Über Christoph Marthalers Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Schauspielhaus Zürich 2001.
LMU München - Hauptseminar Theaterwissenschaft "Inszenierungsanalyse" - 2004/05
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if music be the food of love, play on<br />
Marthaler inszeniert Shakespeare:<br />
<strong>Was</strong> <strong>ihr</strong> wollt <strong>am</strong> <strong>Schauspielhaus</strong> <strong>Zürich</strong> 2001<br />
Christiane Neudeck<br />
www.christiane-neudeck.de<br />
Entstanden im Wintersemester 2004/05 <strong>am</strong> Institut für Theaterwissenschaft der LMU<br />
München im Rahmen des Hauptseminars „Marthaler & Co“ bei Prof. Dr. Bayerdörfer.
Inhalt:<br />
1<br />
2<br />
2.1<br />
2.2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Einleitung: Die „Marthaler-Methode“<br />
Opsis & Optik<br />
At First Sight: Schiff und Zuschauerraum<br />
A Closer Look: Öffentlichkeit und Heimlichtuerei<br />
Die Liebenden<br />
Rhythm 'n Blues<br />
Ertrinken, trinken und weiter trinken<br />
Sturm vor Shakespeare, le petit Rien an der Berliner Volksbühne <strong>am</strong><br />
Rosa-Luxemburg-Platz 1994<br />
Resümee<br />
Literaturnachweise & Videoquellen<br />
Anhang: Daten und Mitwirkende<br />
1<br />
4<br />
5<br />
8<br />
10<br />
13<br />
16<br />
18<br />
20<br />
22<br />
25
Die Bilder erscheinen und verschwinden wie im Traum durch Auflösung<br />
und Verdunkelungen; Zeit und Raum werden fließend, schrumpfen oder<br />
verlängern sich nach <strong>ihr</strong>em Willen, die Zeitfolge und die relativen Werte<br />
der Dauer entsprechen nicht mehr der Wirklichkeit; die Bestimmung des<br />
Kreislaufes ist, zu vergehen, in einigen Minuten oder in mehreren<br />
Jahrhunderten; die Bewegungen beschleunigen die Verzögerungen.<br />
Luis Buñuel 1<br />
1 Einleitung: Die „Marthaler-Methode“<br />
Seit Ende des vergangenen Jahrhunderts hat <strong>Christoph</strong> Marthaler mit seinem unverwechselbaren<br />
<strong>Inszenierung</strong>sstil die deutschsprachige Theaterlandschaft bereichert und<br />
geprägt. Von der Theaterkomposition her kommend, bleibt Marthaler auch bei der<br />
Regie <strong>von</strong> Schauspielen Prinzipien treu, die man aus seinen Themenabenden und<br />
dem Genre des Musiktheaters kennt. Neben formalen Ähnlichkeiten zum Varieté, wie<br />
an Einlagen erinnernde Szenen, fällt bei diesen „musikalisch-choreographischen<br />
Collagen“ 2 eine Art inhaltlicher Leitmotivtechnik auf, die sich durch alle Zeichensysteme<br />
zieht. Außerdem ist aus der ästhetisch-stilisierten <strong>Über</strong>höhung der Ausstattung<br />
und der zirzensischen Spielweise eine Nähe zur Idee der Groteske<br />
erkennbar. 3 Die aus den Spielvorgängen ableitbaren Konnotationen bilden im Laufe<br />
der <strong>Inszenierung</strong> immer wiederkehrende Topoi und fordern die Assoziationsfähigkeit<br />
der Zuschauer heraus. Ohne den moralischen Zeigefinger zu heben, schaffen es<br />
Marthaler und sein Te<strong>am</strong>, lustvoll und sinnlich Lebensthemen anzuschneiden und zu<br />
diskutieren.<br />
Auch das Theater muss sich immer an das Theater erinnern. Die<br />
Räume sind erinnerte Räume. Die Menschen sind erinnerte und<br />
geträumte Menschen. Die Sätze, die ihnen zur Verfügung stehen,<br />
stehen ihnen nicht selbstverständlich zur Verfügung. Sie sind<br />
übrig gebliebene Sprachstücke, die liegenblieben nach großen<br />
Unglücksfällen. Anna Viebrock kleidet diese Menschen in<br />
mehrere jüngere und ältere Vergangenheiten. Man meint sie<br />
schon mal auf der Straße gesehen zu haben, aber nicht gerade<br />
heute. In der nachzeitlichen Perspektive wird alles unselbstverständlich.<br />
Alle Arbeiten <strong>Marthalers</strong> haben diese Perspektive:<br />
Nichts ist, sondern es ging gerade vorbei oder wird werden.<br />
Etwas ging zu Ende und das „Werden“ kann keine neue<br />
Behauptung sein, man sieht und hört immer Spuren. Diese<br />
Zeitverrückung ist der Ausgangspunkt des Erzählens. 4<br />
1 Buñuel, „Der Film als Instrument der Poesie“, in: Buñuel, Die Flecken der Giraffe S. 145.<br />
2 D<strong>am</strong>m, „Dann singen wir doch erstmal was“ (o. Paginierung).<br />
3 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval.<br />
4 Carp, „Langs<strong>am</strong>es Leben ist lang“, S. 72.<br />
1
Eine reine, deskriptive Strukturanalyse mit dem Schwerpunkt auf Einzelereignissen bei<br />
klarer Trennung der Zeichensysteme würde in diesem Fall keinerlei Mehrwert zu der<br />
Existenz der Videoaufnahme erzeugen. Der Versuch einer „objektiven Analyse“ wäre<br />
unvollständig und sinnlos. 5 Einzelbeschreibungen blieben in Ermangelung klarer<br />
Referenzen semantisch im Unbestimmbaren. 6 Erst mit der Vernetzung des Ges<strong>am</strong>teindrucks,<br />
des Wissens um vorher und nachher sowie der Berücksichtigung der<br />
Gleichzeitigkeit aller Zeichensysteme und des Zufalls der Aufführung wird Bedeutung<br />
erahnbar.<br />
Gerade die Vagheit einer unhintergehbaren Darstellung bedingt<br />
einen unendlichen, nie abschließbaren Darstellungsprozess.<br />
Einer aus differenten Wahrnehmungsurteilen resultierenden,<br />
semantischen Mehrdeutigkeit korrespondiert eine pragmatische<br />
Unbestimmtheit des Zeichens selbst, das stets nach einem Mehr<br />
an Deutung verlangt. 7<br />
Im Sinne dieses hermeneutischen Zirkels lohnt es sich, nicht linear zu denken und<br />
über den Ges<strong>am</strong>teindruck auf die einzelnen Komponenten der <strong>Inszenierung</strong> einzugehen<br />
und umgekehrt. Dabei ist die Einbeziehung lebensweltlicher Themen<br />
unumgänglich:<br />
Dem zum sozialen Kontext (der in seinem Innern den Referenten<br />
des Kunstwerkes birgt) gehörenden Rezipienten kommt die<br />
Aufgabe zu, die Zeichen aus dem Kunstwerk herauszulösen.<br />
Daraus folgt sowohl, dass das Herauslösen des Signifikanten<br />
notwendigerweise <strong>von</strong> einer Hypothese über seine Dimension<br />
und seinen Sinn determiniert wird, als auch, dass es unter<br />
Einbeziehung des sozialen Kontextes und der Hypothese über<br />
die Signifikate geschieht. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass<br />
der Rezipient gleichzeitig zwei entgegengesetzte Prozesse<br />
vollzieht: 1. ausgehend <strong>von</strong> der Zerlegung in Signifikanten sucht<br />
er ein mögliches Signifikat; 2. ausgehend <strong>von</strong> den durch eine<br />
Interpretation vorgegebenen Signifikaten sucht er für diese einen<br />
Hinweis oder eine Bestätigung in den Signifikanten. 8<br />
Es fällt schnell auf, dass es in dieser <strong>Inszenierung</strong> nicht darum gehen kann, eine<br />
Geschichte zu erzählen. Der Entwicklung der Figurenbiografie und kausalen sowie<br />
psychologischen Vorgängen wird kaum Bedeutung beigemessen. So scheinen die<br />
Figuren in den Bühnenraum hineingeworfen und noch nicht zur Gänze angekommen<br />
zu sein. Sie sprechen <strong>ihr</strong>e Texte aus einer verborgenen Not oder Gewohnheit heraus<br />
5 Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 3, S. 109.<br />
6 Vgl. Balme, Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 96 über den Mangel an semantischer Kohärenz<br />
bei zeitgenössischen <strong>Inszenierung</strong>en.<br />
7 Meyer, Intermedialität, S. 163.<br />
8 Pavis, Semiotik der Theaterrezeption, S. 20.<br />
2
und nicht auf Grund der Notwendigkeit einer verständlichen Motivation. Zeit als<br />
logische, aufeinander aufbauende Abfolge <strong>von</strong> Ereignissen ist so gut wie nicht<br />
relevant. Die einzelnen Spielpatterns wirken willkürlich zus<strong>am</strong>mengesetzt, es wird<br />
keine zwingende Reihenfolge suggeriert. Dabei kreisen sie um bestimmte inhaltliche<br />
Schwerpunkte, wie Liebe oder Sehnsucht, die sich schon in <strong>Shakespeares</strong> Vorlage<br />
finden lassen.<br />
Da Marthaler sehr frei mit dem Shakespeare-Text umgeht, und eine Rekonstruktion<br />
des Probenprozesses nicht möglich ist, erweist sich auch eine Transformationsanalyse<br />
als nicht hilfreich. Natürlich ist eine genaue Kenntnis <strong>von</strong> <strong>Shakespeares</strong> Dr<strong>am</strong>a<br />
unumgänglich. Der Zus<strong>am</strong>menhang zwischen Dr<strong>am</strong>entext, Spielfassung<br />
