Über Christoph Marthalers Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Schauspielhaus Zürich 2001.
LMU München - Hauptseminar Theaterwissenschaft "Inszenierungsanalyse" - 2004/05
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if music be the food of love, play on
Marthaler inszeniert Shakespeare:
Was ihr wollt am Schauspielhaus Zürich 2001
Christiane Neudeck
www.christiane-neudeck.de
Entstanden im Wintersemester 2004/05 am Institut für Theaterwissenschaft der LMU
München im Rahmen des Hauptseminars „Marthaler & Co“ bei Prof. Dr. Bayerdörfer.
Inhalt:
1
2
2.1
2.2
3
4
5
6
7
8
9
Einleitung: Die „Marthaler-Methode“
Opsis & Optik
At First Sight: Schiff und Zuschauerraum
A Closer Look: Öffentlichkeit und Heimlichtuerei
Die Liebenden
Rhythm 'n Blues
Ertrinken, trinken und weiter trinken
Sturm vor Shakespeare, le petit Rien an der Berliner Volksbühne am
Rosa-Luxemburg-Platz 1994
Resümee
Literaturnachweise & Videoquellen
Anhang: Daten und Mitwirkende
1
4
5
8
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16
18
20
22
25
Die Bilder erscheinen und verschwinden wie im Traum durch Auflösung
und Verdunkelungen; Zeit und Raum werden fließend, schrumpfen oder
verlängern sich nach ihrem Willen, die Zeitfolge und die relativen Werte
der Dauer entsprechen nicht mehr der Wirklichkeit; die Bestimmung des
Kreislaufes ist, zu vergehen, in einigen Minuten oder in mehreren
Jahrhunderten; die Bewegungen beschleunigen die Verzögerungen.
Luis Buñuel 1
1 Einleitung: Die „Marthaler-Methode“
Seit Ende des vergangenen Jahrhunderts hat Christoph Marthaler mit seinem unverwechselbaren
Inszenierungsstil die deutschsprachige Theaterlandschaft bereichert und
geprägt. Von der Theaterkomposition her kommend, bleibt Marthaler auch bei der
Regie von Schauspielen Prinzipien treu, die man aus seinen Themenabenden und
dem Genre des Musiktheaters kennt. Neben formalen Ähnlichkeiten zum Varieté, wie
an Einlagen erinnernde Szenen, fällt bei diesen „musikalisch-choreographischen
Collagen“ 2 eine Art inhaltlicher Leitmotivtechnik auf, die sich durch alle Zeichensysteme
zieht. Außerdem ist aus der ästhetisch-stilisierten Überhöhung der Ausstattung
und der zirzensischen Spielweise eine Nähe zur Idee der Groteske
erkennbar. 3 Die aus den Spielvorgängen ableitbaren Konnotationen bilden im Laufe
der Inszenierung immer wiederkehrende Topoi und fordern die Assoziationsfähigkeit
der Zuschauer heraus. Ohne den moralischen Zeigefinger zu heben, schaffen es
Marthaler und sein Team, lustvoll und sinnlich Lebensthemen anzuschneiden und zu
diskutieren.
Auch das Theater muss sich immer an das Theater erinnern. Die
Räume sind erinnerte Räume. Die Menschen sind erinnerte und
geträumte Menschen. Die Sätze, die ihnen zur Verfügung stehen,
stehen ihnen nicht selbstverständlich zur Verfügung. Sie sind
übrig gebliebene Sprachstücke, die liegenblieben nach großen
Unglücksfällen. Anna Viebrock kleidet diese Menschen in
mehrere jüngere und ältere Vergangenheiten. Man meint sie
schon mal auf der Straße gesehen zu haben, aber nicht gerade
heute. In der nachzeitlichen Perspektive wird alles unselbstverständlich.
Alle Arbeiten Marthalers haben diese Perspektive:
Nichts ist, sondern es ging gerade vorbei oder wird werden.
Etwas ging zu Ende und das „Werden“ kann keine neue
Behauptung sein, man sieht und hört immer Spuren. Diese
Zeitverrückung ist der Ausgangspunkt des Erzählens. 4
1 Buñuel, „Der Film als Instrument der Poesie“, in: Buñuel, Die Flecken der Giraffe S. 145.
2 Damm, „Dann singen wir doch erstmal was“ (o. Paginierung).
3 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval.
4 Carp, „Langsames Leben ist lang“, S. 72.
1
Eine reine, deskriptive Strukturanalyse mit dem Schwerpunkt auf Einzelereignissen bei
klarer Trennung der Zeichensysteme würde in diesem Fall keinerlei Mehrwert zu der
Existenz der Videoaufnahme erzeugen. Der Versuch einer „objektiven Analyse“ wäre
unvollständig und sinnlos. 5 Einzelbeschreibungen blieben in Ermangelung klarer
Referenzen semantisch im Unbestimmbaren. 6 Erst mit der Vernetzung des Gesamteindrucks,
des Wissens um vorher und nachher sowie der Berücksichtigung der
Gleichzeitigkeit aller Zeichensysteme und des Zufalls der Aufführung wird Bedeutung
erahnbar.
Gerade die Vagheit einer unhintergehbaren Darstellung bedingt
einen unendlichen, nie abschließbaren Darstellungsprozess.
Einer aus differenten Wahrnehmungsurteilen resultierenden,
semantischen Mehrdeutigkeit korrespondiert eine pragmatische
Unbestimmtheit des Zeichens selbst, das stets nach einem Mehr
an Deutung verlangt. 7
Im Sinne dieses hermeneutischen Zirkels lohnt es sich, nicht linear zu denken und
über den Gesamteindruck auf die einzelnen Komponenten der Inszenierung einzugehen
und umgekehrt. Dabei ist die Einbeziehung lebensweltlicher Themen
unumgänglich:
Dem zum sozialen Kontext (der in seinem Innern den Referenten
des Kunstwerkes birgt) gehörenden Rezipienten kommt die
Aufgabe zu, die Zeichen aus dem Kunstwerk herauszulösen.
Daraus folgt sowohl, dass das Herauslösen des Signifikanten
notwendigerweise von einer Hypothese über seine Dimension
und seinen Sinn determiniert wird, als auch, dass es unter
Einbeziehung des sozialen Kontextes und der Hypothese über
die Signifikate geschieht. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass
der Rezipient gleichzeitig zwei entgegengesetzte Prozesse
vollzieht: 1. ausgehend von der Zerlegung in Signifikanten sucht
er ein mögliches Signifikat; 2. ausgehend von den durch eine
Interpretation vorgegebenen Signifikaten sucht er für diese einen
Hinweis oder eine Bestätigung in den Signifikanten. 8
Es fällt schnell auf, dass es in dieser Inszenierung nicht darum gehen kann, eine
Geschichte zu erzählen. Der Entwicklung der Figurenbiografie und kausalen sowie
psychologischen Vorgängen wird kaum Bedeutung beigemessen. So scheinen die
Figuren in den Bühnenraum hineingeworfen und noch nicht zur Gänze angekommen
zu sein. Sie sprechen ihre Texte aus einer verborgenen Not oder Gewohnheit heraus
5 Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 3, S. 109.
6 Vgl. Balme, Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 96 über den Mangel an semantischer Kohärenz
bei zeitgenössischen Inszenierungen.
7 Meyer, Intermedialität, S. 163.
8 Pavis, Semiotik der Theaterrezeption, S. 20.
2
und nicht auf Grund der Notwendigkeit einer verständlichen Motivation. Zeit als
logische, aufeinander aufbauende Abfolge von Ereignissen ist so gut wie nicht
relevant. Die einzelnen Spielpatterns wirken willkürlich zusammengesetzt, es wird
keine zwingende Reihenfolge suggeriert. Dabei kreisen sie um bestimmte inhaltliche
Schwerpunkte, wie Liebe oder Sehnsucht, die sich schon in Shakespeares Vorlage
finden lassen.
Da Marthaler sehr frei mit dem Shakespeare-Text umgeht, und eine Rekonstruktion
des Probenprozesses nicht möglich ist, erweist sich auch eine Transformationsanalyse
als nicht hilfreich. Natürlich ist eine genaue Kenntnis von Shakespeares Drama
unumgänglich. Der Zusammenhang zwischen Dramentext, Spielfassung
(gesprochener Text) und ganzer Aufführung ist allerdings keine Einbahnstraße,
sondern ein dynamischer Dialog.
