Fluch auf unserer Familie lastete. Gegen die Schmerzen<br />

bekomme ich Morphium. Freunde rufen mich an, unterhalten<br />

sich mit mir. Meine Söhne, meine Lieben, das Enkelkind sind für<br />

mich da, lenken mich ab, zeigen mir die schönen Seiten des Lebens.<br />

Seit kurzem verspüre ich eine innere Unruhe, Ratlosigkeit.<br />

Die Ungewissheit überschattet meinen Alltag. Dann übernachte<br />

ich bei Urs, meinem Sohn. Die Lieben geben mir Kraft, Mut. Die<br />

dunklen Wolken verziehen sich, dann lese ich. Tod. Tod, Todesangst?<br />

Ich weiss es nicht, tappe im Dunkeln, Schritt für Schritt,<br />

durch den Nebel, durch das Grau. Plötzlich ein Sonnenstrahl. Eine<br />

Freundin meldet sich, übernachtet bei mir. Mir wird leicht ums<br />

Herz. Alte Zeiten leben auf, ziehen an uns vorbei; das verbindet.<br />

Ein Leben nach dem Tode? Doch im Hier und Jetzt überfallen mich<br />

Fragen, Fragen ohne Antworten. Das ist nicht einfach. Ich nehme<br />

die Herausforderung an, sehe genauer hin, erfreue mich am Kleinen.<br />

Ich glaube an die Güte Gottes. Bin überzeugt, dass er mich<br />

leiten wird und lege mein Schicksal in seine Hände. Die Emotionen,<br />

auch die belastenden, akzeptiere ich. Mein Weg ist vorgezeichnet,<br />

ich werde ihn gehen im Vertrauen auf unseren Herrn!»


«Ja die Krankheit, dadurch werde ich sehr eingeengt. Ich kann<br />

nicht mehr spontan ins Glattzentrum fahren oder nach Spreitenbach<br />

– das hab ich doch so gerne gemacht. Gestern waren wir,<br />

zwei Töchter, eine Freundin und ich, in Hergiswil, in der Glasi. Unglaublich,<br />

was die dort alles machen. Ich konnte kaum mehr gehen.<br />

Feldenkrais, kennen Sie die Methode? Er war Physiker, Neurophysiologe.<br />

Nein? Nun, jeder hat ein Bild von sich selbst. Um<br />

die Art und Weise seines Tuns zu ändern, muss er das Bild von<br />

sich selbst ändern! Meine älteste Tochter macht mir Sorgen. Sie<br />

hat ein Geschwür genau hinter dem Sehnerv. Heute kann sie bei<br />

einem bekannten Professor am Unispital vorsprechen. Hoffentlich<br />

ist das Geschwür nicht gewachsen. Ja, so hat jeder seine kleinen<br />

und grossen Sorgen und Nöte.»


«In der Steiermark wurde ich geboren. Mein Vater stammte aus<br />

Böhmen. Zimmermann war er. Ein stattlicher, gut aussehender<br />

Mann. Ruhig, besonnen, mit Witz und Charme. Ich habe ihn geliebt!<br />

Im kleinen, abgelegenen Dorf, wo meine Mutter aufwuchs,<br />

begegneten sie sich. Sie war sechzehn, wurde schwanger. Das<br />

war natürlich schwierig, unmöglich, in einem katholischen kleinen<br />

Nest, zu jener Zeit. Man schaute weg. Kinder, viele Kinder, insgesamt<br />

elf, versammelten sich um den Tisch, mussten grossgezogen<br />

und ernährt werden. Arm waren wir, mussten mithelfen, teilweise<br />

waren wir auf Almosen angewiesen. Zeitungen vertragen, dem<br />

Nachbarn beim Heuen helfen. Eine schöne Jugend hatte ich –<br />

einfach toll. Wir spielten auf der Strasse, kletterten auf Bäume,<br />

stauten Bäche, sangen im Chor – Spielzeuge, nein die hatten wir<br />

nicht – zu teuer. Dann die grossen kirchlichen Anlässe, die Osterprozession,<br />

bunt, eindrücklich. Eines Tages wurde der Pfarrer,<br />

ein einfühlsamer Geistlicher, versetzt. Die Magd wurde auch nicht<br />

mehr gesehen. Man schwieg, schaute weg. Mein Vater zog in den<br />

Krieg, an die Westfront, war verschollen, kam in amerikanische<br />

Kriegsgefangenschaft. 1947 stand er am Bahnsteig.» «Geh nicht<br />

nach Hause», seine Schwester schaute ihn verlegen an. «Drei<br />

Kinder, Kriegskinder sassen am Tisch.» «Ich liebe meine Frau.»<br />

«Das Leben ging weiter – wortlos. Es wurde nicht viel gesprochen,<br />

schwierige Themen wurden ausgeklammert. Der Vater der drei<br />

Kinder, ein Nachbar, kehrte zu seiner Frau zurück. Er zeugte ein<br />

Kind, Anni wurde geboren. Ich bin das Produkt der stummen Versöhnung<br />

– auch ich wurde auf den Namen Anni getauft. Wir Versöhnungskinder<br />

besuchten die gleiche Schule. Ich wusste nichts<br />

von den Kriegsgeschwistern. Alle wussten es, nur wir nicht. Wir<br />

wurden gehänselt, ausgelacht, wussten ja nichts Näheres davon.<br />

Die Grossmutter lebte auf der anderen Strassenseite. Wir besuchten<br />

sie, schauten ihr zu, wie sie ihren Bohnenkaffee zubereitete.<br />

Bei uns war sie selten anzutreffen. Meine Mutter war eine starke,<br />

eine dominante Frau. Sie hatte das Sagen. Der harte Alltag prägte<br />

sie. Eines Tages begegnete mir auf dem Nachhauseweg ein älterer<br />

grauhaariger Mann. Den kenn ich doch! Wenig später sass er bei<br />

uns am Tisch.» «Anni, das ist dein Grossvater.» «Dann war er<br />

wieder weg. Er war krank.»<br />

«Aufgeklärt wurden wir nicht. Darüber wurde nicht gesprochen.»<br />

«Komm nur nie mit einem Kind nach Hause.» «Dann tauchte ein<br />

junger Mann auf. Ein Neffe des Metzgers. Er arbeitete dort und<br />

ich verliebte mich in ihn. Ich wurde schwanger. Musste das süsse<br />

Geheimnis natürlich für mich behalten. Niemand, nicht einmal<br />

meine Mutter, wusste etwas davon, sah etwas. Ich trug immer<br />

dasselbe Kleid. Dann, eines Tages, war es so weit. Meine Tochter<br />

wurde geboren. Im Elternhaus. Vater freute sich. Mutter schwieg.<br />

Ich musste arbeiten, dies und das. Das war nicht einfach. Meine<br />

grosse Liebe verdrückte sich, stand nicht zu mir. Für alles wurde<br />

ich gerufen. Ich konnte nicht Nein sagen, mich abgrenzen.<br />

Viele meiner Geschwister lebten im Ausland, in der Schweiz, in<br />

Deutschland. Ich wollte weg, entfliehen aus diesem engen und<br />

schwierigen Umfeld.»<br />

«In der Schweiz fand ich Arbeit.» «Ach, es war so schön! Ich fühlte<br />

mich frei, konnte selbst bestimmen, was ich tun wollte, konnte<br />

das Leben, die Welt entdecken. Am Buffet, im Service habe ich<br />

gearbeitet. Dort habe ich auch meinen Mann kennengelernt. Polizistensohn,<br />

aus Mettmenstetten. Ein toller Mann! Meine Tochter<br />

lebte immer noch bei meinen Eltern. Der Erzeuger wollte sie mir<br />

wegnehmen, denn seine Frau bekam keine Kinder. Meine Tochter,<br />

ungeheuerlich! Trotz der grossen Distanz hatten wir regen Kontakt<br />

mit ihr. Dann kam sie in die Schweiz. Wir haben noch zwei<br />

weitere Töchter. Alle sind wohlgeraten. Wir halten zusammen.<br />

Unternehmen viel. Ich war und bin eine leidenschaftliche Mutter.<br />

Es gibt nichts Schöneres auf der Welt! Immer wieder fuhren wir<br />

nach Österreich in Urlaub. Mein Vater sass auf seinem Schemel,<br />

erzählte mir von Amerika, dem vielen Essen, wie gut sie behandelt<br />

wurden und natürlich auch von den tollen Frauen. All das erfüllte<br />

mich mit einem grossen Glücksgefühl. Beide Eltern leben nicht<br />

mehr, trotzdem fahren wir immer wieder hin.»<br />

«Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ahnte etwas, verdrängte. Atemnot,<br />

Probleme mit der Schulter. Auch ich schwieg, schaute weg.<br />

Doch eines Tages konnte ich nicht mehr wegschauen. Die Ärzte<br />

waren sehr besorgt. Wochen, möglicherweise einige Monate<br />

würde ich noch leben. Meine Familie war entsetzt, geschockt. Es<br />

schien, als ob alles stillstehen würde. Eine junge Ärztin schlug eine<br />

Hormontherapie vor. Schlagartig verbesserte sich mein Zustand.<br />

Hoffnung keimte auf. Chemotherapien folgten. Stellen Sie sich<br />

vor, immer war jemand an meiner Seite! Mein Mann schlief im<br />

gleichen Zimmer, die Töchter besuchten mich täglich. Kurz vor<br />

dem Ausbruch meiner Krankheit verliess mein Mann den gemeinsamen<br />

Haushalt, wollte sich selbst verwirklichen. Sofort kehrte er<br />

zurück, stand mir beiseite. Ich habe mich doch etwas verändert,<br />

sehe genauer hin, beobachte, lebe bewusster, freue mich an den<br />

kleinen Dingen des Alltages. Nein, mit dem Schicksal hadere ich<br />

nicht. Schauen Sie sich doch die Nachrichten in der Tagesschau<br />

an. All das Elend! Millionen von Menschen, die kein fliessendes<br />

Wasser besitzen. Eine Schande! Da geht es mir, uns doch gut.<br />

Glauben Sie nicht auch?»


«Ja, hier in dieser Seegemeinde bin ich aufgewachsen. Hier wohne<br />

ich noch immer gerne, hier fühle ich mich zu Hause. Mein Vater<br />

arbeitete als Ingenieur. Anfänglich in Zürich, dann machte er<br />

sich selbstständig und eröffnete ein Geschäft in dieser Gemeinde.<br />

Meine Mutter war Haut-Couture-Schneiderin. Sie ist dankbar<br />

und glücklich darüber, dass sie, zu jener Zeit – ganz und gar nicht<br />

selbstverständlich – ihren Wunschberuf erlernen durfte. Eindrücke<br />

sammeln, im Kino, in den bunten Illustrierten, träumen von den<br />

Schönen und Reichen, deren Roben schneidern, das war ihre Welt.<br />

Das beglückte und beflügelte sie. Vater war der ruhende Pool, war<br />

da, wenn wir Kinder, meine Schwester und ich, ihn benötigten.<br />

Auf ihn konnten wir zählen. Wir, unsere Familie, unternahmen<br />

Ausflüge in die Natur, Wanderungen, Ski fahren. Sport spielte eine<br />

überragende Rolle bei uns. Meine Mutter war sehr stolz darauf,<br />

dass sie in ihrer Jugend im Ruderclub aktiv war. Mein Grossvater,<br />

in der Jugend aus dem Kanton Bern an den Zürichsee gezogen,<br />

erzählte uns Geschichten, nahm uns auf den Schoss. Liebkoste uns<br />

mit seinen von der schweren Arbeit gezeichneten Händen. Eine<br />

tolle, unbeschwerte Jugend mit viel Toleranz, viel Freiraum, um<br />

die Welt zu entdecken, um seinen eigenen Weg einzuschlagen.»


«In der Schule war ich immer ein bunter Vogel – ich hatte ja immer<br />

die verrücktesten Kleider, geschneidert von meiner Mutter. Schon<br />

früh äusserte ich mich, so wie mir der Schnabel gewachsen war.<br />

Sagte, was ich mitzuteilen hatte, spontan, unkompliziert, direkt.»<br />

Wieder leuchten die Augen, wieder zeigt sich dieser Schalk, dieses<br />

verschmitzte, selbstbewusste und herausfordernde Lächeln.<br />

«Ja, ich war dieser Person, all dem, schon einmal begegnet; vor<br />

über vierzig Jahren im Zug. Im Bummelzug, dem rechten Seeufer<br />

entlang. All das war immer noch da, lebendig wie eh und je.»<br />

«Meine Schwester besuchte die Handelsschule. Das war nichts<br />

für mich. Ich wollte mit Menschen zu tun haben. Da, eines Tages,<br />

betrat ich eine Apotheke in einer Nachbargemeinde und schon<br />

wenige Wochen später begann ich dort mit meiner Ausbildung.»<br />

«In der Badeanstalt, gleich gegenüber unserer Wohnung, lernte<br />

ich schon bald meinen jetzigen Mann kennen. Mein Badetuch<br />

war klein und nass. Da sass, nicht weit von mir, ein gut aussehender<br />

junger Bursche mit einem grossen, blauen. Das war doch die<br />

grosse Chance, die Herausforderung. So lernte ich ihn kennen,<br />

wir begegneten uns – und jetzt sind wir schon unzählige Jahre ein<br />

glückliches Paar. Viel wurde diskutiert, über alles, über Gott und<br />

die Welt. Ausstellungen besucht, die neuesten Filme angeschaut.<br />

Wir beide sind ja ebenfalls kreativ tätig. Schon als Dreikäsehoch<br />

spielte ich leidenschaftlich gerne Flöte, nervte die ganze Nachbarschaft<br />

mit meinen Fingerübungen. Später dann, Klavierunterricht,<br />

kleinere Aufführungen. Eine Welt für sich, voller Träume, voller<br />

Hoffnungen. Neben unserem Elternhaus stand eine verlassene<br />

Scheune. Dorthin zogen wir uns zurück, rauchten, kifften. Immer<br />

öfter verwischten sich die Welten, verwandelten sich graue Tage<br />

in bunte Bilder voller Licht und Farben. Dann, eines Tages, die Einladung,<br />

einen Urlaub mit Künstlern und Kunstbeflissenen in den<br />

Bergen im Engadin zu verbringen. Die frische Luft, die klare Sicht,<br />

gute Gespräche und einige wegweisende Bücher veränderten<br />

unseren Lebensrhythmus, unsere Lebenseinstellung. Mit den Kindern<br />

besuchten wir die Vereinigten Staaten. Genossen das Zusammensein.<br />

Auch hier spielte die persönliche Freiheit des Einzelnen<br />

eine wichtige, eine zentrale Rolle. Immer wieder verbrachten wir<br />

viel Zeit im Freien, in der so überwältigenden Natur. Den Körper<br />

stählen, den Geist herausfordern, denn wir bestehen aus Geist<br />

und können diesen beeinflussen, ihn in positive Bahnen lenken.<br />

Während Jahren begleitete ich eine krebskranke Bekannte. Erlebte<br />

hautnah die damit verbundenen Leiden und Hoffnungen. Vor<br />

zehn Jahren verspürte ich ein leichtes Ziehen in meiner Brust. Die<br />

ersten Untersuchungen verliefen ohne einen negativen Befund.<br />

Zeit verstrich, das Leben ging weiter. Doch dann, plötzlich und<br />

unerwartet, die neue, vernichtende Diagnose: Brustkrebs. Amputation.<br />

Nach dem ersten Schrecken erholte ich mich rasch wieder.<br />

Der Körper, die Hülle, hatte Schaden genommen, doch der Geist<br />

war stark, nahm die Herausforderung an. Fünf Jahre verstrichen.<br />

Dann die nächste Kampfansage. Ein kleines, nur einige Millimeter<br />

grosses Geschwür hatte sich in Windeseile ausgebreitet. Ich musste<br />

nochmals operiert werden. Die zweite Brust wurde entfernt.<br />

Chemotherapien folgten. Haarausfall, Übelkeit. Eine neue, grosse<br />

Aufgabe. Erstmals in meinem Leben konnte nicht ich bestimmen,<br />

was mit mir geschieht, sondern der stumme Gegner, der Krebs<br />

bestimmte meinen Tagesablauf. Meine Freunde, unsere Familie,<br />

schlossen mich in die Arme, waren für mich da. Halfen mir, mich<br />

neu zu orientieren. Wieder zersetzte sich ein Teil meiner Hülle,<br />

meines Körpers – mein Geist aber konnte nicht besiegt werden.<br />

Dann, Komplikationen, Intensivstation. Nein, ich konnte noch<br />

nicht abtreten, verschwinden. Die Stille der Bergwelt, die Schönheit<br />

des Engadins, all dies wollte ich nochmals sehen. Nein, ich<br />

lebe heute nicht bewusster, nicht intensiver, was heisst das schon?<br />

Ich geniesse den Tag, die Liebe meiner Nächsten, erfreue mich an<br />

den Schönheiten der Natur. All dies habe ich seit Jahren so wahrgenommen.<br />

Dafür bin ich dankbar, sehr dankbar, denn wenn ich<br />

erst jetzt, bedingt durch die Krankheit, so leben würde, wäre das<br />

für mich ernüchternd.»<br />

«Lebe den Tag, lebe die Stunde. Eine Aussage, eine Einstellung,<br />

die für mich noch wichtiger geworden ist. Meine erwachsenen<br />

Söhne gehen ihre Wege, machen das, woran sie sich erfreuen,<br />

lassen mich daran Anteil nehmen. Mein Mann und ich lieben uns<br />

noch immer, unternehmen gemeinsam interessante und spannende,<br />

kleine, unscheinbare Abenteuer – beinahe wie damals in<br />

der Scheune, auf unseren Reisen. Das ist das wahre Glück!»


«Im Toggenburg, in einem kleinen<br />

Nest, bin ich aufgewachsen. Ländlich,<br />

eng, überschaubar. Jeder kannte jeden.<br />

Meine Eltern entstammten aus Bauernfamilien.<br />

Mein Vater arbeitete als Zimmermann.<br />

Ruhig, stetig, gradlinig. Der<br />

Überlebenskampf, die Sorge um seine<br />

Familie, prägte den Alltag. Meine Mutter,<br />

treu an seiner Seite. Sechs Kinder<br />

hatte sie grosszuziehen. Eine Herausforderung,<br />

eine Aufgabe, die ihr alles<br />

abverlangte. Gefühle wurden kaum gezeigt,<br />

das gehörte sich nicht. Ich war der<br />

Jüngste, ein Nesthäkchen. Während die<br />

anderen Geschwister mithelfen mussten,<br />

schuf ich mir schon früh Freiräume,<br />

meine eigene Welt. Las unzählige Bücher,<br />

interessierte mich für viele rätselhafte<br />

Dinge des Lebens. Meine Lieben<br />

verstanden das nicht, schüttelten den<br />

Kopf und fragten sich, ob der Kleine<br />

wohl normal sei. Chemie, Physik fand<br />

ich besonders spannend, gaben mir<br />

Antworten auf drängende Fragen des<br />

Lebens. Meine Mutter flüchtete sich in<br />

den Glauben, suchte dort Kraft für die<br />

Unbill des Alltags. Wir Kinder mussten<br />

natürlich auch mit in den Gottesdienst,<br />

teilnehmen an den verschiedensten<br />

kirchlichen Anlässen. Für mich war das<br />

zu viel. Ich war ein guter Schüler, konnte<br />

spielend dem Unterricht folgen.»