(gesprochener Text) und ganzer Aufführung ist allerdings keine Einbahnstraße,<br />
sondern ein dyn<strong>am</strong>ischer Dialog.<br />
Die szenische Darstellung – hierin der Traumdarstellung<br />
vergleichbar – und die den Text begleitende Abbildung<br />
bereichern den Text und zeigen Lesarten mit bisweilen<br />
unvorhersehbaren Strategien. Jede <strong>Inszenierung</strong>, auch die<br />
einfachste und expliziteste, „verschiebt“ den Text: Durch sie sagt<br />
er Dinge, die kein kritischer Kommentar jemals zu sagen vermag<br />
– fast als könne die <strong>Inszenierung</strong> das Unsagbare sagen. 9<br />
Das, was in der Literatur zwischen den Zeilen steht, kann eine <strong>Inszenierung</strong><br />
konkretisieren. Eine komplementäre Ergänzung des Textes mit den szenischen Mitteln<br />
des Theaters hilft Redundanz zu vermeiden und erlaubt Vielschichtigkeit. Um die dabei<br />
gewonnene Polyvalenz nicht in eine unerwünschte Beliebigkeit zu führen, ist konzeptorientiertes<br />
Denken und Intuition <strong>von</strong>nöten. Diese Beschränkung auf bestimmte<br />
Bedeutungsfelder und Stilmittel der Gestaltung bedingt die dichte interne Vernetzung<br />
und die Geschlossenheit der Aufführung.<br />
Wie solche dominanten Themenkomplexe in <strong>Marthalers</strong> <strong>Inszenierung</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Shakespeares</strong> <strong>Was</strong> <strong>ihr</strong> wollt aufgebaut und durchgespielt werden, will ich in dieser<br />
Arbeit exemplarisch aufzeigen. Um das Springen <strong>von</strong> Einzelbeobachtung zu Motiv und<br />
zurück nicht allzu willkürlich erscheinen zu lassen, verläuft die Segmentierung und<br />
somit die Gliederung nach dominanten Topoi und nicht nach Zeichensystemen oder<br />
Szenenfolgen. Wiewohl all diese Zergliederungen im Vorhinein stattgefunden haben<br />
müssen.<br />
9 Pavis, „Die <strong>Inszenierung</strong>“, S. 19.<br />
3
Die Liebe ist eine Konversationsbrille, aber nur für den Gegenstand, den<br />
man d<strong>am</strong>it betrachtet, nicht für uns. Sonst sieht man doch mit der Brille<br />
schärfer und deutlicher, mit dieser Brille aber verschwindet aller Mangel<br />
und Fehler, und lauter Dinge, die nicht da sind, wenn man die bloßen<br />
Augen braucht, kommen erst hier zum Vorschein.<br />
Johann Wolfgang Goethe 10<br />
2 Opsis & Optik<br />
Als erstes fällt dem Theaterbesucher das Bühnenbild ins Auge. Darüber hinaus prägt<br />
der visuelle Eindruck die ges<strong>am</strong>te Wahrnehmung der <strong>Inszenierung</strong> entscheidend.<br />
Jedoch nicht nur im Theater hat das Sehen eine große Bedeutung. Auch in der Liebe –<br />
und das ist ja das zentrale Thema dieses Stückes – spielen die Augen eine große<br />
Rolle. Sprüche wie „Liebe macht blind“, „Liebe auf den ersten Blick“ oder auch „Schau<br />
mir in die Augen, Kleines“ zeugen da<strong>von</strong>. Und in beiden Bereichen kommt natürlich die<br />
Irreführung des Sehsinns, die Illusion dazu.<br />
Oh weh, was gab die Liebe mir für Augen<br />
Sie sehn das Wahre nicht, nur das Verkehrte!<br />
Wo ist mein Urteil, falls die Augen taugen,<br />
Dass, was sie richtig sehn, ich falsch bewerte<br />
Ist, was mein Blick entzückt betrachtet, schön,<br />
Wieso sagt dann die Welt, es trügt der Schein<br />
Wenn nicht, muss wohl die Liebe eingestehn:<br />
Wer liebt, sieht nicht so klar wie andre. Nein,<br />
Wie solln verliebte Augen richtig schauen,<br />
Die wund <strong>von</strong> Tränen sind, vom Wachen müd<br />
Wie soll ich meinen armen Augen trauen,<br />
Wo selbst die Sonne nur, wenn's klar ist, sieht<br />
Mit Tränen, Lieb, machst du mich listig blind,<br />
Dass nicht mein Scharfblick deine Fehler find. 11<br />
Durch die Verkleidung Violas wird schon bei Shakespeare die Differenz <strong>von</strong> Schein<br />
und Sein aufgerissen und kommentiert. Bei Marthaler wird dieser Kommentar noch<br />
weiter getrieben, beispielsweise, indem er zus<strong>am</strong>men mit seiner Dr<strong>am</strong>aturgin Stefanie<br />
Carp Shakespeare-Sonette einfügt, die sich alle um die Unschärfe des Sehurteils<br />
ranken und gipfelt in dem Schlussbild, wo sich nichts mehr wirklich bewegt, es quasi<br />
kaum etwas zu sehen gibt. Der Zuschauer wird also bei dem gepackt, was er sowieso<br />
macht, nämlich sehen und darüber in den Themenkomplex der Liebe geführt.<br />
10 Goethe, Gespräche, S. 752.<br />
11 Sonett CXLVIII aus Shakespeare, Die Sonette, S. 155.<br />
4
2.1 At First Sight: Schiff und Zuschauerraum<br />
Seit sich die Bühnenbildnerin Anna Viebrock und <strong>Christoph</strong> Marthaler Anfang der 90er<br />
Jahre in Basel unter der Intendanz <strong>von</strong> Frank Baumbauer näher kennen gelernt haben,<br />
sind <strong>ihr</strong>e kongenialen Bühnenbilder nicht mehr vom „Prinzip Marthaler“ wegzudenken.<br />
Die Geschlossenheit <strong>ihr</strong>er pararealistischen Bühnenbilder und die Eins<strong>am</strong>keit der<br />
<strong>Marthalers</strong>chen Figuren ergänzen und befruchten sich. Pararealistisch kann man diese<br />
Ästhetik deswegen nennen, da Anna Viebrock <strong>ihr</strong> Material in Fotostudien <strong>von</strong> real<br />
existierenden Orten s<strong>am</strong>melt und für die Bühne lediglich neu kombiniert, zuspitzt (d.h.<br />
Eigentümlichkeiten hervorhebt), dem Theaterraum anpasst und für das Spiel<br />
funktionalisiert.<br />
Weil <strong>Christoph</strong> sich für seine früheren Produktionen immer die<br />
speziellen Orte gesucht hat, habe ich angefangen, die Orte, die<br />
man vielleicht in der Realität finden könnte, in das Theater zu<br />
bauen. Weil <strong>Christoph</strong> solche geschlossenen Orte für die<br />
Musikalität seiner Stücke braucht, hatte ich plötzlich die Chance,<br />
solche stark atmosphärischen Räume herzustellen, in die man die<br />
Zuschauer fast wie in gefundene Orte hereinkatapultiert und die<br />
oberflächlich so aussehen wie z.B. Orte wie der Badische<br />
Bahnhof in Basel und die trotzdem natürlich konstruiert sind, weil<br />
sie mehrere Orte in einen schachteln und unrealistische<br />
Proportionen haben. Das hat natürlich mit einer gewissen<br />
Antihaltung zur Kulisse und zum Dekor zu tun, weil ich gar nicht<br />
unbedingt Theaterräume herstellen will, sondern erfundene<br />
gefundene Räume. 12<br />
Diese Arbeitsweise bringt es mit sich, dass bestimmte Komponenten in verschiedenen<br />
<strong>Inszenierung</strong>en auftauchen. Die Propeller mit dahinter liegender Lichtquelle finden sich<br />
in größerem Format auch in der später noch zu beschreibenden <strong>Inszenierung</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Shakespeares</strong> Sturm. Trotz der scheinbaren Konkretheit der Räume sind durch die<br />
Anordnung, Dimensionen und die Eigendyn<strong>am</strong>ik der einzelnen Bauteile doch<br />
unterschiedliche Assoziationen möglich, und es wird vor allem Atmosphäre geschaffen.<br />
Die Zus<strong>am</strong>menstellung <strong>von</strong> Bekanntem und Kuriosem prägt auch das spielerische<br />
Explorieren des Bühnenraums durch die Schauspieler:<br />
Ein seltener Glücksfall. Man geht durch diese Räume und findet<br />
immer wieder reale Gegenstände, Sitzgelegenheiten, Nischen<br />
und Hinterzimmer – und immer wieder diese sonderbaren und<br />
vergessenen Requisiten aus einer vergangenen Zeit. Es ist sehr<br />
schnell möglich, sich zumindest provisorisch zurechtzufinden. [...]<br />
12 Anna Viebrock im Gespräch mit Bettina Masuch. In: Masuch, Anna Viebrock (o. Paginierung).<br />
5
Man fühlt sich in diese Räume also erstmal eingeladen, aber man<br />
scheitert in dem Moment, wo man beginnt, sich einzurichten.<br />
Aber auch das Scheitern wird zum Gewinn, denn es schützt zum<br />
einen vor Saturiertheit und erzeugt gleichzeitig einen<br />
Kraftmoment, der in diesen Räumen sichtbar wird zwischen<br />
Mensch und Raum – so wie der elektrische Strom sichtbar wird<br />
zwischen nahe beieinander liegenden Polen, die sich fast<br />
berühren, aber eben doch nicht wirklich. 13<br />
Gleichzeitig wird die Eigentümlichkeit dieser Orte durch die Wahrnehmung der Figuren<br />
verstärkt. Die Art und Weise, wie sich die Eingeschlossenen in und zu diesen Räumen<br />