Die szenische Darstellung – hierin der Traumdarstellung
vergleichbar – und die den Text begleitende Abbildung
bereichern den Text und zeigen Lesarten mit bisweilen
unvorhersehbaren Strategien. Jede Inszenierung, auch die
einfachste und expliziteste, „verschiebt“ den Text: Durch sie sagt
er Dinge, die kein kritischer Kommentar jemals zu sagen vermag
– fast als könne die Inszenierung das Unsagbare sagen. 9
Das, was in der Literatur zwischen den Zeilen steht, kann eine Inszenierung
konkretisieren. Eine komplementäre Ergänzung des Textes mit den szenischen Mitteln
des Theaters hilft Redundanz zu vermeiden und erlaubt Vielschichtigkeit. Um die dabei
gewonnene Polyvalenz nicht in eine unerwünschte Beliebigkeit zu führen, ist konzeptorientiertes
Denken und Intuition vonnöten. Diese Beschränkung auf bestimmte
Bedeutungsfelder und Stilmittel der Gestaltung bedingt die dichte interne Vernetzung
und die Geschlossenheit der Aufführung.
Wie solche dominanten Themenkomplexe in Marthalers Inszenierung von
Shakespeares Was ihr wollt aufgebaut und durchgespielt werden, will ich in dieser
Arbeit exemplarisch aufzeigen. Um das Springen von Einzelbeobachtung zu Motiv und
zurück nicht allzu willkürlich erscheinen zu lassen, verläuft die Segmentierung und
somit die Gliederung nach dominanten Topoi und nicht nach Zeichensystemen oder
Szenenfolgen. Wiewohl all diese Zergliederungen im Vorhinein stattgefunden haben
müssen.
9 Pavis, „Die Inszenierung“, S. 19.
3
Die Liebe ist eine Konversationsbrille, aber nur für den Gegenstand, den
man damit betrachtet, nicht für uns. Sonst sieht man doch mit der Brille
schärfer und deutlicher, mit dieser Brille aber verschwindet aller Mangel
und Fehler, und lauter Dinge, die nicht da sind, wenn man die bloßen
Augen braucht, kommen erst hier zum Vorschein.
Johann Wolfgang Goethe 10
2 Opsis & Optik
Als erstes fällt dem Theaterbesucher das Bühnenbild ins Auge. Darüber hinaus prägt
der visuelle Eindruck die gesamte Wahrnehmung der Inszenierung entscheidend.
Jedoch nicht nur im Theater hat das Sehen eine große Bedeutung. Auch in der Liebe –
und das ist ja das zentrale Thema dieses Stückes – spielen die Augen eine große
Rolle. Sprüche wie „Liebe macht blind“, „Liebe auf den ersten Blick“ oder auch „Schau
mir in die Augen, Kleines“ zeugen davon. Und in beiden Bereichen kommt natürlich die
Irreführung des Sehsinns, die Illusion dazu.
Oh weh, was gab die Liebe mir für Augen
Sie sehn das Wahre nicht, nur das Verkehrte!
Wo ist mein Urteil, falls die Augen taugen,
Dass, was sie richtig sehn, ich falsch bewerte
Ist, was mein Blick entzückt betrachtet, schön,
Wieso sagt dann die Welt, es trügt der Schein
Wenn nicht, muss wohl die Liebe eingestehn:
Wer liebt, sieht nicht so klar wie andre. Nein,
Wie solln verliebte Augen richtig schauen,
Die wund von Tränen sind, vom Wachen müd
Wie soll ich meinen armen Augen trauen,
Wo selbst die Sonne nur, wenn's klar ist, sieht
Mit Tränen, Lieb, machst du mich listig blind,
Dass nicht mein Scharfblick deine Fehler find. 11
Durch die Verkleidung Violas wird schon bei Shakespeare die Differenz von Schein
und Sein aufgerissen und kommentiert. Bei Marthaler wird dieser Kommentar noch
weiter getrieben, beispielsweise, indem er zusammen mit seiner Dramaturgin Stefanie
Carp Shakespeare-Sonette einfügt, die sich alle um die Unschärfe des Sehurteils
ranken und gipfelt in dem Schlussbild, wo sich nichts mehr wirklich bewegt, es quasi
kaum etwas zu sehen gibt. Der Zuschauer wird also bei dem gepackt, was er sowieso
macht, nämlich sehen und darüber in den Themenkomplex der Liebe geführt.
10 Goethe, Gespräche, S. 752.
11 Sonett CXLVIII aus Shakespeare, Die Sonette, S. 155.
4
2.1 At First Sight: Schiff und Zuschauerraum
Seit sich die Bühnenbildnerin Anna Viebrock und Christoph Marthaler Anfang der 90er
Jahre in Basel unter der Intendanz von Frank Baumbauer näher kennen gelernt haben,
sind ihre kongenialen Bühnenbilder nicht mehr vom „Prinzip Marthaler“ wegzudenken.
Die Geschlossenheit ihrer pararealistischen Bühnenbilder und die Einsamkeit der
Marthalerschen Figuren ergänzen und befruchten sich. Pararealistisch kann man diese
Ästhetik deswegen nennen, da Anna Viebrock ihr Material in Fotostudien von real
existierenden Orten sammelt und für die Bühne lediglich neu kombiniert, zuspitzt (d.h.
Eigentümlichkeiten hervorhebt), dem Theaterraum anpasst und für das Spiel
funktionalisiert.
Weil Christoph sich für seine früheren Produktionen immer die
speziellen Orte gesucht hat, habe ich angefangen, die Orte, die
man vielleicht in der Realität finden könnte, in das Theater zu
bauen. Weil Christoph solche geschlossenen Orte für die
Musikalität seiner Stücke braucht, hatte ich plötzlich die Chance,
solche stark atmosphärischen Räume herzustellen, in die man die
Zuschauer fast wie in gefundene Orte hereinkatapultiert und die
oberflächlich so aussehen wie z.B. Orte wie der Badische
Bahnhof in Basel und die trotzdem natürlich konstruiert sind, weil
sie mehrere Orte in einen schachteln und unrealistische
Proportionen haben. Das hat natürlich mit einer gewissen
Antihaltung zur Kulisse und zum Dekor zu tun, weil ich gar nicht
unbedingt Theaterräume herstellen will, sondern erfundene
gefundene Räume. 12
Diese Arbeitsweise bringt es mit sich, dass bestimmte Komponenten in verschiedenen
Inszenierungen auftauchen. Die Propeller mit dahinter liegender Lichtquelle finden sich
in größerem Format auch in der später noch zu beschreibenden Inszenierung von
Shakespeares Sturm. Trotz der scheinbaren Konkretheit der Räume sind durch die
Anordnung, Dimensionen und die Eigendynamik der einzelnen Bauteile doch
unterschiedliche Assoziationen möglich, und es wird vor allem Atmosphäre geschaffen.
Die Zusammenstellung von Bekanntem und Kuriosem prägt auch das spielerische
Explorieren des Bühnenraums durch die Schauspieler:
Ein seltener Glücksfall. Man geht durch diese Räume und findet
immer wieder reale Gegenstände, Sitzgelegenheiten, Nischen
und Hinterzimmer – und immer wieder diese sonderbaren und
vergessenen Requisiten aus einer vergangenen Zeit. Es ist sehr
schnell möglich, sich zumindest provisorisch zurechtzufinden. [...]
12 Anna Viebrock im Gespräch mit Bettina Masuch. In: Masuch, Anna Viebrock (o. Paginierung).
5
Man fühlt sich in diese Räume also erstmal eingeladen, aber man
scheitert in dem Moment, wo man beginnt, sich einzurichten.
Aber auch das Scheitern wird zum Gewinn, denn es schützt zum
einen vor Saturiertheit und erzeugt gleichzeitig einen
Kraftmoment, der in diesen Räumen sichtbar wird zwischen
Mensch und Raum – so wie der elektrische Strom sichtbar wird
zwischen nahe beieinander liegenden Polen, die sich fast
berühren, aber eben doch nicht wirklich. 13
Gleichzeitig wird die Eigentümlichkeit dieser Orte durch die Wahrnehmung der Figuren
verstärkt. Die Art und Weise, wie sich die Eingeschlossenen in und zu diesen Räumen
verhalten, wie sie mit der Begrenzung umgehen und verschiedene Raumsegmente
benutzen, ermöglicht neue Bedeutungszuweisungen und profiliert den Raum und seine
„Bewohner“.
