FLIEGENDE LIEBENDE - Biograph
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24<br />
Neue Filme in den Filmkunstkinos<br />
LA GRANDE<br />
BELLEZZA<br />
Das Glück der großen Dinge<br />
Vor über 100 Jahren schrieb Henry James den Roman „Maisie“, in dem es um die<br />
Trennung eines Elternpaares und die Fallstricke des damaligen Sorgerechts<br />
ging. „Das Glück der großen Dinge“ des Regie-Gespanns Scott McGehee und<br />
David Siegel („The Deep End“) nimmt die Vorlage und übersetzt sie in die heutige<br />
Zeit. Das Ergebnis ist kluges, warmherziges Kino, das unerwartet viel Komik<br />
und Lebensfreude ausstrahlt, wofür vor allem die junge Hauptdarstellerin verantwortlich<br />
ist.<br />
Wenn eine Ehe scheitert, aus der Kinder stammen, dann ist dies für alle Beteiligten<br />
in der Regel ein besonders schmerzhafter und verwirrender Einschnitt in ihr Leben.<br />
Der Streit ums Sorgerecht, um Besuchszeiten und verletzte Eitelkeiten wird nicht selten<br />
auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen. So ergeht es auch der kleinen<br />
Maisie (Onata Aprile). Plötzlich steht die Sechsjährige zwischen ihrem Vater (Steve<br />
Coogan), einem geschäftstüchtigen Kunsthändler, und ihrer Mutter Susanna (Ju-<br />
lianne Moore), die als Rockmusikerin in der Midlife-Crisis gerade an einem Come -<br />
back arbeitet. Das einst glückliche Paar lässt sich scheiden, was Maisies Leben<br />
zunächst völlig auf den Kopf stellt. Auf einmal lebt sie an zwei unterschiedlichen<br />
Orten, die beide ihr Zuhause sein sollen. Während sich ihr Daddy auf eine Beziehung<br />
mit der Nanny (Joanna Vanderham) einlässt, heiratet ihre Mutter recht bald den jungen<br />
Barkeeper Lincoln (Alexander Skarsgård). Die ohnehin bereits verwirrende Si -<br />
tuation wird dadurch für Maisie nur noch unübersichtlicher.<br />
Dass die Grundzüge der Geschichte sehr vertraut klingen, mag neben der weit<br />
ver breiteten Thematik auch damit zusammenhängen, dass der Film auf einem in -<br />
zwischen über 100 Jahre alten Roman von Henry James basiert. Damals war die<br />
Idee eines gemeinsamen Sorgerechts gänzlich neu. Für James hatte diese bei<br />
aller Tragik auch etwas Skurriles, was er in Maisies Blick auf die Welt zum Aus -<br />
druck brachte. Der Film des Regie-Duos Scott McGehee und David Siegel, denen<br />
bereits vor über zehn Jahren mit „The Deep End“ ein erster Independent-Erfolg<br />
gelang, übersetzt den Inhalt des Romans in unsere heutige Zeit. Dabei zeigt sich,<br />
dass James’ Erzählung kaum etwas an Aktualität und Relevanz verloren hat. Auch<br />
in „Das Glück der großen Dinge“ sehen wir die Welt konsequent mit Maisies<br />
Augen. Sie ist es, die im Zentrum eines bisweilen heftigen Sturms steht, der um sie<br />
herum viele Verwüstungen und Verletzungen anrichtet.<br />
Das Erstaunliche vor diesem durchaus ernsten Hintergrund ist, wie wenig sentimental<br />
oder gar rührselig der Film daherkommt. Seine Tonlage ist überaus lebensbejahend,<br />
viele Szenen besitzen eine geradezu bemerkenswerte Leichtigkeit und<br />
Komik. Dabei wohnt ihnen meist eine gewisse Tragik inne, beispielsweise wenn<br />