verhalten, wie sie mit der Begrenzung umgehen und verschiedene Raumsegmente<br />
benutzen, ermöglicht neue Bedeutungszuweisungen und profiliert den Raum und seine<br />
„Bewohner“.<br />
In <strong>Shakespeares</strong> Stück ist der Ort der Handlung „Illyrien“, eine fiktive Insel, auf der die<br />
handelnden Figuren entweder gestrandet sind oder <strong>ihr</strong> Leben verbringen. Zum Einen<br />
findet die Handlung im Freien, zum Anderen an den Höfen <strong>von</strong> Orsino und Olivia statt.<br />
If you take ship from the coast of Bohemia – having made your<br />
last bow to Perdita and Florizel – and sail for a day in a westerly<br />
direction, you will presently arrive at Illyria. There you will find the<br />
love-sick melancholy Duke, seated <strong>am</strong>ong his musicians,<br />
polishing his images and doting upon the “high-fantastical“; and<br />
go but a little by the way out of the city and you will come upon<br />
the stately Countess Olivia <strong>am</strong>ong her clipped box-trees, pacing<br />
the lawns like some great white peacock, while her steward<br />
Malvolio, lean, frowning, and cross-gartered, bends at her elbow.<br />
There too, if you are lucky, you may catch a glimpse of the<br />
rubious-lipped lovely Viola, stretching her slim legs and swinging<br />
her pert pages cloak between the Duke's palace and Olivia's<br />
house, delicately breathing blank verse. And if there should come<br />
to your ears the sound of drunken catches, and to your nose the<br />
smell of burnt sack and pickled herrings, then look for Olivia's<br />
uncle, Sir Toby Belch, and his friend, Sir Andrew Aguecheek, and<br />
with them, it may be, that dainty rogue, Maria, darting about like<br />
some little black and white bird, and Feste the Clown, with his<br />
sharp tongue, bright eyes and sweet-bitter songs. In and out of<br />
doors, there is good company in Illyria, good company wether is<br />
high or low, sober or drunk. 14<br />
Eine wunderbare und selts<strong>am</strong>e Landschaft ist der Ort des Geschehens. Zur Zeit<br />
<strong>Shakespeares</strong> gab es keine Notwendigkeit, Raumideen zu illustrieren. Das d<strong>am</strong>alige<br />
Theater fand immer auf der gleichen Holzbühne statt, den Ort des Geschehens<br />
definierte die „Wortkulisse“, d.h. die Beschreibung durch die Figuren.<br />
13 Josef Bierbichler, „Eine Art Herberge“. In: Masuch, Anna Viebrock.<br />
14 Priestly, „The Illyrians“, S. 1.<br />
6
The broad unlocalized stage was a fluid and flexible area that,<br />
through interaction of the actor and the audience's imagination,<br />
could represent whatever the playwright wished. A situation could<br />
be specific, loosely defined, or unlocalized. 15<br />
Im Laufe der Theatergeschichte wurde der visuelle Aspekt einer Aufführung immer<br />
wichtiger. Dekorationen und sichtbare Zeichen ergänzten die sprachliche Vermittlung<br />
und entwickelten zunehmend ein Eigenleben. Für den heutigen Bühnenbildner stellt<br />
sich so immer die Frage, wie ein solch fantastischer Ort mit seiner Gesellschaft konkret<br />
auf der Bühne dargestellt werden soll. 16 So entschied sich Gisbert Jäkel 1989 in<br />
Bochum für eine dyn<strong>am</strong>isch veränderbare Kulissenbühne in „naiv-schauseliger<br />
Barocktheatermanier“ 17 unter Einbeziehung <strong>von</strong> Zitaten aus der Malereigeschichte.<br />
Anna Viebrock hingegen baute in diesem Fall einen Einheitsraum, der jeglicher<br />
romantischen Märchenhaftigkeit entbehrt.<br />
In Anna Viebrocks beengendem, aber unerschöpflichem<br />
Bühnenraum drehen sich die Emotionen im Kreis und stauen sich<br />
die Metaphern. Der quer aufgeschnittene Schiffsbauch mit Unterund<br />
Oberdeck (der an der Schnittstelle nahtlos in den<br />
Zuschauersaal übergeht: Die Reling wird zur Galerie; das Schiff,<br />
übrigens eine semantische Brücke zwischen neuem Schiffbau<br />
und altem <strong>Schauspielhaus</strong>, wird zum theatrum mundi) ist<br />
vollgestopft mit Stühlen und Sesseln sowie flaschenbestückten<br />
Tischen und Tischchen; auf Bänken lagern Plaids, verstaubte<br />
Bücher warten in einem Gestell, andere liegen verstreut herum,<br />
bis sie jemand auf- und weiterliest, der grad nicht schläft oder<br />
sonst irgendwas tut in dem Stück, das die sinnlose Reise des<br />
Lebens versinnbildlicht. Diese abgetakelte Variante jener<br />
modischen Lounges, in denen sich seit neuerem das urbane In-<br />
Publikum nächtelang gern selbst darstellt und die jetzt mehr und<br />
mehr auch Theaterbühnen in Beschlag nehmen, hat Anna<br />
Viebrock seit eh und je zum natürlichen Habitat all der<br />
Menschendarsteller erklärt, für die sie <strong>ihr</strong>e Räume baut. 18<br />
Ein Schiff als Spielort wirft die Handlungszeit des Dr<strong>am</strong>as durcheinander und relativiert<br />
den Eindruck <strong>von</strong> Dauer als Abfolge <strong>von</strong> Ereignissen. Diese Wahl konserviert den<br />
point of attack und macht den Schiffbruch als Anlass der Handlung gleichermaßen<br />
unmöglich. „Das <strong>Schauspielhaus</strong> ist zum Luxusliner geworden; Schauspieler und<br />
Zuschauer sind Passagiere der „Titanic“ und wissen nicht so recht, ob sie bereits<br />
15 Harrop/Epstein, Acting with Style, S. 47.<br />
16 Auch ein „abstraktes“ Bühnenbild ist durch seine materielle Präsenz immer eine Konkretisierung,<br />
zumindest einer Idee oder einer Ästhetik.<br />
17 Rischbieter, „Melancholie und Mordlust“, S.16.<br />
18 Villiger Heilig, „Das liebestrunkene Schiff“.<br />
7
ersoffen sind, oder gerade ertrinken.“ 19 Wie meistens bei Anna Viebrock ist auch<br />
dieses Bühnenbild abgeschlossen: Wer durch eine der Türen abgeht, tritt kurz darauf<br />
durch eine andere ein; milchige und kleine Fenster erlauben keine Aussicht. Eine<br />
mögliche Außenwelt wird weder durch sprachliche noch andere Mittel definiert oder<br />
zumindest angedeutet. 20 Einzig die Einbeziehung des Zuschauerraums, durch die<br />
Spiegelung im Bühnenbild und Antonios Auftritt erweitert das Bühnenhaus. Das<br />
ges<strong>am</strong>te Oval des Theaters ist die dargestellte Welt und das Motorenst<strong>am</strong>pfen bzw.<br />
Summen der Propeller belebt das Schiff an sich. Es erscheint als großer Organismus,<br />
welcher sich Publikum und Darsteller einverleibt hat. Die Wahl eines Bühnenbildes,<br />
das die Anwesenden zu einer Bordgemeinschaft macht, setzt Maßstäbe für die ganze<br />
<strong>Inszenierung</strong>. Das gemeins<strong>am</strong>e Erleben <strong>von</strong> Theater wird über die Zurschaustellung<br />
eines abgeschlossenen Kunstwerks gesetzt. D<strong>am</strong>it teilt Marthaler mit vielen<br />
zeitgenössischen Regisseuren, wie Andreas Kriegenburg oder Johan Simons, die<br />
grundsätzliche Auffassung <strong>von</strong> Theater als gemeins<strong>am</strong>en Erlebnisort <strong>von</strong><br />
Schauspielern und Zuschauern. Erst im Vollzug vervollständigt sich das Kunstwerk.<br />
2.2 A Closer Look: Öffentlichkeit und Heimlichtuerei<br />
Durch die Präsenz aller Darsteller auf der Bühne ist ein gewisser Grad an Öffentlichkeit<br />
andauernd gegeben. Die Figuren haben die Möglichkeit, einander zu beobachten und<br />
sich für die anderen in Szene zu setzen.<br />
Dieses Illyrien ist eine sehr sehr selts<strong>am</strong>e Welt, eine skurrile Welt.<br />
Das ist schon beim Lesen. Und die spielen sich alle etwas vor.<br />
Ich glaube, die wissen auch alle Bescheid übereinander,<br />
untereinander. Aber die spielen sich was vor, und das ist das<br />
Schöne. Das ist Spiel. und das ist bei Shakespeare natürlich<br />
grandios. Man weiß nie wer weiß was über den andern. Sie<br />
spielen. Und das ist ganz ganz toll und das ist wunderbar. 21<br />
Privatheit ist nur als Heimlichtuerei oder Sch<strong>am</strong>losigkeit möglich. D<strong>am</strong>it ist auch die<br />
Rolle des Zuschauers als alleiniger Voyeur intimer Szenen hinfällig: die Zuschauer sind<br />
19 Berger, „Trinkend ertrinken“.<br />
Der erfolgreiche Kinofilm Titanic <strong>von</strong> J<strong>am</strong>es C<strong>am</strong>eron erschien übrigens 1997. Im Februar 2001 wurde<br />
diesem Film in Berlin die „Goldene K<strong>am</strong>era“ verliehen. Die <strong>Inszenierung</strong> fällt also noch seine<br />