In Shakespeares Stück ist der Ort der Handlung „Illyrien“, eine fiktive Insel, auf der die
handelnden Figuren entweder gestrandet sind oder ihr Leben verbringen. Zum Einen
findet die Handlung im Freien, zum Anderen an den Höfen von Orsino und Olivia statt.
If you take ship from the coast of Bohemia – having made your
last bow to Perdita and Florizel – and sail for a day in a westerly
direction, you will presently arrive at Illyria. There you will find the
love-sick melancholy Duke, seated among his musicians,
polishing his images and doting upon the “high-fantastical“; and
go but a little by the way out of the city and you will come upon
the stately Countess Olivia among her clipped box-trees, pacing
the lawns like some great white peacock, while her steward
Malvolio, lean, frowning, and cross-gartered, bends at her elbow.
There too, if you are lucky, you may catch a glimpse of the
rubious-lipped lovely Viola, stretching her slim legs and swinging
her pert pages cloak between the Duke's palace and Olivia's
house, delicately breathing blank verse. And if there should come
to your ears the sound of drunken catches, and to your nose the
smell of burnt sack and pickled herrings, then look for Olivia's
uncle, Sir Toby Belch, and his friend, Sir Andrew Aguecheek, and
with them, it may be, that dainty rogue, Maria, darting about like
some little black and white bird, and Feste the Clown, with his
sharp tongue, bright eyes and sweet-bitter songs. In and out of
doors, there is good company in Illyria, good company wether is
high or low, sober or drunk. 14
Eine wunderbare und seltsame Landschaft ist der Ort des Geschehens. Zur Zeit
Shakespeares gab es keine Notwendigkeit, Raumideen zu illustrieren. Das damalige
Theater fand immer auf der gleichen Holzbühne statt, den Ort des Geschehens
definierte die „Wortkulisse“, d.h. die Beschreibung durch die Figuren.
13 Josef Bierbichler, „Eine Art Herberge“. In: Masuch, Anna Viebrock.
14 Priestly, „The Illyrians“, S. 1.
6
The broad unlocalized stage was a fluid and flexible area that,
through interaction of the actor and the audience's imagination,
could represent whatever the playwright wished. A situation could
be specific, loosely defined, or unlocalized. 15
Im Laufe der Theatergeschichte wurde der visuelle Aspekt einer Aufführung immer
wichtiger. Dekorationen und sichtbare Zeichen ergänzten die sprachliche Vermittlung
und entwickelten zunehmend ein Eigenleben. Für den heutigen Bühnenbildner stellt
sich so immer die Frage, wie ein solch fantastischer Ort mit seiner Gesellschaft konkret
auf der Bühne dargestellt werden soll. 16 So entschied sich Gisbert Jäkel 1989 in
Bochum für eine dynamisch veränderbare Kulissenbühne in „naiv-schauseliger
Barocktheatermanier“ 17 unter Einbeziehung von Zitaten aus der Malereigeschichte.
Anna Viebrock hingegen baute in diesem Fall einen Einheitsraum, der jeglicher
romantischen Märchenhaftigkeit entbehrt.
In Anna Viebrocks beengendem, aber unerschöpflichem
Bühnenraum drehen sich die Emotionen im Kreis und stauen sich
die Metaphern. Der quer aufgeschnittene Schiffsbauch mit Unterund
Oberdeck (der an der Schnittstelle nahtlos in den
Zuschauersaal übergeht: Die Reling wird zur Galerie; das Schiff,
übrigens eine semantische Brücke zwischen neuem Schiffbau
und altem Schauspielhaus, wird zum theatrum mundi) ist
vollgestopft mit Stühlen und Sesseln sowie flaschenbestückten
Tischen und Tischchen; auf Bänken lagern Plaids, verstaubte
Bücher warten in einem Gestell, andere liegen verstreut herum,
bis sie jemand auf- und weiterliest, der grad nicht schläft oder
sonst irgendwas tut in dem Stück, das die sinnlose Reise des
Lebens versinnbildlicht. Diese abgetakelte Variante jener
modischen Lounges, in denen sich seit neuerem das urbane In-
Publikum nächtelang gern selbst darstellt und die jetzt mehr und
mehr auch Theaterbühnen in Beschlag nehmen, hat Anna
Viebrock seit eh und je zum natürlichen Habitat all der
Menschendarsteller erklärt, für die sie ihre Räume baut. 18
Ein Schiff als Spielort wirft die Handlungszeit des Dramas durcheinander und relativiert
den Eindruck von Dauer als Abfolge von Ereignissen. Diese Wahl konserviert den
point of attack und macht den Schiffbruch als Anlass der Handlung gleichermaßen
unmöglich. „Das Schauspielhaus ist zum Luxusliner geworden; Schauspieler und
Zuschauer sind Passagiere der „Titanic“ und wissen nicht so recht, ob sie bereits
15 Harrop/Epstein, Acting with Style, S. 47.
16 Auch ein „abstraktes“ Bühnenbild ist durch seine materielle Präsenz immer eine Konkretisierung,
zumindest einer Idee oder einer Ästhetik.
17 Rischbieter, „Melancholie und Mordlust“, S.16.
18 Villiger Heilig, „Das liebestrunkene Schiff“.
7
ersoffen sind, oder gerade ertrinken.“ 19 Wie meistens bei Anna Viebrock ist auch
dieses Bühnenbild abgeschlossen: Wer durch eine der Türen abgeht, tritt kurz darauf
durch eine andere ein; milchige und kleine Fenster erlauben keine Aussicht. Eine
mögliche Außenwelt wird weder durch sprachliche noch andere Mittel definiert oder
zumindest angedeutet. 20 Einzig die Einbeziehung des Zuschauerraums, durch die
Spiegelung im Bühnenbild und Antonios Auftritt erweitert das Bühnenhaus. Das
gesamte Oval des Theaters ist die dargestellte Welt und das Motorenstampfen bzw.
Summen der Propeller belebt das Schiff an sich. Es erscheint als großer Organismus,
welcher sich Publikum und Darsteller einverleibt hat. Die Wahl eines Bühnenbildes,
das die Anwesenden zu einer Bordgemeinschaft macht, setzt Maßstäbe für die ganze
Inszenierung. Das gemeinsame Erleben von Theater wird über die Zurschaustellung
eines abgeschlossenen Kunstwerks gesetzt. Damit teilt Marthaler mit vielen
zeitgenössischen Regisseuren, wie Andreas Kriegenburg oder Johan Simons, die
grundsätzliche Auffassung von Theater als gemeinsamen Erlebnisort von
Schauspielern und Zuschauern. Erst im Vollzug vervollständigt sich das Kunstwerk.
2.2 A Closer Look: Öffentlichkeit und Heimlichtuerei
Durch die Präsenz aller Darsteller auf der Bühne ist ein gewisser Grad an Öffentlichkeit
andauernd gegeben. Die Figuren haben die Möglichkeit, einander zu beobachten und
sich für die anderen in Szene zu setzen.
Dieses Illyrien ist eine sehr sehr seltsame Welt, eine skurrile Welt.
Das ist schon beim Lesen. Und die spielen sich alle etwas vor.
Ich glaube, die wissen auch alle Bescheid übereinander,
untereinander. Aber die spielen sich was vor, und das ist das
Schöne. Das ist Spiel. und das ist bei Shakespeare natürlich
grandios. Man weiß nie wer weiß was über den andern. Sie
spielen. Und das ist ganz ganz toll und das ist wunderbar. 21
Privatheit ist nur als Heimlichtuerei oder Schamlosigkeit möglich. Damit ist auch die
Rolle des Zuschauers als alleiniger Voyeur intimer Szenen hinfällig: die Zuschauer sind
19 Berger, „Trinkend ertrinken“.
Der erfolgreiche Kinofilm Titanic von James Cameron erschien übrigens 1997. Im Februar 2001 wurde
diesem Film in Berlin die „Goldene Kamera“ verliehen. Die Inszenierung fällt also noch seine
unmittelbare Rezeptionsphase.
20 Das Wellenrauschen in der Videoaufnahme habe ich nicht berücksichtigt.
21 Auszug aus einem Interview mit Christoph Marthaler, in: Rasender Stillstand (Videoquelle).
8
überall, eine außerfiktionale Präsenz der realen Zuschauer ist nicht relevant. In der
Inszenierung wird dieser Tatbestand durch das oben beschriebene Bühnenbild noch
verstärkt und in der Fortführung des Theaterbalkons explizit thematisiert.
