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Alexander Wandinger, Jana Cerno, Christian Aichner

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Um 1830 treten zwei weitere Grundformen<br />

des Männergürtels in Erscheinung: Zum<br />

einen ist das eine Fatsche, die nicht mehr auf<br />

der Innenseite gefüttert, sondern aus einem Stück<br />

Leder schlauchartig zusammengenäht ist. Zwei<br />

eingesetzte Keile unterteilen diesen Gürtel,<br />

und meist ist mittig eine rechteckige oder spitzovale<br />

Kartusche aufgenäht.<br />

Zum anderen entwickelt<br />

sich eine Gürtelvariante, die bis heute<br />

das Trachtenbild stilistisch am stärksten<br />

prägt – der Ranzen. Der Sprachforscher Johann<br />

Andreas Schmeller erklärt den Begriff Ranzen<br />

in seinem Bayerischen Wörterbuch schlicht als<br />

Ledersack. Das ist verständlich, da sich zu<br />

der Zeit, als Schmeller sein berühmtes Wörterbuch<br />

verfaßt, der gleichnamige Gürteltyp<br />

erst herausbildet. Der Wörterbuchdefinition<br />

entpricht letzterer dennoch ganz und gar.<br />

Zu seinem sackartigen Schlauch gehören noch<br />

das spitzovale Blatt – ein Lederstück, auf<br />

dem die Schnalle sitzt – und eine Zunge, die<br />

entweder auf den Schlauch oder einen eingesetzten<br />

Keil aufgenäht ist. Mit der Einführung<br />

des Blatts, das die Öffnung des Schlauchs<br />

verdeckt, verlagert sich auch der Schwerpunkt<br />

der Stickerei vom Gürtel hin auf das Blatt.<br />

Der Schlauch dient bei Bedarf zur Verwahrung<br />

von Geld oder Papieren. Speziell in der Gegend<br />

um Tölz sind Gürtel tradiert, die statt einem<br />

zwei aufgesetzte Blätter aufweisen.<br />

Ab 1870/80<br />

verliert der Schmuckgürtel generell an Bedeutung.<br />

Bis um 1915 bleiben noch Geldranzen zur Aufbewahrung<br />

größerer Geldmengen in Gebrauch.<br />

Diese schlichten Gebrauchsgürtel, die auch als<br />

24<br />

Geldkatzen bezeichnet werden, benutzten vor<br />

allem Viehhändler, Metzger und Bauern<br />

beim Viehkauf. Die wenig oder gar nicht verzierten<br />

Geldranzen wurden häufig auch unter<br />

dem Hemd getragen. Beim Schwärzen, wie<br />

der bayerische Ausdruck für den Schmuggel<br />

lautet (man könnte auch vom kleinen Grenzverkehr<br />

sprechen), kamen die Geldranzen ebenfalls<br />

zum Einsatz. Auf der bloßen Haut getragen,<br />

waren die mit Münzgeld gefüllten<br />

Lederschläuche vor den Blicken der Grenzer<br />

verborgen.<br />

Mit der zunehmenden Akzeptanz<br />

des Papiergelds wurden Geldranzen überflüssig,<br />

da es ab dieser Zeit nicht mehr nötig war,<br />

größere Mengen an Münzgeld zu transportieren.<br />

Damit hätte die lange Geschichte der Männergürtel<br />

in Bayern, Österreich und Tirol eigentlich<br />

enden können. Daß dies nicht der Fall war,<br />

ist unter anderem den Trachtenvereinen zu verdanken,<br />

die an der Wende zum 20. Jahrhundert<br />

eine phantastische Konjunktur erlebten. Ihre<br />

Mitglieder entwickelten eine wahre Leidenschaft<br />

für die traditionellen Fatschen und Ranzen und<br />

trugen die alten Gürtel zu ihrer neuen Gebirgstracht.<br />

Weil historische Stücke nur begrenzt<br />

zur Verfügung standen, boten Trachtenhersteller<br />

aufgrund der großen Nachfrage um 1920<br />

neue Gürtel an, die meist nicht mit Federkiel,<br />

sondern mit textilen Fäden bestickt waren.<br />

Abgesehen von einem Qualitätsverlust der in<br />

Konfektion hergestellten Ranzen traten nunmehr<br />

Alpenblumen wie das Edelweiß und der Almenrausch<br />

an die Stelle der überlieferten Motive.<br />