«Alles, meine ganze Jugend verlief unspektakulär, harmonisch.<br />

Ich hatte ja meine kleine Welt, nur für mich! Musik, die Klänge<br />

aus der Karibik liessen mich träumen von fernen Ländern, von<br />

Abenteuern. Mit einigen Freunden zusammen gründeten wir eine<br />

Band. Spielten auf Anlässen, wurden im ganzen Tal eingeladen.<br />

Das gefiel mir natürlich sehr. Eine Drogistenlehre absolvierte ich.<br />

Musste dazu nach Uznach. Bald entdeckte ich jedoch, dass sich<br />

meine Berufsträume so nicht erfüllen würden. Ein ganzes Jahr<br />

reisten wir in Deutschland umher. Konzerte überall. Höhen und<br />

Tiefen wechselten sich ab.» Ein wehmütiges Lächeln macht sich<br />

breit, erhellt für Augenblicke nur den kargen Wohnraum. «Nein,<br />

diese Abenteuer haben mich nicht nachhaltig verändert, nein,<br />

nein. Bei Coop in Basel konnte ich mich weiterbilden. Meine Laufbahn<br />

führte stetig nach oben. In der Stadt am Rheinknie traf ich<br />

meine Frau. Ich wurde Vater von drei Töchtern.»<br />

«Entschuldigung, aber ich muss mir den Schweiss von der Stirne<br />

abputzen. Die Medikamente. Hormonschübe.» «Ja, ich war egoistisch,<br />

war es vermutlich schon immer. Musste das sein, um mich<br />

durchzusetzen. Im Detailhandel musst du flexibel sein. Wir zogen<br />

um. Einmal hierhin, dann wieder dorthin. Maus Konzern, PKZ.<br />

Menschen einstellen, beurteilen, entlassen. Das war nicht immer<br />

einfach. Gehörte zum Berufsleben. Schleichend, unmerklich begann<br />

der Bruch, die Entfremdung von meiner Familie, von mir<br />

selbst. Die Trennung, Scheidung. Abschied von einem überschaubaren<br />

Leben. Fünfzig Jahre alt war ich. Verliess meine drei erwachsenen<br />

Kinder, meine mir vertraute Umgebung, meine Heimat.»<br />

«Die Dominikanische Republik, die Karibik war mein Ziel. Ich war<br />

überwältigt. Sonne, Palmen, ein buntes Treiben, die Leichtigkeit<br />

des Seins umarmten mich, begrüssten mich stürmisch. Ich liess<br />

es zu, genoss das Leben, ganz unbeschwert ohne Sachzwänge.<br />

Dann fand ich einen Arbeitsplatz in einem Hotel. Arbeitete dort<br />

während zwölf Jahren. Zur Schweiz, zu meinen Kindern hatte ich<br />

nur wenig Kontakt. Ich wohnte mit den Einheimischen, lernte ihre<br />

Sprache, war Teil von ihnen. Die Liebe klopfte an meine Türe. Wir<br />

heirateten, waren glücklich. Ein Sohn wurde uns geschenkt und<br />

das Leben plätscherte dahin. Alles schien überflutet vom Licht der<br />

Sonne.»<br />

«Dann, eines Morgens, geschah das Unfassbare. Meine Frau war<br />

abwesend, in den USA. Mein Sohn in der Schule. Der Wecker<br />

klingelte, läutete einen neuen Tag ein. Doch, ich war entsetzt,<br />

bestürzt – meine Beine versagten, ich konnte nicht mehr gehen.<br />

Sofort wurde ich ins Spital eingeliefert. Verlegt in die Hauptstadt.<br />

Ärzte in weissen Kitteln standen ratlos herum. Hektik, Panik brach<br />

aus. Diagnosen wurden gestellt. Operationen angekündigt. Endlich,<br />

endlich, die Diagnose: Krebs. Bösartig, unheilbar. Meine Frau<br />

weinte, schrie, haderte mit dem Schicksal. Bald war klar, dass<br />

ich zurück in die Schweiz musste. In ein gut funktionierendes,<br />

kaltes Land. Behandlungen folgten, Gespräche, Kuren. Wochen,<br />

Monate verstrichen. Zähflüssig, langsam, trostlos. Dann, als sich<br />

mein Zustand stabilisierte, kehrte ich für einen Monat in meine<br />

zweite Heimat zurück. Konnte meine Lieben wieder in die Arme<br />

nehmen. Ich sass tagelang auf der Veranda. Die Sonne liebkoste<br />

meine Wangen. Der Blick auf das Meer. Das Rauschen, die Endlosigkeit,<br />

die Weite, liessen mein Herz höher schlagen. Abschied,<br />

ein Abschied für immer. Von Freunden, vom bunten Treiben, von<br />

den Gerüchen, dem Lachen. Das Flugzeug hob ab, entschwand in<br />

den Wolken. Ein Kapitel war beendet, endgültig, unwiderruflich.<br />

Ich fühlte mich wie ein Boxer, der unverhofft im Ring niedergeschlagen<br />

wurde. Neun, zehn. Ende!»<br />

«Meine Familie folgte mir in die Schweiz. Unserem Sohn gefällt<br />

es hier. Die Schule, die Freunde. Unvermittelt sind die Rollen neu<br />

verteilt. Ich brauche Hilfe, bin Bittsteller und nicht mehr der zupackende<br />

Macher. Wir haben uns gestritten. Es wurde auch schon<br />

einmal laut. Heimweh, Angehörige in der Ferne, Kälte, Nässe, all<br />

das trüben die Lebensfreude meiner Frau. Doch wir haben uns<br />

entschieden, wir halten zusammen, unsere Liebe wird das überstehen.<br />

Bis zum Ende, bis zum bitteren Ende. Ich hadere nicht mit<br />

dem Schicksal, blicke auf ein spannendes Leben zurück. Lese viel,<br />

bin mit dem Internet mit der ganzen Welt verbunden, habe mehr<br />

Zeit für meinen Sohn, Zeit, die ich für meine Töchter nicht oder<br />

nur teilweise aufbrachte. Sorgen mache ich mir um meine kleine<br />

Familie. Was geschieht mit ihr nach meinem Ableben? Das Geld<br />

ist knapp, wir überleben. Nicht mehr und nicht weniger. 18 bis 24<br />

Monate, so lange werde ich wohl noch leben.»


«Bis zu meinem achten Lebensjahr wohnten meine Schwester und<br />

ich in Bruno – in Brün in der tschechischen Republik. Mein Vater<br />

war Lehrer, meine Mutter arbeitete als Bibliothekarin. Meine Eltern<br />

waren keine Parteimitglieder. Meine Grosseltern wohnten<br />

ebenfalls bei uns. Der Grossvater war Metzger, fleissig und erfolgreich.<br />

Das gefiel nicht allen. Er wurde denunziert und verbrachte<br />

einige Zeit im Gefängnis. Über Gefühle, persönliche Anschauungen<br />

wurde nicht viel gesprochen. Das war zu gefährlich. Ich hatte<br />

meine Freundinnen, meinen Turnverein. Meinen Grossvater habe<br />

ich in guter Erinnerung. Er ass meine Resten auf und wenn ich<br />

etwas Süsses wollte, quirlte er ein Eigelb, versah es mit Zucker<br />

und liess so mein Kinderherz höher schlagen. Abends erzählte er<br />

uns spannende Geschichten. Oftmals musste ich ihn dafür wachrütteln,<br />

denn er hatte ja einen langen und arbeitsamen Tag hinter<br />

sich. Gegen 13 Uhr kamen wir von der Schule nach Hause. Unsere<br />

Eltern arbeiteten dann noch. Die Schönen Künste spielten bei uns<br />

eine grosse Rolle. Viele, unzählige Bücher begleiteten mich – entführten<br />

mich in eine andere Welt. Ich hatte eine beschauliche, behütete<br />

Jugend.»


«Die Hauswände waren voll mit Parolen und Plakaten, welche die<br />

klassenlose Gesellschaft, den Klassenkampf und die kommunistische<br />

Partei priesen. Staunend stand ich davor, bewunderte das<br />

blonde Mädchen, welches dem russischen Offizier einen Blumenstrauss<br />

schenkte und insgeheim hoffte ich, dass ich das auch einmal<br />

erleben würde.»<br />

«Der Prager Frühling – Träumen von einer freieren, offeneren Gesellschaft.<br />

Ein Ruck ging durch das Volk. Doch bald, allzu bald<br />

wurden die Hoffnungen zerstört – Panzer rollten auf den Stras-<br />

sen.» «Kommt Kinder, wir machen eine Reise – besuchen unsere<br />

Bekannten in Wien.» «Dort angekommen, fragten meine<br />

Eltern, ob es uns hier gefalle. Meine Schwester war begeistert<br />

von den Rolltreppen in den Warenhäusern, vom Glanz der Lichter.<br />

Auch mir gefiel es in der fremden Stadt. Am 1. Mai, am Tag der<br />

Arbeit, klopften wir an die Türen der Stadtpolizei in Zürich. Hundert<br />

Schweizer Franken drückten die Beamten uns in die Hände<br />

mit der Bitte, doch am nächsten Tage nochmals vorbeizukommen<br />

und unseren Asylantrag zu stellen. In Freiburg fand meine Mutter<br />

eine Anstellung als Bibliothekarin. Auch mein Vater arbeitete<br />

dort. Eine schöne, unbeschwerte Zeit. Der Fluss, die Höhlen in<br />

denen wir uns versteckten, uns unsere kleinen Geheimnisse anvertrauten.<br />

Romantisch – verträumt. Mein Vater studierte, denn<br />

er wollte unbedingt wieder als Lehrer tätig sein. Dann der Umzug<br />

nach Baar. Wieder eine neue Herausforderung, ein neuer Ort.<br />

Auch dort fand ich bald Anschluss. Unbeschwert, eingebettet<br />

in einem Umfeld voll von Musik, Kultur, einigen wenigen guten<br />

Freunden. Die Schule bereitete mir keine grossen Schwierigkeiten<br />

und so landete ich dann am Gymnasium und nach dem Abschluss<br />

wollte ich Französisch und Englisch studieren. Pubertät, Aufbegehren,<br />

Rebellion, das kannte ich nicht. Wir lebten in unserer<br />

Welt – geistreich, gesittet, wohl geordnet, ohne Überschwang<br />

und allzu viel Emotionalität. Dann die Uni Zürich. Neue Eindrücke,<br />

neue Freunde. Ich meldete mich an unzählige Kurse an –<br />

war voller Wissbegierde, wollte die Welt entdecken. Mein Herz<br />

schlug höher, einmal da, dann wieder dort. Immer unaufgeregt,<br />

wohltemperiert. Ein Tauchkurs, ein Anfängerkurs in einem Hallenbad<br />

veränderte mein Leben. Als ich die Luftblasen aufsteigen<br />

sah, da wusste ich, er ist es – mein Mann für eine gemeinsame,<br />

glückliche Zukunft.» Ein leises, verstohlenes Lächeln huscht über<br />

das würdevolle Gesicht. Kurz nur, aber umso strahlender. «Sein<br />

Umzug in eine andere Wohnung war geplant – Ende November.<br />

Doch es kam anders. Das Wetter war traumhaft und wir zogen<br />

mit dem Zelt in die Berge. Hoch über dem Nebel verbrachten wir<br />

die Nacht. Eine Überraschung sollte es werden. Ich musste meine<br />

Augen verschliessen, mich ihm anvertrauen. Er nahm mich bei<br />

der Hand und marschierte auf den Abgrund zu. Kurz zögerte ich,<br />

mich blind jemandem anzuvertrauen, die Herrschaft über mich<br />

aufzugeben. Dann, als ich meine Augen öffnete, strahlte uns der<br />

Vollmond an, erhellte die Nacht – vereinte uns. Immer wieder sind<br />

wir an diesen Ort zurückgekehrt – dort, wo wir spürten, dass wir<br />

zusammengehören. Jahre später haben wir geheiratet. Mein Vater<br />

wünschte sich das, bevor er, nach seiner Pensionierung, eine<br />

Weltreise begann.»<br />

«Mami, ich gehe noch mit Kollegen ins Glattzentrum.» «Mach<br />

deine Schulaufgaben und komm nicht zu spät.» «Zwei Söhne haben<br />

wir. In Schweden verbrachten wir wunderbare Ferien. Sehen<br />

Sie hier, an diesem Wasser und in diesen Wäldern – ganz alleine<br />

nur wir. Das war grossartig. Die Kanus dort vor unserem Haus, die<br />

haben wir in Schottland benutzt, um den Walen entgegenzupaddeln.<br />

Gemeinsam in der Natur, das verbindet, gibt Kraft. Im Urlaub<br />

an der Moldau entdeckte ich einen Knoten in meiner Brust. Das<br />

Geschwür war bösartig. Ich machte mir Vorwürfe, nicht genauer<br />

hingeschaut zu haben. Nach unzähligen Behandlungen dachte<br />

ich, alles wird wie bisher weitergehen. Mein Mann arbeitete als<br />

Turnlehrer an der Hochschule. Ich erteilte Französischunterricht<br />

und wir freuten uns an den Kleinigkeiten des Alltages und an<br />

unseren Kindern. Dann starb mein Vater, und kurze Zeit später<br />

schmerzte mein Nackenwirbel. Dieser war völlig zerfressen – wurde<br />

durch einen künstlichen Wirbel ersetzt. Niederschmetternd.<br />

Der Kreis, der Lebenskreis, wurde kleiner. Erneut eine Operation,<br />

dieses Mal im Unterleib. Ich geniesse die Zeit mit meinen Kindern<br />

und meinem Mann noch bewusster – schöpfe Kraft aus unserer<br />

Liebe.» Die zierliche Frau verharrt, ihre Stimme wird leise. Tränen<br />

kullern über ihre Wangen. Ihr Mann legt liebevoll einen Arm um<br />

ihre Schultern. Die Quelle der Kraft und der Zuversicht ist eben<br />

auch gleichzeitig Ursprung von Fragen, auf die es keine abschlies-<br />

sende Antwort gibt. «Was geschieht mit meinen Kindern, welchen<br />

Weg werden sie im Leben, in ihrem Leben gehen? Ich werde<br />

es nie wissen!» Stille erfüllt den Raum, Ratlosigkeit und Trauer<br />

liegen in der Luft. Es ist, als ob die Zeit innehalten würde. «Unsere<br />

Zeit auf Erden ist beschränkt – wir alle wissen es – wissen es,<br />

ohne uns zu fragen, was wir damit Sinnvolles machen können, ja<br />

müssen.»<br />

«Mein Lebenskreis ist vorgezeichnet, ist begrenzt. Vier Monate,<br />

fünf? Jeden Tag werde ich als Geschenk empfinden, bewusst erleben<br />

– fröhlich sein, aber auch Trauer zulassen. Auch Tränen, ja das<br />

tut gut, auch einmal schwach sein zu können und dürfen.»


«Ich habe viel nachgedacht, sehr viel. Vor Jahren schon habe ich<br />

das Weinen verlernt. Nein, nicht unsensibel, gar nicht. Orgelmusik<br />

in einer barocken Kirche, die Kinder, das berührt mich sehr –<br />

harte Schale, weicher Kern, so in diese Richtung. In Vers bin ich<br />

aufgewachsen. Mein Vater war Beamter, Steuerbeamter. Meine<br />

Mutter kommt aus Bad Gastein, arbeitete als Bankangestellte. Als<br />

die Kinder zur Welt kamen, gab sie ihren Beruf auf, versorgte uns<br />

und sorgte sich liebe- und hingebungsvoll um uns. Ich war der<br />

Erstgeborene – ein Wunschkind. Meine Schwester ist zwei Jahre<br />

jünger als ich. Mein Bruder ganze sieben. Meine Mutter ist eine<br />

kultivierte, liebenswürdige Frau. Vielseitig interessiert. Mein Vater,<br />

zuverlässig, eher der ruhige Typ. Schon früh spürten wir, dass<br />

unsere Eltern uns vorbehaltlos unterstützten, uns vertrauten. In<br />

der Nachbarschaft lebten viele Kinder. Das war grossartig, denn<br />

immer wurde etwas unternommen. Wir strichen um die Häuser,<br />

spielten und genossen die tolle unbeschwerte Zeit.»


«Mein Vater half mit im Roten Kreuz, sammelte Geld, organisierte<br />

Anlässe. Meine Mutter war eine fleissige Kirchgängerin – fand<br />

darin Kraft und Gelassenheit. In der Schule, wir waren sechsunddreissig<br />

in einer Klasse, gehörte ich immer zu den besten Schülern.<br />

Schon früh entwickelte ich einen gesunden Ehrgeiz, denn<br />

meine Eltern freuten sich über gute Noten. Oftmals kramte mein<br />

Vater ein Geldstück aus seiner Tasche und schob es mir über den<br />

Esstisch zu. «Gut mein Junge, mach weiter so!» Darüber habe ich<br />

mich natürlich immer sehr gefreut. Mit meiner Schwester gab es<br />

immer wieder Diskussionen, denn ich wollte sie ebenfalls zu guten<br />

Leistungen ermuntern. Sie fand das aber nicht so besonders<br />

erbaulich. In die Ferien fuhren wir zu unseren Grosseltern nach<br />

Bad Gastein. Berge, überall Berge und die Verwandten, traumhafte,<br />

unvergessliche Augenblicke. Der Mann meiner Patentante<br />

war Arzt, eine Respektsperson im Dorf. Weltmännisch und sehr<br />

gebildet. Das imponierte mir. Seine rhetorischen Fähigkeiten habe<br />

ich mir angeeignet. In der Pubertät fuhren meine Kameraden mit<br />

dem Moped von einem Ort zum anderen. Das war nicht meine<br />

Welt. Ich ging lieber mehrmals die Woche zum Fussball, war auch<br />

ein begabter Spieler. Ich hatte immer viele Freunde, denn meine<br />

aufrichtige und hilfsbereite Art wurde von allen sehr geschätzt.<br />

Mit sechzehn fuhr ich per Anhalter durch ganz Europa. Mit den<br />

Lastwagenfahrern bis nach Amsterdam, London und Paris. Neugierde<br />

war die Triebfeder. Ich hatte ja schon viel gelesen über andere<br />

Länder und Kulturen. Jetzt wollte ich all dies sehen, spüren.<br />

Zuschauen, wie die Hippies in Amsterdam ihre Joints drehten,<br />

wie die Leute auf ihren schweren Fahrrädern gegen den Wind<br />

ankämpften. Nein, verändert haben mich diese Reisen nicht. Ich<br />

war immer gradlinig, wusste, was ich wollte. Hatte mein Ziel vor<br />

Augen.»<br />

«Dann zog ich in die Hauptstadt. Studierte an der dortigen Universität.<br />

Es war Liebe auf den ersten Blick. Wien, eine Stadt mit<br />

grosser Vergangenheit. In den Schankstuben diskutierten wir über<br />

Gott und die Welt. Aufregend, bereichernd. Immer wieder entdeckte<br />

ich neue Gassen, stille Winkel. Dann wurde ich zum Militärdienst<br />

beordert. Eine Zeit ohne grosses Gehalt. In Wien wurde<br />

ich von einem Schweizer Professor eingeladen, an der ETH zu studieren.<br />

Ich wurde wie ihr eigener Sohn von ihnen aufgenommen.<br />

Eine tolle Bleibe, mit schrägen Wänden und zwei Meter hohen<br />

Räumen, dort spielte sich meine Freizeit ab. Wenige Jahre später<br />

schrieb ich meine Doktorarbeit und erhielt dafür eine Anerkennungsmedaille<br />

der ETH. Skitouren im Hochgebirge, ausgedehnte<br />

Wanderungen, auch das gehörte dazu. In einer Hütte begegnete<br />

ich meiner jetzigen Frau. Sie hatte irgendetwas vergessen. Natürlich<br />

half ich ihr, borgte ihr den Gegenstand. So entstand aus<br />

Freundschaft allmählich Liebe. Sie wohnte ganz in meiner Nähe<br />

– ein glücklicher Zufall. Einladungen, an renommierten Universitäten<br />

zu studieren, folgten auf meine Doktorarbeit. Wir heirateten<br />

und entschieden uns, nach San Diego umzuziehen, wo wir uns,<br />

dann dreieinhalb Jahre aufhielten. Die Arbeit war anstrengend,<br />

viel Freizeit hatte ich nicht.»<br />

«Zurück in Zürich wurde der Wunsch nach eigenen Kindern immer<br />

grösser. Zeit verstrich, ohne dass sich eine Schwangerschaft<br />

einstellte. Untersuchungen, Hoffnungen. ergebnislos. Wir entschieden<br />

uns für eine Adoption. Fuhren nach Indien. Sammelten<br />

Eindrücke. Bei Mutter Theresa in Bombay wurden wir von einer<br />

mürrischen Schwester empfangen. Ein zweites Schweizer Ehepaar<br />

sass neben uns. Ich konnte die Leiterin von unseren Absichten<br />

überzeugen. Fotos wurden uns gezeigt. Fotos von indischen<br />

Kindern, die alle einen Geburtsfehler aufwiesen. Dann ging die<br />

Türe auf, ein kleines Mädchen, zweieinhalb Jahre jung, wurde hereingeführt.<br />