Die Verschränkung von Räumen und Beobachtungssituationen findet sich nicht nur im
Bühnenbild sondern wird auch im Spielstil und durch Raffinessen in der szenischen
Gestaltung deutlich. So dreht sich Viola bei der Werbung um Olivia, deutlich Zuspruch
heischend, zu Orsino um, und Sir Toby schießt sofort auf Sebastian los, als er sieht,
dass dieser Geld hat, um ihn auszunehmen. Im Gegenzug besteht die Möglichkeit,
mehr oder weniger absichtlich nicht hinzusehen, oder, wie Sir Toby mit seiner rosa
Brille, die eigene Wahrnehmung zu modifizieren.
Um der Beobachtung anderer zu entgehen, bleibt nur die Heimlichtuerei. Zum Beispiel,
wenn Malvolio trinkt, oder Orsino für das Publikum deutlich sichtbar die Bierflasche
ausschüttet, als sich Viola umdreht. Das kann natürlich auch schiefgehen, wie es Viola
passiert, als sie ihre Liebe gesteht 22 und Orsino mithört, was durch den Blick Orsinos
auf Viola deutlich gekennzeichnet ist. 23
Die Figur des Antonio, welche sich anfangs im Zuschauerraum aufhält und akrobatisch
am „echten“ Balkon herumklettert, sowie das deutliche Bespielen der Rampe mit dem
direkten Blick in den Zuschauerraum, zersetzen jede Vorstellung einer „vierten Wand“.
Wie schon zu Shakespeares Zeiten kann eine Verbrüderung der Figuren mit dem
Publikum stattfinden. Auf diese Weise ist es möglich, dass Malvolio bei der
Entdeckung des Briefes von allen Seiten mit vor Schadenfreude geröteten Gesichtern
umgeben ist. Die Akteure auf dem Balkon spiegeln die Zuschauer und ziehen sie in
das Bühnengeschehen mit hinein. Man möchte gleichsam auch „Und ich bin auch da“
rufen. Die Analogie zu Kasperles „Seid ihr alle da“ ist hier gewiss kein Zufall. Die
Ausgangsmetapher des Theaters findet sich im Laufe der Inszenierung immer wieder.
Vor allem als Sprungbrett für weitere Metaphern, wie das Schiff, und schließlich für
lebensweltliche Themenkomplexe. Shakespeares Satz von der ganzen Welt als Bühne
findet so seine Anwendung, wird quasi semantisch ausagiert.
22 Viola: „...wär ich selber gerne seine Frau“, ursprünglich I.5, hier verschoben ans Ende von II.4.
23 Diese Verbindung sehen-hören ist im Theater durch Konventionalisierungsprozesse gang und gäbe.
Man vergleiche asides, ad spectatores oder Hamlets Monolog in der Kirche bei Shakespeare. Hier ist
der neue Zug Orsinos Blick, der Viola (bzw. deren Darstellerin) und dem Publikum bedeutet, dass
diese Konvention nicht verlässlich ist. Gleichzeitig ist dieses Spielen mit der Konvention affirmativ, da
es ohne den Glauben an die Abmachung nicht funktionieren würde.
9
Ich bin viele Jahre durchs Menschenland gezogen und habe die Varietäten des
>Erotikers< (so bezeichnet sich zuweilen der Untertan des Fluggebrochenen)
noch immer nicht zu Ende studiert. Da streift ein Verliebter umher und ist nur in
seine Leidenschaft verliebt. Da trägt einer seine differenzierten Gefühle wie
Ordensbänder. Da genießt einer das Abenteuer seines Faszinierens. Da schaut
einer entzückt dem Spektakel seiner eigenen vermeintlichen Hingabe zu. Da
sammelt einer Erregungen. Da lässt einer die >Macht< spielen. Da plustert sich
einer mit einer fremden Vitalität auf. Da vergnügt sich einer, zugleich als er selbst
und als ein ihm sehr unähnliches Idol vorhanden zu sein. Da wärmt sich einer am
Brand des ihm Zugefallenen. Da experimentiert einer. Und so fort – all die
vielfältigen Spiegel-Monopolisten im Gemach der vertrautesten Zwiesprache!
Martin Buber 24
3 Die Liebenden
Der in der Methode von Jacques Lecoq geschulte Marthaler versteht es, seine Figuren
durch ihre spezifische Körperlichkeit zu charakterisieren. Als Ausgangspunkt dienen
die jeweiligen körperlicher Eigenheiten der Schauspieler, nach Bedarf durch die
Kostümierung verstärkt. Diese Merkmale setzen die Figurenkörper zueinander in
Kontrast: dick, dünn, groß, klein, muskulös, feminin, maskulin etc.; und betonen
Eigentümlichkeiten der Figuren. Das pastellfarbene Deux-pièce lässt Malvolio als
hageren Bürohengst noch erbärmlicher erscheinen, als es Shakespeares Strümpfe je
vermocht haben. Die fiktionale Wirklichkeit erscheint als seltsame, märchenhafte Welt
und das Geschehen gewinnt durch diese Stilisierung an Abstraktion.
Sie [die karnevalistischen Gestalten, C.N.] vereinigen in sich alle
Polaritäten des Wechsels und der Krise [...] Sehr bezeichnend für
das karnevalistische Denken sind Gestaltenpaare, die nach dem
Kontrastprinzip (hoch und niedrig, dick und dünn) oder nach dem
Prinzip der Identität (Doppelgänger, Zwillinge) ausgewählt
werden. 25
So finden sich vor allem in der Figurenzeichnung und ihren Aktionen Merkmale der
Groteske. Dabei wird der traditionellen Standesunterschied nicht wie bei Shakespeare
über die Sprache und konventionelle Bewegungsabläufe 26 , sondern durch
unterschiedliche Figurenbehandlung, ihren Bewegungsradius und den Grad an
karnevalesker Manier deutlich. Das Verhalten erinnert je nach Figur und Szene mehr
oder weniger stark an Lecoqs „Bouffons“ 27 , an Clowns, die Slapstick betreiben.
24 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 181.
25 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 53.
26 Wie Titelnennung oder Anrede, Verbeugung und Handkuss.
27 Vgl. Lecoq, Der poetische Körper, S. 163 Ff,
10
Christoph Marthaler läßt seine Akrobaten verbal und körperlich
durch die Stücke stolpern -- oder, wie seine Chefdramaturgin
Stefanie Carp es ausdrückt "in der Waagerechten auf die Fresse
fallen". In den klaustrophobischen 'Wartesälen' seiner langjährigen
Bühnenbildnerin Anna Viebrock versammelt er Einsame,
Fortschrittstaumelige, Ausgestoßene -- und alle sind sie ein
bißchen meschugge. Sie singen, tanzen, tändeln herum, stolpern,
fallen... 28
Die Individualität der Figuren muss in diesem Fall nicht psychologisch „erspielt“ werden
(Charakter), sondern ergibt sich aus dem äußerlichen Kontrast zu den anderen Figuren
und den habituellen Eigenheiten. Als Extrembeispiel sei das dauernde Hinfallen von Sir
Andrew Bleichenwang erwähnt. Dass diese körperlichen Auffälligkeiten als
Assoziationen auch Klischeevorstellungen hervorrufen, ist klar.
Aber Klischees eindeutig negativ zu bewerten, ist kurzsichtig. Viele Klischees
erleichtern uns das emotionale „Mitgehen“ mit der Inszenierung. Die pointierte
Überspitzung einiger Eigenschaften der Figuren erzeugt Komik und enthebt das
Geschehen der Alltagsrealität. Nicht zuletzt finden sich Klischees ganz gängig im
Kabarett, wo vor allem eine gesellschaftskritische Funktionalität dieser zu beobachten
ist. Oft erleichtern uns Überspitzungen, die wir auf der Bühne sehen und miterleben,
alltägliche Zustände besser wahrzunehmen oder erstmalig zu erkennen. Vor allem ist
die körperliche Überfülle von Sir Toby augenfällig. Wir sehen einen satten Menschen,
der nichtsdestotrotz unentwegt Flüssigkeiten in sich hineingießt.
