«In Schwamendingen, in der Au, bin ich als jüngstes von fünf Mädchen aufgewachsen. Mein Vater arbeitete als Strassenteerer. Als städtischer Arbeiter lebten wir in einem kleinen Häuschen, ohne Zentralheizung, aber mit einem riesigen Garten. Alles war sehr einfach, Platz war wenig vorhanden. Ich schlief im Elternschlafzimmer. Meine Geschwister gingen ihre eigenen Wege, denn sie waren ja viel, viel älter als ich. Ich hörte ihren Geschichten zu, erfuhr von Dingen, die mir weitgehend unbekannt waren. Oft hänselte ich sie, dann merkten sie, da war ja noch die kleine Schwester, das Nesthäkchen. Unsere Mutter war sehr streng mit uns, dominant, unerbittlich. Sie versorgte den ganzen Haushalt, schaute, dass das spärliche Geld ausreichte. Putzte, Akkordbüglerin war sie auch, ja, das gab es damals noch. Wenn Vater von der Arbeit zurückkam, schuftete er im Garten. Obstbäume, Gemüsebeete, Kaninchen, all dies musste gepflegt und gehegt werden, half uns über die Runden. Noch heute isst eine meiner Schwestern kein Kaninchenfleisch. Mama kam aus einer wohlhabenden Familie. Verbrachte eine unerfreuliche Jugend. Immer wieder musste sie sich anhören, dass sie der Grund für die Heirat war. Sie hütete ein schreckliches, grauenvolles Geheimnis. An ihr wurde ein Verbrechen begangen. Das prägte sie, das belastete diese Frau, Mutter von fünf Mädchen. Mein Vater musste als Verdingbube auf einem Bauernhof viel und hart arbeiten. Da blieb keine Zeit für Liebe und Verständnis. Sein Erzeuger arbeitete als Melker, kümmerte sich nicht um die beiden Söhne und zog von Hof zu Hof. Seine Mutter verstarb schon früh.»
«Beim Tanzen lernten sich die beiden kennen. Hofften auf ein besseres Leben, glaubten an die Liebe, an Nähe und Verständnis. Die Schatten waren aber zu dunkel, zu lang. Ihre Wünsche, ihre Sehnsüchte gingen nicht in Erfüllung. Harte Arbeit, der freudlose Überlebenskampf prägte ihren, unseren Alltag.» «Als Kind war ich viel krank. Dann, und nur dann, kümmerte sich meine Mutter um mich. Gab mir Ratschläge, ich verspürte so etwas wie Verständnis, erlebte einen Hauch von Zärtlichkeit. Am Esstisch erzählte uns Vater von der Arbeit, wir hörten stumm zu. Plötzlich, unvermittelt, wurde eine Tochter mit gepacktem Koffer vor die Haustüre gesetzt. Wegen Kleinigkeiten, wegen einer Lappalie. Wer gegen die Regel verstiess, wurde von unserer Mutter abgestraft. Das führte dazu, dass viele meiner Geschwister während Jahren keinen Kontakt mehr mit den Eltern pflegten. Auch ich durchlebte eine solche Zeit. Vater besass ein Motorrad. Viele Stunden fuhr er damit durch die Gegend, liess sich den Wind um die Ohren blasen, genoss die sorgenlosen Augenblicke. Dann kehrte er nach Hause zurück, arbeitete, erfüllte seine Pflicht – malochen, immer wieder malochen, im Garten und als Teermeister. Müde von all diesen Anstrengungen zog er sich schweigend zurück, schlief auf dem Sofa ein. Meine Mutter brachte mich in den Kindergarten. Ein Kindergarten ausserhalb des Quartiers. Daher kannte ich niemanden dort. Fühlte mich einsam. Erst ein Jahr später wechselte ich in die unmittelbare Gegend. Dort lernte ich dann auch einige Kinder kennen. Ich durfte niemand mit nach Hause nehmen. Wir hatten ja nicht genügend Platz; das wollte meine Mutter nicht. Doch die Küchentüre, die stand immer offen, führte in den grossen, riesigen Garten. Dieser bedeutete für mich die Freiheit, dort entdeckte ich meine kleine Welt, die Käfer, die Ameisen, die summenden Bienen, all dies erwärmte mein Herz, erfüllte