Sofort wussten wir, das ist unsere Tochter. Ein unbeschreibliches,<br />

überwältigendes Gefühl. Einmalig. Ein halbes Jahr<br />

später durften wir sie für immer zu uns nehmen. Ein Herzfehler<br />

wurde operativ behoben. Wieder fuhren wir in das Land Gandhis,<br />

denn unsere Tochter sollte ein Brüderchen oder Schwesterchen<br />

bekommen. Die leuchtenden, grossen braunen Augen auf dem<br />

Foto waren hinreissend, voller Lebensfreude. Ein kleiner Junge,<br />

unser kleiner Junge. Gross war unsere Dankbarkeit, vollkommen<br />

unser Glück.»<br />

«Am Unispital leite ich eine Abteilung. Eine anspruchsvolle, hochinteressante<br />

Arbeit. Nach unserer ersten Indienreise verspürte ich<br />

ein Sodbrennen – fühlte mich unwohl. Die ersten Untersuchungen<br />

ergaben keinen schlüssigen Befund. Alles verlief wieder wie<br />

immer. Viel Arbeit, mit den Kindern spielen, wandern. Die schöne<br />

Natur geniessen. Dann im November letzten Jahres wieder diese<br />

Beschwerden. Ich meldete mich für eine gründliche Untersuchung<br />

an. Drei Wochen musste ich warten, hätte beinahe den Termin<br />

vergessen. Der Befund war eindeutig. Ich war gefasst, ruhig. Mein<br />

erster Gedanke – Gott sei Dank traf es mich und nicht meine Frau<br />

oder meine Kinder. Ein Anruf an meine Frau, ein Gespräch mit<br />

meinem Vorgesetzten. Ich kannte diese Schicksale – aus der Literatur,<br />

aus meinem Arbeitsumfeld. Ja, nun hatte es mich erwischt.<br />

Weitere Untersuchungen folgten. Weitere schlechte Nachrichten.<br />

Operationen. Nein, ich hinterfrage mein Schicksal nicht. Bin ruhig.<br />

Möchte meine Würde behalten. Den Tod fürchte ich nicht,<br />

nein, warum auch. Meine mentale Stärke, die hilft, spendet Kraft,<br />

bringt alles wieder ins Gleichgewicht. Natürlich gibt es auch<br />

schwierige Momente. Auch diese werde ich meistern, davon bin<br />

ich überzeugt.»<br />

«Ich will nüd, dass sie trurig sind, wänn ich nüme bi inne bin!»


«Meine Eltern stammen aus dem Kanton Thurgau. Auf dem Land,<br />

ganz abgelegen, sind sie auf einem Bauernhof aufgewachsen.<br />

Karg, enthalt- und arbeitsam war das Leben, der Kampf um das<br />

tägliche Brot prägte den Alltag. Es wurde nicht viel gesprochen,<br />

Gefühle nicht gezeigt. Alle mussten schuften, immer, unaufhaltsam.<br />

Monoton, gleichmässig, tagein, tagaus. Mein Vater zog nach<br />

Zürich. Suchte und fand Arbeit. Seine Verlobte folgte ihm nur wenig<br />

später. Sie war vierundzwanzig. Erstmals in ihrem Leben wohnte<br />

sie in einer grossen, aufregenden, ihr fremden Stadt. Staunend<br />

fuhr sie mit dem Tram kreuz und quer durch die Strassenschluchten.<br />

Verwirrt von all den neuen, aufwühlenden Eindrücken. In<br />

Wollishofen, in einer Genossenschaftssiedlung, wohnten wir. Einzelkind.<br />

In der Siedlung wimmelte es von Kindern. Der nahe Entlisberg<br />

lockte. Auf der Strasse wurde gespielt, geschrieen, gelacht.<br />

Eine schöne, unbeschwerte Zeit.»


«Bald gründete mein Vater sein eigenes Geschäft. Mutter musste<br />

mithelfen. Ein Schlüssel wurde mir mitgegeben; ein Schlüsselkind<br />

war ich. Gesprochen wurde nicht allzu viel. Die Arbeit rief, es gab<br />

immer viel zu tun im Geschäft. Tiefkühlanlagen für Restaurants,<br />

die wurden verkauft und repariert. Stolz war er auf seine Arbeit.<br />

Mutter war unsicher, zögerlich. Mit Fragen musste ich zum Vater.<br />

Die Ferien verbrachte ich bei meinen Grosseltern auf dem Bauernhof.<br />

Ruhig, idyllisch, einfach schön! Weiden, Tiere, Stille.»<br />

«Mami, Mami, schwatzen alle Leute so viel?» «Ich arbeitete einige<br />

Tage in einem Coiffeursalon, interessierte mich für eine Lehrstelle.<br />

Ich war entsetzt, überfordert von dem Geschnatter der Kundinnen.<br />

Nein, diese Arbeit gefiel mir nicht. Um Himmels willen!<br />

Floristin habe ich dann gelernt. Eigentlich gefiel mir die Aufgabe.<br />

Die Kolleginnen vertrug ich nicht. Sie glaubten, etwas Besseres zu<br />

sein. Kleine Künstler eben. Grässlich.»<br />

«Dann, in einem Restaurant, lernte ich meinen Mann kennen.<br />

Er stammte aus Deutschland. Aus dem Norden. Aufgewachsen<br />

ebenfalls auf einem Bauernhof. Die Eltern wurden geprägt von<br />

den Wirren des Krieges. Stalingrad, verschollene Verwandte. Entbehrungen<br />

hielten sie fest im Würgegriff. Dann ging alles sehr<br />

schnell. Ich wurde schwanger, wir heirateten. Das erste Kind starb<br />

kurz nach der Geburt. Das zweite verlor ich nach vier Monaten.<br />

Reglos zog sich mein Mann zurück, flüchtete in die Arbeit. Stumm,<br />

unnahbar. Dann durften wir wieder hoffen. Die Gebärmutter wurde<br />

zugeschnürt, um eine neuerliche Frühgeburt zu verhindern.<br />

Ich aber konnte und wollte mich doch nicht wochenlang hinlegen.<br />

Musste meinem Mann im Geschäft helfen. Wir hatten ja in<br />

der Zwischenzeit das Unternehmen meines Vaters gekauft. Zwei<br />

Kinder, einen Sohn und eine Tochter haben wir. Auch ein Auto<br />

konnten wir uns leisten. Mein Mann benötigte den fahrbaren Untersatz,<br />

um seine Kundschaft zu besuchen. Jedes Jahr fuhren wir<br />

über den Sustenpass. Immer und immer wieder, der Sustenpass.<br />

Wir stiegen auf der Passhöhe aus, ein kleiner Rundgang folgte.<br />

Mein Mann blieb im Auto zurück, immer in kurzen Hosen. Er<br />

konnte und wollte nicht aussteigen, denn es war zu kalt. Als wir<br />

dann eine andere Reiseroute vorschlugen, wurden keine Ausflüge<br />

mehr unternommen. Ende, aus. Mein Mann schuftete, schuftete<br />

ununterbrochen. Tag und Nacht. Mit den Kindern habe ich gespielt,<br />

Ausflüge gemacht, gelacht und gestritten.»<br />

«Am Stammtisch meines Mannes lernte ich die Frau eines Bekannten<br />

kennen. Ja, mit ihr pflege ich einen freundschaftlichen<br />

Kontakt. Meine Tochter begleitete ich bei ihren Landhockey-<br />

Spielen. Auch dort lernte ich eine Frau kennen. Unglaublich aber<br />

wahr, wenn es mir schlecht geht, spürt sie das und ruft mich an.<br />

Oh, nein, selbst würde ich sie deswegen nicht anrufen. Im Verein<br />

habe ich dann gewisse Arbeiten übernommen. Das fand ich toll,<br />

gab mir viel, sehr viel. Nein, Liebesfilme im Fernsehen schau ich<br />

mir nicht an. Das ist doch alles Kitsch, zu süss. Nein, nein.»<br />

«Dann das: Meine Tochter heiratete im Juni 2004. Ich wollte einige<br />

Kilos abnehmen. Hatte keinen Appetit. Ich dachte an ein Magengeschwür.<br />

Ich ging nicht zum Arzt, zuerst das Fest, der grosse<br />

Tag. Erst dann zur Untersuchung; die Diagnose: Krebs. Sieben<br />

Liter Wasser im Körper. Jetzt wusste ich, warum ich nicht essen<br />

konnte! Nur kurze Zeit später, drei Liter Eiter. Was sollte, was<br />

konnte ich tun? Nichts, hinnehmen, akzeptieren. Ohne grosse<br />

Worte, sprachlos, stumm stand mein Mann vor mir, als ich ihm die<br />

schlechte Kunde übermittelte. Arbeit, noch mehr Arbeit, das war<br />

seine Reaktion darauf. Vor Jahren durchlebte ich eine schwierige<br />

Zeit, schrieb meine eigene Todesanzeige. Diese zerriss ich, warf<br />

sie weg, als ich von meiner Krankheit erfuhr. Einen Glauben besitze<br />

ich schon, nur mit dem Bodenpersonal, ja, da habe ich meine<br />

liebe Mühe. Der Tod. Tod? Nein, davor fürchte ich mich nicht!<br />

Nur leiden möchte ich nicht, das ist mein inniger Wunsch.» Ein<br />

unscheinbares Lächeln huscht über ihr feines Gesicht. «Ich lebe,<br />

ich lebe, will sehen, wie mein Enkel heranwächst, darf die Liebe<br />

meiner Kinder geniessen. Ihre Hingabe. Nicht ganz einfach, denn<br />

ich gebe lieber, als dass ich empfange. Was will ich mehr?»


«Ja, diese vielen alten Fotos, sie zeigen meinen Vater. Er war ein<br />

toller Mann, immer liebenswürdig und hilfsbereit, immer ein offenes<br />

Ohr für uns Kinder. Bahnfahrer war er, sehen Sie nur, da war er<br />

neunzehn. Im Gaswerk arbeitete er. Eigentlich hätte er ja Priester<br />

werden sollen – ging in Einsiedeln in die Klosterschule, doch dann<br />

wurde er an die Grenze abberufen, in den Jura nach Delémont.<br />

Dort traf er meine Mutter und es wurde geheiratet. Mein Bruder<br />

starb mit siebzehn. Ein geplatzter Blinddarm. Ein Ärztepfusch.<br />

Stellen Sie sich das vor! Meine Mutter hat das nie verkraftet. Sie<br />

war immer schon etwas eigen – krank eben, krank an der Seele.<br />

Wir hatten ein angespanntes Verhältnis. Mein Bruder war ihr Fixstern.<br />

Doch ich hatte ja den Vater!»


«Ich war ein fröhliches, aufgewecktes und selbstständiges Kind.<br />

Wir hatten eben eine schöne Jugend. Aufmüpfig bin ich gewesen.<br />

Bei einem frommen Onkel mussten wir immer beten, Hände<br />

gefaltet und nach oben gerichtet. Das habe ich nie so gemacht.<br />

Nach unten schauten sie. Ein Zwick mit der Rute gab es dafür. Das<br />

war mir aber gleichgültig. Nurse wollte ich werden. Ging eigens<br />

dafür nach Rorschach in eine Spezialschule. Ziel war Genf. In einer<br />

englischen Familie hätte ich auf die Kinder aufpassen sollen. Doch<br />

dann brach der Krieg aus und mein Vater liess mich nicht ziehen.<br />

Jahre später kaufte er mir einen Coiffeursalon am Stauffacher.<br />

Eine tolle, spannende Tätigkeit. Viele Menschen, viele Schicksale,<br />

unzählige Frisuren. Auch meine Tochter hat mitgeholfen. Beide,<br />

mein Sohn und sie, wohnten lange bei mir. Wir hatten es einfach<br />

gut zusammen. In unserem Haus lebten auch Emigrantenfamilien<br />

aus Italien und Spanien. Die Eltern waren vollauf beschäftigt, Geld<br />

zu verdienen. Ja, dann habe ich mich um deren Kinder gekümmert.<br />

Deutsch mussten sie lernen. Die Schulaufgaben machen. Ja,<br />

man muss doch Gutes tun, wo man kann, denn das Gute wie das<br />

Böse kommen irgendeinmal zurück. Patentante wurde ich von<br />

vielen Flüchtlingskindern. Das ehrte und freute mich sehr. Hunde<br />

hatte ich auch. Sehen sie den dort unten?» «Die Urnen all meiner<br />

treuen Begleiter stehen im Gang. Ich will nicht ins Grab. Nein,<br />

das ist mir zu eng. Verstreut sollen sie werden, meine Überreste,<br />

zusammen mit der Asche meiner Vierbeiner, irgendwo an einem<br />

schönen Ort. Alles schon organisiert.»<br />

«Schon 25 Jahre wohne ich hier. Meinen Mann lernte ich in der<br />

Hälftibar kennen. Er spielte dort die Handorgel. Mensch, war der<br />

eifersüchtig! War ja auch vierzehn Jahre älter als ich. Ein Leben<br />

nach dem Tode? Ach wissen Sie, manchmal wünschte ich mir<br />

das schon – aber eben… Wer weiss denn, wie es sein wird... Da<br />

wollten wir mit den Kindern in den Urlaub fahren. Eine Erkältung<br />

zwang uns, den Arzt zu rufen. Eine Penizilinspritze sollte Erleichterung<br />

bringen – sie brachte den Tod. In wenigen Stunden starb<br />

mein Mann! Unglaublich, unfassbar. Anstatt weisser Strand, die<br />

Totenglocken. Friedlich lag er auf unserem Ehebett, so, als ob er<br />

seinen wohlverdienten Mittagsschlaf machen würde. Den Män-<br />

nern vom Bestattungsinstitut befahl ich, behutsam mit der Leiche<br />

umzugehen. Sie brachten den Sarg beinahe nicht zur Zimmertüre<br />

raus. Da wollte ich meinen Gatten nochmals sehen, nochmals<br />

Abschied nehmen. Ich brach in Tränen aus. Verändert, verängstigt<br />

sah er aus. Am nächsten Tag setzte ich mich mit dem Kindermädchen<br />

aufs Ehebett. Wir besprachen die Situation und weinten zusammen.<br />

Unerwartet, ja beinahe gespenstisch, öffnete sich, wie<br />

von Geisterhand, die Zimmertüre – und schloss sich wieder. Wir<br />

sahen uns ungläubig an. Nun wussten wir, dass er sich für immer<br />

verabschiedet hatte. Nein, über dieses traurige und bestürzende<br />

Ereignis haben wir nie gesprochen, die Kinder und ich. Das Leben<br />

musste ja weitergehen. Ich war noch jung, Zweiunddreissig, in<br />

den besten Jahren. Meine Arbeit half mir weiter, gab mir Kraft<br />

und Freude. Mein Sohn verbrachte fünf Jahre bei meinen Eltern.<br />

Die hatten ja sehr früh eines ihrer geliebten Kinder verloren, waren<br />

pensioniert, hatten Zeit und freuten sich auf die neue Aufgabe.<br />

Das passte dann irgendwie alles zusammen. Nein, nein, geheiratet<br />

habe ich nie mehr. Das musste ich meinem Mann versprechen.<br />

Man kann das Leben ja auch so geniessen.» «Stellen Sie sich vor,<br />

eines Tages kam unser Hausarzt zu mir in den Salon.» «Sie sollten<br />

den jüdischen Flüchtlingen die Haare gratis schneiden!» «Als Gegenleistung<br />

betreute er uns medizinisch – gratis natürlich. Ja, das<br />

war eine aufregende Zeit. Viele der Betroffenen wanderten nach<br />

Amerika aus. Mit den anderen habe ich teilweise noch heute einen<br />

ausgezeichneten Kontakt. Die schönste Zeit meines Lebens?<br />

Ach, eigentlich gibt es davon mehr als genug. Im Internat, da hat<br />

es mir besonders gut gefallen. Die vielen Mitbewohner, die vielen<br />

Kolleginnen, das war aufregend, abwechslungsreich. Ich war ja<br />

eher eine Einzelgängerin. Wussten Sie, dass wir noch Benimmunterricht<br />

hatten? Da wurde uns beigebracht, wie sich ein Mädchen<br />

und wie sich die Jungen zu benehmen hatten. Das waren<br />

noch Zeiten! Herrgott, wenn ich das mit der heutigen Jugend ver-<br />

gleiche… Nein, nein, eine grosse Operation will ich nicht, auch<br />

wenn der Doktor versichert, dass ich diese gut überstehen würde.<br />

Bums und fertig, tot umfallen, das ist doch eine viel befreiendere<br />

Vorstellung, als noch Jahre vor sich hinzudämmern.»


