Harninkontinenz des älteren Menschen
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diplomfortbildung<br />
S. Urbanits 1<br />
<strong>Harninkontinenz</strong> <strong>des</strong> älteren <strong>Menschen</strong><br />
Neurologische Aspekte<br />
<strong>Harninkontinenz</strong> bezeichnet das Unvermögen<br />
<strong>des</strong> erwachsenen <strong>Menschen</strong> willentlich<br />
das Harnlassen komplett oder<br />
teilkomplett zu kontrollieren. Von dieser<br />
Syndromatologie sind zwischen 15 und<br />
65 Prozent aller älteren <strong>Menschen</strong> in unterschiedlichem<br />
Ausmaß betroffen. Die<br />
große Bandbreite dieser Häufigkeitsangabe<br />
resultiert aus der Heterogenität der<br />
älteren Bevölkerung. <strong>Menschen</strong> dieses<br />
Lebensabschnittes können gesund sein<br />
und ein selbständiges beziehungsweise<br />
teilselbständiges Leben führen. Ein beträchtlicher<br />
Anteil ist multimorbid und<br />
pflegebedürftig. Ältere Patienten neigen<br />
dazu, <strong>Harninkontinenz</strong> als Teil <strong>des</strong> normalen<br />
Alterungsprozesses anzunehmen.<br />
Aufgrund der anatomischen und hormonellen<br />
Unterschiede sind Frauen deutlich<br />
(zwei bis drei Mal) häufiger von <strong>Harninkontinenz</strong><br />
betroffen als Männer derselben<br />
Altersgruppe. Da die daraus resultierenden<br />
Harnwegsinfekte noch immer<br />
letal enden können, ist es eine wichtige<br />
Aufgabe der Geriatrie sich aus verschiedenen<br />
Blickwinkeln mit diesem multidisziplinären<br />
Thema, das Mediziner, Pflegekräfte,<br />
Therapeuten, Psychologen und<br />
die Familie <strong>des</strong> Patienten betreffen kann,<br />
auseinanderzusetzen: Es ist notwendig,<br />
therapeutische und präventive Strategien<br />
und Qualitätsstandards in Diagnostik,<br />
Therapie und Folgeuntersuchungen zu<br />
entwickeln und zu etablieren.<br />
Die Steuerung der Miktion und der Kontinenz<br />
ist zerebral hierarchisch zu sehen,<br />
wobei im Folgenden eine schematische<br />
Vereinfachung dem besseren Verständnis<br />
dienen soll.<br />
Die Anatomie der Harnblase<br />
Das Hohlorgan Harnblase ist mit einer auf<br />
den Kopf gestellten griechischen Amphore<br />
zu vergleichen. Zwischen dem Hals und<br />
dem Hohlraum ist ein physiologischer<br />
Knick. Dieser ist Teil eines komplizierten<br />
anatomischen Verschlussmechanismus.<br />
Die Harnleiter, welche den Harn von der<br />
1<br />
Neurologische Abteilung, SMZ-Süd,<br />
Kaiser Franz Josef Spital<br />
Niere in den Blasenkörper transportieren,<br />
sind symmetrisch angelegt. Der Winkel<br />
der Einmündung sowie eine stärkere Gewebsfestigkeit<br />
zwischen beiden Harnleitern<br />
und dem Ausgang der Urethra (Trigonum<br />
vesicae) gewährleisten die<br />
Zuflussmöglichkeit <strong>des</strong> Harnes trotz voller<br />
Harnblase. Die glatte Muskulatur <strong>des</strong><br />
Blasenkörpers, welche durch Kontraktion<br />
den Harn in die Harnröhre pressen kann,<br />
nennt man den Musculus detrusor vesicae.<br />
Die Harnröhre wird vom glatten Musculus<br />
sphincter internus und den externen<br />
quergestreiften Verschlussmuskeln,<br />
dem Musculus tranversi perinei profundus<br />
und superficialis und dem Musculus<br />
levator ani, gebildet. Von kranial wird die<br />
Harnblase vom Peritonaeum bedeckt, im<br />
Inneren ist die Harnblase von Urothel<br />
ausgekleidet.<br />
Die direkte Nervenversorgung erhält<br />
die Blase vom Plexus pelvinus. Dieser<br />
führt parasympathische Fasern aus S3 und<br />
S4 mit, welche zuerst über den Plexus pudendus<br />