unmittelbare Rezeptionsphase.<br />
20 Das Wellenrauschen in der Videoaufnahme habe ich nicht berücksichtigt.<br />
21 Auszug aus einem Interview mit <strong>Christoph</strong> Marthaler, in: Rasender Stillstand (Videoquelle).<br />
8
überall, eine außerfiktionale Präsenz der realen Zuschauer ist nicht relevant. In der<br />
<strong>Inszenierung</strong> wird dieser Tatbestand durch das oben beschriebene Bühnenbild noch<br />
verstärkt und in der Fortführung des Theaterbalkons explizit thematisiert.<br />
Die Verschränkung <strong>von</strong> Räumen und Beobachtungssituationen findet sich nicht nur im<br />
Bühnenbild sondern wird auch im Spielstil und durch Raffinessen in der szenischen<br />
Gestaltung deutlich. So dreht sich Viola bei der Werbung um Olivia, deutlich Zuspruch<br />
heischend, zu Orsino um, und Sir Toby schießt sofort auf Sebastian los, als er sieht,<br />
dass dieser Geld hat, um ihn auszunehmen. Im Gegenzug besteht die Möglichkeit,<br />
mehr oder weniger absichtlich nicht hinzusehen, oder, wie Sir Toby mit seiner rosa<br />
Brille, die eigene Wahrnehmung zu modifizieren.<br />
Um der Beobachtung anderer zu entgehen, bleibt nur die Heimlichtuerei. Zum Beispiel,<br />
wenn Malvolio trinkt, oder Orsino für das Publikum deutlich sichtbar die Bierflasche<br />
ausschüttet, als sich Viola umdreht. Das kann natürlich auch schiefgehen, wie es Viola<br />
passiert, als sie <strong>ihr</strong>e Liebe gesteht 22 und Orsino mithört, was durch den Blick Orsinos<br />
auf Viola deutlich gekennzeichnet ist. 23<br />
Die Figur des Antonio, welche sich anfangs im Zuschauerraum aufhält und akrobatisch<br />
<strong>am</strong> „echten“ Balkon herumklettert, sowie das deutliche Bespielen der R<strong>am</strong>pe mit dem<br />
direkten Blick in den Zuschauerraum, zersetzen jede Vorstellung einer „vierten Wand“.<br />
Wie schon zu <strong>Shakespeares</strong> Zeiten kann eine Verbrüderung der Figuren mit dem<br />
Publikum stattfinden. Auf diese Weise ist es möglich, dass Malvolio bei der<br />
Entdeckung des Briefes <strong>von</strong> allen Seiten mit vor Schadenfreude geröteten Gesichtern<br />
umgeben ist. Die Akteure auf dem Balkon spiegeln die Zuschauer und ziehen sie in<br />
das Bühnengeschehen mit hinein. Man möchte gleichs<strong>am</strong> auch „Und ich bin auch da“<br />
rufen. Die Analogie zu Kasperles „Seid <strong>ihr</strong> alle da“ ist hier gewiss kein Zufall. Die<br />
Ausgangsmetapher des Theaters findet sich im Laufe der <strong>Inszenierung</strong> immer wieder.<br />
Vor allem als Sprungbrett für weitere Metaphern, wie das Schiff, und schließlich für<br />
lebensweltliche Themenkomplexe. <strong>Shakespeares</strong> Satz <strong>von</strong> der ganzen Welt als Bühne<br />
findet so seine Anwendung, wird quasi semantisch ausagiert.<br />
22 Viola: „...wär ich selber gerne seine Frau“, ursprünglich I.5, hier verschoben ans Ende <strong>von</strong> II.4.<br />
23 Diese Verbindung sehen-hören ist im Theater durch Konventionalisierungsprozesse gang und gäbe.<br />
Man vergleiche asides, ad spectatores oder H<strong>am</strong>lets Monolog in der Kirche bei Shakespeare. Hier ist<br />
der neue Zug Orsinos Blick, der Viola (bzw. deren Darstellerin) und dem Publikum bedeutet, dass<br />
diese Konvention nicht verlässlich ist. Gleichzeitig ist dieses Spielen mit der Konvention affirmativ, da<br />
es ohne den Glauben an die Abmachung nicht funktionieren würde.<br />
9
Ich bin viele Jahre durchs Menschenland gezogen und habe die Varietäten des<br />
>Erotikers< (so bezeichnet sich zuweilen der Untertan des Fluggebrochenen)<br />
noch immer nicht zu Ende studiert. Da streift ein Verliebter umher und ist nur in<br />
seine Leidenschaft verliebt. Da trägt einer seine differenzierten Gefühle wie<br />
Ordensbänder. Da genießt einer das Abenteuer seines Faszinierens. Da schaut<br />
einer entzückt dem Spektakel seiner eigenen vermeintlichen Hingabe zu. Da<br />
s<strong>am</strong>melt einer Erregungen. Da lässt einer die >Macht< spielen. Da plustert sich<br />
einer mit einer fremden Vitalität auf. Da vergnügt sich einer, zugleich als er selbst<br />
und als ein ihm sehr unähnliches Idol vorhanden zu sein. Da wärmt sich einer <strong>am</strong><br />
Brand des ihm Zugefallenen. Da experimentiert einer. Und so fort – all die<br />
vielfältigen Spiegel-Monopolisten im Gemach der vertrautesten Zwiesprache!<br />
Martin Buber 24<br />
3 Die Liebenden<br />
Der in der Methode <strong>von</strong> Jacques Lecoq geschulte Marthaler versteht es, seine Figuren<br />
durch <strong>ihr</strong>e spezifische Körperlichkeit zu charakterisieren. Als Ausgangspunkt dienen<br />
die jeweiligen körperlicher Eigenheiten der Schauspieler, nach Bedarf durch die<br />
Kostümierung verstärkt. Diese Merkmale setzen die Figurenkörper zueinander in<br />
Kontrast: dick, dünn, groß, klein, muskulös, feminin, maskulin etc.; und betonen<br />
Eigentümlichkeiten der Figuren. Das pastellfarbene Deux-pièce lässt Malvolio als<br />
hageren Bürohengst noch erbärmlicher erscheinen, als es <strong>Shakespeares</strong> Strümpfe je<br />
vermocht haben. Die fiktionale Wirklichkeit erscheint als selts<strong>am</strong>e, märchenhafte Welt<br />
und das Geschehen gewinnt durch diese Stilisierung an Abstraktion.<br />
Sie [die karnevalistischen Gestalten, C.N.] vereinigen in sich alle<br />
Polaritäten des Wechsels und der Krise [...] Sehr bezeichnend für<br />
das karnevalistische Denken sind Gestaltenpaare, die nach dem<br />
Kontrastprinzip (hoch und niedrig, dick und dünn) oder nach dem<br />
Prinzip der Identität (Doppelgänger, Zwillinge) ausgewählt<br />
werden. 25<br />
So finden sich vor allem in der Figurenzeichnung und <strong>ihr</strong>en Aktionen Merkmale der<br />
Groteske. Dabei wird der traditionellen Standesunterschied nicht wie bei Shakespeare<br />
über die Sprache und konventionelle Bewegungsabläufe 26 , sondern durch<br />
unterschiedliche Figurenbehandlung, <strong>ihr</strong>en Bewegungsradius und den Grad an<br />
karnevalesker Manier deutlich. Das Verhalten erinnert je nach Figur und Szene mehr<br />
oder weniger stark an Lecoqs „Bouffons“ 27 , an Clowns, die Slapstick betreiben.<br />
24 Buber, Das dialogische Prinzip, S. 181.<br />
25 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 53.<br />
26 Wie Titelnennung oder Anrede, Verbeugung und Handkuss.<br />
27 Vgl. Lecoq, Der poetische Körper, S. 163 Ff,<br />
10
<strong>Christoph</strong> Marthaler läßt seine Akrobaten verbal und körperlich<br />
durch die Stücke stolpern -- oder, wie seine Chefdr<strong>am</strong>aturgin<br />
Stefanie Carp es ausdrückt "in der Waagerechten auf die Fresse<br />
fallen". In den klaustrophobischen 'Wartesälen' seiner langjährigen<br />
Bühnenbildnerin Anna Viebrock vers<strong>am</strong>melt er Eins<strong>am</strong>e,<br />
Fortschrittstaumelige, Ausgestoßene -- und alle sind sie ein<br />
bißchen meschugge. Sie singen, tanzen, tändeln herum, stolpern,<br />
fallen... 28<br />
Die Individualität der Figuren muss in diesem Fall nicht psychologisch „erspielt“ werden<br />
(Charakter), sondern ergibt sich aus dem äußerlichen Kontrast zu den anderen Figuren<br />
und den habituellen Eigenheiten. Als Extrembeispiel sei das dauernde Hinfallen <strong>von</strong> Sir<br />
Andrew Bleichenwang erwähnt. Dass diese körperlichen Auffälligkeiten als<br />
Assoziationen auch Klischeevorstellungen hervorrufen, ist klar.<br />
Aber Klischees eindeutig negativ zu bewerten, ist kurzsichtig. Viele Klischees<br />
erleichtern uns das emotionale „Mitgehen“ mit der <strong>Inszenierung</strong>. Die pointierte<br />
<strong>Über</strong>spitzung einiger Eigenschaften der Figuren erzeugt Komik und enthebt das<br />
Geschehen der Alltagsrealität. Nicht zuletzt finden sich Klischees ganz gängig im<br />
Kabarett, wo vor allem eine gesellschaftskritische Funktionalität dieser zu beobachten<br />
ist. Oft erleichtern uns <strong>Über</strong>spitzungen, die wir auf der Bühne sehen und miterleben,<br />
alltägliche Zustände besser wahrzunehmen oder erstmalig zu erkennen. Vor allem ist<br />
die körperliche <strong>Über</strong>fülle <strong>von</strong> Sir Toby augenfällig. Wir sehen einen satten Menschen,<br />