Maisie mal wieder vergeblich auf ein Elternteil warten muss oder wie eine<br />
Trophäe von Mutter zu Vater hin- und herwandert. Doch McGehee und Siegel<br />
waren nicht an einer Neuauflage von „Kramer gegen Kramer“ interessiert. Ihr<br />
Ansatz ist ein gänzlich anderer. Da der Zuschauer die nicht selten verwirrenden<br />
Ereignisse in Maisies unmittelbarem Umfeld aus ihrem Blickwinkel erlebt – die<br />
Kamera befindet sich zumeist auf Augenhöhe zu ihr – wirkt vieles anders, als<br />
Erwachsene es vermutlich wahrnehmen würden. Dass diese Rechnung am Ende<br />
aufgeht, ist nicht zuletzt den Darstellern zu verdanken. Die kleine Onata Aprile wird<br />
wohl noch öfter vor einer Filmkamera stehen, so mitfühlend und echt wirkt das,<br />
was sie uns hier zeigt. In ihrem Schatten stehen dann auch selbst Profis wie<br />
Julianne Moore und Steve Coogan. Und das ist bei diesen charismatischen<br />
Hollywood-Stars durchaus ein kleines Kunststück. // //PROGRAMMKINO.DE<br />
DAS GLÜCK DER GROßEN DINGE Ab 11.7. im Metropol (immer Mo in Omu)<br />
(What Maisie knew) USA 2012 - 99 Min. - Regie: Scott McGehee, David Siegel.<br />
Mit Onata Aprile, Julianne Moore, Alexander Skarsgård, Steve Coogan u.a.<br />
Vorpremiere in der engl. Originalfassung mit dt. Untertiteln am 8.7. im Atelier<br />
Jackie – Wer braucht schon eine Mutter<br />
Auf den scheinbar ausgetretenen Pfaden des Road-Movies gelingt es der niederländischen<br />
Regisseurin Antoinette Beumer, dem Genre eine wunderbare Ak -<br />
tualisierung zu verpassen und die darin durchlebte Krise und Selbstfindung in<br />
moderne Familienstrukturen zu übersetzen. „Jackie“ ist ein warmherziger, unterhaltsamer<br />
und überraschender Film über drei starke Frauen, die sich der Frage<br />
stellen, was Herkunft für sie bedeutet und sich darauf einlassen, dass die Ant -<br />
wort ihr bisheriges Leben grundlegend verändern wird.<br />
Es ist zum Großteil der Schwester von Beumer, Star-Schauspielerin Famke Jans -<br />
sen zu verdanken, dass für diese kleine Indie-Perle Oscar-Preisträgerin Holly<br />
Hunter engagiert werden konnte, die ihre Rolle als mysteriöse, schroffe Hippie-<br />
Mutter mit Indiana-Jones-Faktor hervorragend, und ohne vieler Worte zu bedürfen,<br />
ausfüllt. Als diese mit einer komplizierten Knochenfraktur ins Krankenhaus<br />
eingeliefert wird und sich als nicht sehr kooperativ erweist, kontaktieren die<br />
Pfleger in ihrer Not die Töchter Sofie (Claire van Houten) und Daan (Jelka van<br />
Houten) in den Niederlanden. Doch die Verwandtschaftsbeziehung ist komplexer<br />
als gedacht – die beiden Zwillingsschwestern sind nämlich bei ihren schwulen<br />
Vätern Harm und Marcel aufgewachsen, Jackie ist zwar ihre Leihmutter, doch<br />
nach der Geburt der beiden ließ sie sich nie wieder blicken.<br />
So löst nun die Bitte, in die USA zu reisen und Jackie in eine Reha-Klinik zu bringen,<br />
gemischte Gefühle in den Schwestern aus: Fliegen fällt wegen eines geplatzten<br />
Trommelfelles aus und auch sonst weigert sich Jackie, ihren verfallenen<br />
Wohn wagen zu verlassen, so dass nur die Möglichkeit der konfliktreichen Fahrt<br />