kommen. Zusätzlich laufen im<br />
Plexus vesicae auch sympathische Nervenfasern,<br />
welche über den Nervus hypogastricus<br />
mitgelaufen sind, sowie sensible<br />
Nervenfasern. Die Innervation der externen<br />
Sphinkteren erfolgt durch Fasern,<br />
welche via Nervus pudendus an den Muskel<br />
kommen. Von kaudal bildet die Beckenbodenmuskulatur<br />
eine wichtige Haltevorrichtung<br />
für die Harnblase.<br />
Physiologie der Blasenfunktion<br />
Bei Blasenfüllung kommt es zu erhöhtem<br />
Sympathikotonus mit Relaxation <strong>des</strong> Blasenkörpers.<br />
Die entsprechenden adrenergen<br />
Rezeptoren am Blasenkörper sind die<br />
Betarezeptoren, welche die Detrusormotorik<br />
inhibieren. Es kommt zu einer Unterdrückung<br />
<strong>des</strong> Parasympathikotonus. Zeitgleich<br />
kommt es zur Straffung der<br />
Beckenbodenmuskulatur und zur Kontraktion<br />
<strong>des</strong> Sphinkters über adrenerge Alpharezeptoren.<br />
Die Muscarinrezeptoren<br />
sind vor allem im Urothel <strong>des</strong> Detrusor lokalisiert.<br />
20 Prozent der Rezeptoren sind<br />
Muskarinrezeptoren Typ 3, 80 Prozent<br />
sind Muskarinrezeptoren Typ 2. Beim Urinieren<br />
kommt es zur Reduktion <strong>des</strong> Sympathikotonus<br />
mit Parasympatikusaktivierung<br />
und Kontraktion <strong>des</strong> Detrusor sowie<br />
Entspannung <strong>des</strong> Sphincter internus urinae<br />
Muskels und auch <strong>des</strong> externen muskulären<br />
Harnröhrenverschlusses.<br />
Die neurogene Steuerung<br />
der Harnblase<br />
Die oberste Kontrolle der Harnblase, ist<br />
das frontale Miktionszentrum („Blasenhemmzentrum“).<br />
Ist dieses Zentrum intakt,<br />
so beeinflusst es das sakrale Miktionszentrum<br />
hemmend und lässt die<br />
Miktion nicht zu. Bei entsprechendem<br />
Harndrang kann die Miktion willentlich<br />
durch Wegfall dieser hemmenden Einflüsse<br />
zugelassen werden. Zerebral degenerative<br />
Erkrankungen, welche ihren pathologischen<br />
Angriffspunkt auch frontal<br />
haben, können zu einer Ineffizienz – und<br />
im Verlauf auch zur kompletten Zerstörung<br />
<strong>des</strong> frontalen Blasenhemmzentrums<br />
– führen. Neben Raumforderungen, wie<br />
zum Beispiel Blutungen oder Tumoren<br />
und akut zerebrovaskulär ischämischen<br />
Läsionen (Schlaganfälle), sind es beim<br />
geriatrischen Patienten vor allem Erkrankungen<br />
wie Demenzen und Morbus Parkinson,<br />
welche durch Veränderung <strong>des</strong><br />
frontalen Blasenhemmzentrums zu Detrusor-Hyperreflexie<br />
und Stressinkontinenz,<br />
und in Folge verringertem Blasenfüllvolumen,<br />
führen.<br />
Eine Pathologie im pontinen Blasenzentrum,<br />
in einigen Literaturstellen als<br />
Nucleus Barrington bezeichnet, führt zu<br />
einer ineffizienten Koordination zwischen<br />
Detrusormuskel, welcher den Harn aus<br />
der Harnblase pressen sollte, und dem<br />
Sphincter internus Muskel, welcher durch<br />
Kontraktion das Harnlassen verhindern<br />
sollte. Lokale Schlaganfälle oder Blutungen<br />
in der Pons sind schwere Erkrankungen<br />
bei denen die Blasenfunktionsstörung<br />
zumeist zu vernachlässigen ist. Der wichtigere<br />
Aspekt der Pathologie <strong>des</strong> pontinen<br />
Blasenzentrums in der geriatrischen Population<br />
sind Erkrankungen, welche distal<br />
26 1-2/2009 © Springer-Verlag<br />
focus neurogeriatrie
diplomfortbildung<br />
Tabelle 1<br />
Experimentell untersuchte Beteiligungen<br />
verschiedener Gehirnregionen an der Miktion<br />
Gehirnregion<br />
