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Alexander Wandinger, Jana Cerno, Christian Aichner

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Schnur oder ein Band um die Hüften. Daran<br />

lassen sich Blätter – gerne auch Feigenblätter –<br />

oder Tücher und Fransen befestigen. Diese<br />

für unsere Begriffe höchst unzulängliche Tracht<br />

steht tatsächlich für eine vollkommene Be-<br />

kleidung. Der hochzivilisierte Mensch hat den<br />

sogenannten Wilden bis ins 20. Jahrhundert<br />

hinein oft als nackten Eingeborenen dargestellt<br />

und charakterisiert. Viele pseudowissenschaftliche<br />

Bildbände kolportieren diese<br />

Betrachtungsweise. Sogar die Missionare unterschiedlicher<br />

Konfessionen hatten nichts<br />

Eiligeres zu tun, als sich in die modischen Be-<br />

lange der Heiden einzumischen, und ihnen<br />

die vermeintliche Nacktheit zu nehmen. In<br />

Wirklichkeit waren die mit europäischer<br />

Kleidung beschenkten »Wilden« nicht nackt.<br />

Sie wären es nur ohne die unauffällige Hüftschnur,<br />

die sie trugen, gewesen.<br />

In unserem<br />

Kulturkreis kennen wir das schützende Eingebundensein<br />

beispielhaft in Gestalt des<br />

»Fatschenkindes«. Noch bis um 1900 ist das feste<br />

Umbinden von Babys, das Einfatschen, üblich:<br />

Die Kinder wurden, beginnend unmittelbar<br />

nach der Geburt, etwa ein Jahr lang mit einem<br />

Stoffband – der Fatsche – umwickelt. Mit<br />

diesem Brauch war der Glaube verbunden, daß<br />

sich der wachsende Körper nur auf diese Weise<br />

gerade und nicht krumm entwickeln würde.<br />

Den tieferen, nicht nur symbolischen Grund des<br />

Wickelns, das wir bis in die Antike zurückverfolgen<br />

können, bildet wohl die Verlängerung<br />

des geschützten Zustands im Mutterleib –<br />

gewissermaßen ein verzögertes »auf die Welt<br />

Kommen«.<br />

10<br />

Der Mensch begreift sich ursprünglich<br />

als Teil der beseelten Natur mitsamt<br />

ihren numinosen Kräften. Um möglichen Ge-<br />

fahren und Schrecknissen zu begegnen,<br />

umgibt er sich mit einem schützenden Ring.<br />

Das kann eine Dornenhecke, ein Steinkreis,<br />

eine Stadtmauer und im übertragenen Sinn ein<br />

Gürtel sein. Die Situation des Umgeben-<br />

seins kehrt der Mensch später um und zäunt als<br />

zweiten Schritt das Unfaßbare ein – und<br />

sich selbst damit aus. Gottheiten oder wilde<br />

Tiere werden fürderhin in Form von Tempeln<br />

und Gehegen eingegrenzt. Sehr anschaulich<br />

stellt sich diese Entwicklung in der Mutation<br />

vom Jäger und Sammler zum heutigen<br />

Zoobesucher dar. Kulturgeschichtlich gehören<br />

Gürtel zur erstgenannten Bewußtseinsstufe,<br />

die wir über die Jahrtausende bis heute in uns<br />

weitergetragen haben.<br />

Über einen so langen<br />

Zeitraum entstanden unzählige Varianten von<br />

Gürteln, die sich in Material, Form, Verzie-<br />

rung und Anspruch zum Teil erheblich unterscheiden.<br />

Von der einfachen Hüftschnur<br />

reicht das Spektrum über mehrgängige Perlengürtel<br />

aus Afrika und prachtvolle Silberarbeiten<br />

aus dem Kaukasus bis zum Nietengürtel der<br />

Punkmode. In Japan gibt es sogar eigene Lehr-<br />

bücher für das korrekte Binden der komplizierten<br />

Obi-Schleifen zum Kimono.<br />

Auch in Bayern, Österreich und Südtirol<br />

hat sich eine einzigartige Gürtelkultur ent-<br />

wickelt. Das Trachten-Informationszentrum des<br />

Bezirks Oberbayern hütet einen Gürtelschatz,<br />

der in seiner Qualität und Vielfalt einmalig ist.<br />