mit diesem alten Klappergestell durch die kargen Weiten von New Mexico bleibt.<br />
Beumer gelingt es im Laufe des Films immer mehr, die Charaktere, welche zu -<br />
nächst etwas reißbrettartig entworfen anmuten, mit Leben zu füllen und sie im Zu -<br />
schauerherz zu verankern. Die tatsächliche Verwandtschaft der beiden Hauptdar -<br />
stellerinnen, die dem ein oder anderen aus der Erfolgsserie „Game of Thrones“<br />
bekannt sein könnten, trägt wohl ebenfalls zur Authentizität im Spiel von ihnen bei.<br />
Ein durchweg gelungenes Drehbuch begleitet die Reise der drei ungleichen<br />
Frauen, das stellenweise etwas „Thelma & Louise“-Luft atmet, aber gedämpfter<br />
bei den Charakteren bleibt, als zu einer Outlaw-Geschichte zu werden.<br />
Zudem ist die Figurenkonstellation recht ungewöhnlich – sind es doch im Regelfall<br />
eher die Väter, die im Film durch Abwesenheit und Wortkargheit glänzen und sich<br />
auf der Reise über den Asphalt ihren verlorenen Söhnen widmen. „Jackie“ bricht<br />
mit diesem Klischee und zeigt Frauen, die aus der Rolle fallen und keine Lust verspüren,<br />
Erwartungen zu erfüllen, aber aufgrund ihrer gegenseitigen Solidarität<br />
schließlich einen großen Gewinn aus der Gemeinschaft ziehen können.<br />
So unterläuft der Film ebenfalls traditionelle Ideen von Blutsverwandtschaft und<br />
familiärem Determinismus auf wunderbare Weise mit seinem äußerst originellen<br />
Ende, das den Zuschauer mit einem zeitgemäßen Statement (besonders in Hin -<br />
blick auf Proteste gegen die Homo-Ehe) entlässt. Familie ist ein flexibler Begriff, er<br />
bezeichnet sämtliche Relationen, die uns hervorgebracht haben und er ist stets<br />
erweiterbar. Oder wie Sofie es sagen würde: Jede Mutter könnte meine Mutter<br />
sein. Was Verwandtschaft wirklich ausmacht, ist die Bereitschaft, einen Men -<br />
schen wahrhaftig in sein Leben hinein zu lassen und ihn ein Stück des Weges zu<br />
begleiten. //<br />
//SILVIA BAHL<br />
JACKIE – WER BRAUCHT SCHON EINE MUTTER<br />
Ab 18.7. im Atelier (immer Mi in Omu)<br />
Niederlande / USA 2012 - 98 Min. - Regie: Antoinette Beumer.<br />
Mit Carice van Houten, Jelka van Houten, Holly Hunter, Mary Woods, Howe Gelb<br />
Vorpremiere in der engl./niederländischen Originalfassung mit dt. Untertiteln am<br />
16.7. im Cinema. Die NRZ verlost zeitnah 5 mal 2 Freikarten für die Vorpremiere.<br />
Paulette<br />
Die europaweite Wirtschaftskrise, gepaart mit dem Älterwerden der Bevöl ke -<br />
rung, verbindet sich in Jerome Enricos amüsant-grotesker Komödie „Paulette“ zu<br />
einer bizarren Geschichte: Um ihre karge Rente aufzubessern, fängt die greise<br />
Hauptfigur in ihrem französischen Vorstadt-Ghetto an zu dealen. Und das so<br />
erfolgreich, dass ihr Geschäft bald auf ungeahnte Weise expandiert.<br />
Paulette (Bernadette Lafont) ist 80 und alles andere als altersweise. Seit sie ihre<br />
kleine Konditorei schließen musste und ihr Mann gestorben ist, zetert sie sich<br />
durchs Leben. Vor allem die Invasion an Asiaten, Afrikanern und sonstigen fremden<br />
Elementen, die ihre Vorstadt-Gegend zunehmend beherrschen, stößt ihr übel<br />