Der Dicke entgeht in gewisser Weise der Sexualisierung. Das
heißt, er entgeht der Geschlechterteilung durch die Unteilbarkeit
des vollen Körpers. Er überwindet die sexuelle Kluft durch die
Absorbierung des ihn umgebenden Raumes. In übertragenem
Sinne ist er mit allen Objekten angefüllt, von denen er sich nicht
trennen konnte oder zu denen er nicht genügend Abstand
genommen hat, um sie zu lieben. Er trennt den Körper vom Nicht-
Körper. Sein Körper ist ein konvexer oder konkaver Spiegel; er
hat es nicht geschafft, einen flachen Spiegel zu produzieren, der
ihn reflektieren könnte. 29
Wichtig ist, dass Marthaler die einzelnen Figuren nicht an einem, eindimensionalem
Klischee hängen lässt, sondern es versteht, wie schon Shakespeare, verschiedene
Klischees in einer Figur zu bündeln. So wird Malvolio nicht nur als skrupelloser
Opportunist und Emporkömmling gezeigt, sondern auch als ein Melancholiker, der
ernstgenommen werden will. Auch bei dem weniger clownesk gezeichnetem „höheren“
28 Damm, „Dann singen wir doch erstmal was“.
29 Baudrillard, Die fatalen Strategien, S. 35.
11
Personal lassen sich solche Überkreuzungen ausmachen. Der Althippie und
Schlagerschmonzeur Orsino lässt in seiner betonten Negation: „Erzähl ihr noch einmal
von meiner Liebe und wie groß sie ist. / und dass du nicht etwa zu reden anfängst von
Landbesitz, / von Reichtum oder Geld, das ihr gehört durch Erbschaft oder Glück. /
Dies alles intressiert mich nicht.“ 30 unverhohlen Geldgier als Motiv für seine
Heiratspläne durchscheinen. Solche Brüche erlauben es Marthaler moralisch zu
inszenieren, ohne je eine ultimative Moral spüren zu lassen.
Neben ernsten, lyrischen Momenten mit knisternder Spannung, wie dem Jackentausch
von Viola und Sebastian oder dem gemeinsamen Tanz von Orsino und Viola, setzt
Marthaler auch parodistische Elemente ein: Der Kapitän will Antonio verhaften, ruft erst
mal in die Richtung der Hinterbühne „Harry fahr den Wagen vor!“, und wir befinden uns
in einer Krimiserie des Vorabendprogramms.
Eine besondere Form des gemeinsamen Spiels findet sich bei Feste, welcher immer
mal wieder andere Figuren mit in seinen Schottenrock schließt; vorwiegend bei darauf
folgender Wechselrede. Die beiden, zusammenhängenden Figuren erscheinen dann
als zwittrige Gestalt.
Für die Groteske gewinnen allerlei Auswüchse und Abzweigungen
besondere Bedeutung, die den Leib außerhalb des
Leibes fortsetzen, die ihn mit anderen Leibern oder mit der
nichtleiblichen Welt verbinden. 31
Zusätzlich zu sexuellen Konnotationen ist diese Aktion des Festhaltens einer anderen
Person auch ein gewalttätiger Akt. Der Humor der Groteske bekommt bei Marthaler
eine recht beängstigende Note. Der Optimismus der Groteske 32 fehlt völlig. Es gibt
keine Entwicklung, keine Erneuerung. Der Zuschauer kann und muss selbst entscheiden,
wo der Witz aufhört und der Ernst beginnt. Komik und todernste Tragik verbrüdern
sich zu der seltsamen Mischung, die dem Marthalerschen Theater ureigen ist.
Unterstützt wird diese gespaltene Grundhaltung durch den oft melancholischen und
fast schon bedrohlichen Unterton der Chorpartien. So wird der Hauruck-Alarm zum
Mitsingen, life-line, zur herzerweichenden Ballade.
30 Shakespeare, Was ihr wollt, II.4, S. 56. Hervorhebung von mir.
31 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 16.
32 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 26: Die Groteske eröffnet „die Möglichkeit einer ganz anderen
Welt, einer anderen Weltordnung, eines anderen Lebens. Sie führt über die Grenzen der scheinbaren
Einzigartigkeit, Unabdingbarkeit und Unerschütterlichkeit der bestehenden Welt hinaus.“
12
So I say:
Thank you for the music, the songs I’m singing,
Thanks for all the joy they’re bringing.
Who can live without it, I ask in all honesty:
What would life be
Without a song or a dance what are we
So I say, thank you for the music,
For giving it to me.
Abba 33
4 Rhythm 'n Blues
Marthalers Inszenierungen bewegen sich auf der Schnittfläche zwischen Schauspiel
und Musiktheater. Haben seine Liederabende und Operninszenierungen szenischdramatische
Qualitäten, so enthält seine Shakespeare-Inszenierung mehr
musikalische Elemente als herkömmliche zeitgenössische Inszenierungen.
Eines der Hauptmerkmale Marthalerschen Theaters ist, dass Musik live auf der Bühne
passiert, hergestellt wird. Bei Regisseuren wie Leander Haußmann 34 hat Musik primär
atmosphärische, sentimentalisierende Bedeutung und hat dementsprechend – um
Figuren und Zuschauer gleichermaßen in Stimmung zu versetzen – außerfiktionale
Quellen; sie wird meistens eingespielt. Sie fungiert als äußerliche, quasi räumliche
Komponente. In unserem Fall wird die Musik auf der Bühne produziert. Sie entspringt
den Figuren. Dazu sind alle Musiker Bestandteile des darstellenden Ensembles und
der intrafiktionalen Realität. Am extremsten ist diese Doppelfunktion bei Graham F.
Valentine (Feste, Gesang) und Lars Rudolph (Fabio, Trompete) zu beobachten.
Außerdem sind alle Schauspieler gleichzeitig Sänger und mutieren von darstellenden
Solisten zum musikalischen Chor und zurück.
Bei der Auswahl der Lieder hat Marthaler bezüglich des Stils keine erkennbaren
Präferenzen. Von der Renaissance (John Dowland: Komm süßer Schlaf), über
Gebrauchsliedgut (Seemannslied: Throw out the life-line) und politischem Chanson
(Clément/Renard: Le temps des cerises) bis zum Popsong (Tommy James & The
Shondells: Crimson and Clover). Sie scheinen direkt mit den Situationen verknüpft zu
sein und können so die unterschiedlichsten Funktionen erfüllen, ohne dass ihr Einsatz
inkonsequent oder beliebig erscheint.
33 Abba, Thank you for the music (Songtext), in: www.lyricmall.com.
34 Vgl. seine Inszenierung von Romeo und Julia 1993 am Bayrischen Staatsschauspiel mit exzessivem
Musikeinsatz, z.B. zur Untermalung von Mercutios Tod. Der einzige „Sänger“ dieser Inszenierung war
eine dazu erfundene, nicht zum Hauptplot gehörende Figur. Das Ergebnis war eine Art Kinoerlebnis
im Theater.
13
Ich möchte behaupten, dass die Marthalersche Musikalisierung
fast immer mehr sein will (und auch ist) als bloße Ironisierung
oder Komik. Marthalers Art und Weise „mit den Mitteln der Bühne
[zu] musizieren“, sei es in der Großform seiner Abende, in der
Behandlung seines chorischen Ensembles oder in den
choreografierten Szenen, hat stets Eigenständigkeit und
Eigenwertigkeit. 35
Dabei ist unklar, ob der jeweilige situative Kontext den musikalischen Ausdruck
hervorbringt oder ob umgekehrt die Musik die Situation bedingt. Ist ein Lied wie ein
Sprechakt emotionaler Ausdruck der Figuren, um etwas Gefühltes zu vermitteln oder
eine Handlung zu vollziehen Oder weckt die Musik durch das Singen und Tanzen ein
Gefühl, eine Erinnerung und versetzt die Figuren manipulativ in Zustände, diktiert eine
Haltung und erschafft so die Situation Dies lässt sich nur von Fall zu Fall mehr oder
weniger verlässlich mutmaßen. Feststellen lässt sich, dass Marthaler in verschiedenen
Inszenierungen auf das gleiche Liedmaterial zurückgreift. So findet sich Le temps des
cerises auch in Horvaths Kasimir und Karoline 36 und Komm süßer Schlaf wird in der
unten noch zu beschreibenden Inszenierung des Sturm gesungen.