mich mit grosser Freude. Bis zur Hecke, nur bis zur Hecke durfte ich gehen. Das war eine dieser unumstösslichen Gesetze. Schon als junges Mädchen las ich unzählige Bücher. Fasziniert von all diesen spannenden Geschichten, diesen Abenteuern, tauchte ich ein in die grosse, unbekannte Welt. Berauschend!» «Irgendwann stand ein Auto vor der Türe. Jahrelang hatte mein Vater dafür gespart. Wir fuhren ins Tessin, ja einmal verbrachten wir sogar Ferien in Rimini. Unsere Gastfamilie zog während dieser Zeit in den Keller und wir verbrachten die schönsten Tage des Jahres in ihrer Wohnung. Das war aussergewöhnlich, unglaublich. Pizza, Sonne, Meer, all die tollen Italiener. Umzug in eine Vorortsgemeinde in der Nähe des Flughafens. Mein Vater fand dort eine Stelle als Zentrumshauswart. Ich war todunglücklich. Weg, weg von meinem Garten, meiner Welt, ab in eine kleine, miefige Wohnung in einer grauen, unpersönlichen Siedlung. Endlich war die Schule beendet. Ein Haushaltsjahr in der grossen Stadt folgte. Ich genoss die neuen Freiheiten. Black out, Mascotte, dort tanzten wir. Das Neue erforschen, Begegnung mit den Männern. All dies kannte ich ja nur aus dem «Bravo», das mir meine Mutter kommentarlos auf den Küchentisch legte. Es war eine wilde, bunte, aufregende Zeit. Bald hatte ich meine eigene kleine Wohnung – alle wollten zu mir kommen. Spaghetti kochen, der Enge des Alltags, dem kleinbürgerlichen Mief entrinnen.» «An der Fasnacht begegnete ich erstmals meinem Mann. Zuerst beachtete ich ihn kaum. Doch schon bald änderte sich das! Ein neues Leben begann für mich. Wir wussten, dass wir für immer zusammengehören, dass es die grosse Liebe ist und heute, nach 22 Jahren, immer noch ist. Wir waren jung, sehr jung, kaum viel mehr als zwanzig Lenze alt. Trotzdem heirateten wir. Voller Abenteuerlust fuhren wir mit unserem Golf GTI und unserem Vierbeiner in den Süden, nach Spanien, auf die Hochzeitsreise. Unzählige Reisen haben wir unternommen. Nach Syrien, in den Jemen, Kreuzfahrten. Neue Eindrücke, fremde Länder.» «Mein Darm war es, der mir immer wieder Kopfzerbrechen bereitete, mir Sorgen machte. Ich habe Darmkrebs. Das war meine Aussage, meine Befürchtung. Schon eine meiner Schwestern und mein Vater sind an dieser Krankheit gestorben. Meine Vermutung bestätigte sich, wurde zur bitteren Wahrheit – Lebenserwartung, fünf Jahre. Operationen, Bestrahlungen folgten. Zehn Jahre arbeitete ich am selben Ort. Mir wurde gekündigt, der mühsame Gang zu den verschiedenen Ämtern folgte. Eine leid- und schmerzvolle Erfahrung. Ich verlor viele meiner sozialen Kontakte, wurde ein zweites Mal vom Leben bestraft. Selbstmitleid, Wut verspüre ich nicht. Ich glaube daran, dass nach dem Tod etwas Neues beginnt, dass ich auf einer Kreuzung stehe und einen anderen Weg einschlagen werde. Die Diagnose hat mein Leben verändert. Ich sehe genauer hin. Erlebe die kleinen Freuden des Alltages bewusster, intensiver. Ärgere mich nicht mehr über Kleinigkeiten. Traurig stimmt mich einzig und allein, dass ich mich an der Wegscheide von meinem wunderbaren Mann verabschieden muss, dass wir dann eigene Wege gehen werden.» «In einem Kloster in den Bergen begegnete ich vielen Menschen mit dem gleichen Schicksal. Dort erfuhr ich viel Nächstenliebe, tauchte ein in eine für mich völlig neue und fremde Welt. Die Welt der Rituale, des Lichtes. Das war eine sehr bereichernde und tiefgreifende Erfahrung. Ich ging als Raupe dorthin und verliess als farbenfroher Schmetterling diesen Hort der Begegnung.»