der nichtsdestotrotz unentwegt Flüssigkeiten in sich hineingießt.<br />
Der Dicke entgeht in gewisser Weise der Sexualisierung. Das<br />
heißt, er entgeht der Geschlechterteilung durch die Unteilbarkeit<br />
des vollen Körpers. Er überwindet die sexuelle Kluft durch die<br />
Absorbierung des ihn umgebenden Raumes. In übertragenem<br />
Sinne ist er mit allen Objekten angefüllt, <strong>von</strong> denen er sich nicht<br />
trennen konnte oder zu denen er nicht genügend Abstand<br />
genommen hat, um sie zu lieben. Er trennt den Körper vom Nicht-<br />
Körper. Sein Körper ist ein konvexer oder konkaver Spiegel; er<br />
hat es nicht geschafft, einen flachen Spiegel zu produzieren, der<br />
ihn reflektieren könnte. 29<br />
Wichtig ist, dass Marthaler die einzelnen Figuren nicht an einem, eindimensionalem<br />
Klischee hängen lässt, sondern es versteht, wie schon Shakespeare, verschiedene<br />
Klischees in einer Figur zu bündeln. So wird Malvolio nicht nur als skrupelloser<br />
Opportunist und Emporkömmling gezeigt, sondern auch als ein Melancholiker, der<br />
ernstgenommen werden will. Auch bei dem weniger clownesk gezeichnetem „höheren“<br />
28 D<strong>am</strong>m, „Dann singen wir doch erstmal was“.<br />
29 Baudrillard, Die fatalen Strategien, S. 35.<br />
11
Personal lassen sich solche <strong>Über</strong>kreuzungen ausmachen. Der Althippie und<br />
Schlagerschmonzeur Orsino lässt in seiner betonten Negation: „Erzähl <strong>ihr</strong> noch einmal<br />
<strong>von</strong> meiner Liebe und wie groß sie ist. / und dass du nicht etwa zu reden anfängst <strong>von</strong><br />
Landbesitz, / <strong>von</strong> Reichtum oder Geld, das <strong>ihr</strong> gehört durch Erbschaft oder Glück. /<br />
Dies alles intressiert mich nicht.“ 30 unverhohlen Geldgier als Motiv für seine<br />
Heiratspläne durchscheinen. Solche Brüche erlauben es Marthaler moralisch zu<br />
inszenieren, ohne je eine ultimative Moral spüren zu lassen.<br />
Neben ernsten, lyrischen Momenten mit knisternder Spannung, wie dem Jackentausch<br />
<strong>von</strong> Viola und Sebastian oder dem gemeins<strong>am</strong>en Tanz <strong>von</strong> Orsino und Viola, setzt<br />
Marthaler auch parodistische Elemente ein: Der Kapitän will Antonio verhaften, ruft erst<br />
mal in die Richtung der Hinterbühne „Harry fahr den Wagen vor!“, und wir befinden uns<br />
in einer Krimiserie des Vorabendprogr<strong>am</strong>ms.<br />
Eine besondere Form des gemeins<strong>am</strong>en Spiels findet sich bei Feste, welcher immer<br />
mal wieder andere Figuren mit in seinen Schottenrock schließt; vorwiegend bei darauf<br />
folgender Wechselrede. Die beiden, zus<strong>am</strong>menhängenden Figuren erscheinen dann<br />
als zwittrige Gestalt.<br />
Für die Groteske gewinnen allerlei Auswüchse und Abzweigungen<br />
besondere Bedeutung, die den Leib außerhalb des<br />
Leibes fortsetzen, die ihn mit anderen Leibern oder mit der<br />
nichtleiblichen Welt verbinden. 31<br />
Zusätzlich zu sexuellen Konnotationen ist diese Aktion des Festhaltens einer anderen<br />
Person auch ein gewalttätiger Akt. Der Humor der Groteske bekommt bei Marthaler<br />
eine recht beängstigende Note. Der Optimismus der Groteske 32 fehlt völlig. Es gibt<br />
keine Entwicklung, keine Erneuerung. Der Zuschauer kann und muss selbst entscheiden,<br />
wo der Witz aufhört und der Ernst beginnt. Komik und todernste Tragik verbrüdern<br />
sich zu der selts<strong>am</strong>en Mischung, die dem <strong>Marthalers</strong>chen Theater ureigen ist.<br />
Unterstützt wird diese gespaltene Grundhaltung durch den oft melancholischen und<br />
fast schon bedrohlichen Unterton der Chorpartien. So wird der Hauruck-Alarm zum<br />
Mitsingen, life-line, zur herzerweichenden Ballade.<br />
30 Shakespeare, <strong>Was</strong> <strong>ihr</strong> wollt, II.4, S. 56. Hervorhebung <strong>von</strong> mir.<br />
31 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 16.<br />
32 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 26: Die Groteske eröffnet „die Möglichkeit einer ganz anderen<br />
Welt, einer anderen Weltordnung, eines anderen Lebens. Sie führt über die Grenzen der scheinbaren<br />
Einzigartigkeit, Unabdingbarkeit und Unerschütterlichkeit der bestehenden Welt hinaus.“<br />
12
So I say:<br />
Thank you for the music, the songs I’m singing,<br />
Thanks for all the joy they’re bringing.<br />
Who can live without it, I ask in all honesty:<br />
What would life be<br />
Without a song or a dance what are we<br />
So I say, thank you for the music,<br />
For giving it to me.<br />
Abba 33<br />
4 Rhythm 'n Blues<br />
<strong>Marthalers</strong> <strong>Inszenierung</strong>en bewegen sich auf der Schnittfläche zwischen Schauspiel<br />
und Musiktheater. Haben seine Liederabende und Operninszenierungen szenischdr<strong>am</strong>atische<br />
Qualitäten, so enthält seine Shakespeare-<strong>Inszenierung</strong> mehr<br />
musikalische Elemente als herkömmliche zeitgenössische <strong>Inszenierung</strong>en.<br />
Eines der Hauptmerkmale <strong>Marthalers</strong>chen Theaters ist, dass Musik live auf der Bühne<br />
passiert, hergestellt wird. Bei Regisseuren wie Leander Haußmann 34 hat Musik primär<br />
atmosphärische, sentimentalisierende Bedeutung und hat dementsprechend – um<br />
Figuren und Zuschauer gleichermaßen in Stimmung zu versetzen – außerfiktionale<br />
Quellen; sie wird meistens eingespielt. Sie fungiert als äußerliche, quasi räumliche<br />
Komponente. In unserem Fall wird die Musik auf der Bühne produziert. Sie entspringt<br />
den Figuren. Dazu sind alle Musiker Bestandteile des darstellenden Ensembles und<br />
der intrafiktionalen Realität. Am extremsten ist diese Doppelfunktion bei Grah<strong>am</strong> F.<br />
Valentine (Feste, Gesang) und Lars Rudolph (Fabio, Trompete) zu beobachten.<br />
Außerdem sind alle Schauspieler gleichzeitig Sänger und mutieren <strong>von</strong> darstellenden<br />
Solisten zum musikalischen Chor und zurück.<br />
Bei der Auswahl der Lieder hat Marthaler bezüglich des Stils keine erkennbaren<br />
Präferenzen. Von der Renaissance (John Dowland: Komm süßer Schlaf), über<br />
Gebrauchsliedgut (Seemannslied: Throw out the life-line) und politischem Chanson<br />
(Clément/Renard: Le temps des cerises) bis zum Popsong (Tommy J<strong>am</strong>es & The<br />
Shondells: Crimson and Clover). Sie scheinen direkt mit den Situationen verknüpft zu<br />
sein und können so die unterschiedlichsten Funktionen erfüllen, ohne dass <strong>ihr</strong> Einsatz<br />
inkonsequent oder beliebig erscheint.<br />
33 Abba, Thank you for the music (Songtext), in: www.lyricmall.com.<br />
34 Vgl. seine <strong>Inszenierung</strong> <strong>von</strong> Romeo und Julia 1993 <strong>am</strong> Bayrischen Staatsschauspiel mit exzessivem<br />
Musikeinsatz, z.B. zur Untermalung <strong>von</strong> Mercutios Tod. Der einzige „Sänger“ dieser <strong>Inszenierung</strong> war<br />
eine dazu erfundene, nicht zum Hauptplot gehörende Figur. Das Ergebnis war eine Art Kinoerlebnis<br />
im Theater.<br />
13
Ich möchte behaupten, dass die <strong>Marthalers</strong>che Musikalisierung<br />
fast immer mehr sein will (und auch ist) als bloße Ironisierung<br />
oder Komik. <strong>Marthalers</strong> Art und Weise „mit den Mitteln der Bühne<br />
[zu] musizieren“, sei es in der Großform seiner Abende, in der<br />
Behandlung seines chorischen Ensembles oder in den<br />
choreografierten Szenen, hat stets Eigenständigkeit und<br />
Eigenwertigkeit. 35<br />
Dabei ist unklar, ob der jeweilige situative Kontext den musikalischen Ausdruck<br />
hervorbringt oder ob umgekehrt die Musik die Situation bedingt. Ist ein Lied wie ein<br />
Sprechakt emotionaler Ausdruck der Figuren, um etwas Gefühltes zu vermitteln oder<br />
eine Handlung zu vollziehen Oder weckt die Musik durch das Singen und Tanzen ein<br />
Gefühl, eine Erinnerung und versetzt die Figuren manipulativ in Zustände, diktiert eine<br />
Haltung und erschafft so die Situation Dies lässt sich nur <strong>von</strong> Fall zu Fall mehr oder<br />
weniger verlässlich mutmaßen. Feststellen lässt sich, dass Marthaler in verschiedenen<br />
<strong>Inszenierung</strong>en auf das gleiche Liedmaterial zurückgreift. So findet sich Le temps des<br />