«Also, in Altstetten bin ich aufgewachsen. In diesen riesigen Hochhäusern<br />

– viele Kinder wohnten dort. Alles Spielgefährten. Immer<br />

war etwas los, denn damals konnten wir noch auf der Strasse spielen,<br />

der Wald war ganz in der Nähe. Ach so, ja, meine Eltern. Mein<br />

Vater war auch Lokomotivführer. Er starb jung. Sechs Monate vor<br />

meiner Konfirmation. Das war nicht leicht für meine Mutter und<br />

ganz besonders für meinen sechs Jahre jüngeren Bruder. Wütend<br />

war sie, unglaublich wütend, als ein Beistand ins Haus kam und<br />

nachfragte, wie… Regelrecht rausgeworfen hatte sie diese Amtsperson,<br />

denn schliesslich musste sie ja als junges Mädchen auf ihre<br />

drei kleineren Schwestern aufpassen. Schneiderin war sie und mit<br />

viel Fleiss verdiente sie unser tägliches Brot. Darauf bin ich stolz.<br />

Nein, viel wurde bei uns zu Hause nicht gesprochen. Jeder erfüllte<br />

seine Pflicht. Wie soll ich sagen? Ja, so war es eben. Die Schule beeindruckte<br />

mich nicht besonders. Rechnen und Schreiben. Oftmals<br />

legte sich die Stirn meiner Mutter in Sorgenfalten und sie teilte<br />

mir mit, dass aus mir wohl nichts Rechtes werden würde.»


«Im Walchwiler Berg baute die Jugendgruppe der ehemaligen<br />

Konfirmanden ein Haus. Da gab es immer etwas zu tun. Da wurde<br />

gelacht, gearbeitet und natürlich auch hie und da ein Streich<br />

gespielt.»<br />

«Ein Zentimeter entschied meine berufliche Laufbahn! 1,60 Meter<br />

gross mussten die Lehrlingsanwärter sein, denn nur dann hatten<br />

sie die nötige Grösse, um an der Werkbank ihr Handwerk zu<br />

erlernen. Während der Lehrzeit bin ich dann stolze 24 cm gewachsen.<br />

In den SBB-Werken in Altstetten wurde ich zum Maschinenschlosser<br />

ausgebildet. Bei Escher Wyss arbeitete ich als<br />

Monteur. Das gefiel mir nicht besonders, denn ich war nicht gerne<br />

unterwegs. 1952 kehrte ich dann in die Fahrdienst-Werkstätte<br />

zurück. Als Heizer musste ich meine Sporen abverdienen. Tonnenweise<br />

Kohle habe ich geschaufelt. Mein Ziel war es aber immer,<br />

ebenfalls Lokomotivführer zu werden. Diesen Beruf übte ich<br />

dann zwischen 1958 bis zu meiner Pensionierung aus. Nein, nein,<br />

die Landschaft, die vorbeiziehenden Dörfer und Städte konnte<br />

ich nicht geniessen. Dazu war die Arbeit zu anstrengend, zu<br />

anspruchsvoll. Immer wieder neue Lokomotiven, Signale, immer<br />

die vorgeschriebene Geschwindigkeit einhalten. Ja, da musste ich<br />

mich ganz auf meine Pflichten konzentrieren. Nach meinen Ferien<br />

stapelten sich die neuen Anweisungen und Richtlinien in meinem<br />

Kästchen. Am Klopfen der Weichen konnte ich erkennen, wo der<br />

Zug sich befand. Das war schon ein tolles Gefühl. Ich bin eher ein<br />

Einzelgänger – da fühlte ich mich natürlich in der Führerkabine<br />

besonders wohl. Zuhause erholte ich mich beim Basteln von Lokomotiven,<br />

Wagons und der dazugehörenden Eisenbahnstrecke. Ja,<br />

wie soll ich sagen? So bin ich eben. Ich hatte ein schönes Leben.<br />

Natürlich wurde in der spärlich bemessenen Freizeit auch einmal<br />

ein Jass geklopft. Die Solidarität war gross. Meistens blieb es jedoch<br />

bei einem freundlichen Gruss und einem spannenden Spiel.<br />

Einmal wöchentlich sang ich im Lokomotivführer-Chor – Singen<br />

ist eine schöne Freizeitbeschäftigung. Später wurde ich Mitglied<br />

im Kirchenchor, weil dort auch sakrale Lieder gesungen wurden,<br />

was mir gut gefiel. Oftmals traten wir in Altersheimen oder bei<br />

Veranstaltungen auf.»<br />

«Nachdem ein Lokomotivführer-Chor aus Finnland uns in Zürich<br />

besuchte, fuhren wir in den Norden. Dort traf ich meine Frau,<br />

auch ihr Vater war Lokführer und weil ihre Mutter nicht mitwollte,<br />

begleitete sie ihn. Bald wurde geheiratet – Kinder haben wir keine.<br />

Sie engagierte sich im Dorfleben, denn seit vierzig Jahren wohnen<br />

wir nun schon in Regensdorf. Das Haus bauten wir, weil ihr Bru-<br />

der Diabetes hatte und niemand wusste, was mit ihm geschehen<br />

würde, wenn die Mutter sterben würde. Er heiratete dann, und so<br />

zogen wir beide alleine in unser schmuckes Heim.»<br />

«Nein, nein, mich hat das nie gestört, wenn mein Mann abends in<br />

seinem Zimmer seine Eisenbahnwagen zusammensetzte. Ist doch<br />

viel besser, als wenn ich ihn in der Beiz hätte abholen müssen.»<br />

«Ich hatte einen fürchterlichen Katarrh und Hustenanfälle. Der<br />

Katarrh verschwand, der Husten blieb und die Ärztin machte<br />

sich grosse Sorgen.» «Sagen Sie es mir ruhig, wenn etwas nicht<br />

stimmt.» «Ja, dann wusste ich, dass mein linker Lungenflügel<br />

meine Raucherei nicht überstanden hat. Ich trage es mit Fassung,<br />

mit einer inneren Ruhe. Ein schönes Leben hatte ich ja, ich kann<br />

ganz ruhig diese Welt verlassen. Mache mir auch gar keine Gedanken<br />

darüber. Ich möchte nur in meinen vier eigenen Wänden<br />

abtreten. Das ist mein letzter und einziger Wunsch. Mit meinem<br />

Bruder habe ich ein inniges Verhältnis. Wir telefonieren täglich,<br />

erzählen uns das Neueste. Ja, es ist schon grossartig, einen solchen<br />

Bruder zu haben.»<br />

«Mit dem Pfarrer habe ich bereits gesprochen, den kenne ich ja<br />

vom Kirchenchor. Wenn der Lokomotivführer-Chor ein Abschiedslied<br />

singen will, dann sollen sie das ruhig tun. Ich hab ja dann<br />

nichts mehr davon.»<br />

«Mich ärgert schon, dass ich meine Verabredungen oftmals kurzfristig<br />

absagen muss. Anstelle einer Begegnung, Sauerstoff mit<br />

anschliessendem Schlaf. Wirklich nicht berauschend. Auch mit<br />

dem Hund kann ich keine Spaziergänge mehr machen. Nun, das<br />

ist ja auch nicht so schlimm. Denken Sie doch einmal an all die<br />

Menschen, denen es noch viel schlechter geht als mir – und ganz<br />

besonders an diese gehetzten und immer schlecht gelaunten.<br />

Das Leben ist doch viel zu kurz, um sich den Tag vermiesen zu<br />

lassen. Ich nehme alles an und mache das Beste daraus. Das habe<br />

ich bestimmt von meiner Mutter geerbt, die war auch so. Was<br />

nachher ist – wer weiss das schon? Ich mache mir darüber keine<br />

Gedanken.»<br />

«Ja, ich bin zufrieden, hatte ein glückliches und beschauliches<br />

Leben. Dafür bin ich dankbar und hoffe, dass ich noch einige Zusatzrunden<br />

drehen darf, bevor das Licht erlischt und der Vorhang<br />

fällt.»


«Am Rheinknie in Basel verbrachte ich meine ersten Lebensjahre.<br />

Vater arbeitete als Koch, später bei der Rheinschifffahrt. Mutter<br />

stammte aus Österreich. Bald schon, nur wenige Jahre nach meiner<br />

Geburt, wurde ich bei meinen Grosseltern im Oberwallis untergebracht.<br />

Grossmutter gebar zehn Söhne und eine Tochter. Einfach,<br />

entbehrungsreich war das Leben. Geprägt durch Arbeit, Gebet<br />

und Schweigen. Auf dem Bauernhof gab es immer viel Arbeit.<br />

Trotzdem, es war die Zeit meines Lebens, in der ich Liebe, wahre,<br />

unverfängliche Liebe empfand. Einmal in der Woche stiegen wir<br />

den Berg hinauf zum Broothüsli. Alle, wortlos, erwartungsfroh.<br />

Der Duft des frischen Brotes lag in der Luft – beglückte uns, liess<br />

unsere Augen erleuchten. Abends sassen wir, Knecht, Erntehelfer,<br />

die Grosseltern, mein Bruder, der in der Zwischenzeit auch zu uns<br />

gestossen war, um den grossen Esstisch, falteten die Hände zum<br />

Gebet. Wir bildeten eine verschworene Gesellschaft. Wöchentlich<br />

mussten wir mehrere Kilometer unter die Füsse nehmen, um in der<br />

Kirche voller Kerzen und Weihrauchduft die Messe zu hören, die<br />

Beichte abzulegen. Elektrizität und sanitäre Einrichtungen gab es<br />

damals noch nicht.»


«Mit dem Grossvater, den Geissen auf die Voralp, die Landschaft<br />

geniessen, im Heu übernachten, wie wunderbar! Oftmals winkte<br />

die Grossmutter mit dem Leintuch, dann wussten wir, die Essenszeit<br />

naht. In der Schule hatte ich einen schweren Stand – das Kind<br />

von geschiedenen Eltern, nein, um Gottes willen, mit dem durften<br />

meine Mitschüler nicht spielen. Man weiss ja nie, das passte nicht<br />

in ihr Weltbild. Eines Tages erschien eine Diakonissin, mein Bruder<br />

wurde an die Hand genommen und fremdplatziert. Irgendwo im<br />

Kanton Solothurn. Dann, unerwartet und unverhofft, stand er vor<br />

mir. Mein Vater. Er hatte wieder geheiratet und holte mich zurück<br />

nach Basel. Seine neue Frau war nur zehn Jahre älter als ich. Zweiundzwanzig.<br />

Entwurzelt, tief traurig, verliess ich die Bergwelt, um<br />

in der Grossstadt wieder Fuss fassen zu müssen. Nur wenige Wochen<br />

später standen wir vor dem grossen Spital. Mein Vater kaufte<br />

Blumen und teilte mir mit, dass ich noch ein Geschwisterchen<br />

bekommen werde. Es war eine schwierige, ja schreckliche Zeit.<br />

Arbeiten, arbeiten, den Haushalt machen, auf den kleinen Bruder<br />

aufpassen. Tagein, tagaus. Gespräche wurden keine geführt.<br />

Fragen wurden mit bösen Blicken oder Schlägen beantwortet.<br />

Irgendwo entdeckte ich das Familienbüchlein. Und siehe da, da<br />

stand es schwarz auf weiss. Ich hatte noch eine kleine Schwester.<br />

Ein Schwesterchen, das bei Adoptiveltern in der Ostschweiz lebte.<br />

Schweigen, immer wieder dieses Schweigen auf drängende<br />

Fragen. Dann, eines Nachts, kam er zu mir, mein leiblicher Vater,<br />

schlich sich in mein Bett, betastete mich, zwang mich Dinge<br />

zu tun, die ich nicht wollte. Immer wieder, immer wieder dieser<br />

Mann, mein Vater, der sich an mir versündigte. Stumm, stumm<br />

wie immer, liess ich es geschehen. Ein Albtraum ohne Ende, kein<br />

Ausweg, keine Hoffnung. Als eines Tages Verwandte zu Besuch<br />

kamen, schrie ich das Unglaubliche heraus. Erbrach das Geheimnis,<br />

konnte mich teilweise davon befreien. Ungläubiges Erstarren,<br />

Betroffenheit. Doch schon bald die Vorwürfe.» «Du kannst das<br />

nicht weitersagen. Vater verliert seine Stelle, muss ins Gefängnis,<br />

wir werden kein Geld mehr haben.» «Also schwieg ich, etwas,<br />

das ich ja bis dahin immer getan hatte. Kinderkrankenschwester<br />

habe ich gelernt, denn ich liebte diese unschuldigen Wesen, wollte,<br />

dass es ihnen besser geht. Dann endlich, endlich, die Befreiung.<br />

Volljährigkeit. Ohne Geld und ohne Habe zog ich zu einer<br />

Bekannten nach St. Gallen. Weg, nur weg von all dieser Ungerechtigkeit.<br />

Nach der Arbeit servierte ich noch, half beim Ausschank.<br />

Das gefiel mir, denn dort lernte ich Menschen kennen,<br />

durfte zuhören, Eindrücke sammeln. Aus einem Gast wurde mein<br />

Ehemann. Die Frauen, sein Fuhrpark und die Kiesgrube waren ihm<br />

wichtiger als das traute Heim. Nach vielen Jahren, ein Kind, unser,<br />

mein Kind. Ein Junge. Bald darauf die Scheidung. Morgens, wenn<br />

der Kleine noch schlief, trug ich in unserer Gemeinde Zeitungen<br />

aus. Tagsüber hütete ich Kinder, war Tagesmutter. Abends putzte<br />

ich dann noch für eine Stunde in der Migros die Metzgerei. Natürlich<br />

war mein Sohn immer dabei, denn ich wollte ihn ja nicht alleine<br />

lassen. Bald arbeitete ich dort vermehrt und dort traf ich ihn,<br />

meinen zweiten Mann. Ein Südländer, ein Italiener. Alle wussten,<br />

dass er gewisse Probleme hatte und natürlich dauerte es nicht<br />

lange, bis meine Kolleginnen mich fragten, ob ich denn wieder<br />

auf die Nase fallen wolle? Es ist ja schliesslich meine Nase, gab<br />

ich ihnen zur Antwort. Seit vierzehn Jahren sind wir nun glücklich<br />

verheiratet. Die Zeit war entbehrungsvoll, geprägt von Kampf und<br />

Mühsal. Wir haben alles gemeinsam gemeistert. Darauf bin ich<br />

stolz. Meinem Sohn war er von Anfang an ein guter Freund. Wie<br />

oft haben wir in unserer Stube die Spiele der Kloten Flyers mitverfolgt.<br />

Gelitten und geschrien. Ein Glas Wein, viele Bekannte. Das<br />

war toll! Wunderschön! Ja, wir gehören und halten zusammen.<br />

Ferien im Wallis, in den Bergen, in der freien Natur. Dann, vor zwei<br />

Jahren. Ein Kontrolluntersuch, ein vernichtender, niederschmetternder<br />

Befund: Krebs, unheilbar. Ich fühlte mich wie tot, niedergestreckt<br />

von einer eisernen Faust. Endlich hatte ich Frieden, eine<br />

liebe Familie und jetzt das. Ungeheuerlich, ungerecht, grauenvoll.<br />

Doch langsam, sehr langsam nur erwachte ich aus diesem Albtraum.<br />

Brauchte viel Zeit, Zeit für mich, Zeit, um über das Leben,<br />

mein Dasein nachzudenken. Immer wieder keimte Hoffnung auf.<br />

Eine Therapie, da ein Eingriff, dort Schmerzen, die Leber streikte,<br />

die Haut schwoll an. Immer wieder Morgenröte, wo es eigentlich<br />

nie eine gab. Jetzt, seit einigen Monaten habe ich die Krankheit<br />

akzeptiert. Ich kämpfe nicht mehr, ich lebe. Das klingt eigenartig,<br />

aber ich habe immerfort gekämpft ums Überleben, gegen das Unrecht,<br />

das mir angetan wurde. Ich verspüre dadurch eine grosse<br />

Erleichterung, eine Befreiung. Endlich angekommen, kann ich gelassener<br />

und entspannter das Schicksal, meine Zeit auf Erden hinnehmen.<br />

Das schärft meinen Blick, stimmt mich grosszügiger. Ich<br />

kann meinen Peinigern vergeben. Das ist unbestritten ein gutes,<br />

befreiendes Gefühl. Mein Mann, mein toller Sohn, meine Freundin,<br />

die ich ja im Spital kennengelernt habe, begleiten mich, teilen<br />

den Alltag noch inniger, noch herzlicher mit mir. Meinem Vater<br />

bin ich nur noch einmal begegnet. Mein Bruder starb vor zwei<br />

Jahren. Meine Schwester, die kenne ich nicht. Obwohl eigentlich<br />

meine Nächsten, waren sie letztlich nur Wegelagerer auf einer<br />

langen, mühsamen Wanderung. Traurig stimmt mich nur, dass ich<br />

wohl nie ein Enkelkind in den Armen halten werde.»<br />

«Den Tod fürchte ich nicht. Ich bin schon so viele Tode gestorben.<br />

Ich bete, meine Gebete, die mir aus früher Kindheit vertraut sind.<br />

Sie geben mir Kraft. Kraft, den letzten Abschnitt meines Lebens<br />

zu gehen, den Weg in den Himmel. Von dort werde ich dann auf<br />

die Erde schauen, Anteil nehmen und schmunzeln.»


«Nur wenige Hundert Meter von hier entfernt, im Gaswerk, bin<br />

ich aufgewachsen. Dort arbeitete mein Vater, dort wohnten wir.<br />

Der Kreis 4 und 5 trennten nur wenige Hundert Meter und doch<br />

Welten. Dort die Arbeiter, mit ihrer eigenen Sprache. Hier die Beamten.<br />

An schulfreien Nachmittagen gab es regelmässig Strassenkämpfe<br />

zwischen den Jugendlichen aus den jeweiligen Kreisen.<br />

Meine beiden Geschwister durften ins Schulhaus um die Ecke. Ich<br />

musste die magische Grenze überschreiten, um mein kleines ABC<br />

zu lernen. Da wurde ich natürlich entsprechend kritisch empfangen<br />

und lernte mich gleichzeitig früh durchsetzen. Jede Genossenschaftssiedlung<br />

war eine Welt für sich. Wir durften die anderen<br />

Siedlungen nicht betreten. Gemüse wurde angebaut. Ein Kindergarten<br />

befand sich im Hof. Es gab gute und schlechte Eltern. Jene,<br />

welche die Kinder mit Schlägen auf den Kopf, auf den Hintern und<br />

mit dem Gürtel züchtigten. Wir, mein Bruder und meine Schwester,<br />

wurden nie geschlagen. Meine Grosseltern und Eltern waren<br />

Anhänger der reformierten Religions- und Sozialbewegung, die<br />

von Leonhard Ragaz ins Leben gerufen wurde. Das Limmathaus<br />

war Ort der Begegnung.»