Durch den Einsatz der Lieder bricht sich auch ein Sprachpessimismus Bahn. So
müssen sowohl Fabio mit seinen wunderschönen Sonetten, als auch Viola mit ihrer
Überredungskunst scheitern. Dagegen vermögen Orsinos Lied und der gemeinsame
Trance-Tanz Violas Herz zu berühren. Es entsteht der Eindruck, der Sprache mangele
es grundsätzlich am Vermögen zu vermitteln. Lieder können emphatisch wirken; und
zwar auf die Figuren, wie auf die Zuschauer. Vor allem in der Musik werden unsere
Sehnsüchte und Schmerzen sinnlich begreifbar. Beim chorischen Singen wird
Gemeinschaft erfahren und beim Tanzen können wir unsere Affekte ausleben. Diese
heilsame Wirkung – die man durchaus kathartisch nennen kann –, welche das
Erfahren von Gefühlszuständen hat, kann aber auch stark manipulativ sein. Bei einer
eklatanten Diskrepanz zwischen realer Situation und hervorgerufener Stimmung, in
deren Folge der Verstand hinter die emotionale Verfassung zurücktritt, kann es zu
groben Fehleinschätzungen der wirklichen Lebenssituation kommen. Wir finden dies
exemplarisch bei Kriegsliedern oder Liedern der amerikanischen chain-gangs.
Menschen können mit Liedern aufgewiegelt und aufgeputscht, aber auch
eingeschläfert und beruhigt werden. 37
35 David Roesner, „Ribible Riddle. Motivik und musikalische Form im Theater Christoph Marthalers“, S.
372, in: Balme, Theater als Paradigma, S. 365-374.
36 Grigolli in Dermutz, Christoph Marthaler, S. 154.
37 Vgl. Matussek, „Berauschende Geräusche“.
14
Es fallen einem gegen das Theater genauso viele Gründe ein,
wie gegen den Staat. Und Dramatiker ist sowieso, wer den
falschen Feind hat. Ich kann keine Noten lesen, hasse
Schauspieler und bin kein Dramatiker. Also: Was spricht für das
Theater Wäre das Theater ein Ort, wo man ungestraft, nur so
zum Spaß, eine Theorie durch die Praxis zerstören könnte, ohne
gleich die ganze Welt einzureißen; und wäre das Theater der Ort,
wo man endlich mal keine Weltbilder entwerfen müsste,
stattdessen mit dem Modell eines szenischen Torsos davon sich
amüsieren dürfte; und wäre schließlich das Theater ein Ort, wo
man pausenlos Formen der Unvollkommenheit erfände, um
auszuprobieren, wie man am besten auf dem Grat der
Überflüssigkeit sicherhielte (sic!) –: Ja, dann würde es mir nicht
nur scheinen, sondern ich wäre mir ziemlich sicher, dass dies ein
Theater mit Musik wäre! 38
Musik hat die Kraft, verborgene Potenzen ans Tageslicht zu bringen. Es ist erstaunlich,
welche akrobatischen Künste Bleichenwang beim Spielen der Luftgitarre entwickelt. Ist
er doch sonst kaum in der Lage, aufrecht zu stehen. Auf diese Weise leistet der
Einsatz musikalischer Mittel auch einen Beitrag zur Figurencharakterisierung.
Die Synchronisation optischer und akustischer Zeichen hebt die
Künstlichkeit der Figuren hervor. Hinzu kommt, dass Marthaler
mit der Realitätserfahrung und Realitätswahrnehmung des
Zuschauers spielt: menschliche Bewegungen können Geräusche
verursachen, doch die benutzten Geräusche verursachen
normalerweise keine menschlichen Bewegungen. [...] Das
Subjekt hat seine Autonomie und Handlungsfreiheit eingebüßt.
Der Automatismus des Vorgangs hat zum einen eine komische
Wirkung, zeigt die Körper aber auch als leblose Hüllen.
Belustigung und Unbehagen halten sich die Waage. 39
Dieser Vorgang wird bei der akustisch untermalten Prügelei am deutlichsten; und diese
künstliche Dramatisierung der Schläge hat zur Folge, dass Viola Sir Toby schlagen
kann. Kraft wird so eine vom Körper unabhängige Größe. Es liegt „Mechanisches als
Kruste über Lebendigem“ 40 .
Neben der emotionalisierenden Wirkung strukturiert das gemeinsame Singen die
Inszenierung. Vor allem der Song life-line wirkt wegen des wiederholten regelmäßigen
Einsatzes wie eine Zwischenaktmusik oder ein Appell.
38 Körner, „Fünf Gründe für ein Theater mit Musik“, S. 55f.
39 Schulz, Figur, S. 77.
40 Bergson, Das Lachen, S. 26.
15
Von NUN badete ich im Poem des Meers
Astral=Infusion molkenreich
verzehrte die grünen Azuren wo
bis=weilen
– bleich=entrücktes Schwimmsel –
ein Er=Trunkener
durchsinkt
voll Gedanken ...
Wo STRACKS die Bläuen umkippen
vom geilen Zunder des Tags
– träg delirierende Rhythmik –
geballter als ALLkohol
umFASSender als unsre Poesie
zu bittren Brand=Röten
der Liebes= Gärung!
[...]
Die Säuren der Liebe blähten mich in stocksteifem Suff,
0 dass mein Kiel zerSCHMETTRE
0 dass michs TREIB ins Meer!
5 Ertrinken, trinken und weiter trinken
Arthur Rimbaud 41
Bei Shakespeare ist das Stück streng in Haupt- und Nebenhandlung geteilt. Alkohol
spielt nur im subplot, welcher um Sir Toby kreist, eine große Rolle. Bei Marthaler hat
dieses Randgeschehen ganz Illyrien eingenommen. Die Bühne ist zu einer „durchgehend
geöffneten Theater-Lounge mit unbegrenzt freiem Ausschank“ 42 mutiert.
Die (Figuren, C.N.) gießen sich ständig die Lampe voll, bis alle
Flüssigkeit, etwa bei einem Handstand, wieder aus ihnen
hinausrinnt. «Comedy of humours» hieß jenes Genre der
Typenkomödie, dem Shakespeare mit «Was ihr wollt» eine
ironische Reverenz erwies. Marthaler ersetzt die Körpersäfte
(humours), welche das menschliche Temperament je nach
Mischung cholerisch oder sanguinisch prägten, durch
hochprozentigen Alkohol und versetzt seine Figuren in
phlegmatische Dauerbenebelung. Sturzbetrunken statt trunken
vor Liebe stolziert Oliver Mallisons zugeknöpfter – das heißt,
übersetzt in die marthaler-viebrocksche Buchstäblichkeit,
doppelreihig in sein Wams geknöpfter – Sir Andrew Bleichenwang,
genannt auch Speichelzwang, durch die Gegend... 43
Trinken kann als Ersatzdroge und als Stimmungsgenerator 44 fungieren. Es ist Zeichen
für einen Mangel, unter dem die Figuren leiden, und den sie zu kompensieren
41 Rimbaud, „Das trunkene Schiff“, in: Das poetische Werk, S. 396, 400.
42 Wille, „Shakespeare kann schwimmen“, S. 8. Für die „Insider“ sind die Bänke als Mobiliar der Kantine
der Berliner Volksbühne erkennbar.
43 Villiger Heilig, „Das liebestrunkene Schiff“.
44 Vgl. das in die Inszenierung gefügte Gedicht „Die große Sehnsucht“ von Scheerbart: „Wenn die große
Sehnsucht wieder kommt, / Wird mein ganzes Wesen wieder weich. / Und ich möchte weinend
niedersinken -- / Und dann möcht ich wieder maßlos trinken.“
16
wünschen. Es ist eine Flucht in eine Parallelrealität, wie das Lesen. Daneben ist das
Trinken ein typisches Ereignis des Grotesken. 45
Aus den Zeiten, als Joschka Fischer politisch noch etwas heller
im Kopf war, stammt seine aufrüttelnde Beschreibung des
Bundestags als der "größten Alkoholikerversammlung" Deutschlands.