cerises auch in Horvaths Kasimir und Karoline 36 und Komm süßer Schlaf wird in der<br />
unten noch zu beschreibenden <strong>Inszenierung</strong> des Sturm gesungen.<br />
Durch den Einsatz der Lieder bricht sich auch ein Sprachpessimismus Bahn. So<br />
müssen sowohl Fabio mit seinen wunderschönen Sonetten, als auch Viola mit <strong>ihr</strong>er<br />
<strong>Über</strong>redungskunst scheitern. Dagegen vermögen Orsinos Lied und der gemeins<strong>am</strong>e<br />
Trance-Tanz Violas Herz zu berühren. Es entsteht der Eindruck, der Sprache mangele<br />
es grundsätzlich <strong>am</strong> Vermögen zu vermitteln. Lieder können emphatisch wirken; und<br />
zwar auf die Figuren, wie auf die Zuschauer. Vor allem in der Musik werden unsere<br />
Sehnsüchte und Schmerzen sinnlich begreifbar. Beim chorischen Singen wird<br />
Gemeinschaft erfahren und beim Tanzen können wir unsere Affekte ausleben. Diese<br />
heils<strong>am</strong>e Wirkung – die man durchaus kathartisch nennen kann –, welche das<br />
Erfahren <strong>von</strong> Gefühlszuständen hat, kann aber auch stark manipulativ sein. Bei einer<br />
eklatanten Diskrepanz zwischen realer Situation und hervorgerufener Stimmung, in<br />
deren Folge der Verstand hinter die emotionale Verfassung zurücktritt, kann es zu<br />
groben Fehleinschätzungen der wirklichen Lebenssituation kommen. Wir finden dies<br />
exemplarisch bei Kriegsliedern oder Liedern der <strong>am</strong>erikanischen chain-gangs.<br />
Menschen können mit Liedern aufgewiegelt und aufgeputscht, aber auch<br />
eingeschläfert und beruhigt werden. 37<br />
35 David Roesner, „Ribible Riddle. Motivik und musikalische Form im Theater <strong>Christoph</strong> <strong>Marthalers</strong>“, S.<br />
372, in: Balme, Theater als Paradigma, S. 365-374.<br />
36 Grigolli in Dermutz, <strong>Christoph</strong> Marthaler, S. 154.<br />
37 Vgl. Matussek, „Berauschende Geräusche“.<br />
14
Es fallen einem gegen das Theater genauso viele Gründe ein,<br />
wie gegen den Staat. Und Dr<strong>am</strong>atiker ist sowieso, wer den<br />
falschen Feind hat. Ich kann keine Noten lesen, hasse<br />
Schauspieler und bin kein Dr<strong>am</strong>atiker. Also: <strong>Was</strong> spricht für das<br />
Theater Wäre das Theater ein Ort, wo man ungestraft, nur so<br />
zum Spaß, eine Theorie durch die Praxis zerstören könnte, ohne<br />
gleich die ganze Welt einzureißen; und wäre das Theater der Ort,<br />
wo man endlich mal keine Weltbilder entwerfen müsste,<br />
stattdessen mit dem Modell eines szenischen Torsos da<strong>von</strong> sich<br />
<strong>am</strong>üsieren dürfte; und wäre schließlich das Theater ein Ort, wo<br />
man pausenlos Formen der Unvollkommenheit erfände, um<br />
auszuprobieren, wie man <strong>am</strong> besten auf dem Grat der<br />
<strong>Über</strong>flüssigkeit sicherhielte (sic!) –: Ja, dann würde es mir nicht<br />
nur scheinen, sondern ich wäre mir ziemlich sicher, dass dies ein<br />
Theater mit Musik wäre! 38<br />
Musik hat die Kraft, verborgene Potenzen ans Tageslicht zu bringen. Es ist erstaunlich,<br />
welche akrobatischen Künste Bleichenwang beim Spielen der Luftgitarre entwickelt. Ist<br />
er doch sonst kaum in der Lage, aufrecht zu stehen. Auf diese Weise leistet der<br />
Einsatz musikalischer Mittel auch einen Beitrag zur Figurencharakterisierung.<br />
Die Synchronisation optischer und akustischer Zeichen hebt die<br />
Künstlichkeit der Figuren hervor. Hinzu kommt, dass Marthaler<br />
mit der Realitätserfahrung und Realitätswahrnehmung des<br />
Zuschauers spielt: menschliche Bewegungen können Geräusche<br />
verursachen, doch die benutzten Geräusche verursachen<br />
normalerweise keine menschlichen Bewegungen. [...] Das<br />
Subjekt hat seine Autonomie und Handlungsfreiheit eingebüßt.<br />
Der Automatismus des Vorgangs hat zum einen eine komische<br />
Wirkung, zeigt die Körper aber auch als leblose Hüllen.<br />
Belustigung und Unbehagen halten sich die Waage. 39<br />
Dieser Vorgang wird bei der akustisch untermalten Prügelei <strong>am</strong> deutlichsten; und diese<br />
künstliche Dr<strong>am</strong>atisierung der Schläge hat zur Folge, dass Viola Sir Toby schlagen<br />
kann. Kraft wird so eine vom Körper unabhängige Größe. Es liegt „Mechanisches als<br />
Kruste über Lebendigem“ 40 .<br />
Neben der emotionalisierenden Wirkung strukturiert das gemeins<strong>am</strong>e Singen die<br />
<strong>Inszenierung</strong>. Vor allem der Song life-line wirkt wegen des wiederholten regelmäßigen<br />
Einsatzes wie eine Zwischenaktmusik oder ein Appell.<br />
38 Körner, „Fünf Gründe für ein Theater mit Musik“, S. 55f.<br />
39 Schulz, Figur, S. 77.<br />
40 Bergson, Das Lachen, S. 26.<br />
15
Von NUN badete ich im Poem des Meers<br />
Astral=Infusion molkenreich<br />
verzehrte die grünen Azuren wo<br />
bis=weilen<br />
– bleich=entrücktes Schwimmsel –<br />
ein Er=Trunkener<br />
durchsinkt<br />
voll Gedanken ...<br />
Wo STRACKS die Bläuen umkippen<br />
vom geilen Zunder des Tags<br />
– träg delirierende Rhythmik –<br />
geballter als ALLkohol<br />
umFASSender als unsre Poesie<br />
zu bittren Brand=Röten<br />
der Liebes= Gärung!<br />
[...]<br />
Die Säuren der Liebe blähten mich in stocksteifem Suff,<br />
0 dass mein Kiel zerSCHMETTRE<br />
0 dass michs TREIB ins Meer!<br />
5 Ertrinken, trinken und weiter trinken<br />
Arthur Rimbaud 41<br />
Bei Shakespeare ist das Stück streng in Haupt- und Nebenhandlung geteilt. Alkohol<br />
spielt nur im subplot, welcher um Sir Toby kreist, eine große Rolle. Bei Marthaler hat<br />
dieses Randgeschehen ganz Illyrien eingenommen. Die Bühne ist zu einer „durchgehend<br />
geöffneten Theater-Lounge mit unbegrenzt freiem Ausschank“ 42 mutiert.<br />
Die (Figuren, C.N.) gießen sich ständig die L<strong>am</strong>pe voll, bis alle<br />
Flüssigkeit, etwa bei einem Handstand, wieder aus ihnen<br />
hinausrinnt. «Comedy of humours» hieß jenes Genre der<br />
Typenkomödie, dem Shakespeare mit «<strong>Was</strong> <strong>ihr</strong> wollt» eine<br />
ironische Reverenz erwies. Marthaler ersetzt die Körpersäfte<br />
(humours), welche das menschliche Temper<strong>am</strong>ent je nach<br />
Mischung cholerisch oder sanguinisch prägten, durch<br />
hochprozentigen Alkohol und versetzt seine Figuren in<br />
phlegmatische Dauerbenebelung. Sturzbetrunken statt trunken<br />
vor Liebe stolziert Oliver Mallisons zugeknöpfter – das heißt,<br />
übersetzt in die marthaler-viebrocksche Buchstäblichkeit,<br />
doppelreihig in sein W<strong>am</strong>s geknöpfter – Sir Andrew Bleichenwang,<br />
genannt auch Speichelzwang, durch die Gegend... 43<br />
Trinken kann als Ersatzdroge und als Stimmungsgenerator 44 fungieren. Es ist Zeichen<br />
für einen Mangel, unter dem die Figuren leiden, und den sie zu kompensieren<br />
41 Rimbaud, „Das trunkene Schiff“, in: Das poetische Werk, S. 396, 400.<br />
42 Wille, „Shakespeare kann schwimmen“, S. 8. Für die „Insider“ sind die Bänke als Mobiliar der Kantine<br />
der Berliner Volksbühne erkennbar.<br />
43 Villiger Heilig, „Das liebestrunkene Schiff“.<br />
44 Vgl. das in die <strong>Inszenierung</strong> gefügte Gedicht „Die große Sehnsucht“ <strong>von</strong> Scheerbart: „Wenn die große<br />
Sehnsucht wieder kommt, / Wird mein ganzes Wesen wieder weich. / Und ich möchte weinend<br />
niedersinken -- / Und dann möcht ich wieder maßlos trinken.“<br />
16
wünschen. Es ist eine Flucht in eine Parallelrealität, wie das Lesen. Daneben ist das<br />
Trinken ein typisches Ereignis des Grotesken. 45<br />
Aus den Zeiten, als Joschka Fischer politisch noch etwas heller<br />
im Kopf war, st<strong>am</strong>mt seine aufrüttelnde Beschreibung des<br />
Bundestags als der "größten Alkoholikervers<strong>am</strong>mlung" Deutschlands.<br />
Die Diagnose gilt wahrscheinlich heute noch, und das Beispiel<br />
macht Schule: die größte Alkoholikervers<strong>am</strong>mlung <strong>Zürich</strong>s<br />
ist derzeit im stadteigenen <strong>Schauspielhaus</strong> zu besichtigen. Der<br />
Regisseur <strong>Christoph</strong> Marthaler hat, wieder einmal, eine<br />
schläfrige, langs<strong>am</strong>e, in Trance befindliche Welt inszeniert, und<br />
schuld an all der Lähmung ist König Alkohol. Es haben nämlich<br />