«Meine Mutter verbrachte ihre Jugendjahre in einem Armenhaus<br />

in Mogelsberg. Der Vater, ein unbekannter Soldat, die Mutter eine<br />

junge Frau. Beide unauffindbar – weg. Trotz den erschwerten<br />

Umständen verlebte sie eine schöne Jugend. Genügend Nahrung,<br />

eine enge Beziehung zu den drei Töchtern des Heimleiters und<br />

viel, viel Freiraum – Viehmärkte, Volksfeste. Dann Wegzug in die<br />

ferne, unbekannte Grossstadt.»<br />

«Vaters Grosseltern kamen aus gutem Hause. Er gebildet, Mittelschullehrer,<br />

heiratete eine um Jahre jüngere Frau mit gutem<br />

Ruf. Sieben Kinder. Auch sie unterstützen die Ideen von Leonhard<br />

Ragaz. Gewährten Darlehen – dann die Wirtschaftskrise, das Geld<br />

war weg. Ein Schock, ein schmerzlicher Verlust, über den nie, nie<br />

gesprochen wurde.»<br />

«Im Apollo trafen sich die Roten Falken, die Jung-Sozis. Voller<br />

Energie und Tatendrang und mit grossen Plänen. Mittwoch wurde<br />

auf der grossen Bühne gesungen. Die Besten erhielten einen<br />

Nussgipfel geschenkt. Wo es spannend und lustig war, dort war<br />

auch meine Mutter anzutreffen. Meine Mutter servierte, kochte,<br />

half wacker mit, wo es Arbeit gab. Die Familie meines Vaters<br />

war ganz und gar nicht begeistert von der Wahl ihres Sohnes.<br />

Nicht standesgemäss. Unter der Woche arbeitete mein Vater – da<br />

blieb wenig Zeit für die Familie. An den Wochenenden fuhren<br />

wir ins Grüne. Die Roten Falken besassen auf den Lägern eine<br />

Hütte. Dort spielten wir mit den Kindern der Genossen, freuten<br />

uns am Lagerfeuer, an der Natur. Unsere Mutter erzählte uns Geschichten,<br />

hatte immer ein offenes Ohr, war verlässlicher Anker<br />

in unserem Leben. Doch unmerklich, schleichend verdüsterte<br />

sich der Horizont. Meine Mutter wollte mehr. Wollte Anerkennung,<br />

Bestätigung. Immer war sie da, um die Telefonanrufe für<br />

das Gaswerk zu beantworten. Nie ein Dankeschön, nie ein Blumenstrauss.<br />

Plötzlich war sie, für einige Stunden nur, weg. Jassen,<br />

dann Glücksspiel, Spielautomaten. Im Laden nebenan borgte sie<br />

sich Geld. Bald bemerkte ich, dass sich ihr Leben veränderte. Ich<br />

half, wo ich konnte. Machte einen grossen Bogen um die Gläubiger.<br />

Als der Vater davon erfuhr, hagelte es böse Worte. Von Scheidung<br />

war die Rede – dann lebten sie stumm nebeneinander her.<br />

Tabletten, immer mehr Tabletten schluckte sie, sie die immer vom<br />

grossen Gewinn träumte. Sie, die das Geld auf den Küchentisch<br />

legen wollte und damit die Anerkennung erzwingen wollte, die<br />

ihr nicht gewährt wurde. Traurig.»<br />

«In Rüschlikon besuchte ich im Bodmergut das bäuerliche Haushaltsjahr.<br />

Arbeiten, arbeiten in geordneten Verhältnissen, das gefiel<br />

mir. Dann, bei Forster an der Bahnhofstrasse, erlernte ich den<br />

Beruf der Tapeziernäherin. Als ich mich dann für eine Arbeiterin<br />

einsetzte, wurde ich fristlos entlassen. Die Gewerkschaft hat sich<br />

dann für uns eingesetzt und so entstand mein Kontakt zu der Sozialdemokratischen<br />

Partei und zur Gewerkschaft. Max Weber, ein<br />

Bundesrat, gründete einen Fonds, um Gewerkschaftsfunktionäre<br />

auszubilden. Davon profitierte ich, bildete mich weiter, arbeitete<br />

für das Schweizerische Arbeiterhilfswerk, war Zahlstellenleiterin<br />

der Krankenkasse SKBH, entwickelte Projekte für Arbeitslose. Von<br />

1979 bis 1993 war ich Mitglied des Kantonsrats.»<br />

«Ich lese viel, male Bilder. Sehen Sie, die sind auch von mir. Das<br />

rechts an der Wand entstand 1990, als ich in einer Krise steckte.<br />

Das ganz links entstand, als ich von meiner Krankheit erfuhr. Ach,<br />

mit den Männern, ja, das hat nie ganz funktioniert. Wer weiss,<br />

vielleicht ist es besser so. Vielleicht wäre ich in der Zwischenzeit<br />

schon längst geschieden. Nein, das beschäftigt mich nicht. Ich<br />

glaube nicht, dass ich da Grosses verpasst habe. Kinder konnte ich<br />

ja keine bekommen. Da bin ich lieber gereist. Nach China, Nepal,<br />

Jemen, Guatemala – fremde Länder, neue, inspirierende Eindrücke.<br />

Faszinierend, bereichernd. Das beglückte mich. Bücher lesen,<br />

eintauchen in andere Lebensweisen, in Abenteuer. Die Arbeit im<br />

Parlament, die Arbeit für die Benachteiligten – einen, meinen<br />

Beitrag leisten für eine humanere Welt, das bewegte, motivierte<br />

mich.»<br />

«Dann, im Frühjahr 2003 musste ich mich immer wieder übergeben,<br />

fühlte mich elend. Die Gallenblase wurde entfernt und<br />

am Zwölffingerdarm wurde ich operiert. Die Diagnose: Ein sehr<br />

seltener Darmkrebs. Lebenserwartung: Höchstens sechs Monate.<br />

Ich lebe noch immer, bin dankbar dafür – bin grosszügiger geworden.<br />

Unglaublich, meine erste Reaktion war eine gewisse Erleichterung,<br />

endlich eine Pause. Doch dann, die Auseinandersetzung<br />

mit dem Tode – die Frage nach dem Wert des Lebens. Kein Selbstmitleid,<br />

nein, nein. Das Dasein ist ein Kreislauf – ich bin Energie<br />

und werde wieder zu Energie. Es ist wie Frühling, Sommer, Herbst<br />

und Winter. Jede Jahreszeit verzaubert, birgt Schönheiten und<br />

Herausforderungen. Ich erwartete von den Hilfesuchenden, die<br />

ich begleitete ja auch, dass sie ihr Leben in die eigenen Hände<br />

nehmen, meistern. Da werde ich jetzt auch selbst mit dieser Aufgabe<br />

fertig!»


«Was soll ich erzählen?» «Mein Vater, mit dem habe ich es sehr<br />

gut – ich bewundere ihn. Zwei Brüder habe ich noch. Mit dem<br />

sechs Jahre jüngeren verstehe ich mich besonders gut. Ich hatte<br />

eine Jugend ohne grössere Probleme. Meine Mutter war nicht<br />

besonders zärtlich und einfühlsam. Immer wieder musste ich alle<br />

möglichen Arbeiten im Hause verrichten, denn auch sie arbeitete<br />

aushilfsweise in einer Bäckerei. Ich war eben der flinkste von uns<br />

Buben. Trotzdem blieb noch Zeit, um mit dem Zelt und dem Töffli<br />

meine kleine Welt zu entdecken. Zeichnen, das macht mir auch<br />

grosse Freude. Mein Vater arbeitete viel, gab sein Bestes und wurde<br />

überall dafür respektiert. Für die Belange der Arbeiter setzte er<br />

sich ein, war in der Gewerkschaft. Das Wochenende war dann für<br />

die Kinder reserviert. Ausflüge in die Natur liebte ich ganz besonders.<br />

Da wurden dann auch Gedanken ausgetauscht. Unser erster<br />

Urlaub im Ausland war natürlich ein ganz besonderes Erlebnis –<br />

Italien, der Süden, Sonne und Meer. Die Mutter begleitete uns selten,<br />

fand das alles unnütz. Schade eigentlich.»


«Nach Oerlikon zur ABB ging ich in die Lehre. Elektromechaniker,<br />

das war mein Traumberuf. Weitergebildet habe ich mich und bald<br />

wurde ich in der ganzen Schweiz auf Montage geschickt. Einmal<br />

durfte ich sogar nach Spanien. Kollegen hatte ich viele, denn ich<br />

hatte immer gute Ideen und das fanden sie natürlich toll.»<br />

«Da sass ich mit einem Kumpel in einem Restaurant. Zwei junge<br />

Frauen kamen herein und wollten das Lokal wieder verlassen, weil<br />

die Preise zu teuer waren. Diese Gelegenheit liessen wir uns natürlich<br />

nicht entgehen und luden die beiden ein. Daraus entstand<br />

eine Freundschaft und einige Jahre später heirateten wir. Das war<br />

ein Glücksfall – schon zwanzig Jahre gehören wir nun zusammen.<br />

Ich spürte bald, dass diese Herzlichkeit, diese offene und liebevolle<br />

Art genau das ist, was ich schon immer gesucht hatte.»<br />

«Natürlich gibt es auch bei uns Meinungsverschiedenheiten. Oft<br />

ärgere ich mich, dass die Sachen nicht immer an ihrem Platz sind.<br />

Wenn ich bedenke, dass bei uns zu Hause alles immer millimetergenau<br />

ausgerichtet in den Schränken versorgt wurde. Doch dann<br />

lachen wir darüber und alles ist wieder gut.»<br />

«Eine unserer Töchter ist taub. Zuerst war das ein Schock für uns.<br />

Wie wird sie das Leben meistern? Wie wird sie sich zurechtfinden?<br />

Ich musste vermehrt körperliche Nähe zulassen. Umarmungen,<br />

Chüssli, das war nicht einfach, war eine grosse Herausforderung<br />

für mich. Aber schön ist es! Ich wechselte den Arbeitsplatz, fand<br />

eine tolle Stelle hier in der Stadt, denn ich wollte doch bei meinen<br />

Kindern sein, wollte an ihrem Leben, ihren kleinen und grossen<br />

Sorgen teilhaben. Ich bin ein glücklicher Vater – vier Kinder wurden<br />

uns geschenkt. Zwischen achtzehn und zehn Jahre alt. Drei<br />

Töchter und ein Sohn. Die jüngsten sind Zwillinge.»<br />

«Dann, vor einem Jahr, kurz nach dem grossen Stadtfest, verspürte<br />

ich einen Schmerz im Rücken. Nein, zum Doktor wollte<br />

ich nicht. Das geht schon wieder vorbei. Wenig später wurde<br />

ich notfallmässig ins Spital eingeliefert. Grauenvolle, grässliche<br />

Schmerzen. Untersuchungen, nachdenkliche Gesichter. Dann die<br />

Diagnose: Unheilbar, sechs Monate… Mein Zimmer teilte ich mit<br />

Schicksalsgenossen. Dreissig Jahre alt war er, mein Kollege, eine<br />

Tochter, sechs Monate alt. Wir erzählten uns Geschichten, weinten<br />

zusammen. Dann, eines Abends, wurde er aus dem Zimmer<br />

geführt, wenige Stunden später verstarb er.»<br />

«Warum gerade ich? Warum ich, ich bin doch erst 43 Jahre alt!<br />

Die Kinder, meine Frau, sie wissen ja gar nicht, was auf sie zukommt!<br />

Genug, genug.»<br />

«Alles ist verätzt. Ich kann nicht mehr essen. Ha, ich lebe noch –<br />

die sechs Monate sind schon längst abgelaufen. Für wie lange?<br />

Niemand weiss es. Tage, Wochen?»


«In Staufen, im Kanton Aargau bin ich aufgewachsen, mit einer<br />

Zwillingsschwester und drei weiteren Geschwistern. Ausserhalb<br />

der Gemeinde, dort, wo die Hasen und Füchse sich gute Nacht<br />

sagen, baute mein Vater ein grosses Haus. Er war ein schweigsamer<br />

und fleissiger Staatsangestellter. Meine Mutter verdiente<br />

als Heimarbeiterin mit. Früher trugen die Frauen der besseren Gesellschaft<br />

noch Mieder und dort mussten, in mühseliger Kleinarbeit,<br />

die Häkchen angebracht werden. Immer derselbe monotone<br />

Arbeitsablauf. Jede Woche mussten meine Schwester und ich die<br />

Ware im Leiterwagen in der sechs Kilometer weit entfernt gelegenen<br />

Fabrik abliefern. Auf dem Heimweg stritten wir dann herzhaft,<br />

wer im leeren Wagen Platz nehmen durfte. Die anderen Geschwister<br />

waren einige Jahre älter und somit hatte ich mit diesen<br />

wenig zu tun. Alle Grosseltern waren bereits gestorben, und auch<br />

unter den Familienmitgliedern wurde nicht viel diskutiert und unternommen.»


«Mein Vater war ein guter und leidenschaftlicher Sänger. Immer<br />

wieder hörten wir schon von weitem seine tolle Stimme die gängigen<br />

Lieder singen. Alle in unserer Familie sangen und so kam<br />

es, dass wir Zwillinge bald an jedem Fest die Gäste unterhielten.<br />

Wenn unsere Mutter an einer Hochzeit für das Wohl der Festgemeinde<br />

sorgte, wurden wir in eine Tracht gesteckt, mit Lackschuhen<br />

und Seidenhosen versehen, und schon erklangen unsere<br />

reinen Stimmen im Duett. Die grosse Küche war unser Lebensmittelpunkt.<br />

Das Wohnzimmer war für uns Kinder Sperrzone, dorthin<br />

durften wir nicht. Da wurde teilweise noch mit Holz geheizt.<br />

Rauchig und stickig war es – aber auch gemütlich. Immer wieder<br />

klopften Fremde an die Tür. Ihnen wurde eine Suppe gereicht,<br />

bevor sie dann ihre Reise fortsetzten. Samstags wurde gejasst.<br />

Gerne schaute ich meiner Mutter über die Schultern und schon<br />

bald war ich Dreikäsehoch ein ausgewiesener Fachmann. Mit den<br />

Jungen aus der näheren Umgebung tollten wir im Wald herum,<br />

sammelten Tannenzäpfe und verkauften diese für ein bescheidenes<br />

Taschengeld. Die Milch der umliegenden Bauern brachten wir<br />

in die Käserei und auf dem Heimweg wurde viel geschwatzt. Mein<br />

Vater kaufte immer wieder Liegenschaften. Häuser, die sonst niemand<br />

wollte. Wir, die ganze Familie, mussten dann an den Wochenenden<br />

mithelfen, diese wieder auf Vordermann zu bringen.<br />

Das war eine anstrengende Arbeit, aber noch heute profitiere ich<br />

davon.»<br />

«In der Schule hatte ich keine Probleme. Alles verlief ohne grosse<br />

Aufregungen – unspektakulär eben. Dann nach der Sekundarschule<br />

ging es für ein Jahr in die französische Schweiz. Bei einem<br />

Bäcker musste ich jeden Morgen die frischen Backwaren austragen.<br />

Französisch wurde nicht allzu oft gesprochen, denn all meine<br />

Freunde kamen aus unserer Gegend. Die Hausmädchen, welche<br />

das Frischgebackene entgegennahmen, waren meistens auch<br />

aus der deutschen Schweiz. Beim Notar unseres Dorfes wurde<br />

ich Verwaltungslehrling. Vater war mächtig stolz und schenkte<br />

mir eine Hermes Schreibmaschine, eine der ersten in der Gegend.<br />

Nach Lenzburg musste ich in die Berufsschule und im Winter mit<br />

dem Fahrrad in die verschiedenen Gemeinden rund um den Hall-<br />

wilersee, denn dort wurden wir in Staatskunde unterrichtet. Meine<br />

erste Arbeitsstelle trat ich beim Strassenverkehrsamt der Stadt<br />

Zürich an, als Kanzlist dritter Klasse. Nur der Kanzlist erster Klasse<br />

durfte mit dem Chef sprechen. Ja, so war das damals! Dann,<br />

nach einigen weiteren kurzen Tätigkeiten, arbeitete ich während<br />

Jahrzehnten als Steuersekretär in zwei Seegemeinden am linken<br />

Seeufer und für den Kanton. Bei den Mitarbeitern war ich beliebt.<br />

Immer wenn irgendwo was zu besprechen war, kamen sie zu mir<br />

und gemeinsam konnten wir unsere Belange durchsetzen. Seit<br />

einigen Jahren betreibe ich ein Treuhandbüro, in dem einer meiner<br />

Söhne auch mitarbeitet. Diese Aktivitäten machen mir noch<br />

heute viel Spass.»<br />

«Die Liebe, ja die Liebe, ein grosses Wort, ein Wort, auf das wohl<br />

jeder Mensch seine ganz spezielle Antwort hat. In Lausanne, als<br />

kleiner, junger und unschuldiger Bursche von knapp sechzehn Jahren<br />

öffnete eine ebenso junge Hausangestellte mir die Haustüre,<br />

um die Backwaren entgegenzunehmen. Wir trafen uns, hin und<br />

wieder. Dann sass sie bei uns zu Hause am Küchentisch. Sie sei ein<br />

anständiges Mädchen – davon war meine Mutter überzeugt. Mit<br />

zweiundzwanzig Jahren verlobten wir uns. Ein Jahr später wurde<br />

geheiratet. Eine Schicksalsgemeinschaft… Ich war ein strenger,<br />

aber gerechter Vater. Im Keller hatten wir eine Eisenbahn – dort<br />

spielten wir, dort waren wir zusammen. Meine Eltern luden die<br />

ganze Familie jedes Jahr in die Ferien ein. Gemeinsam erkundeten<br />

wir die Gegend, die Natur. Meine Frau, sie war Mutter, ich<br />

Steuersekretär. So verging die Zeit. Wir lebten unter einem Dach,<br />

gemeinsam, aber ohne allzu viele Gemeinsamkeiten.»<br />

«Doch, doch, ich bin ein stiller Geniesser, liebe das Leben, gehe<br />

mit offenen Augen durch den Alltag und freue mich, wenn kleine<br />

und grosse Überraschungen sich unverhofft anbieten. Da bin ich<br />

nicht abseitsgestanden.» Die Augen leuchten verschmitzt. «Jeder<br />

ist eben doch seines eigenen Glückes Schmied, muss die Gelegenheiten<br />

beim Wickel packen. In meiner Wohngemeinde gründete<br />

ich eine Seniorenblasmusik. Keine einfache Angelegenheit, denn<br />

jeder bringt ja seine Macken mit. Ich selbst spiele Sousaphon. Natürlich<br />

jasse ich auch noch wöchentlich und da geht es, weiss<br />

Gott, oft hoch zu und her. In einem der Restaurants des Dorfes<br />

bin ich regelmässig am Stammtisch anzutreffen. Trinke meinen<br />

Tee und höre mir die neuesten Geschichten und Gerüchte an,<br />

sehe Freundschaften entstehen und zerbrechen.»<br />

«Vor wenigen Monaten dann die ernüchternde Diagnose: Darmkrebs,<br />

Chemotherapie. Ich konnte es nicht fassen. Leber, Herz und<br />

Nieren funktionieren ja einwandfrei! Ich war schockiert. Sollte das<br />

das Ende sein? Nein, sicher nicht. Mir gefällt es auf dieser Erde,<br />

mit all diesen vielfältigen kleinen und grossen Geschichten. Vor<br />

dem Tode fürchte ich mich nicht, aber das letzte Kapitel, das darf<br />

noch nicht geschrieben sein.»