Die Diagnose gilt wahrscheinlich heute noch, und das Beispiel
macht Schule: die größte Alkoholikerversammlung Zürichs
ist derzeit im stadteigenen Schauspielhaus zu besichtigen. Der
Regisseur Christoph Marthaler hat, wieder einmal, eine
schläfrige, langsame, in Trance befindliche Welt inszeniert, und
schuld an all der Lähmung ist König Alkohol. Es haben nämlich
alle Liebeskummer, und wen das Schicksal unerfüllten Sehnens
heimsucht, der trinkt. Man könnte natürlich auch was anderes
machen, Langlauf, Fitness-Studio, vielleicht auch Schach spielen
oder Bücher lesen. Das alles lässt sich aber nicht so schön auf
die Bühne bringen wie die stumpfe Apathie des Alks, zumal die
handelnden Akteure ja von Shakespeare sind. 46
Ob die Figuren wegen des Alkoholeinflusses wanken, oder der Wellengang sie umwirft,
ist irgendwann nicht mehr zu unterscheiden. Sie stehen auf unsicherem Grund
und versuchen den Ozean in sich aufzunehmen. 47
In Wirklichkeit befreit das Groteske von allen jenen Formen
menschlicher Notwendigkeit, die die herrschenden Vorstellungen
von der Welt durchdringen. Die Groteske dekouvriert diese
Notwendigkeit als eine relative und beschränkte. In jedem jeweils
mächtigen epochalen Weltbild tritt die Notwendigkeit als etwas
monolithisch Ernsthaftes und Unabdingbares auf. Doch die
historischen Vorstellungen über die Notwendigkeit sind immer
relativ und veränderlich. Das Moment des Lachens, das
karnevalistische Weltempfinden, die der Groteske zu Grunde
liegen, zerstören die beschränkte Ernsthaftigkeit sowie jeglichen
Anspruch auf zeitlose Bedeutung und Unabänderlichkeit der
Vorstellungen von der Notwendigkeit. Sie befreien das
menschliche Bewusstsein, den Gedanken und die Einbildungskraft
des Menschen für neue Möglichkeiten. 48
Falls es in dieser Welt Sorgen gibt, werden sie im Alkohol ertränkt. Doch der Rausch
währt nicht ewig. Er kulminiert in der Schlägerei und endet in der totalen Ernüchterung:
kein happy end in Sichtweite. Viola und Sebastian kamen vom Regen in die Traufe
und Sir Toby gibt Brille und Schal an Bleichenwang weiter. Dieser kann nun Sir Tobys
Rolle übernehmen. Am besten hilft immer das nächste Bier gegen einen Kater.
45 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 17.
46 Gampert, „Hochprozentiges Geisterschiff“.
47 Vgl. auch Malvolio, der einen Bildband über Ozeane liest.
48 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 28.
17
6 Sturm vor Shakespeare, le petit Rien an der Berliner Volksbühne
am Rosa-Luxemburg-Platz 1994
Diese Shakespeare-Inszenierung Marthalers ist ebenfalls unter Mitwirkung von Anna
Viebrock entstanden. Und auch dieser Raum ähnelt auf Grund von Elementen, wie
Propeller und Schiffstau, dem großen Saal eines Schiffs. Für die Dramaturgie zeichnet
Matthias Lilienthal verantwortlich. Auffällig ist, im Gegensatz zur Inszenierung von Was
ihr wollt, der wesentlich freiere Umgang mit dem Text. Im Endeffekt bleiben nur
rudimentäre Textpassagen und -partikel von Shakespeares Text übrig.
„Durch den Untertitel – le petit Rien – haben wir auszudrücken
versucht, dass wir den Kosmos von Shakespeare nicht als
Ganzes etablieren wollen, sondern einen kleinen Aspekt einer
«Sturm»-Aufführung zeigen, die vor Shakespeare stattfindet.“ 49
Le petit Rien verweist auch auf die Cembalo-Musik von François Couperin, welche
immer wieder gespielt wird. Gleichzeitig stützt sich diese Inszenierung ganz stark auf
den Film Der Würgeengel von Luis Buñuel. Das Personal scheint direkt Buñuels
Alpträumen entsprungen, wobei der Text scheinbar willkürlich auf die anwesenden
Personen aufgeteilt wird. Es gibt nicht die übliche Deckungsgleichheit von Dramenfigur
und Theaterrolle. Einzig Prospero und Ariel/Caliban haben eine einigermaßen
kohärente Figurenzeichnung. Prospero fungiert dabei als eine Art Spielleiter und kann
nach Belieben Figuren mit Hilfe seines glitzernden Hypnosesteins „an- und ausschalten“.
Er kontrolliert das Bühnengeschehen und ist am Ende der Einzige, der die
Bühnenfläche verlassen kann. Die Eingeschlossenheit der Figuren ähnelt der in
Buñuels Film. Immer wieder öffnen sich Türen, durch die Bedienungen ihre Essenswägelchen
schieben und die Bühne kreuzen. Aber niemand traut sich hindurch zu
gehen. Es ist ein ewiges Ankommen. Diese Abendgesellschaft zeigt in ihren immer
gleichen Ritualen den Leerlauf einer satten aber ängstlichen Kultur.
Wiederholung erweist sich dadurch [durch die Bedeutungsverschiebungen,
die sich aus den Aktualisierungen der dynamischen
Zeichen entfalten, C.N.] als Gegenbewegung zur Zeit-Logik der
Chronologie, einer Zerlegungs-Operation von Zeit in Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft. Die lineare Zeit wird spiralförmig,
gewinnt Zeit aus Zeit-Verlust, streift in immer neuer Weise das
Vorherige und das Zukünftige im zeitlichen Prozess, in dem alles,
49 Matthias Lilienthal, „Eine untergegangene Welt ein letztes Mal imaginieren“, S. 121. In: Dermutz,
Christoph Marthaler, S. 113-124.
18
was erscheint auch verschwindet, Wert erhält und devaluiert,
verknüpft und entgrenzt wird in permanenter Relationierung. 50
Neben den wie Mantras wiederholten Ritualen, kann man durch den choreografierten,
synchronen Ablauf inhaltsleer wirkende Aktivitäten und unpassendes Abrufen zivilisatorischer
Verhaltensmuster, wie das Beten vor der Schuhauslage, Schwimmbewegungen
auf dem Teppich oder das Imitieren eines Lotsen, beobachten. Immer wieder
kommt es zu Erschöpfungszuständen und kollektivem Schlafen. Es wird viel gesungen,
und wie in Marthalers Inszenierung von Tschechows Drei Schwestern riechen die
Personen an den Fingern. Häufig ist der Text nicht der Situation angemessen und die
Rangordnung wird als Hackordnung slapstickartig an dem einzigen Diener ausagiert.
Die Kritiken schwankten zwischen Ironie und Sarkasmus. Sie
zeigten aber auch Respekt für eine Unternehmung, die irritiert
und amüsiert hatte, obgleich sie Kritikern und Zuschauern letztlich
unerklärbar blieb. Weder der Regisseur noch die Bühnenbildnerin
boten Erklärungen an. Das hatten sie auch früher nicht getan und
waren mit ihrer hermetischen Bühnensprache, deren Zeichen und
Symbole das Publikum bald wiedererkannte, auch wenn ihnen
die Bedeutung dunkel blieb, schnell zu Ruhm gekommen
(Marthaler/ Viebrock-Produktionen erreichten sogar Kultstatus).
In Marthalers Inszenierungen [...] entfernte sich das Regietheater
in eine Region jenseits kritischer Rationalität. Unbeschreibbare
Bedeutungen spielten keine Rolle mehr, und über seinen
Gebrauch als wiederverwertbares „Material“ hinaus besaß das
literarische Erbe keinerlei Wert. Damit war das Ende eines
ästhetischen Paradigmas eingeläutet, das auch in den Jahren
des Bildersturms noch gegolten hatte. 51
Die geordnete Nummerndramaturgie wird immer obskurer 52 und die Bühne ähnelt
durch das Licht, das von hinten durch die Propeller fällt, einem Maschinenraum. Die
Technik löst Kultur als Sinn stiftend ab. Ob hinter den Funktionen Bedeutung steckt, ist
irrelevant und Prospero kann abgehen und seine Verdauung vollenden.