Beteiligung an der Miktion<br />
schlechte Blasenkontrolle korreliert mit einer<br />
frontal<br />
verminderten Aktivierung der orbitofrontalen<br />
Regionen<br />
Corona radiata (vorderer Anteil)<br />
haben hemmenden Effekt auf die Miktion<br />
kontrolliert Afferenzen der Blasenfüllung und<br />
Gyrus cingularis<br />
unterdrückt die Miktion während der Blasenfüllung<br />
Blasenkontrolle, Integration von autonomem<br />
hippocampaler Anteil <strong>des</strong> Gyrus cingularis<br />
Nervensystem und emotionaler Komponente<br />
Adaptiert, gekürzt und übersetzt nach Kuchl et al. 2009<br />
der Brücke (Pons) im Rückenmark oberhalb<br />
von TH 10 liegen und auch zu Sphinkter-Detrusor-Dyssynergien<br />
führen. Das<br />
sind Rückenmarkskompressionen durch<br />
Wirbelkörpereinbrüche, Vertebrostenosen<br />
oder komprimierende Knochenmetastasen.<br />
Es kommt zu ineffizientem Urinieren,<br />
was zu Reflux, Restharn oder auch zur<br />
Hydronephrose führen kann.<br />
Läsionen auf sakraler Höhe führen zu<br />
einer verminderten Innervation <strong>des</strong> Musculus<br />
detrusor und haben so eine atone<br />
Blase mit Restharnbildung und Ausbildung<br />
einer Überlaufblase zur Folge. Läsionen<br />
auf lumbaler Höhe führen zu einer<br />
verminderten Innervation <strong>des</strong> Musculus<br />
sphincter internus, was zu einem ineffizienten<br />
Verschluss führt. Dies kann zum<br />
Beispiel bei maligner Infiltration von Rückenmark<br />
oder Cauda vorkommen. Atone<br />
Blasenstörungen gibt es auch im Rahmen<br />
von Neuropathien, wie zum Beispiel diabetischer<br />
Neuropathie, oder auch paraneoplastischer<br />
Neuropathie.<br />
Studien zur cerebralen<br />
Steuerung der Miktion<br />
Aufgrund der cerebralen frontalen Kontrolle<br />
der Miktion wurden in einer MRI Studie<br />
die Korrelation zwischen Läsionen der<br />
weißen Substanz und <strong>Harninkontinenz</strong><br />
bei Heimbewohnern untersucht. Man<br />
weiß aus f-MRI Studien dass der Gyrus<br />
frontalis inferior während <strong>des</strong> Harnlassens<br />
aktiviert wird. Somit werden Entscheidungen<br />
über das Wo und Wann <strong>des</strong> Harnlassens<br />
frontal generiert. Man kennt auch<br />
eine Reihe anderer Gehirnzentren, welche<br />
an der Miktion beteiligt sind (Tabelle 1).<br />
Ergebnis dieser Studie war, dass frontale<br />
Läsionen der weißen Substanz als Prädiktoren<br />
einer <strong>Harninkontinenz</strong> und deren<br />
Ausprägung angesehen werden<br />
können. Ältere <strong>Menschen</strong> mit diesen Läsionen<br />
zeigen eine verminderte Fähigkeit<br />
eine unerwartete Detrusoraktivität zu<br />
kompensieren.<br />
Der natürliche<br />
Alterungsprozess der Harnblase<br />
Entsprechend anderer Organsysteme unterliegt<br />
die Harnblase einem natürlichen<br />
Alterungsprozess. Im Alter kommt es physiologischerweise<br />
zur vermehrten unwillkürlichen<br />
Detrusorkontraktion und einer<br />
verminderten Füllkapazität (Füllvolumen)<br />
der Harnblase. Die Blasenwand verliert an<br />
Kontraktilität. Daher kommt es bei verminderten<br />
Harnvolumina zu Harndrang<br />
mit reduzierten Harnflussvolumina, was<br />
wiederum zur langsamen Abnahme <strong>des</strong><br />
Blasenfüllvolumens führt. Aufgrund der<br />
verminderten Kontraktilität erhöht sich<br />
das Restvolumen nach Miktion. Gleichzeitig<br />
nimmt die allgemeine Nierenfunktion<br />
ab und die nächtlichen Filtrationsraten<br />
sind erhöht, was zur Nykturie mit all ihren<br />
möglichen Folgen, wie zum Beispiel<br />