auf: Da bekommt ein vietnamesisches Restaurant schon mal Kakerlaken in den<br />
Abfall gesteckt, bezeichnet sie ihren eigenen Enkel konstant als „Bimbo“ und<br />
beklagt sich bei der Beichte über all die Schwarzen – völlig ignorierend, dass der<br />
Pfarrer inzwischen auch ein Schwarzer ist. Paulettes Verbitterung erreicht ihren<br />
Höhepunkt, als ihr sämtliche Möbel gepfändet werden, um Miete, Telefon und<br />
Strom zu bezahlen.<br />
Doch als sie eines Abends zwei junge Schwarze beobachtet, die beim Dealen<br />
erwischt werden und ihr Schwager (sowohl Polizist als auch dunkelhäutig), ihr<br />
von den enormen Einnahmen eines Dealers erzählt, entsteht die zwar absurde,<br />
aber rettende Idee: Ganz unverblümt klopft Paulette an die Tür des lokalen Dro -<br />
genhändlers und bietet ihre Arbeitskraft an: Als greise Oma sei sie die Unauf -<br />
fälligkeit in Person. Das leuchtet ein und dementsprechend schnell wird sie zur<br />
erfolgreichen Dealerin, die Haschpakete zerkleinert und an die gierige Kundschaft<br />
verteilt. Doch der Erfolg wird zum Problem, als die anderen Dealer zunehmend<br />
weniger verkaufen. Und so verfällt Paulette auf die Idee, das Dealen mit ihren<br />
Backkünsten zu verbinden: Bald wird ihre Wohnung zur Bäckerei der besonderen<br />
Art. Statt Brot und Kuchen verkauft Paulette mit Hilfe ihrer Freundinnen Hasch -<br />
kekse, bedröhnende Madeleines und auch mal einen ganzen Kuchen als<br />
Sonderanfertigung.<br />
Die Idee zum Film lieferte zwar eine Zeitungsnotiz über eine ältere Dame, die<br />
Drogen verkaufte, um ihrer Altersarmut zu entgehen. Dennoch wäre es zu hoch<br />
gegriffen, Jerome Enricos Film als einen überzeichneten Kommentar über tatsächliche<br />
soziale Probleme zu bezeichnen. In „Paulette“ herrscht vom ersten Moment<br />
bis zum ebenso absurden wie hübschen Happy End eine solch überdrehte Atmo -<br />
sphäre, dass jeglicher realistischer oder sozialkritischer Ansatz im Keim erstickt<br />
wird. Zumal Paulette und ihre Freundinnen in kaum 90 Minuten eine solch ausufernde<br />
Geschichte durchleben, die so reich an Zwischenfällen ist, dass für eine<br />
nuancierte Charakterzeichnung kein Platz bleibt.<br />
„Paulette“ lebt zum einen von seiner absurden Geschichte, zum anderen von seiner<br />
Hauptdarstellerin Bernadette Lafont, die ihre Karriere Ende der 50er Jahre bei<br />
Claude Chabrol begann und in den 70er Jahren in Rivettes „Out 1“ und Eustaches<br />
„Die Mutter und die Hure“ zu sehen war. Trotz ihrer 84 Jahre noch bemerkenswert<br />
agil und vor allem mit einer Spielfreude gesegnet, mit der sie ihre anfangs wenig<br />
sympathische Figur langsam zu einer doch liebenswerten Person wandelt – und<br />
einen Film, der sich ein bisschen zu sehr auf seine grotesk-überdrehte Geschichte<br />
verlässt, zu einer amüsanten Komödie macht. // //PROGRAMMKINO.DE<br />
PAULETTE<br />
Ab 18.7. im Cinema (immer Mi in OmU)<br />
Frankreich 2012 - 87 Min. - Regie: Jerome Enrico. Mit Bernadette Lafont,<br />
Carmen Maura, Dominique Lavanant, Francoise Bertin, Andre Penvern u.a.<br />
Vorpremiere in der franz. Originalfassung mit dt. Untertiteln am 15.7. im Atelier<br />
DIE GROSSE SCHÖNHEIT