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Zum Jahresbericht 2009 - Onko Plus

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«Die Hauswände waren voll mit Parolen und Plakaten, welche die<br />

klassenlose Gesellschaft, den Klassenkampf und die kommunistische<br />

Partei priesen. Staunend stand ich davor, bewunderte das<br />

blonde Mädchen, welches dem russischen Offizier einen Blumenstrauss<br />

schenkte und insgeheim hoffte ich, dass ich das auch einmal<br />

erleben würde.»<br />

«Der Prager Frühling – Träumen von einer freieren, offeneren Gesellschaft.<br />

Ein Ruck ging durch das Volk. Doch bald, allzu bald<br />

wurden die Hoffnungen zerstört – Panzer rollten auf den Stras-<br />

sen.» «Kommt Kinder, wir machen eine Reise – besuchen unsere<br />

Bekannten in Wien.» «Dort angekommen, fragten meine<br />

Eltern, ob es uns hier gefalle. Meine Schwester war begeistert<br />

von den Rolltreppen in den Warenhäusern, vom Glanz der Lichter.<br />

Auch mir gefiel es in der fremden Stadt. Am 1. Mai, am Tag der<br />

Arbeit, klopften wir an die Türen der Stadtpolizei in Zürich. Hundert<br />

Schweizer Franken drückten die Beamten uns in die Hände<br />

mit der Bitte, doch am nächsten Tage nochmals vorbeizukommen<br />

und unseren Asylantrag zu stellen. In Freiburg fand meine Mutter<br />

eine Anstellung als Bibliothekarin. Auch mein Vater arbeitete<br />

dort. Eine schöne, unbeschwerte Zeit. Der Fluss, die Höhlen in<br />

denen wir uns versteckten, uns unsere kleinen Geheimnisse anvertrauten.<br />

Romantisch – verträumt. Mein Vater studierte, denn<br />

er wollte unbedingt wieder als Lehrer tätig sein. Dann der Umzug<br />

nach Baar. Wieder eine neue Herausforderung, ein neuer Ort.<br />

Auch dort fand ich bald Anschluss. Unbeschwert, eingebettet<br />

in einem Umfeld voll von Musik, Kultur, einigen wenigen guten<br />

Freunden. Die Schule bereitete mir keine grossen Schwierigkeiten<br />

und so landete ich dann am Gymnasium und nach dem Abschluss<br />

wollte ich Französisch und Englisch studieren. Pubertät, Aufbegehren,<br />

Rebellion, das kannte ich nicht. Wir lebten in unserer<br />

Welt – geistreich, gesittet, wohl geordnet, ohne Überschwang<br />

und allzu viel Emotionalität. Dann die Uni Zürich. Neue Eindrücke,<br />

neue Freunde. Ich meldete mich an unzählige Kurse an –<br />

war voller Wissbegierde, wollte die Welt entdecken. Mein Herz<br />

schlug höher, einmal da, dann wieder dort. Immer unaufgeregt,<br />

wohltemperiert. Ein Tauchkurs, ein Anfängerkurs in einem Hallenbad<br />

veränderte mein Leben. Als ich die Luftblasen aufsteigen<br />

sah, da wusste ich, er ist es – mein Mann für eine gemeinsame,<br />

glückliche Zukunft.» Ein leises, verstohlenes Lächeln huscht über<br />

das würdevolle Gesicht. Kurz nur, aber umso strahlender. «Sein<br />

Umzug in eine andere Wohnung war geplant – Ende November.<br />

Doch es kam anders. Das Wetter war traumhaft und wir zogen<br />

mit dem Zelt in die Berge. Hoch über dem Nebel verbrachten wir<br />

die Nacht. Eine Überraschung sollte es werden. Ich musste meine<br />

Augen verschliessen, mich ihm anvertrauen. Er nahm mich bei<br />

der Hand und marschierte auf den Abgrund zu. Kurz zögerte ich,<br />

mich blind jemandem anzuvertrauen, die Herrschaft über mich<br />

aufzugeben. Dann, als ich meine Augen öffnete, strahlte uns der<br />

Vollmond an, erhellte die Nacht – vereinte uns. Immer wieder sind<br />

wir an diesen Ort zurückgekehrt – dort, wo wir spürten, dass wir<br />

zusammengehören. Jahre später haben wir geheiratet. Mein Vater<br />

wünschte sich das, bevor er, nach seiner Pensionierung, eine<br />

Weltreise begann.»<br />

«Mami, ich gehe noch mit Kollegen ins Glattzentrum.» «Mach<br />

deine Schulaufgaben und komm nicht zu spät.» «Zwei Söhne haben<br />

wir. In Schweden verbrachten wir wunderbare Ferien. Sehen<br />

Sie hier, an diesem Wasser und in diesen Wäldern – ganz alleine<br />

nur wir. Das war grossartig. Die Kanus dort vor unserem Haus, die<br />

haben wir in Schottland benutzt, um den Walen entgegenzupaddeln.<br />

Gemeinsam in der Natur, das verbindet, gibt Kraft. Im Urlaub<br />

an der Moldau entdeckte ich einen Knoten in meiner Brust. Das<br />

Geschwür war bösartig. Ich machte mir Vorwürfe, nicht genauer<br />

hingeschaut zu haben. Nach unzähligen Behandlungen dachte<br />

ich, alles wird wie bisher weitergehen. Mein Mann arbeitete als<br />

Turnlehrer an der Hochschule. Ich erteilte Französischunterricht<br />

und wir freuten uns an den Kleinigkeiten des Alltages und an<br />

unseren Kindern. Dann starb mein Vater, und kurze Zeit später<br />

schmerzte mein Nackenwirbel. Dieser war völlig zerfressen – wurde<br />

durch einen künstlichen Wirbel ersetzt. Niederschmetternd.<br />

Der Kreis, der Lebenskreis, wurde kleiner. Erneut eine Operation,<br />

dieses Mal im Unterleib. Ich geniesse die Zeit mit meinen Kindern<br />

und meinem Mann noch bewusster – schöpfe Kraft aus unserer<br />

Liebe.» Die zierliche Frau verharrt, ihre Stimme wird leise. Tränen<br />

kullern über ihre Wangen. Ihr Mann legt liebevoll einen Arm um<br />

ihre Schultern. Die Quelle der Kraft und der Zuversicht ist eben<br />

auch gleichzeitig Ursprung von Fragen, auf die es keine abschlies-<br />

sende Antwort gibt. «Was geschieht mit meinen Kindern, welchen<br />

Weg werden sie im Leben, in ihrem Leben gehen? Ich werde<br />

es nie wissen!» Stille erfüllt den Raum, Ratlosigkeit und Trauer<br />

liegen in der Luft. Es ist, als ob die Zeit innehalten würde. «Unsere<br />

Zeit auf Erden ist beschränkt – wir alle wissen es – wissen es,<br />

ohne uns zu fragen, was wir damit Sinnvolles machen können, ja<br />

müssen.»<br />

«Mein Lebenskreis ist vorgezeichnet, ist begrenzt. Vier Monate,<br />

fünf? Jeden Tag werde ich als Geschenk empfinden, bewusst erleben<br />

– fröhlich sein, aber auch Trauer zulassen. Auch Tränen, ja das<br />

tut gut, auch einmal schwach sein zu können und dürfen.»

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