alle Liebeskummer, und wen das Schicksal unerfüllten Sehnens<br />
heimsucht, der trinkt. Man könnte natürlich auch was anderes<br />
machen, Langlauf, Fitness-Studio, vielleicht auch Schach spielen<br />
oder Bücher lesen. Das alles lässt sich aber nicht so schön auf<br />
die Bühne bringen wie die stumpfe Apathie des Alks, zumal die<br />
handelnden Akteure ja <strong>von</strong> Shakespeare sind. 46<br />
Ob die Figuren wegen des Alkoholeinflusses wanken, oder der Wellengang sie umwirft,<br />
ist irgendwann nicht mehr zu unterscheiden. Sie stehen auf unsicherem Grund<br />
und versuchen den Ozean in sich aufzunehmen. 47<br />
In Wirklichkeit befreit das Groteske <strong>von</strong> allen jenen Formen<br />
menschlicher Notwendigkeit, die die herrschenden Vorstellungen<br />
<strong>von</strong> der Welt durchdringen. Die Groteske dekouvriert diese<br />
Notwendigkeit als eine relative und beschränkte. In jedem jeweils<br />
mächtigen epochalen Weltbild tritt die Notwendigkeit als etwas<br />
monolithisch Ernsthaftes und Unabdingbares auf. Doch die<br />
historischen Vorstellungen über die Notwendigkeit sind immer<br />
relativ und veränderlich. Das Moment des Lachens, das<br />
karnevalistische Weltempfinden, die der Groteske zu Grunde<br />
liegen, zerstören die beschränkte Ernsthaftigkeit sowie jeglichen<br />
Anspruch auf zeitlose Bedeutung und Unabänderlichkeit der<br />
Vorstellungen <strong>von</strong> der Notwendigkeit. Sie befreien das<br />
menschliche Bewusstsein, den Gedanken und die Einbildungskraft<br />
des Menschen für neue Möglichkeiten. 48<br />
Falls es in dieser Welt Sorgen gibt, werden sie im Alkohol ertränkt. Doch der Rausch<br />
währt nicht ewig. Er kulminiert in der Schlägerei und endet in der totalen Ernüchterung:<br />
kein happy end in Sichtweite. Viola und Sebastian k<strong>am</strong>en vom Regen in die Traufe<br />
und Sir Toby gibt Brille und Schal an Bleichenwang weiter. Dieser kann nun Sir Tobys<br />
Rolle übernehmen. Am besten hilft immer das nächste Bier gegen einen Kater.<br />
45 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 17.<br />
46 G<strong>am</strong>pert, „Hochprozentiges Geisterschiff“.<br />
47 Vgl. auch Malvolio, der einen Bildband über Ozeane liest.<br />
48 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 28.<br />
17
6 Sturm vor Shakespeare, le petit Rien an der Berliner Volksbühne<br />
<strong>am</strong> Rosa-Luxemburg-Platz 1994<br />
Diese Shakespeare-<strong>Inszenierung</strong> <strong>Marthalers</strong> ist ebenfalls unter Mitwirkung <strong>von</strong> Anna<br />
Viebrock entstanden. Und auch dieser Raum ähnelt auf Grund <strong>von</strong> Elementen, wie<br />
Propeller und Schiffstau, dem großen Saal eines Schiffs. Für die Dr<strong>am</strong>aturgie zeichnet<br />
Matthias Lilienthal verantwortlich. Auffällig ist, im Gegensatz zur <strong>Inszenierung</strong> <strong>von</strong> <strong>Was</strong><br />
<strong>ihr</strong> wollt, der wesentlich freiere Umgang mit dem Text. Im Endeffekt bleiben nur<br />
rudimentäre Textpassagen und -partikel <strong>von</strong> <strong>Shakespeares</strong> Text übrig.<br />
„Durch den Untertitel – le petit Rien – haben wir auszudrücken<br />
versucht, dass wir den Kosmos <strong>von</strong> Shakespeare nicht als<br />
Ganzes etablieren wollen, sondern einen kleinen Aspekt einer<br />
«Sturm»-Aufführung zeigen, die vor Shakespeare stattfindet.“ 49<br />
Le petit Rien verweist auch auf die Cembalo-Musik <strong>von</strong> François Couperin, welche<br />
immer wieder gespielt wird. Gleichzeitig stützt sich diese <strong>Inszenierung</strong> ganz stark auf<br />
den Film Der Würgeengel <strong>von</strong> Luis Buñuel. Das Personal scheint direkt Buñuels<br />
Alpträumen entsprungen, wobei der Text scheinbar willkürlich auf die anwesenden<br />
Personen aufgeteilt wird. Es gibt nicht die übliche Deckungsgleichheit <strong>von</strong> Dr<strong>am</strong>enfigur<br />
und Theaterrolle. Einzig Prospero und Ariel/Caliban haben eine einigermaßen<br />
kohärente Figurenzeichnung. Prospero fungiert dabei als eine Art Spielleiter und kann<br />
nach Belieben Figuren mit Hilfe seines glitzernden Hypnosesteins „an- und ausschalten“.<br />
Er kontrolliert das Bühnengeschehen und ist <strong>am</strong> Ende der Einzige, der die<br />
Bühnenfläche verlassen kann. Die Eingeschlossenheit der Figuren ähnelt der in<br />
Buñuels Film. Immer wieder öffnen sich Türen, durch die Bedienungen <strong>ihr</strong>e Essenswägelchen<br />
schieben und die Bühne kreuzen. Aber niemand traut sich hindurch zu<br />
gehen. Es ist ein ewiges Ankommen. Diese Abendgesellschaft zeigt in <strong>ihr</strong>en immer<br />
gleichen Ritualen den Leerlauf einer satten aber ängstlichen Kultur.<br />
Wiederholung erweist sich dadurch [durch die Bedeutungsverschiebungen,<br />
die sich aus den Aktualisierungen der dyn<strong>am</strong>ischen<br />
Zeichen entfalten, C.N.] als Gegenbewegung zur Zeit-Logik der<br />
Chronologie, einer Zerlegungs-Operation <strong>von</strong> Zeit in Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft. Die lineare Zeit wird spiralförmig,<br />
gewinnt Zeit aus Zeit-Verlust, streift in immer neuer Weise das<br />
Vorherige und das Zukünftige im zeitlichen Prozess, in dem alles,<br />
49 Matthias Lilienthal, „Eine untergegangene Welt ein letztes Mal imaginieren“, S. 121. In: Dermutz,<br />
<strong>Christoph</strong> Marthaler, S. 113-124.<br />
18
was erscheint auch verschwindet, Wert erhält und devaluiert,<br />
verknüpft und entgrenzt wird in permanenter Relationierung. 50<br />
Neben den wie Mantras wiederholten Ritualen, kann man durch den choreografierten,<br />
synchronen Ablauf inhaltsleer wirkende Aktivitäten und unpassendes Abrufen zivilisatorischer<br />
Verhaltensmuster, wie das Beten vor der Schuhauslage, Schwimmbewegungen<br />
auf dem Teppich oder das Imitieren eines Lotsen, beobachten. Immer wieder<br />
kommt es zu Erschöpfungszuständen und kollektivem Schlafen. Es wird viel gesungen,<br />
und wie in <strong>Marthalers</strong> <strong>Inszenierung</strong> <strong>von</strong> Tschechows Drei Schwestern riechen die<br />
Personen an den Fingern. Häufig ist der Text nicht der Situation angemessen und die<br />
Rangordnung wird als Hackordnung slapstickartig an dem einzigen Diener ausagiert.<br />
Die Kritiken schwankten zwischen Ironie und Sarkasmus. Sie<br />
zeigten aber auch Respekt für eine Unternehmung, die irritiert<br />
und <strong>am</strong>üsiert hatte, obgleich sie Kritikern und Zuschauern letztlich<br />
unerklärbar blieb. Weder der Regisseur noch die Bühnenbildnerin<br />
boten Erklärungen an. Das hatten sie auch früher nicht getan und<br />
waren mit <strong>ihr</strong>er hermetischen Bühnensprache, deren Zeichen und<br />
Symbole das Publikum bald wiedererkannte, auch wenn ihnen<br />
die Bedeutung dunkel blieb, schnell zu Ruhm gekommen<br />
(Marthaler/ Viebrock-Produktionen erreichten sogar Kultstatus).<br />
In <strong>Marthalers</strong> <strong>Inszenierung</strong>en [...] entfernte sich das Regietheater<br />
in eine Region jenseits kritischer Rationalität. Unbeschreibbare<br />
Bedeutungen spielten keine Rolle mehr, und über seinen<br />
Gebrauch als wiederverwertbares „Material“ hinaus besaß das<br />
literarische Erbe keinerlei Wert. D<strong>am</strong>it war das Ende eines<br />
ästhetischen Paradigmas eingeläutet, das auch in den Jahren<br />
des Bildersturms noch gegolten hatte. 51<br />
Die geordnete Nummerndr<strong>am</strong>aturgie wird immer obskurer 52 und die Bühne ähnelt<br />
durch das Licht, das <strong>von</strong> hinten durch die Propeller fällt, einem Maschinenraum. Die<br />
Technik löst Kultur als Sinn stiftend ab. Ob hinter den Funktionen Bedeutung steckt, ist<br />
irrelevant und Prospero kann abgehen und seine Verdauung vollenden.<br />
50 Meyer, Intermedialität, S. 250.<br />
51 Hortmann, Shakespeare S. 478f.<br />
52 Vgl. Lehmann, „Zeitstrukturen“ S. 38: „In der Repetition entsteht ebenso wie bei der Duration ein<br />
„Zeitkristall“, wie ich in Anlehnung an Gilles Deleuze sagen möchte, eine subtile Verdichtung des<br />
Zeitverlaufs. Zeit wird zugleich verneint und zum Stillstand kristallisiert. [...] Wiederholung nimmt im<br />