Ein Pendant zu dieser Entwicklung bildeten die<br />

Schützenkompanien in Tirol, die sich der Pflege<br />

historischer Trachten annahmen und so ihre<br />

Gürtelkultur weiterführten.<br />

Außerhalb von<br />

Bayern, Österreich und Tirol hat sich auch bei<br />

den Siebenbürger Sachsen in Rumänien eine<br />

eigenständige Gürtelkultur entwickelt. Die<br />

oben beschriebene Technik der Pergamentlederstickerei<br />

erhielt sich dort bis in die Mitte des<br />

20. Jahrhunderts. Im Zuge der Auswanderungswellen<br />

der Siebenbürger Sachsen, die ihre<br />

heimatlichen Dörfer in der zweiten Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts in großer Zahl Richtung<br />

Westen verließen, kamen unzählige Gürtel mit<br />

auf die Reise. Sie werden seit etwa 1990<br />

vermehrt auf Flohmärkten, bei Antiquitätenhändlern<br />

und im Internet angeboten. Dabei<br />

firmieren sie oft als echte bayerische und<br />

tirolische Trachtengürtel mit Federkielstickerei.<br />

So landen sie bei Sammlern oder werden als<br />

Ersatz für historische Gürtel des alpinen Raums<br />

zur kurzen Lederhose, zum Trachtenkostüm<br />

und auf Volksfesten getragen. Diese »Zweitverwertung«<br />

fügt die Gürtel, die ihres ursprünglichen<br />

Kontexts verlustig gegangen sind, in ein<br />

neues kulturelles Umfeld ein.<br />

Die Siebenbürger<br />

Sachsen selbst tragen die historischen Kleidungsstücke<br />

und erhaltenen Gürtel ihrer Heimat<br />

insbesondere auf Festen und Trachtenumzügen,<br />

nicht mehr als modische Selbstverständlichkeit.<br />

Die prächtigen Frauengürtel aus den<br />

deutschsprachigen Siedlungen Rumäniens haben<br />

in ihrer Gestaltung keine gängige Ent-sprechung<br />

in Bayern, Österreich und Tirol.<br />

Sie bleiben im Gegensatz zu den Männergürteln<br />

ausschließlich der siebenbürgischen Tracht<br />

vorbehalten. Ihre Existenz ist an die gezielt<br />

durchgeführte Trachtenpflege gebunden.<br />

In Bayern, Österreich und Tirol sind die<br />

Frauengürtel sowohl optionales Accessoire<br />

zur Tracht als auch Bestandteil der bewußten,<br />

teils auch institutionalisierten Trachtenpflege.<br />

Letzteres trifft vor allem auf das niederbayerische<br />

Rottal, den Bregenzer Wald, Teile Südtirols,<br />

Kärntens und des angrenzenden Sloweniens zu.<br />

Dort gehören Frauengürtel bis heute zur<br />

festtäglichen Tracht und weisen fast alle Verzierungstechniken<br />

auf, die wir schon von den<br />

Männergürteln kennen. Darüber hinaus existieren<br />

Flechtarbeiten aus Leder und Gürtel, die<br />

ganz aus Metall gefertigt sind.<br />

Speziell in Oberbayern<br />

hat sich nur eine einzige, zudem selten<br />

benutzte Form des Frauengürtels erhalten.<br />

Es handelt sich um die sogenannte Brautkette,<br />

die im Isarwinkel, im Chiemgau und im<br />

Rupertiwinkel ausschließlich zur Hochzeit getragen<br />

wird. Die kostbaren alten Ketten werden<br />

in der Familie weitergegeben und bleiben in<br />

der Regel über Generationen hinweg »auf dem<br />

Haus«.<br />

Die Hochzeiterin leiht sich den Gürtel<br />

gegen ein geringes Entgelt nur für den Tag<br />

der Hochzeit von den Eigentümern aus. Zwei<br />

durch einen Bügel verbundene Kettenstücke<br />

charakterisieren die häufigste Machart dieser<br />

Gürtel. An die Bügel wurden im 18. Jahrhundert<br />

Bestecke oder Schlüssel gehängt, heute tritt an<br />

deren Stelle meist eine Seidenschleife. Beim<br />

Tragen liegt die Brautkette in der Regel auf der<br />

linken Seite in Taillenhöhe, während sie auf der<br />

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