Zum Jahresbericht 2009 - Onko Plus

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«Nein, im Kongo wird kein Frieden einkehren. Die Bodenschätze, alle wollen davon profitieren. Die Alten und die Kinder müssen darunter leiden. Ich sende regelmässig Hilfsgüter, um den Ärmsten zu helfen. Immer wieder sammle ich, das schulde ich meinen Mitmenschen. Mein Vater war Lokomotivführer, reiste durch das ganze Land. Aufgeschlossen und unternehmungslustig. Eine junge Frau aus dem Nachbardorf sollte er heiraten. Eine Bekannte teilte der Familie mit, dass sie einen ganz besonders guten Charakter hat. Fünfzehn Jahre alt war sie. Wenig später wurde der Bund fürs Leben geschlossen. Doch schon bald starb eine Schwester und meine Mutter musste für die vier Waisen aufkommen. Das ist so üblich in der Gegend, aus der ich komme. Vier eigene Kinder kamen dazu. Ich war der zweitälteste. Eines Tages fehlte in unserer Gemeinde ein Pastor. Ja, wir sind Protestanten – Livingston war ja vor den Belgiern hier. Die Dorfältesten versammelten sich und wählten meinen Vater zum Nachfolger.»
«So wuchs ich also in einer Pastorenfamilie auf. Wir beherbergten viele Missionare aus aller Welt. Es wurde viel gesungen, diskutiert, gelacht und natürlich gebetet. Gott war allgegenwärtig. Fernsehen kannten wir nicht. Wir waren das Fernsehen. Wir erfanden Geschichten, spielten Fussball, rannten um die Wette. Grossartig, einfach schön war meine Jugend. Meine Eltern liebten sich innig, waren füreinander da. Jeder an seinem vom Schöpfer vorgegebenen Platz. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich eine höhere Schule besuche. 14 km zu Fuss – zur nächsten Gemeinde, das jeden Tag. Es war eine katholische Bildungsanstalt. Da musste ich mich in ihrem Glauben taufen lassen.» «Kein Problem», meinte mein Vater, «wir beten ja zum selben Gott!» «So kam es vor, dass ich morgens den katholischen und abends den evangelischen Gottesdienst besuchte. Mir gefiel das – es vermittelte Halt, gab Kraft und ich spürte etwas ganz Besonderes. Eines Tages, kaum war die Predigt beendet, brach mein Vater zusammen. Herzversagen. Meine Mutter litt Qualen – musste die Siedlung verlassen. Das ist so Brauch im Kongo. In die Hauptstadt flüchtete sie. Mühevoll, aufopfernd kämpfte sie für das tägliche Brot. Ich besuchte die Universität, studierte und wurde Pädagoge. Als junger Lehrer erlebte ich Ungerechtigkeit, Korruption. Das konnte ich als Christ nicht hinnehmen. Ich wehrte und exponierte mich. Gewerkschaften wurden gegründet, ich als Führer gewählt. Mitstreiter verschwanden. Gerüchte kursierten über Folter und Todschlag. Freunde verschwanden, wurden in den Kerker geworfen – nie wieder hörten wir von ihnen. Die Angst war unser ständiger Begleiter. Zwei Monate streikten alle Lehrer im Lande. Einige hatten über ein Jahr lang kein Gehalt mehr erhalten. Dann, plötzlich und unerwartet, meine Flucht. Diese endete hoch über dem Walensee im November 1984. Sechzig Menschen, Menschen aus allen Erdteilen – das gleiche Schicksal, die gleichen Hoffnungen. Der erste Schwarze – mit grossen Augen, mit viel Unmut wurde ich von den Einheimischen betrachtet.» «Du musst bei dir beginnen, wenn du die Welt verändern willst.» «Das waren Vaters weise Worte. Täglich zehn Wörter deutsch wollte ich lernen. Bald half ich den Kindern der Heimleiterin bei den Hausaufgaben. Zu Schulausflügen durfte ich mitgehen. Als Kellner, in der Metallindustrie und an vielen anderen Orten versuchte ich mein Glück. In Wil SG war es, eines Abends, ich wartete vergebens auf einen Bekannten. Da sass sie neben mir. Schon vorher war mir die hübsche blonde Frau aufgefallen. In unserem Restaurant bediente ich sie einige Male. Auch ihre Mutter kannte ich flüchtig. Nein, nein, einfach so mit dir weggehen, das will ich nicht. Wir trafen uns sonntags in der Kirche, immer wieder. Dann wurde sie schwanger und jetzt sind wir schon viele Jahre verheiratet, haben drei Kinder 18, 17 und 15 Jahre alt. Die Familie bedeutet mir alles. Er ist mein Lebensmittelpunkt. Für mich ist es nicht immer einfach zu sehen, wie in der Schweiz, in diesem Land des Überflusses, viele junge Menschen alleine gelassen werden, verwahrlosen, Drogen konsumieren. Das schmerzt mich sehr. In Afrika ist das doch alles überschaubarer. Die Menschen sind hilfsbereiter und wissen um ihren Platz in der Gesellschaft. Sicher, auch dort beginnen diese Werte zu zerfallen. Das ist bedenklich und stimmt mich traurig.» «Vor einigen Monaten stolperte ich über ein Kabel, fiel hin und konnte mich nicht mehr erheben. Die Ärzte waren sehr besorgt. Untersuchungen folgten. Der Ungewissheit folgte die niederschmetternde Diagnose. Seit einigen Wochen sitze ich im Rollstuhl. Das Leben hat sich radikal verändert. Meinem Beruf als Emigrantenbetreuer kann ich nicht mehr nachgehen. Viel Zeit bleibt mir, um über alles nachzudenken. Die Beziehung zu meiner Familie ist noch inniger geworden. Plötzlich bekommt die Vergänglichkeit von uns Menschen ein Gesicht, wird zu einem alltäglichen Bestandteil meines Seins. Nein, kein hässliches Antlitz, nein! Erinnert euch an Moses und seine Leiden und die erfolgte Erlösung. Ich glaube an ein Leben nach dem Tode. Ich bin davon überzeugt, dass unser Vater weiss, was er tut und was er will. Dieser Glauben, diese Gewissheit gibt mir Kraft, gibt mir Mut und Hoffnung.» «In wenigen Tagen fahre ich für einige Wochen in den Kongo. Meine Mutter, ja meine Mutter hat gespürt, dass ihr Sohn gesundheitliche Probleme hat. Einer guten Mama kann niemand etwas vormachen. Natürlich freue ich mich auf den Besuch. Vielleicht wird es ein Abschied für immer sein. Ich bin gespannt zu sehen, wie sich das Land, meine Freunde verändert haben. Die Dämmerung, die verschiedenen Gerüche und Geräusche, ja sie werden mich an längst vergangene Zeiten erinnern, werden mich träumen lassen.»
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