Neuen Theater eine ganz andere Bedeutung an: Diente sie in der alten Kunstsprache zur<br />
Strukturierung, zum Aufbau einer Form, so tritt sie in der neuen Theatersprache in den Dienst der<br />
Destrukturierung <strong>von</strong> Formtotalitäten. Werden Vorgänge in einem solchen Maße wiederholt, dass sie<br />
kaum mehr als Teil einer szenischen Architektur und Organisation erlebbar sind, sondern als sinnlos<br />
und redundant, so schlägt <strong>ihr</strong>e Anmutung um in die eines „nicht endenwollenden“, unkontrollierten und<br />
unkontrollierbaren Ablaufs. Wir erleben das Rauschen einer Brandung <strong>von</strong> Zeichen, die sich <strong>ihr</strong>es<br />
Mitteilungscharakters entledigt haben und nicht mehr als Teil einer poetischen, szenischen,<br />
musikalischen Werkganzheit deutbar sind.“<br />
19
7 Resümee<br />
Wozu dient letzten Endes das Denken, wozu dient die Theorie Zwischen ihnen und der<br />
Welt steht „das Andere selbst“ (Im Orig. „l’Autre par lui-même“): Schwebe und<br />
Reversibilität, asymmetrisches Duell zwischen der Welt und dem Denken. Wobei stets<br />
die folgenden drei grundlegenden Theoreme zu bedenken sind:<br />
• Die Welt ist uns rätselhaft und unerkennbar gegeben; es ist Aufgabe des Denkens,<br />
sie, wenn möglich, noch rätselhafter und unerkennbarer wiederzugeben.<br />
• Da sich die Welt auf einen Zustand des Deliriums hin entwickelt, muss man <strong>ihr</strong><br />
gegenüber einen delirierenden Standpunkt einnehmen.<br />
• Der Spieler darf nie größer sein als das Spiel selbst; genauso wenig darf der<br />
Theoretiker größer sein als die Theorie oder die Theorie größer als die Welt selbst.<br />
Jean Baudrillard 53<br />
In seinen <strong>Inszenierung</strong>en zeigt Marthaler eine ganz charakteristische Handschrift; ganz<br />
gleich, wie unterschiedlich die Interpretationen <strong>von</strong> <strong>Shakespeares</strong> Texten in den<br />
beiden untersuchten <strong>Inszenierung</strong>en sind.<br />
Die Strukturierung der Aufführung durch wiederholte Szenenabläufe und chorischen<br />
Gesang verbindet oberflächlich heterogene Elemente zu einem plausiblen Ganzen.<br />
Eine Philosophie der Wiederholung durchläuft alle „Stadien“ und<br />
bleibt dazu verurteilt, die Wiederholung selbst zu wiederholen.<br />
Aber über diese Stadien hinweg stellt sie <strong>ihr</strong> Progr<strong>am</strong>m sicher:<br />
die Wiederholung zur Kategorie der Zukunft machen; sich der<br />
Wiederholung der Gewohnheit und des Gedächtnisses bedienen,<br />
sich <strong>ihr</strong>er aber als Stadien bedienen und sie auf <strong>ihr</strong>em Weg hinter<br />
sich zu lassen; mit einer Hand gegen Habitus, mit der anderen<br />
gegen Mnemosyne kämpfen; den Inhalt einer Wiederholung<br />
zurückweisen, die sich schlecht und recht die Differenz (Habitus)<br />
„entlocken“ lässt; die Form einer Wiederholung zurückweisen, die<br />
die Differenz enthält, allerdings um sie noch dem Selben und<br />
dem Ähnlichen (Mnemosyne) unterzuordnen; die allzu einfachen<br />
Zyklen verwerfen, den Zyklus, dem eine gewohnheitsmäßige<br />
Gegenwart unterliegt (Zyklus der Gewohnheit), ebenso, wie den<br />
Zyklus, der eine reine Vergangenheit erstellt (Zyklus des<br />
Gedächtnisses, oder des Unvordenklichen); den Grund des<br />
Gedächtnisses zu einer einfachen defizienten Bedingung<br />
umzuändern, ebenso aber die Gründung der Gewohnheit zu<br />
einem Scheitern des „Habitus“, zur Met<strong>am</strong>orphose des<br />
Handelnden; das Handelnde und die Bedingung im N<strong>am</strong>en des<br />
Werks oder des Hervorgebrachten ausstoßen; aus der<br />
Wiederholung nicht dasjenige machen, dem man eine Differenz<br />
„entlockt“ oder das die Differenz als Variante enthält, sondern aus<br />
<strong>ihr</strong> das Denken und die Hervorbringung des „absolut<br />
Verschiedenen“ machen; bewerkstelligen, dass die Wiederholung<br />
für sich selbst die Differenz an sich selbst ist. 54<br />
53 Baudrillard, Der unmögliche Tausch, S. 204f.<br />
54 Deleuze, Differenz, S. 127f.<br />
20
Dieser der Aufführung immanenten Erinnerungskultur wird die Erinnerungskultur des<br />
mitteleuropäischen Raums entgegengesetzt. Die große intertextuelle Verschränkung<br />
mit der abendländischen Kulturtradition reißt Bedeutungs- und Assoziationshorizonte<br />
auf.<br />
Der Pluralismus einer Multilingua, der sich innerhalb einzelner<br />
Idiolekte und in der enormen Variationsbreite heterogener<br />
künstlerischer Sprachformen im derzeitigen „Labyrinth der Kunst“<br />
(Achille Bonito Oliva) äußert, bedarf einer neuen flexiblen<br />
Interpretationshaltung und neuer Kriterien der Aufmerks<strong>am</strong>keit<br />
und Beurteilung gleichermaßen. Die Vielfalt, die eine Orientierung<br />
erschwert, da sie sich nicht sofort stimmig, sondern vielstimmig<br />
präsentiert, ist ebenso Potential zu einer motivierten, neuen<br />
Stiftung <strong>von</strong> Beziehungs-Sinn wie Tendenz zur Beliebigkeit. Eine<br />
neue Misch-Technik ermöglich sowohl einen avancierten<br />
materialgerechten Umgang mit Rücksicht auf ein Gedächtnis im<br />
Zeichen und die eigene historische Position als auch eine<br />
Verr<strong>am</strong>schung des reichhaltigen Inventars in kulturellen<br />
Gedächtnis-Archiven. 55<br />
Mit dieser Methode des Zitierens entsteht mitunter der Eindruck, die Figuren hätten<br />
keine originär eigene Rede. Die Bilder, aus denen sich die Motive der <strong>Inszenierung</strong><br />
zus<strong>am</strong>mensetzen, sind wohlbekannt. Der verhandelte Inhalt wird so um die<br />
„Hintergrunderzählungen“ erweitert, auf die angespielt wird. Gleichzeitig erlaubt diese<br />
Zus<strong>am</strong>menstellung <strong>von</strong> „Aufführungsgeschichte“ und Kulturgeschichte dem Zuschauer<br />
Analogien zu persönlichen Lebenssituationen und Gefühlen zu ziehen.<br />
Aus dieser formalen Dichte ergeben sich inhaltliche Schwerpunkte, die um die<br />
Verlorenheit eines bürgerlichen Individuums in seiner Gesellschaft kreisen. Es stellt<br />
sich die Frage nach der persönlichen Rechtfertigung einer postbürgerlichen Existenz.<br />
Ist dieses möglich und denkbar, oder sind wir zu stark an die alten Werte, vor allem<br />
des 19. Jahrhunderts, gebunden<br />
Die Arbeiten <strong>von</strong> <strong>Christoph</strong> Marthaler zeigen so starke formelle und inhaltliche<br />
Ähnlichkeiten und Referenzen untereinander, dass man mittlerweile wirklich <strong>von</strong> einem<br />
kohärenten Ges<strong>am</strong>twerk sprechen kann. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtungen<br />
sich dieser Stil noch entwickeln kann und wie sich sein Einfluss auf andere Theatermacher<br />
weiterhin gestalten wird. <strong>Was</strong> bleibt, ist Literatur.<br />
55 Meyer, Intermedialität, S. 348.<br />
21
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24
9 Anhang: Daten und Mitwirkende<br />
<strong>Was</strong> <strong>ihr</strong> wollt <strong>von</strong> Willi<strong>am</strong> Shakespeare, aus dem Englischen <strong>von</strong> Thomas Brasch<br />
Premiere <strong>am</strong> 17.2.2001 im <strong>Schauspielhaus</strong> <strong>Zürich</strong><br />
<strong>Inszenierung</strong> <strong>Christoph</strong> Marthaler<br />
Bühnenbild und Kostüme Anna Viebrock<br />
Dr<strong>am</strong>aturgie Stefanie Carp<br />
Lichtgestaltung Markus Bönzli<br />
Ton <strong>Christoph</strong> Finé Renfer<br />
Regieassistenz Till Fiegenbaum<br />
Bühnenbildassistenz Duri Bischoff<br />
Kostümassistenz Marysol del Castillo<br />
Inspizienz Irene Herbst<br />
Souffleur János Buchwardt<br />
Souffleuse Rosemarie <strong>von</strong> Holt<br />
Regiehospitanz Hannah Steffen<br />
Dr<strong>am</strong>aturgiehospitanz Hedwig Huber<br />
Bühnenbildhospitanz Kornelia Gysel<br />
Viola Judith Engel<br />
Malvolio Ueli Jäggi<br />
Orsino André Jung<br />
Sir Toby Josef Ostendorf<br />
Olivia Karin Pf<strong>am</strong>matter<br />
Feste Grah<strong>am</strong> F. Valentine<br />
Marie Olivia Grigolli<br />
Sir Andrew Bleichenwang Oliver Mallison<br />
Sebastian Markus Wolff<br />
Fabio & Trompete Lars Rudolph<br />
Valentin & Piano/Keyboard Jürg Kienberger<br />
Antonio Oliver Wronka<br />
Kapitän Marcus Burkhard<br />
Kurio & Elektrisches Cello Martin Schütz<br />
25