«Meine Eltern stammen aus der Gegend von Padua. Beide kamen<br />

in die Schweiz, nach Zollikon. Mein Vater arbeitete als Strassenbauer.<br />

Meine Mutter diente in den Haushaltungen reicher Leute.<br />

Beim Tanz lernten sie sich kennen.» «Pass auf, das ist ein ganz<br />

Gefährlicher», so lauteten die Kommentare von den Verwandten.<br />

Doch schon bald waren die beiden ein Paar. In Italien wurde Hochzeit<br />

gefeiert. Ein schönes Fest – alle Verwandten waren anwesend.<br />

Die Kirchenglocken läuteten – das Glück war perfekt. «Mein Bruder<br />

ist vier Jahre älter als ich. Wie der Vater, eher der ruhigere Typ.<br />

Ich war der Liebling von allen. Lange, dunkle, glänzende Haare mit<br />

wunderschönen Locken. Meine Mutter hatte das Sagen zu Hause.<br />

Sie übernahm die Verantwortung, schaute, dass alles mit rechten<br />

Dingen zu und her ging, das Geld nach Hause geschickt wurde.<br />

Viel Zeit für die Kinder blieb da nicht. Trotzdem, ein leichter Klaps,<br />

ein liebevoller Blick, das waren Zeichen der tiefen, umfassenden<br />

Zuneigung. Ich wusste, ich spürte, dass ich geliebt wurde. «Mit<br />

Vater machte ich samstags, nach dem Einkaufen, einen Ausflug an<br />

den Weiher oberhalb von Küsnacht. Da stand er, schaute aufs Wasser,<br />

fasste meine Hand und mit leiser, etwas wehmütiger Stimme<br />

erzählte er kleine Geschichten aus seiner so innig geliebten und<br />

vermissten Heimat. Ich schaute den Enten zu, umgarnt von all diesen<br />

lebendigen und bunten Bildern des Südens.»


«Am Sonntag versammelten sich alle Italiener im grossen Park.<br />

Die Frauen erzählten sich die neuesten Geschichten, laut, lachend,<br />

fröhlich. Die Männer spielten Boccia. Es ging um Sieg und Ehre.<br />

Die Kinder rannten wie wild um die Feuerstelle. Das grosse Gelage<br />

gehörte dazu. Alle um einen Tisch versammelt. Eine verschworene<br />

Gesellschaft, geprägt durch dieselben Sehnsüchte, Nöte und<br />

Hoffnungen und geheimen Wünsche.»<br />

«In der Schule wurde ich anfänglich nicht gut aufgenommen. Ich<br />

war ein Ausländerkind – eine Fremde. Doch durch meine fröhliche<br />

und unkomplizierte Art änderte sich das bald. Der erste Schulschatz,<br />

der darauffolgende Liebeskummer. Dann, als junge Frau,<br />

schlich ich mit meiner ersten Liebe zum Jachthafen runter. Dunkel<br />

war es und niemand sah, wie wir unter der Plane eines Segelschiffes<br />

verschwanden. Dort geschah es – zum ersten Mal.»<br />

«Bei Feldpausch ging ich in eine Verkäuferinnenlehre. Die Welt<br />

der Mode, der eleganten Frauen, das gefiel mir natürlich besonders<br />

gut. Ich hatte grossen Erfolg, alle wollten von mir bedient<br />

werden. Das war ein beglückendes Gefühl.»<br />

«Nach der Lehre wollte ich etwas ganz anderes machen. Servierte<br />

im «Splendid» im Niederdorf. Heuerte beim Zirkus Royal an.<br />

Als Mädchen für alles. Diese besondere Welt, die Manege, voller<br />

Zauber, der Geruch nach Tieren und der Applaus der begeisterten<br />

Zuschauer, welch ein Leben! Als Clown trat er auf im Scheinwerferlicht.<br />

Brachte die Leute zum Lachen. Es war Liebe auf den<br />

ersten Blick. So, als ob wir uns in einem früheren Leben schon<br />

einmal begegnet wären. Heute empfinden wir immer noch so,<br />

wie damals – ein Glücksfall und wunderbar. Auftritte in vielen<br />

Ländern folgten. Oftmals war ich dabei, wenn nicht, arbeitete ich<br />

in Zürich. Dann wollte ich für einige Monate in die Ferne, in die<br />

Vereinigten Staaten von Amerika. Dorthin, wo so viele Vorfahren<br />

meiner Eltern ihr Glück versuchten. Viel habe ich gesehen, gelernt.<br />

Die Eindrücke haben Spuren hinterlassen. Trotzdem war ich<br />

froh, nach einigen Monaten meinen Freund wieder in die Arme<br />

schliessen zu können. Wir heirateten und bekamen einen Sohn.<br />

Ein toller junger Mann!»<br />

«Eines Morgens, vor gut vier Jahren, wachte ich auf und verspürte<br />

einen Knoten in meiner Brust. Was soll das denn, das kann<br />

doch nicht sein. Meine Freundin, eine Ärztin, brachte mich sofort<br />

ins Spital. Wenige Tage später wurde operiert. Die Brust war<br />

weg. Meine Brust – Teil meiner Weiblichkeit. Schlimm – warum<br />

gerade jetzt? Wir haben es doch so schön. Zögernd frage ich<br />

meinen Mann, wie ich denn aussehe, so, so ohne….» «Ach das<br />

macht doch nichts. Es ändert doch an unserer Liebe nichts.» «Das<br />

beruhigte mich sehr, gab mir Kraft. Chemotherapien verbesserten<br />

die Situation. Wir flogen auf die Malediven, liebten das Leben,<br />

liebten uns genauso wie vor vielen Jahren. Im Dezember letzten<br />

Jahres verschlechterte sich die Situation zusehends. Die Krankheit<br />

breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Ich habe Schmerzen,<br />

kann nur noch mit leiser Stimme sprechen. Ich habe mich entschieden,<br />

ich will nicht mehr weiterleben – will keine lebensverlängernden<br />

Medikamente. Meinen Entschluss besprach ich mit<br />

meinen Angehörigen. Tränen flossen, doch die Liebe war grösser,<br />

bildet das Fundament, so dass wir alle die ausweglose Lage akzeptieren<br />

können. Meinem Sohn habe ich einen langen Brief geschrieben,<br />

hab ihm erklärt, dass Mami jetzt gehen möchte auf<br />

eine grosse Reise, – dass sie aber immer bei ihm sein werde. Eine<br />

lustige Beisetzung soll es werden, ich will nicht, dass alle traurig<br />

sind. Wir hatten und haben es doch so gut zusammen. Wer kann<br />

denn das so uneingeschränkt von sich behaupten? Angst verspüre<br />

ich nicht. Respekt schon. Respekt vor dem Unbekannten – dem<br />

Abschiednehmen von dieser Erde und dem Hinübergleiten ins Unbekannte.<br />

Ich stelle mir das als eine grosse, helle Ebene vor – mit<br />

vielen bunten Blumen, wohl duftend, frisch.»<br />

«Wenn ich in meinem Bett liege und ein neuer Tag anbricht, dann<br />

geh ich auf Reisen – einmal stehe ich mit meinem Vater am Weiher,<br />

lausche seinen Worten. Ein andermal rieche ich den Pferdemist<br />

aus der Manege und schaue in die leuchtenden Augen des<br />

Clowns, meines Mannes. Gute, beglückende, stärkende Gefühle.<br />

Dankbarkeit erfüllt mich, denn ich durfte all dies während Jahren<br />

erleben.»<br />

«Als Kind wusste ich, wohin ich gehörte. Ein Blick, ein Händedruck.<br />

Ich hatte Boden unter den Füssen. Sah immer das Gute<br />

und Positive. Erfreute mich an den kleinen Dingen des Lebens.»<br />

«Heute erlebe ich die gleichen Emotionen. Sie geben mir Kraft,<br />

den inneren Frieden, die Gewissheit, dass alles gut werden wird.<br />

Dass mein Mann, mein Sohn, meine Mutter ihren Weg gehen<br />

werden und nach dem Trennungsschmerz, gestärkt durch diese<br />

wundervolle Liebe, ihr Glück wieder finden werden. Ich werde sie<br />

begleiten, werde in Gedanken einige Blumen pflücken und ihnen<br />

damit Freude bereiten.»


«In Langnau am Albis bin ich aufgewachsen. Vierzehn Kinder<br />

waren wir zu Hause. Meine Mutter war eigentlich meine Grossmutter.<br />

Ja verrückt, aber dazu mehr später. Aus Stettin waren sie<br />

während des Krieges in die Schweiz geflohen. Mein Grossvater<br />

war ja Schweizer. Dort, in der Ferne, besassen und verwalteten sie<br />

ein riesiges Landgut. Dann, in der neuen Heimat, die Arbeit in der<br />

Spinnerei, der soziale Abstieg, die Schmach, der Neuanfang ohne<br />

Hoffnung. Der Kampf ums Überleben, unerbittlich, hart. Drei in<br />

einem Bett – drei Betten in einem Zimmer. Oftmals mussten wir<br />

sogar im Kerzenlicht den Landstreifen, den wir zwischen Fluss und<br />

Bahnschiene zugewiesen bekamen, umpflügen, damit die Kartoffelschösslinge<br />

gesetzt werden konnten. Grossvater starb früh. Diskutiert<br />

wurde nicht viel, die Müdigkeit wog bleiern in den Gliedern,<br />

nebelte uns ein, lähmte uns. Eine Ohrfeige war die Antwort auf<br />

eine kleine Untat. In einem alten Riegelhaus wohnten wir. Früher<br />

wurden hier die Pferde gewechselt auf der Reise in den Süden. Am<br />

ersten Schultag musste jeder Schüler vor die Klasse treten, seinen<br />

Namen und den seines Vaters und dessen Beruf mitteilen. «Äh, de<br />

Richi isch es unehelichs Chind.» Ich schaute immer genau hin – bei<br />

den Bauern, denen ich in der Freizeit helfen musste, auf den Ausflügen<br />

in die Wälder. Ich wollte etwas leisten, wollte immer mein<br />

Bestes geben. Den geraden, schnörkellosen Weg einschlagen. Nur<br />

nie in die Spinnerei – das war mein erklärtes Ziel. Durch Leistung<br />

verschaffte ich mir Respekt, gewann dadurch Freunde. Der Kleingeist,<br />

die Missgunst, die unaufrichtige Freundlichkeit begleiteten,<br />

irritierten mich, verwandelten mich zum stillen Rebellen.»


«Achtzehn Jahre alt war ich, als ich erfuhr, dass eines der vielen<br />

Kinder meiner Grossmutter meine leibliche Mutter war. Auch<br />

sie wollte es besser haben – verliebte sich, erhoffte sich dadurch<br />

die Flucht in eine bessere Welt. Sie wurde schwanger und als ihr<br />

Freund entdeckte, dass er gar nicht der Erzeuger von mir war,<br />

machte er sich aus dem Staube. Aus einem Bruder wurde ein<br />

Halbbruder. Plötzlich hiess ich nicht mehr Kohler, sondern Avesani.»<br />

«Herr Avesani, wir wollen Ihre Zeugnisse sehen, nicht die vom<br />

Kohler.» «Das war dann wirklich eine groteske Situation.»<br />

«Ich spielte Fussball, ging in den Musikverein. Trompete spiele ich,<br />

ausgezeichnet sogar. Auftritte, auch internationale – das waren<br />

natürlich tolle, unvergessliche Erlebnisse. Farbtupfer in einem arbeitsamen<br />

und oftmals entbehrungsreichen Alltag. In die Mechanikerlehre<br />

fuhr ich jeden Tag mit dem Rad nach Adliswil. Auch<br />

dort musste ich unten durch, aber es war eine abwechslungsreiche<br />

Zeit. Viel Neues habe ich gesehen, viel gelernt. Dann bot<br />

sich mir die Gelegenheit, einen Betrieb zu übernehmen. Tag und<br />

Nacht schuftete ich. Doch die Firma ging Pleite, weil sich die wirtschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen veränderten. Ja, so kann das<br />

Leben sein. Anderthalb Jahre stand ich dann nach der regulären<br />

Arbeit hinter dem Korpus im Bahnhofskiosk, um meine Schulden<br />

zu begleichen. Das war Ehrensache! Was ich anpacke, will ich gut<br />

und richtig machen – gradlinig, schnörkellos eben. Oftmals habe<br />

ich mich für die rechte Sache ins Zeug gelegt. Das gefiel natürlich<br />

nicht immer allen. Aber so bin ich eben, dafür setze ich mich ein.<br />

Dort im Bahnhofskiosk habe ich meine Frau kennengelernt. Bald<br />

entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, eine Liebe, die bis zum<br />

heutigen Tage anhält. Wir sind irgendwie seelenverwandt. Eine<br />

Tochter und einen Sohn brachte sie mit in die Beziehung. Sieben<br />

und neun Jahre alt waren sie. Richi ist autistisch. Ein toller Kerl,<br />

der oftmals mit unerwarteten Streichen aufwartet. Nein, damit<br />

haben wir gar kein Problem; hätten wir noch einen zweiten Richi,<br />

wir würden uns darüber freuen. Jahre später erst haben wir<br />

geheiratet – war ja nicht nötig. Wo Liebe herrscht, braucht es ja<br />

dafür nicht zwingend einen Trauschein, oder? Meine Stieftochter<br />

war unsere Trauzeugin – wir mussten ja für die Zukunft vorsorgen.<br />

AHV und so.»<br />

«Weil ich so viel arbeitete, blieb mir wenig Zeit, um nachzudenken.<br />

Zu müde, zu erschöpft fühlte ich mich. Trotzdem, über Wirtschaft<br />

weiss ich alles, die Börsen in aller Welt sind mir nicht fremd.<br />

Astrologie fasziniert mich. Die Zusammenhänge ergründen, die<br />

grossen, die kosmischen. Naturverbunden sind wir auch, schöpfen<br />

Kraft, erfahren dort ganz intensiv unser Zusammensein, unsere<br />

Liebe. Das ist bereichernd, wunderbar. Nein, an Gott glaube ich<br />

nicht, war nie ein Thema in meinem Leben. Natürlich dürfen die<br />

anderen daran glauben – ich verlasse mich auf meine innere Stärke.<br />

Gott wird ja für viele Menschen erst dann ein Thema, wenn<br />

sie selbst keinen Ausweg mehr finden. Nein, dann zähle ich lieber<br />

auf meinen eigenen Überlebenswillen.»<br />

«Am 5. August, am Geburtstag meiner Frau, da verspürte ich ein<br />

Sodbrennen. Komisch, dachte ich und dann die Diagnose: Ein<br />

grosses, hässliches Krebsgeschwür zwischen Speiseröhre und Magen.<br />

Was nun? – Sofort operieren, erwiderte ich dem Arzt. Dann<br />

fuhr ich zur Arbeit, erledigte das Nötige und auf einem Flipchart<br />

erklärte ich meinen Kollegen, was genau Sache war.»<br />

«Drei Wochen waren vorgesehen, fünf Monate wurden es dann<br />

– teilweise auf der Intensivstation im Unispital, im Koma. Wirre<br />

Bilder, Träume verfolgten mich. Hundertfach stand ich auf einer<br />

vereisten Kreuzung irgendwo in Sibirien, Panzer und schwere<br />

Lastwagen fuhren unentwegt vorbei. Abends durfte ich in einer<br />

Hütte auf dem Fell schlafen – das war tröstlich. Eine Reisegruppe<br />

fuhr zu Maggi, um dort Kartoffelpüree zu essen. Ich bekam<br />

nichts, nie – das war grässlich, denn ich hatte riesigen Hunger und<br />

Durst. Mit meiner Frau konnte ich nicht sprechen, denn meine<br />

Stimme versagte – unzählige, quälende Tage lang. Wir sahen uns<br />

in die Augen, hielten uns die Hände – wussten, dass wir füreinander<br />

da sind, auch und gerade in schwierigen Zeiten. Es musste<br />

ja weitergehen, daran bestand nie ein Zweifel. Nein, mit dem<br />

Schicksal habe ich nie gehadert. Krebs ist eine Krankheit wie jede<br />

andere. Ich muss sie hinnehmen, akzeptieren – weiterschauen, in<br />

die Zukunft blicken. Den Augenblick geniessen. Grossvater bin ich<br />

geworden, vor einigen Wochen. Ein schönes Gefühl, zeigt doch,<br />

dass das Leben weitergeht. Strahlende Kinderaugen sind wie Kerzen<br />

in dunkler Nacht.»<br />

«Bald werde ich nochmals operiert. Doch dann, vielleicht nächstes<br />

Jahr, werden wir wieder Pilze sammeln, gemeinsam die Natur geniessen.<br />

So hoffe ich wenigstens – ja und wenn nicht? Gradlinig,<br />

schnörkellos, furchtlos werde ich meinen Weg weitergehen, wie<br />

immer, so bin ich eben. Klagen nützt nichts, ist Zeitverschwendung,<br />

oder?»


«Meinem Mann geht es plötzlich schlecht. Ich weiss nicht, ob er<br />

sich zu uns setzen wird. Früher, vor der hinterhältigen Krankheit<br />

buk mein Mann die Süssigkeiten. Er wollte ja ursprünglich Konditor<br />

werden, nicht Kaufmann. Seine beiden Töchter aus erster Ehe<br />

leben in Stuttgart, sind uns aber keine grosse Hilfe. Seit drei langen<br />

Jahren bin ich mehr oder weniger Tag und Nacht für ihn da.<br />

Früher konnten wir noch kleine Ausflüge machen. Ein kleiner Spaziergang<br />

im Quartier. Doch diese Zeiten sind vorbei – seit vielen<br />

Monaten schon ist mein Mann an den Rollstuhl gebunden. Sein,<br />

unser Lebenskreis wird immer kleiner, immer eingeengter. Kein<br />

Tag ist wie der andere. Nie wissen wir, wie viel Kraft er besitzt,<br />

wenn er morgens die Augen öffnet. Nichts lässt sich planen.»