Das vorliegende Buch dokumentiert<br />

einen Teil dieser Sammlung – angereichert<br />

mit ausgewählten Leihgaben aus privatem<br />

und öffentlichem Besitz. Der Bestand des<br />

Trachten-Informationszentrums stammt fast<br />

zur Gänze aus der Sammlung von Dr. Ewald<br />

Martin, dem Autor des Grundlagenwerks<br />

»Mannsgurten«.<br />

Die Frauen- und Männergürtel<br />

unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht:<br />

Männergürtel bestehen immer aus Leder – das<br />

vom Rind, Hund, Pferd oder der Ziege stammen<br />

kann – und einer Metallschließe. Frauengürtel<br />

können auch ganz aus Metall gefertigt sein.<br />

Bis auf wenige Ausnahmen, die wie die Männergürtel<br />

eng anliegen, werden Frauengürtel schräg<br />

zur Seite oder nach vorne hängend getragen.<br />

Männergürtel dienen bis ins frühe 17. Jahr-<br />

hundert primär zum Mitführen bzw. Tragen von<br />

Beuteln, Messern oder Dolchen. Diese Funktion<br />

tritt danach immer mehr in den Hintergrund,<br />

und um 1750 sind Männergürtel modisch<br />

bloß noch von marginaler Bedeutung. Nur im<br />

Militärwesen und in Form des Kavalierdegens<br />

spielt die Waffe, die am Gürtel hängt, weiterhin<br />

eine wichtige Rolle und lebt in der Dienstpistole<br />

am Gürtel in unserer Zeit weiter. Die Frauen<br />

tradieren dagegen ohne zeitlichen Bruch eine<br />

Sitte, die weit hinter das Mittelalter zurückreicht.<br />

Diese zeigt sich besonders augenfällig im<br />

Tragen von Schlüsseln, Feuerschlägern, Messern<br />

und anderen Accessoires am meist reich<br />

verzierten Gürtel. Frauengürtel sind weit stärker<br />

Traditionen und Überlieferungen verpflichtet<br />

als die Männergürtel, die im 17. und 18. Jahrhundert<br />

nicht nur ihre überlieferte Funktion<br />

einbüßen, sondern zeitweise fast gar keine Rolle<br />

mehr spielen.<br />

Absolut rätselhaft ist vor diesem<br />

Hintergrund die Tatsache, daß der Gürtel um<br />

1750 wie aus dem Nichts in der bäuerlich-<br />

bürgerlichen Männerkleidung wieder erscheint,<br />

ohne auf Vorbilder aus der Mode des Adels<br />

oder der bürgerlichen Oberschicht zurückzugreifen.<br />

Im Regelfall steht das bäuerliche<br />

und bürgerliche Gewand in einer klaren Be-<br />

ziehung zur Gewandung der Oberschicht.<br />

Meist deutlich vereinfacht und zeitlich verzögert<br />

werden modische Elemente als abgesunkenes<br />

Kulturgut übernommen und entsprechend<br />

verändert. Das gilt sowohl für die allgemeine<br />

Mode als auch für die Trachtenkleidung. Die<br />

»Mannsgurten« bilden, ohne daß wir dafür über<br />

eine zufriedenstellende historische Erklärung<br />

verfügten, eine Ausnahme von der Regel. Um<br />

so mehr erstaunt die handwerklich brillante<br />

Ausführung der Artefakte und eine regionaltypische<br />

Gestaltung, die Trachtencharakter besitzt.<br />

Tracht ist ein eigenständiger Komplex<br />

in der allgemeinen Mode und lebt von der Vorstellung,<br />

daß Kleidung und Accessoires unter<br />

anderem mit Tradition, Identität und Regionalität<br />

verbunden sind. Viele Jahrhunderte lang<br />

bedeutet Tracht primär das Getragene allge-<br />

mein – die Bekleidung. Darüber hinaus verweist<br />

der Begriff auf den Kleidungskodex einer<br />

bestimmten sozialen Gruppe. Bis in die Mitte<br />

des 18. Jahrhunderts ist die Tracht – quer<br />

durch alle gesellschaftlichen Schichten – auch ein<br />

Kennzeichen der jeweiligen Standeszugehörigkeit.<br />

Ob Patrizierin, Pfarrer, Magd oder Bauer,

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