nächtlichen Stürzen, führt. Auch die Kontinenzfähigkeit<br />
(„Harn zurückhalten“)<br />
nimmt im Alter physiologischerweise ab.<br />
Subtypisierung der<br />
<strong>Harninkontinenz</strong><br />
Entsprechend der möglichen Pathologien<br />
ergeben sich außerhalb <strong>des</strong> normalen Alterungsprozesses<br />
der Harnblase und der<br />
Nieren verschiedene Typen der Inkontinenz,<br />
denen unterschiedliche Krankheitsbilder<br />
zugrunde liegen können.<br />
Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz)<br />
beschreibt einen unfreiwilligen<br />
Harnverlust, zumeist nur kleiner Harnmengen.<br />
Getriggert wird die Inkontinenz<br />
durch erhöhten intraabdominellen Druck<br />
(zum Beispiel beim Lachen, Husten oder<br />
bei körperlicher Anstrengung mit Anspannung<br />
der Bauchmuskeln). Häufig liegt<br />
eine Beckenbodenschwäche mit einer veränderten<br />
optimalen Stellung der Harnröhre<br />
zugrunde, da die Harnröhrenposition<br />
einen Teil <strong>des</strong> mechanischen<br />
Verschluss-Mechanismus darstellt. Blasentraining<br />
kann zu einer Verbesserung<br />
der Symptomatik führen.<br />
Die Dranginkontinenz ist ein Unvermögen<br />
den Harndrang lange zurückzuhalten.<br />
Häufig leiden Patienten mit Dranginkontinenz<br />
auch unter Nykturie. Zumeist<br />
liegt eine Detrusorüberaktivität zugrunde.<br />
Zusätzlich können urogenitale Tumoren<br />
oder Pathologien assoziiert sein. Häufig<br />
sind auch zentralnervöse Pathologien, wie<br />
zum Beispiel demenzielle Prozesse oder<br />
Morbus Parkinson bei Dranginkontinenz<br />
zu evaluieren. Ein Training der Beckenbodenmuskulatur<br />
ist empfehlenswert, allerdings<br />
muss der Patient kognitiv in der Lage<br />
sein, das Training zu verstehen, anzunehmen<br />
und unter Anleitung durchzuführen.<br />
Eine Mischinkontinenz beschreibt das<br />
kombinierte Vorliegen einer Dranginkontinenz<br />
und einer Belastungsinkontinenz.<br />
Die Überlaufblase (Überlaufinkontinenz)<br />
liegt bei einer primären Erschlaffung<br />
<strong>des</strong> Detrusormuskels durch lumbosakrale<br />
Pathologien oder Obstruktionen<br />
der Harnröhre vor. Ersteres kann bei Diabetes<br />
mellitus und Rückenmarkspathologien<br />
resultieren, zweiteres kann bei Prostatapathologien,<br />
Harnröhrenstrikturen<br />
oder großen Zystozelen vorliegen. Oftmals<br />
ist bei solchen Krankheitsbildern eine urologisch<br />
chirurgische Intervention notwendig,<br />
wenn der Patient nicht in der Lage ist,<br />
sich regelmäßig selbst zu katheterisieren.<br />
Eine Reflexinkontinenz liegt bei Harnverlust<br />
durch Detrusorhyperreflexie vor.<br />
Die Blase verhält sich aufgrund von Denervation<br />
reflektorisch.<br />
Von einer funktionellen Inkontinenz<br />
spricht man bei Patienten, welche aufgrund<br />
physischer oder kognitiver Defizite<br />
oder auch einer inadäquaten Umgebung<br />
nicht rechtzeitig bei entsprechendem<br />
Harndrang zur Toilette gelangen. Diese<br />
Form der Inkontinenz findet man bei Demenz<br />
oder anderen kognitiv oder physisch<br />
einschränkenden neurologischen<br />
Erkrankungen. Hier kann man dem Patienten<br />
im Bedarf Verhaltenstraining, Verbesserung<br />
der Umgebungsstruktur oder<br />
Physiotherapie zur Verbesserung der Mobilität<br />
anbieten.<br />
In der Praxis findet man all diese Inkontinenzformen<br />
häufig durch eine psychogene<br />
Komponente verstärkt, welche<br />
auch entscheidende Ausmaße annehmen<br />
kann. Angst vor <strong>Harninkontinenz</strong> kann<br />
zur „nervösen“ Verstärkung führen. Obwohl<br />
Antidepressiva auch im Einzelfall<br />