«Jede Stunde, ja jede Minute müssen wir nehmen, akzeptieren,<br />

so, wie sie auf uns zukommt. Das ist schwierig, stimmt uns zuweilen<br />

auch traurig und nachdenklich. Wir sind überglücklich,<br />

dass wir zusammen in unseren eigenen vier Wänden uns auf den<br />

Abschied vorbereiten dürfen. Als Tierärztin hinterfrage ich vieles.<br />

Wurde deswegen schon oft als schwierig abgestempelt. Im Spital<br />

musste mein Mann darunter leiden. Seine Wünsche wurden nicht<br />

berücksichtigt. Ein Sterbender, der sich nicht aufgehoben fühlte<br />

in der Maschinerie und der Hektik dieser Institution. Die Anonymität,<br />

die Geschäftigkeit belasteten uns sehr. Wir wurden Mitglieder<br />

bei EXIT, haben uns erkundigt, führten auch schon Gespräche,<br />

das gibt uns zusätzlichen Halt.»<br />

«Ich hole jetzt meinen Mann. Er mag nicht mehr, schläft den ganzen<br />

Tag. Er hat mit dem Leben abgeschlossen – das gestand er mir<br />

vor kurzem erstmals ein.» Wenige Augenblicke später sitzt Herr<br />

Karst am Tisch. Ein beeindruckender Mann. Gefasst, würdevoll,<br />

beinahe aristokratisch wirkend. «Aus Baden (Baden-Württemberg)<br />

stamme ich. Meine Familie war tief religiös, Pietisten – deren<br />

gibt es viele in dieser Gegend. Nur das Wort Gottes ist Leitfaden,<br />

Richtschnur für das Handeln und Sein. Dann, als junger Mann,<br />

wurde ich als Soldat eingezogen. Nach Frankreich. Dort geriet ich<br />

in Gefangenschaft. Auf Reih und Glied mussten wir antreten. Geschossen<br />

wurde und meine Kameraden, links und rechts fielen<br />

vornüber, starben einen unwürdigen, leisen Tod. Ich überlebte<br />

und konnte fliehen. Zu Fuss den weiten Weg zurück in meine vom<br />

Krieg gezeichnete Heimat. Später arbeitete ich als Personalchef in<br />

einer Schmuckfirma in Pforzheim. Die Arbeit gab mir neue Kraft<br />

und half mir, den Glauben an die Menschen wieder zu finden.»<br />

Die Stimme versagt. Müde und erschöpft ergreift er die Hand seiner<br />

Frau. Sie erzählt weiter. Geschichten aus deren Leben.<br />

«Nur wenige Monate nach meiner Geburt musste mein Vater an<br />

die Ostfront. Geriet in Gefangenschaft. Als er nach vielen Jahren<br />

heimkehrte, stand ein fremder Mann vor mir. Nein, Sie sind nicht<br />

mein Vater. Dies ist mein Vater – ich zeigte auf ein kleines, vergilb-<br />

tes Bild, das bei uns auf dem Regal stand. Mutter war herzkrank.<br />

Musste in Dresden weit laufen, um Brot für die Familie zu kaufen.<br />

Meine Schwester und ich fürchteten uns, wussten nie, ob sie zurückkehren<br />

würde. Dann, die Nacht des Grauens, die Bombardierung<br />

dieser wunderschönen Stadt. Im Keller verbrachten wir die<br />

endlosen Stunden. Nie werde ich das vergessen. Nein, nicht die<br />

Toten sind es, sondern die Schreie der Verletzten, der Flehenden,<br />

die Hilflosigkeit, die bis heute immer wieder ihre Schatten werfen.<br />

Unsere Erfahrungen im Krieg verbinden uns, schweissen uns zusammen.<br />

Unsere Liebe basiert auf Vertrauen, Hochachtung und<br />

Hingabe. Was ich für ihn tue, würde er genauso für mich machen.<br />

Loyalität, das zählt, gibt Kraft und Gewissheit, nie alleine gelassen<br />

zu werden.»<br />

«Mit der Liebe, ja das war schon so eine Angelegenheit. Ich fühlte<br />

mich unsicher. Die magische rote Lampe leuchtete rasch auf. Auszeit,<br />

Gefahr, aufpassen. Eine Freundin veranstaltete ein kleines<br />

Fest. Ein stattlicher Herr aus Deutschland war unter den Gästen.<br />

Er wirkte etwas verhalten, unbeholfen. Das weckte mein Interesse.<br />

Wir schlossen eine Wette ab. Ich verlor und wir trafen uns<br />

daher in einer Eisdiele. Dann, ja dann, war das Eis gebrochen.»<br />

Die Blicke der beiden treffen sich. Ein verschmitztes, ja mädchenhaftes<br />

Lächeln huscht über ihr Gesicht. «Nun muss ich meinen<br />

Mann wieder hinlegen. Er mag nicht mehr.» Schweigend, beinahe<br />

lautlos verlassen sie das Wohnzimmer.<br />

«Ein Pferd, ein Schimmel, der gehört zu unserer kleinen Familie.<br />

Diese Dynamik, die stolze Haltung, das Aufbegehren, das alles<br />

beeindruckt mich. Oft verbringe ich meine Zeit dort. Schau dem<br />

Tier bei seinem Auslauf zu. Versinke in alte Erinnerungen, als mein<br />

Mann noch mitkam und ebenfalls seine helle Freude an diesem<br />

wunderbaren Hengst hatte.»<br />

«Ja es tut weh, zuschauen zu müssen, wie das Liebste immer<br />

hilfloser wird, sein Abschied immer näher rückt. Sein Lebenswille<br />

nachlässt. Ich werde ihn begleiten bis zu seinem letzten Atemzug.<br />

Das ist Ehrensache, das ist Liebe.»


«Meine Mutter verbrachte ihre Jugend in der Lenzerheide. Ihr Vater<br />

war Schuhmacher. Viele Geschwister, eine Grossmutter mussten<br />

ernährt werden. Da kam es oftmals vor, dass das junge Mädchen<br />

bis spät in die Nacht geflicktes Schuhwerk nach Parpan oder<br />

in andere umliegende Gemeinden austragen musste. Die Schule<br />

besuchen und auch im Haushalt fleissig mithelfen, dies war ihre<br />

Aufgabe. Die Berge, die Natur stärkten ihre Seele, machten aus ihr<br />

einen herzlichen, unkomplizierten Menschen.» Sein Vater stammt<br />

aus Peking. Früh schon verlor er den Vater. Ein Onkel, Politiker<br />

aus einer angesehenen Händlerdynastie, schaute nach dem Jungen.<br />

Wohlhabend und noch ganz im Konfuzianismus verwurzelt,<br />

wuchs er auf. Der Stiefvater, der Bruder seines Vaters, fördernd,<br />

unterstützend, die Schwiegermutter – aristokratisch, unnahbar.<br />

1947 gewann er ein Stipendium und damit den Zugang zur Universität.<br />

Bald darauf brachen die Unruhen aus. Mao übernahm die<br />

Macht und der junge Student blieb für immer im fremden Land.<br />

An der Hochschule studierte er und verdiente sein Geld mit dem<br />

Zeichnen von Kalligrafien. Dort in der Kantine begegnete er einer<br />

jungen Frau, die in Zürich als Au-Pair-Mädchen und im Service<br />

ihren Lebensunterhalt verdiente. Hier der feingliedrige, exotische<br />

Student, dort das stramme, rotbäckige Mädchen von der<br />

Alp. Dann geschah, was geschehen musste. Sie war schwanger.<br />

Die Reise in die Lenzerheide war nicht einfach, denn ihr Grossvater<br />

war ja streng katholisch, ihre Brüder breitschultrig, gross und<br />

stark. Nicht einfach für den kleinen Chinesen und seine Braut. Da<br />

sein Vater den Flüchtlingsstatus besass, konnten seine Eltern nicht<br />

heiraten, denn sonst hätte seine Mutter das Bürgerrecht verloren.<br />

«Ja, so waren damals noch die Bräuche!»


«Schwamendingen, dort wuchsen meine beiden Brüder und ich<br />

auf. Eine Jugend, wie sie Tausende von Kindern erleben. Streiche,<br />

Spiele auf der Strasse. Ein buntes, unbeschwertes Treiben. Früh<br />

schon ärgerte ich mich über den Kleingeist und die Ungerechtigkeiten.<br />

Immer wurden die Gleichen für ihre kleinen Sünden grob<br />

bestraft, obwohl jedermann wusste, dass die Übeltäter andere<br />

waren. Mein Vater lebte in seiner eigenen, verschlossenen Welt.<br />

Eine Krankheit aus der Jugendzeit brach wieder aus und seine<br />

Seele blieb verschlossen, geprägt von der Vergangenheit. Doch,<br />

und das werde ich nie vergessen, in einer lauen, sternenklaren<br />

Nacht nahm er mich bei der Hand, und wir schauten gemeinsam<br />

in die leuchtende Pracht des Universums. Mit leiser Stimme erklärte<br />

er mir die Geheimnisse der funkelnden Sterne. Geraume<br />

Zeit später legte er mir wortlos ein Buch über Sternkunde auf<br />

meinen Nachttisch. Aus den nötigen Materialien bastelte ich mir<br />

ein Teleskop, denn von da an wollte ich genau wissen, was die<br />

Unendlichkeit für Geheimnisse barg. Die Ausflüge zu unseren Verwandten<br />

in die Berge waren immer voller Freude und Abenteuer.<br />

Die Wälder, Flüsse, die Weite des Tales, die unkomplizierten Spielgenossen<br />

mit ihrem eigenen Dialekt, das gefiel mir ganz besonders.<br />

An Weihnachten traf Post aus der ganzen Welt ein. Fotos<br />

von exilierten chinesischen Familien mit Kindern, von Freunden<br />

meines Vaters aus der alten Heimat. Mahnend erhob er dann den<br />

Finger und erklärte uns, dass die Kinder allesamt studierten. Ich<br />

hasste diese Eierköpfe mit ihren Harry-Potter-Brillen. Doch auch<br />

ich fand den Weg ans Gymnasium. Der Schul- und Notenterror<br />

war grässlich und wurde erst erträglich durch die spannenden<br />

und abwechslungsreichen Mittagstreffen im Mittelschulfoyer.<br />

Dort wurde nicht nur über Gott und die Welt diskutiert, nein, dort<br />

versammelten sich auch junge Frauen der «Tö»! Das Gitarrenspiel<br />

und die Liebe und Bewunderung für Bob Dylan entdeckte<br />

ich auch in dieser aufregenden Zeit. Linke sind bessere Menschen,<br />

dachte ich. Spätestens an einer Demonstration in Winterthur, als<br />

alle Solidaritätsparolen skandierten und weiterliefen, als ich tätlich<br />

angegriffen wurde, hegte ich meine diesbezüglichen Zweifel. Drei<br />

Jahre war ich Reallehrer, nachdem ich das Oberseminar absolviert<br />

hatte. Dann ging es zum Psychologiestudium an die Uni. Das waren<br />

aufregende Jahre. Bald wurde mein Talent für das Entwickeln<br />

von Software entdeckt, und ich durfte meine Fähigkeiten im Rechenzentrum<br />

der Uni anwenden. Das war natürlich eine Adrenalinspritze<br />

für einen eher etwas in sich gekehrten jungen Mann.<br />

Auch bei Ringier war ich ein gerne gesehener Spezialist. Dann, ja<br />

dann gründete ich mein eigenes Unternehmen. Mitten in Zürich<br />

hatten wir unsere Büros. Den Aufenthaltsraum teilten wir uns mit<br />

den Angestellten der anderen Unternehmungen, die sich auch in<br />

dieser Liegenschaft befanden. Dort traf ich meine Frau. Aus Zuneigung<br />

wurde in Windeseile Liebe, eine tiefe, unerschütterliche<br />

Liebe, die unvermindert anhält.»<br />

«Im letzten Herbst verbrachte ich mit meiner Tochter und Freunden<br />

Ferien am Roten Meer. Ich fühlte mich müde, abgespannt,<br />

dachte, das Herz streike, denn ich war ja ein bekennendes Arbeitstier<br />

– Zigaretten, Kaffee meine ständigen Begleiter.»<br />

«Nein, das Herz ist es nicht», erklärte mir mein Freund, der Arzt.<br />

«Dann die Diagnose: Lungenkrebs, Lungenkrebs im Alter von<br />

fünfzig Jahren, mit einer lieben Frau und einer wundervollen dreizehnjährigen<br />

Tochter. Es war, als ob die Welt stillstehen würde,<br />

als ob der Wind versteinerte. Leise, unmerklich begannen sich die<br />

Dinge, die Menschen, meine Lieben wieder zu bewegen. Doch zu<br />

meinem grossen Erstaunen, zu meiner Überraschung und Freude<br />

war die frühere Hektik wie weggefegt. Plötzlich hatte ich Zeit,<br />

Musse, all die Schönheiten der Natur genau, innig und mit allen<br />

Sinnen zu betrachten, zu berühren, zu entdecken. Welch eine<br />

grosse Gnade. Nein, den Tod fürchte ich nicht. Ein Herzinfarkt, du<br />

fällst um wie ein gefällter Baum – aus und vorbei. Ich dagegen<br />

habe Zeit, Zeit, mich vorzubereiten. Wie ein Schnellzug, der in<br />

den Bahnhof einfährt, so fühle ich mich. Oft höre ich die alten<br />

Lieder von meinem Idol, Bob Dylan. Sie bedeuten mir plötzlich<br />

nicht mehr so viel. Die Stimme, zu aufreizend. Die Texte, zu viele<br />

Fragen – Fragen ohne Antworten. Oft schliesse ich die Augen,<br />

kehre in mich, bin ganz bei mir, ruhe in mir selbst, geniesse die<br />

Stille und die Leere, so wie damals, als ich staunend an der Hand<br />

meines Vaters das Leuchten der Sterne bewunderte. Ruhig, gefasst<br />

gehe ich meinen Weg, ohne Angst und ohne Selbstmitleid.<br />

Die Liebe, die Fürsorge meiner grossartigen Frau und meiner lebensfrohen<br />

Tochter geben mir Kraft, geben mir Sicherheit. Nur die<br />

Liebe, nur diese eine Liebe zählt.»<br />

«Schauen Sie sich den Sternenhimmel an, dieses unendliche Licht<br />

– strahlend auch dann noch, wenn der Stern bereits erloschen ist.<br />

Wie klein und unwichtig sind wir in diesem grossen Universum!<br />

Ich lebe hier und jetzt. Morgen, übermorgen. Wir werden alles<br />

getrost annehmen, mit offenem Herzen akzeptieren und dankbar<br />

sein für die erhaltene Liebe, für den begrenzten Aufenthalt in der<br />

Natur, in dieser Welt.»


«In Schwamendingen, in der Au, bin ich als jüngstes von fünf Mädchen aufgewachsen.<br />

Mein Vater arbeitete als Strassenteerer. Als städtischer Arbeiter lebten wir in<br />

einem kleinen Häuschen, ohne Zentralheizung, aber mit einem riesigen Garten. Alles<br />

war sehr einfach, Platz war wenig vorhanden. Ich schlief im Elternschlafzimmer.<br />

Meine Geschwister gingen ihre eigenen Wege, denn sie waren ja viel, viel älter<br />

als ich. Ich hörte ihren Geschichten zu, erfuhr von Dingen, die mir weitgehend unbekannt<br />

waren. Oft hänselte ich sie, dann merkten sie, da war ja noch die kleine<br />

Schwester, das Nesthäkchen. Unsere Mutter war sehr streng mit uns, dominant,<br />

unerbittlich. Sie versorgte den ganzen Haushalt, schaute, dass das spärliche Geld<br />

ausreichte. Putzte, Akkordbüglerin war sie auch, ja, das gab es damals noch. Wenn<br />

Vater von der Arbeit zurückkam, schuftete er im Garten. Obstbäume, Gemüsebeete,<br />

Kaninchen, all dies musste gepflegt und gehegt werden, half uns über die Runden.<br />

Noch heute isst eine meiner Schwestern kein Kaninchenfleisch. Mama kam aus<br />

einer wohlhabenden Familie. Verbrachte eine unerfreuliche Jugend. Immer wieder<br />

musste sie sich anhören, dass sie der Grund für die Heirat war. Sie hütete ein<br />

schreckliches, grauenvolles Geheimnis. An ihr wurde ein Verbrechen begangen. Das<br />

prägte sie, das belastete diese Frau, Mutter von fünf Mädchen. Mein Vater musste<br />

als Verdingbube auf einem Bauernhof viel und hart arbeiten. Da blieb keine Zeit für<br />

Liebe und Verständnis. Sein Erzeuger arbeitete als Melker, kümmerte sich nicht um<br />

die beiden Söhne und zog von Hof zu Hof. Seine Mutter verstarb schon früh.»


«Beim Tanzen lernten sich die beiden kennen. Hofften auf ein<br />

besseres Leben, glaubten an die Liebe, an Nähe und Verständnis.<br />

Die Schatten waren aber zu dunkel, zu lang. Ihre Wünsche, ihre<br />

Sehnsüchte gingen nicht in Erfüllung. Harte Arbeit, der freudlose<br />

Überlebenskampf prägte ihren, unseren Alltag.»<br />

«Als Kind war ich viel krank. Dann, und nur dann, kümmerte sich<br />

meine Mutter um mich. Gab mir Ratschläge, ich verspürte so etwas<br />

wie Verständnis, erlebte einen Hauch von Zärtlichkeit. Am<br />

Esstisch erzählte uns Vater von der Arbeit, wir hörten stumm zu.<br />

Plötzlich, unvermittelt, wurde eine Tochter mit gepacktem Koffer<br />

vor die Haustüre gesetzt. Wegen Kleinigkeiten, wegen einer Lappalie.<br />

Wer gegen die Regel verstiess, wurde von unserer Mutter<br />

abgestraft. Das führte dazu, dass viele meiner Geschwister während<br />

Jahren keinen Kontakt mehr mit den Eltern pflegten. Auch<br />

ich durchlebte eine solche Zeit. Vater besass ein Motorrad. Viele<br />

Stunden fuhr er damit durch die Gegend, liess sich den Wind<br />

um die Ohren blasen, genoss die sorgenlosen Augenblicke. Dann<br />

kehrte er nach Hause zurück, arbeitete, erfüllte seine Pflicht – malochen,<br />

immer wieder malochen, im Garten und als Teermeister.<br />

Müde von all diesen Anstrengungen zog er sich schweigend zurück,<br />

schlief auf dem Sofa ein. Meine Mutter brachte mich in den<br />

Kindergarten. Ein Kindergarten ausserhalb des Quartiers. Daher<br />

kannte ich niemanden dort. Fühlte mich einsam. Erst ein Jahr<br />

später wechselte ich in die unmittelbare Gegend. Dort lernte ich<br />

dann auch einige Kinder kennen. Ich durfte niemand mit nach<br />

Hause nehmen. Wir hatten ja nicht genügend Platz; das wollte<br />

meine Mutter nicht. Doch die Küchentüre, die stand immer offen,<br />

führte in den grossen, riesigen Garten. Dieser bedeutete für mich<br />

die Freiheit, dort entdeckte ich meine kleine Welt, die Käfer, die<br />

Ameisen, die summenden Bienen, all dies erwärmte mein Herz,<br />

erfüllte mich mit grosser Freude. Bis zur Hecke, nur bis zur Hecke<br />

durfte ich gehen. Das war eine dieser unumstösslichen Gesetze.<br />

Schon als junges Mädchen las ich unzählige Bücher. Fasziniert von<br />

all diesen spannenden Geschichten, diesen Abenteuern, tauchte<br />

ich ein in die grosse, unbekannte Welt. Berauschend!»<br />

«Irgendwann stand ein Auto vor der Türe. Jahrelang hatte mein<br />

Vater dafür gespart. Wir fuhren ins Tessin, ja einmal verbrachten<br />

wir sogar Ferien in Rimini. Unsere Gastfamilie zog während dieser<br />

Zeit in den Keller und wir verbrachten die schönsten Tage des<br />

Jahres in ihrer Wohnung. Das war aussergewöhnlich, unglaublich.<br />

Pizza, Sonne, Meer, all die tollen Italiener. Umzug in eine Vorortsgemeinde<br />

in der Nähe des Flughafens. Mein Vater fand dort<br />

eine Stelle als Zentrumshauswart. Ich war todunglücklich. Weg,<br />

weg von meinem Garten, meiner Welt, ab in eine kleine, miefige<br />

Wohnung in einer grauen, unpersönlichen Siedlung. Endlich war<br />

die Schule beendet. Ein Haushaltsjahr in der grossen Stadt folgte.<br />

Ich genoss die neuen Freiheiten. Black out, Mascotte, dort tanzten<br />

wir. Das Neue erforschen, Begegnung mit den Männern. All dies<br />

kannte ich ja nur aus dem «Bravo», das mir meine Mutter kommentarlos<br />

auf den Küchentisch legte. Es war eine wilde, bunte,<br />

aufregende Zeit. Bald hatte ich meine eigene kleine Wohnung<br />

– alle wollten zu mir kommen. Spaghetti kochen, der Enge des<br />

Alltags, dem kleinbürgerlichen Mief entrinnen.»<br />

«An der Fasnacht begegnete ich erstmals meinem Mann. Zuerst<br />

beachtete ich ihn kaum. Doch schon bald änderte sich das! Ein<br />

neues Leben begann für mich. Wir wussten, dass wir für immer<br />

zusammengehören, dass es die grosse Liebe ist und heute, nach<br />

22 Jahren, immer noch ist. Wir waren jung, sehr jung, kaum viel<br />

mehr als zwanzig Lenze alt. Trotzdem heirateten wir. Voller Abenteuerlust<br />

fuhren wir mit unserem Golf GTI und unserem Vierbeiner<br />

in den Süden, nach Spanien, auf die Hochzeitsreise. Unzählige<br />

Reisen haben wir unternommen. Nach Syrien, in den Jemen,<br />

Kreuzfahrten. Neue Eindrücke, fremde Länder.»<br />

«Mein Darm war es, der mir immer wieder Kopfzerbrechen bereitete,<br />

mir Sorgen machte. Ich habe Darmkrebs. Das war meine<br />

Aussage, meine Befürchtung. Schon eine meiner Schwestern und<br />

mein Vater sind an dieser Krankheit gestorben. Meine Vermutung<br />

bestätigte sich, wurde zur bitteren Wahrheit – Lebenserwartung,<br />

fünf Jahre. Operationen, Bestrahlungen folgten. Zehn Jahre arbeitete<br />

ich am selben Ort. Mir wurde gekündigt, der mühsame Gang<br />

zu den verschiedenen Ämtern folgte. Eine leid- und schmerzvolle<br />

Erfahrung. Ich verlor viele meiner sozialen Kontakte, wurde ein<br />

zweites Mal vom Leben bestraft. Selbstmitleid, Wut verspüre ich<br />

nicht. Ich glaube daran, dass nach dem Tod etwas Neues beginnt,<br />

dass ich auf einer Kreuzung stehe und einen anderen Weg einschlagen<br />

werde. Die Diagnose hat mein Leben verändert. Ich sehe<br />

genauer hin. Erlebe die kleinen Freuden des Alltages bewusster,<br />

intensiver. Ärgere mich nicht mehr über Kleinigkeiten. Traurig<br />

stimmt mich einzig und allein, dass ich mich an der Wegscheide<br />

von meinem wunderbaren Mann verabschieden muss, dass wir<br />

dann eigene Wege gehen werden.»<br />

«In einem Kloster in den Bergen begegnete ich vielen Menschen<br />

mit dem gleichen Schicksal. Dort erfuhr ich viel Nächstenliebe,<br />

tauchte ein in eine für mich völlig neue und fremde Welt. Die<br />

Welt der Rituale, des Lichtes. Das war eine sehr bereichernde und<br />

tiefgreifende Erfahrung. Ich ging als Raupe dorthin und verliess als<br />

farbenfroher Schmetterling diesen Hort der Begegnung.»