50 Meyer, Intermedialität, S. 250.
51 Hortmann, Shakespeare S. 478f.
52 Vgl. Lehmann, „Zeitstrukturen“ S. 38: „In der Repetition entsteht ebenso wie bei der Duration ein
„Zeitkristall“, wie ich in Anlehnung an Gilles Deleuze sagen möchte, eine subtile Verdichtung des
Zeitverlaufs. Zeit wird zugleich verneint und zum Stillstand kristallisiert. [...] Wiederholung nimmt im
Neuen Theater eine ganz andere Bedeutung an: Diente sie in der alten Kunstsprache zur
Strukturierung, zum Aufbau einer Form, so tritt sie in der neuen Theatersprache in den Dienst der
Destrukturierung von Formtotalitäten. Werden Vorgänge in einem solchen Maße wiederholt, dass sie
kaum mehr als Teil einer szenischen Architektur und Organisation erlebbar sind, sondern als sinnlos
und redundant, so schlägt ihre Anmutung um in die eines „nicht endenwollenden“, unkontrollierten und
unkontrollierbaren Ablaufs. Wir erleben das Rauschen einer Brandung von Zeichen, die sich ihres
Mitteilungscharakters entledigt haben und nicht mehr als Teil einer poetischen, szenischen,
musikalischen Werkganzheit deutbar sind.“
19
7 Resümee
Wozu dient letzten Endes das Denken, wozu dient die Theorie Zwischen ihnen und der
Welt steht „das Andere selbst“ (Im Orig. „l’Autre par lui-même“): Schwebe und
Reversibilität, asymmetrisches Duell zwischen der Welt und dem Denken. Wobei stets
die folgenden drei grundlegenden Theoreme zu bedenken sind:
• Die Welt ist uns rätselhaft und unerkennbar gegeben; es ist Aufgabe des Denkens,
sie, wenn möglich, noch rätselhafter und unerkennbarer wiederzugeben.
• Da sich die Welt auf einen Zustand des Deliriums hin entwickelt, muss man ihr
gegenüber einen delirierenden Standpunkt einnehmen.
• Der Spieler darf nie größer sein als das Spiel selbst; genauso wenig darf der
Theoretiker größer sein als die Theorie oder die Theorie größer als die Welt selbst.
Jean Baudrillard 53
In seinen Inszenierungen zeigt Marthaler eine ganz charakteristische Handschrift; ganz
gleich, wie unterschiedlich die Interpretationen von Shakespeares Texten in den
beiden untersuchten Inszenierungen sind.
Die Strukturierung der Aufführung durch wiederholte Szenenabläufe und chorischen
Gesang verbindet oberflächlich heterogene Elemente zu einem plausiblen Ganzen.
Eine Philosophie der Wiederholung durchläuft alle „Stadien“ und
bleibt dazu verurteilt, die Wiederholung selbst zu wiederholen.
Aber über diese Stadien hinweg stellt sie ihr Programm sicher:
die Wiederholung zur Kategorie der Zukunft machen; sich der
Wiederholung der Gewohnheit und des Gedächtnisses bedienen,
sich ihrer aber als Stadien bedienen und sie auf ihrem Weg hinter
sich zu lassen; mit einer Hand gegen Habitus, mit der anderen
gegen Mnemosyne kämpfen; den Inhalt einer Wiederholung
zurückweisen, die sich schlecht und recht die Differenz (Habitus)
„entlocken“ lässt; die Form einer Wiederholung zurückweisen, die
die Differenz enthält, allerdings um sie noch dem Selben und
dem Ähnlichen (Mnemosyne) unterzuordnen; die allzu einfachen
Zyklen verwerfen, den Zyklus, dem eine gewohnheitsmäßige
Gegenwart unterliegt (Zyklus der Gewohnheit), ebenso, wie den
Zyklus, der eine reine Vergangenheit erstellt (Zyklus des
Gedächtnisses, oder des Unvordenklichen); den Grund des
Gedächtnisses zu einer einfachen defizienten Bedingung
umzuändern, ebenso aber die Gründung der Gewohnheit zu
einem Scheitern des „Habitus“, zur Metamorphose des
Handelnden; das Handelnde und die Bedingung im Namen des
Werks oder des Hervorgebrachten ausstoßen; aus der
Wiederholung nicht dasjenige machen, dem man eine Differenz
„entlockt“ oder das die Differenz als Variante enthält, sondern aus
ihr das Denken und die Hervorbringung des „absolut
Verschiedenen“ machen; bewerkstelligen, dass die Wiederholung
für sich selbst die Differenz an sich selbst ist. 54
53 Baudrillard, Der unmögliche Tausch, S. 204f.
54 Deleuze, Differenz, S. 127f.
20
Dieser der Aufführung immanenten Erinnerungskultur wird die Erinnerungskultur des
mitteleuropäischen Raums entgegengesetzt. Die große intertextuelle Verschränkung
mit der abendländischen Kulturtradition reißt Bedeutungs- und Assoziationshorizonte
auf.
Der Pluralismus einer Multilingua, der sich innerhalb einzelner
Idiolekte und in der enormen Variationsbreite heterogener
künstlerischer Sprachformen im derzeitigen „Labyrinth der Kunst“
(Achille Bonito Oliva) äußert, bedarf einer neuen flexiblen
Interpretationshaltung und neuer Kriterien der Aufmerksamkeit
und Beurteilung gleichermaßen. Die Vielfalt, die eine Orientierung
erschwert, da sie sich nicht sofort stimmig, sondern vielstimmig
präsentiert, ist ebenso Potential zu einer motivierten, neuen
Stiftung von Beziehungs-Sinn wie Tendenz zur Beliebigkeit. Eine
neue Misch-Technik ermöglich sowohl einen avancierten
materialgerechten Umgang mit Rücksicht auf ein Gedächtnis im
Zeichen und die eigene historische Position als auch eine
Verramschung des reichhaltigen Inventars in kulturellen
Gedächtnis-Archiven. 55
Mit dieser Methode des Zitierens entsteht mitunter der Eindruck, die Figuren hätten
keine originär eigene Rede. Die Bilder, aus denen sich die Motive der Inszenierung
zusammensetzen, sind wohlbekannt. Der verhandelte Inhalt wird so um die
„Hintergrunderzählungen“ erweitert, auf die angespielt wird. Gleichzeitig erlaubt diese
Zusammenstellung von „Aufführungsgeschichte“ und Kulturgeschichte dem Zuschauer
Analogien zu persönlichen Lebenssituationen und Gefühlen zu ziehen.
Aus dieser formalen Dichte ergeben sich inhaltliche Schwerpunkte, die um die
Verlorenheit eines bürgerlichen Individuums in seiner Gesellschaft kreisen. Es stellt
sich die Frage nach der persönlichen Rechtfertigung einer postbürgerlichen Existenz.
Ist dieses möglich und denkbar, oder sind wir zu stark an die alten Werte, vor allem
des 19. Jahrhunderts, gebunden
Die Arbeiten von Christoph Marthaler zeigen so starke formelle und inhaltliche
Ähnlichkeiten und Referenzen untereinander, dass man mittlerweile wirklich von einem
kohärenten Gesamtwerk sprechen kann. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtungen
sich dieser Stil noch entwickeln kann und wie sich sein Einfluss auf andere Theatermacher
weiterhin gestalten wird. Was bleibt, ist Literatur.
55 Meyer, Intermedialität, S. 348.
21
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24
9 Anhang: Daten und Mitwirkende
Was ihr wollt von William Shakespeare, aus dem Englischen von Thomas Brasch
Premiere am 17.2.2001 im Schauspielhaus Zürich
Inszenierung Christoph Marthaler
Bühnenbild und Kostüme Anna Viebrock
Dramaturgie Stefanie Carp
Lichtgestaltung Markus Bönzli
Ton Christoph Finé Renfer
Regieassistenz Till Fiegenbaum
Bühnenbildassistenz Duri Bischoff
Kostümassistenz Marysol del Castillo
Inspizienz Irene Herbst
Souffleur János Buchwardt
Souffleuse Rosemarie von Holt
Regiehospitanz Hannah Steffen
Dramaturgiehospitanz Hedwig Huber
Bühnenbildhospitanz Kornelia Gysel
Viola Judith Engel
Malvolio Ueli Jäggi
Orsino André Jung
Sir Toby Josef Ostendorf
Olivia Karin Pfammatter
Feste Graham F. Valentine
Marie Olivia Grigolli
Sir Andrew Bleichenwang Oliver Mallison
Sebastian Markus Wolff
Fabio & Trompete Lars Rudolph
Valentin & Piano/Keyboard Jürg Kienberger
Antonio Oliver Wronka
Kapitän Marcus Burkhard
Kurio & Elektrisches Cello Martin Schütz
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