«Ja, diese vielen alten Fotos, sie zeigen meinen Vater. Er war ein toller Mann, immer liebenswürdig und hilfsbereit, immer ein offenes Ohr für uns Kinder. Bahnfahrer war er, sehen Sie nur, da war er neunzehn. Im Gaswerk arbeitete er. Eigentlich hätte er ja Priester werden sollen – ging in Einsiedeln in die Klosterschule, doch dann wurde er an die Grenze abberufen, in den Jura nach Delémont. Dort traf er meine Mutter und es wurde geheiratet. Mein Bruder starb mit siebzehn. Ein geplatzter Blinddarm. Ein Ärztepfusch. Stellen Sie sich das vor! Meine Mutter hat das nie verkraftet. Sie war immer schon etwas eigen – krank eben, krank an der Seele. Wir hatten ein angespanntes Verhältnis. Mein Bruder war ihr Fixstern. Doch ich hatte ja den Vater!»
«Ich war ein fröhliches, aufgewecktes und selbstständiges Kind. Wir hatten eben eine schöne Jugend. Aufmüpfig bin ich gewesen. Bei einem frommen Onkel mussten wir immer beten, Hände gefaltet und nach oben gerichtet. Das habe ich nie so gemacht. Nach unten schauten sie. Ein Zwick mit der Rute gab es dafür. Das war mir aber gleichgültig. Nurse wollte ich werden. Ging eigens dafür nach Rorschach in eine Spezialschule. Ziel war Genf. In einer englischen Familie hätte ich auf die Kinder aufpassen sollen. Doch dann brach der Krieg aus und mein Vater liess mich nicht ziehen. Jahre später kaufte er mir einen Coiffeursalon am Stauffacher. Eine tolle, spannende Tätigkeit. Viele Menschen, viele Schicksale, unzählige Frisuren. Auch meine Tochter hat mitgeholfen. Beide, mein Sohn und sie, wohnten lange bei mir. Wir hatten es einfach gut zusammen. In unserem Haus lebten auch Emigrantenfamilien aus Italien und Spanien. Die Eltern waren vollauf beschäftigt, Geld zu verdienen. Ja, dann habe ich mich um deren Kinder gekümmert. Deutsch mussten sie lernen. Die Schulaufgaben machen. Ja, man muss doch Gutes tun, wo man kann, denn das Gute wie das Böse kommen irgendeinmal zurück. Patentante wurde ich von vielen Flüchtlingskindern. Das ehrte und freute mich sehr. Hunde hatte ich auch. Sehen sie den dort unten?» «Die Urnen all meiner treuen Begleiter stehen im Gang. Ich will nicht ins Grab. Nein, das ist mir zu eng. Verstreut sollen sie werden, meine Überreste, zusammen mit der Asche meiner Vierbeiner, irgendwo an einem schönen Ort. Alles schon organisiert.» «Schon 25 Jahre wohne ich hier. Meinen Mann lernte ich in der Hälftibar kennen. Er spielte dort die Handorgel. Mensch, war der eifersüchtig! War ja auch vierzehn Jahre älter als ich. Ein Leben nach dem Tode? Ach wissen Sie, manchmal wünschte ich mir das schon – aber eben… Wer weiss denn, wie es sein wird... Da wollten wir mit den Kindern in den Urlaub fahren. Eine Erkältung zwang uns, den Arzt zu rufen. Eine Penizilinspritze sollte Erleichterung bringen – sie brachte den Tod. In wenigen Stunden starb mein Mann! Unglaublich, unfassbar. Anstatt weisser Strand, die Totenglocken. Friedlich lag er auf unserem Ehebett, so, als ob er seinen wohlverdienten Mittagsschlaf machen würde. Den Män- nern vom Bestattungsinstitut befahl ich, behutsam mit der Leiche umzugehen. Sie brachten den Sarg beinahe nicht zur Zimmertüre raus. Da wollte ich meinen Gatten nochmals sehen, nochmals Abschied nehmen. Ich brach in Tränen aus. Verändert, verängstigt sah er aus. Am nächsten Tag setzte ich mich mit dem Kindermädchen aufs Ehebett. Wir besprachen die Situation und weinten zusammen. Unerwartet, ja beinahe gespenstisch, öffnete sich, wie von Geisterhand, die Zimmertüre – und schloss sich wieder. Wir sahen uns ungläubig an. Nun wussten wir, dass er sich für immer verabschiedet hatte. Nein, über dieses traurige und bestürzende Ereignis haben wir nie gesprochen, die Kinder und ich. Das Leben musste ja weitergehen. Ich war noch jung, Zweiunddreissig, in den besten Jahren. Meine Arbeit half mir weiter, gab mir Kraft und Freude. Mein Sohn verbrachte fünf Jahre bei meinen Eltern. Die hatten ja sehr früh eines ihrer geliebten Kinder verloren, waren pensioniert, hatten Zeit und freuten sich auf die neue Aufgabe. Das passte dann irgendwie alles zusammen. Nein, nein, geheiratet habe ich nie mehr. Das musste ich meinem Mann versprechen. Man kann das Leben ja auch so geniessen.» «Stellen Sie sich vor, eines Tages kam unser Hausarzt zu mir in den Salon.» «Sie sollten den jüdischen Flüchtlingen die Haare gratis schneiden!» «Als Gegenleistung betreute er uns medizinisch – gratis natürlich. Ja, das war eine aufregende Zeit. Viele der Betroffenen wanderten nach Amerika aus. Mit den anderen habe ich teilweise noch heute einen ausgezeichneten Kontakt. Die schönste Zeit meines Lebens? Ach, eigentlich gibt es davon mehr als genug. Im Internat, da hat es mir besonders gut gefallen. Die vielen Mitbewohner, die vielen Kolleginnen, das war aufregend, abwechslungsreich. Ich war ja eher eine Einzelgängerin. Wussten Sie, dass wir noch Benimmunterricht hatten? Da wurde uns beigebracht, wie sich ein Mädchen und wie sich die Jungen zu benehmen hatten. Das waren noch Zeiten! Herrgott, wenn ich das mit der heutigen Jugend ver- gleiche… Nein, nein, eine grosse Operation will ich nicht, auch wenn der Doktor versichert, dass ich diese gut überstehen würde. Bums und fertig, tot umfallen, das ist doch eine viel befreiendere Vorstellung, als noch Jahre vor sich hinzudämmern.»