«Als ich aus der Operation erwachte und mich im Spiegel betrachtete,<br />

da erschrak ich.» «Das kann, das darf es nicht sein. Reiss dich<br />

zusammen, das Leben muss weitergehen.» «Wir lieben uns, lieben<br />

uns noch inniger als vor dem Unglück. Ich kann meine Frau doch<br />

nicht im Stich lassen! So, jetzt doch nicht! Ach wissen Sie, wäre<br />

ich alleine gewesen, ja, wer weiss, was dann geschehen wäre. Geschenkte<br />

Jahre waren die verflossenen, wie eine Zugabe in einem<br />

Konzert. Unerwartet und daher so grenzenlos bereichernd. Wir<br />

sind glücklich, sind füreinander da. Meine Frau muss ja die Dreckarbeit<br />

machen. Sie ist ängstlich – war schon immer so. Ich ermuntere<br />

sie dann, richte sie auf. Bauchschmerzen plagten mich – vor Jahren<br />

schon. Ich dachte, das würde vorübergehen. Dann war es Darmkrebs.<br />

Nein, mit dem Schicksal habe ich nicht gehadert. Hingenommen<br />

habe ich diese niederschmetternde Nachricht. Pech gehabt.<br />

Punkt. Vorwärtsschauen, was bleibt mir denn anderes übrig?»


«Ein uneheliches Kind bin ich. Mein Vater war ein Lebenskünstler,<br />

Weltenbummler, Nichtsnutz – je nachdem, je nach Sichtweise.<br />

Einziges Kind eines Briefträgers aus Wädenswil. 1929, der Zürichsee<br />

war zugefroren und Fasnacht wurde gefeiert, überquerte er<br />

das Eis. In Stäfa traf er sie, meine Mutter, Textilarbeiterin aus dem<br />

Tessin. Dort geschah es, und wenig später wurde ich in Zürich<br />

geboren. In ein Heim für eben solche Kinder wurde ich gesteckt.<br />

Er war nicht da, kam und ging, mein Vater. Arbeitete auf fremden<br />

Bauernhöfen, mal da, mal dort. Bis nach Frankreich verschlug<br />

es ihn. Mit sechs Jahren nahm ich ihn erstmals bewusst wahr.<br />

Trotzdem, wir liebten uns. Eher wie ein guter Onkel als wie ein<br />

Vater. Ich schwänzte die Schule, um meinen Erzeuger am Bahnhof<br />

in die Arme zu schliessen – das waren Glücksmomente! Ach,<br />

wo war ich stehen geblieben? Richtig, im Säuglingsheim blieb ich<br />

nur für kurze Zeit, denn mein Grossvater kam, sah und entschied,<br />

dieses Buebli mitzunehmen. So wuchs ich also bei meinen Grosseltern<br />

auf. Ich hatte eine schöne Jugend – ja, das kann ich ruhig<br />

sagen. Schon sehr früh lebte ich mein eigenes Leben. Bewegte<br />

mich in meiner Welt. Schwierig, rebellisch sei ich gewesen. Die<br />

Grossmutter stammte aus dem Muotathal, aus der Innerschweiz,<br />

katholisch. Das war zu dieser Zeit viel zu viel für Wädenswil. Ihr<br />

Ehemann hatte klare Vorstellungen von Gut und Böse. Immer geradeaus,<br />

ja nie links und rechts hinschauen. Stur, ein Dickschädel<br />

eben. Am Zahltag wurden die guten Vorsätze ignoriert. Betrunken<br />

kam er nach Hause, schrie und tobte. Ein Monatsendtrinker<br />

eben. Ich grenzte mich ab, schlich mich des Nachts aus den gemeinsamen<br />

vier Wänden und entdeckte meinen eigenen Kosmos.<br />

Die Mitschüler hänselten mich. Unehelich, pätsch. Ich wehrte<br />

mich, natürlich, das liess ich mir nicht gefallen. Mein guter Ruf litt<br />

darunter. Da war es verständlich, dass ich plötzlich in einem Heim<br />

landete. Im Albisbrunn.»<br />

Was soll aus diesem Jungen werden? Schreiner, Mechaniker, Gärtner?<br />

«In der Gärtnerei versuchte ich mein Glück. Als ich dann<br />

über Weihnachten nur kurz nach Hause durfte, wurde es mir dort<br />

zu bunt. Ich verschwand. In die Westschweiz. Dort hatte ich Verwandte.<br />

Das war für mich eine andere Welt. Toll fand ich das. Ich<br />

kehrte zurück ins Heim. Aber schon bald ging meine Reise weiter.<br />

Nicht nach Wädenswil, nein, nach Zürich zu meiner leiblichen<br />

Mutter, die nun Meier hiess. Zu meinem Halbbruder. Ich hatte ja<br />

noch zwei im Tessin, komisch, finden Sie nicht auch? Der Meier<br />

sah mich und entschied, dass ich bei ihnen bleiben soll. Meier<br />

Transporte & Kohle. War ein aufrichtiger Mann. Bodenständig.<br />

Da gab es keine emotionalen Zusatzschlaufen. Bei uns wurde viel<br />

gesungen, gelacht. Die Familienmitglieder aus der Sonnenstube<br />

reisten an, versprühten ihre Lebensfreude. Das waren glanzvolle<br />

Zeiten. Nein, oh Gott, Vereinsmitglied war ich nie. Eher Einzelgänger.<br />

Über einen Sieg des FCZ freute ich mich. Eine Niederlage<br />

nahm ich gelassen hin. Meier schuftete, war da für die Familie,<br />

konnte sich aber auch handgreiflich durchsetzen. Dann, wenn er<br />

sich ungerecht behandelt fühlte. Ein Polizist am Bellevue musste<br />

das einmal schmerzlich erfahren.»<br />

«Maurer habe ich dann gelernt. Das gefiel mir, machte mir Spass.<br />

Eine kaufmännische Ausbildung, das Technikum habe ich anschliessend<br />

noch besucht und abgeschlossen. Dort, in der vorderen<br />

Reihe entdeckte ich sie, die hübsche, etwas schüchterne<br />

Frau. Wir haben geheiratet. Viel Arbeit wartete auf uns. Zuerst ein<br />

eigenes Geschäft, Baustellen, Hektik, das irre Auf und Ab. Jahre<br />

später, Bauführer, dann Angestellter. Die Zeit verging. Gute, schöne<br />

Augenblicke, mit einer grossartigen Frau an meiner Seite.»<br />

«Drei Monate lag ich im Bett. In einem Spitalbett in Männedorf.<br />

Plötzlich, unverhofft, von der Überholspur auf die Kriechspur, vom<br />

fünften in den zweiten Gang schalten. Vom Akteur zum Zuschauer.<br />

Schwierig, eine neue Aufgabe. Doch was will ich? So ist das<br />

Leben. Eine permanente Herausforderung. Ich habe sie angenommen.<br />

Plötzlich Zeit im Überfluss. Ruhe, Stille. Die drei Spatzen auf<br />

dem Fenstersims wurden meine Freunde. Zeigten mir, dass das<br />

Leben weitergeht. Auch für mich. Das ist gut so. Trotz meiner<br />

Krankheit entschieden wir uns, eine Reise in die USA zu unternehmen.<br />

Ein lang gehegter Traum ging in Erfüllung. Schön war<br />

es, unvergesslich, niemand kann uns das wegnehmen.»<br />

«In meiner Freizeit befasse ich mich mit Computern. Das gefällt<br />

mir. Teile zu kaufen und sie zusammenzusetzen. Ich war schon<br />

immer en Chlütteri, en Baschtler. Früher habe ich Motoren auseinandergenommen.<br />

Alle Bekannten kamen und baten mich um<br />

Hilfe. Ruhiger ist es geworden, stiller.»<br />

«Meine Zeit auf Erden ist wie eine Theateraufführung. Am Ende<br />

des letzten Aktes fällt der Vorhang. Ratsch, von oben nach unten.<br />

Ende. Einige im grossen Auditorium fanden die Vorstellung gut,<br />

klatschen, wieder andere schütteln den Kopf. So ist es, wird immer<br />

so bleiben!»


«Nein, im Kongo wird kein Frieden einkehren. Die Bodenschätze,<br />

alle wollen davon profitieren. Die Alten und die Kinder müssen<br />

darunter leiden. Ich sende regelmässig Hilfsgüter, um den Ärmsten<br />

zu helfen. Immer wieder sammle ich, das schulde ich meinen<br />

Mitmenschen. Mein Vater war Lokomotivführer, reiste durch das<br />

ganze Land. Aufgeschlossen und unternehmungslustig. Eine junge<br />

Frau aus dem Nachbardorf sollte er heiraten. Eine Bekannte teilte<br />

der Familie mit, dass sie einen ganz besonders guten Charakter<br />

hat. Fünfzehn Jahre alt war sie. Wenig später wurde der Bund<br />

fürs Leben geschlossen. Doch schon bald starb eine Schwester und<br />

meine Mutter musste für die vier Waisen aufkommen. Das ist so<br />

üblich in der Gegend, aus der ich komme. Vier eigene Kinder kamen<br />

dazu. Ich war der zweitälteste. Eines Tages fehlte in unserer<br />

Gemeinde ein Pastor. Ja, wir sind Protestanten – Livingston war<br />

ja vor den Belgiern hier. Die Dorfältesten versammelten sich und<br />

wählten meinen Vater zum Nachfolger.»


«So wuchs ich also in einer Pastorenfamilie auf. Wir beherbergten<br />

viele Missionare aus aller Welt. Es wurde viel gesungen, diskutiert,<br />

gelacht und natürlich gebetet. Gott war allgegenwärtig. Fernsehen<br />

kannten wir nicht. Wir waren das Fernsehen. Wir erfanden<br />

Geschichten, spielten Fussball, rannten um die Wette. Grossartig,<br />

einfach schön war meine Jugend. Meine Eltern liebten sich innig,<br />

waren füreinander da. Jeder an seinem vom Schöpfer vorgegebenen<br />

Platz. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich eine höhere<br />

Schule besuche. 14 km zu Fuss – zur nächsten Gemeinde, das<br />

jeden Tag. Es war eine katholische Bildungsanstalt. Da musste ich<br />

mich in ihrem Glauben taufen lassen.» «Kein Problem», meinte<br />

mein Vater, «wir beten ja zum selben Gott!» «So kam es vor, dass<br />

ich morgens den katholischen und abends den evangelischen<br />

Gottesdienst besuchte. Mir gefiel das – es vermittelte Halt, gab<br />

Kraft und ich spürte etwas ganz Besonderes. Eines Tages, kaum<br />

war die Predigt beendet, brach mein Vater zusammen. Herzversagen.<br />

Meine Mutter litt Qualen – musste die Siedlung verlassen.<br />

Das ist so Brauch im Kongo. In die Hauptstadt flüchtete sie. Mühevoll,<br />

aufopfernd kämpfte sie für das tägliche Brot. Ich besuchte<br />

die Universität, studierte und wurde Pädagoge. Als junger Lehrer<br />

erlebte ich Ungerechtigkeit, Korruption. Das konnte ich als Christ<br />

nicht hinnehmen. Ich wehrte und exponierte mich. Gewerkschaften<br />

wurden gegründet, ich als Führer gewählt. Mitstreiter<br />

verschwanden. Gerüchte kursierten über Folter und Todschlag.<br />

Freunde verschwanden, wurden in den Kerker geworfen – nie<br />

wieder hörten wir von ihnen. Die Angst war unser ständiger Begleiter.<br />

Zwei Monate streikten alle Lehrer im Lande. Einige hatten<br />

über ein Jahr lang kein Gehalt mehr erhalten. Dann, plötzlich und<br />

unerwartet, meine Flucht. Diese endete hoch über dem Walensee<br />

im November 1984. Sechzig Menschen, Menschen aus allen Erdteilen<br />

– das gleiche Schicksal, die gleichen Hoffnungen. Der erste<br />

Schwarze – mit grossen Augen, mit viel Unmut wurde ich von den<br />

Einheimischen betrachtet.» «Du musst bei dir beginnen, wenn<br />

du die Welt verändern willst.» «Das waren Vaters weise Worte.<br />

Täglich zehn Wörter deutsch wollte ich lernen. Bald half ich den<br />

Kindern der Heimleiterin bei den Hausaufgaben. Zu Schulausflügen<br />

durfte ich mitgehen. Als Kellner, in der Metallindustrie und<br />

an vielen anderen Orten versuchte ich mein Glück. In Wil SG war<br />

es, eines Abends, ich wartete vergebens auf einen Bekannten. Da<br />

sass sie neben mir. Schon vorher war mir die hübsche blonde Frau<br />

aufgefallen. In unserem Restaurant bediente ich sie einige Male.<br />

Auch ihre Mutter kannte ich flüchtig. Nein, nein, einfach so mit<br />

dir weggehen, das will ich nicht. Wir trafen uns sonntags in der<br />

Kirche, immer wieder. Dann wurde sie schwanger und jetzt sind<br />

wir schon viele Jahre verheiratet, haben drei Kinder 18, 17 und 15<br />

Jahre alt. Die Familie bedeutet mir alles. Er ist mein Lebensmittelpunkt.<br />

Für mich ist es nicht immer einfach zu sehen, wie in der<br />

Schweiz, in diesem Land des Überflusses, viele junge Menschen<br />

alleine gelassen werden, verwahrlosen, Drogen konsumieren. Das<br />

schmerzt mich sehr. In Afrika ist das doch alles überschaubarer.<br />

Die Menschen sind hilfsbereiter und wissen um ihren Platz in der<br />

Gesellschaft. Sicher, auch dort beginnen diese Werte zu zerfallen.<br />

Das ist bedenklich und stimmt mich traurig.»<br />

«Vor einigen Monaten stolperte ich über ein Kabel, fiel hin und<br />

konnte mich nicht mehr erheben. Die Ärzte waren sehr besorgt.<br />

Untersuchungen folgten. Der Ungewissheit folgte die niederschmetternde<br />

Diagnose. Seit einigen Wochen sitze ich im Rollstuhl.<br />

Das Leben hat sich radikal verändert. Meinem Beruf als<br />

Emigrantenbetreuer kann ich nicht mehr nachgehen. Viel Zeit<br />

bleibt mir, um über alles nachzudenken. Die Beziehung zu meiner<br />

Familie ist noch inniger geworden. Plötzlich bekommt die Vergänglichkeit<br />

von uns Menschen ein Gesicht, wird zu einem alltäglichen<br />

Bestandteil meines Seins. Nein, kein hässliches Antlitz,<br />

nein! Erinnert euch an Moses und seine Leiden und die erfolgte<br />

Erlösung. Ich glaube an ein Leben nach dem Tode. Ich bin davon<br />

überzeugt, dass unser Vater weiss, was er tut und was er will.<br />

Dieser Glauben, diese Gewissheit gibt mir Kraft, gibt mir Mut und<br />

Hoffnung.»<br />

«In wenigen Tagen fahre ich für einige Wochen in den Kongo.<br />

Meine Mutter, ja meine Mutter hat gespürt, dass ihr Sohn gesundheitliche<br />

Probleme hat. Einer guten Mama kann niemand<br />

etwas vormachen. Natürlich freue ich mich auf den Besuch. Vielleicht<br />

wird es ein Abschied für immer sein. Ich bin gespannt zu<br />

sehen, wie sich das Land, meine Freunde verändert haben. Die<br />

Dämmerung, die verschiedenen Gerüche und Geräusche, ja sie<br />

werden mich an längst vergangene Zeiten erinnern, werden mich<br />

träumen lassen.»


ONKOPLUSWirkt


IMPRESSUM<br />

GESAMTVERANTWORTUNG:<br />

onko plus, daniela Vas<br />

FOTOGRAFIE TEAMBILDER:<br />

rené kappeler, Wetzikon<br />

FOTOGRAFIE PATIENTENBILDER:<br />

jan habersaat, WÄdensWil<br />

GESTALTUNG UND KONZEPTION:<br />

goal ag für Werbung und<br />

publiC relations, dübendorf<br />

DRUCK:<br />

stutz druCk ag, WÄdensWil<br />

WIR DANKEN:<br />

matter group ag<br />

FÜR DAS SPONSORING DIESES<br />

JAHRESBERICHTS


ONKOPLUSWirkt<br />

Wir freuen uns über jede spende auf<br />

das spendenkonto der onko plus.<br />

pC 80-38332-6<br />

unterstützen sie uns als fördermitglied<br />

(80 franken) oder als gönner<br />

(500 franken). spenden können auCh<br />

unter WWW.onko-plus.Ch erfolgen.<br />

Stiftung für mobile <strong>Onko</strong>logie- und Palliativ-Pflege<br />

Dörflistrasse 50, 8050 Zürich, info@onko-plus.ch, www.onko-plus.ch<br />

Spendenkonto: PC 80-38332-6

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!