focus neurogeriatrie © Springer-Verlag<br />
1-2/2009 27
diplomfortbildung<br />
theoretisch zur Überlaufblase führen können,<br />
sind sie oft eine Möglichkeit diese<br />
Komponente der Inkontinenz abzuschwächen,<br />
um damit die Lebensqualität <strong>des</strong><br />
Patienten zu verbessern. In Kombination<br />
mit Toilett-Training kann eine leichte antidepressive<br />
Einstellung bei nervöser Verstärkung<br />
der <strong>Harninkontinenz</strong> zur Entspannung<br />
der Betreuungssituation für<br />
Patient und Betreuer führen.<br />
Untersuchungsempfehlungen<br />
Bei Auftreten einer Inkontinenz sind obligatorisch<br />
folgende Untersuchungen Stateof-the-art:<br />
Anamnese, Miktionsprotokoll,<br />
Lebensqualitätsscore, klinische Untersuchung<br />
von Abdomen inklusive rektaler<br />
und vaginaler Untersuchung, Stresstest,<br />
Urinanalyse, Restharnkontrolle.<br />
Zusätzlich können bei Bedarf Nierenfunktionstests,<br />
Uroflow, Urodynamik,<br />
bildgebende Verfahren und Endoskopie<br />
eingeleitet werden.<br />
Risikofaktoren der Harnikontinenz<br />
Die wesentlichsten Risikofaktoren für eine<br />
<strong>Harninkontinenz</strong> sind bei der Frau Alter,<br />
Multipara, Adipositas und reduzierte Motilität.<br />
Beim Mann sind die wesentlichen<br />
Risikofaktoren Alter, Obstruktionen, reduzierte<br />
Mobilität sowie radikale Prostektomie.<br />
Maßnahmen zur Verbesserung<br />
der <strong>Harninkontinenz</strong><br />
„Iatrogene“ Inkontinenzen: Bei multimorbiden<br />
Patienten mit <strong>Harninkontinenz</strong> ist<br />
es wichtig sich mit der bestehenden Vormedikation<br />
auseinander zu setzen. Alpha-<br />
Agonisten können zu einer Harnretention<br />
führen, entsprechend können Alphablocker<br />
zu einer Stressinkontinenz führen.<br />
ACE-Hemmer regen die Diurese an und<br />
führen zur Belastungsinkontinenz. Anticholinerge<br />
Medikamente, verschiedene<br />
Antidepressiva und Neuroleptika können<br />
zur Überlaufblase führen. Die meisten<br />
Parkinsonmedikamente können eine<br />
Dranginkontinenz verstärken. Betablocker<br />
und Ca++ Blocker können zur Harnretention<br />
führen. Diuretika verstärken die<br />
Harnmenge und die Frequenz <strong>des</strong> Harndranges.<br />
Sedativa reduzieren die Mobilität<br />
und können eine Dranginkontinenz verstärken.<br />
Die praktisch tatsächlich stattfindenden<br />
Nebenwirkungen dieser Medikamente<br />
werden kontrovers diskutiert, eine<br />
Übersicht der Wahrscheinlichkeiten solcher<br />
Nebenwirkungen ist aus einer Arbeit<br />
Tabelle 2<br />
Medikamente mit einer suspizierten Nebenwirkung auf die Kontinenz<br />
Inkontinenzmechanismus Medikament Wahrscheinlichkeit<br />
Erhöhter Blasendruck<br />
(Stressinkontinenz)<br />
Detrusorüberaktivität<br />
(Dranginkontinenz)<br />
Inkomplette Blasenentleerung<br />
(Überlaufinkontinenz)<br />
Harnüberproduktion<br />
(Dranginkontinenz)<br />
Alphaantangonisten<br />
Antipsychotica<br />
Benzodiazepine<br />
Parasympathikomimetika<br />
Antidepressiva<br />
Serotonin 5 HT4 Rezeptor<br />
Agonisten<br />
von Tsakiris in Tabelle 2 zusammengefasst.<br />
Wichtig ist bei multimorbiden Patienten<br />
das interdisziplinäre Auseinandersetzen<br />
mit der Gesamtmedikation zur<br />
Verbesserung der Lebensqualität.<br />
Medikamentöse und<br />
nichtmedikamentöse Behandlung<br />
Aufgrund ihres häufigen Einsatzes bei geriatrischen<br />
Patienten und ihrer Nebenwirkung<br />
auf die kognitive Situation der Patienten<br />
sollen die Parasympathikolytika<br />
generell besprochen werden. Sie vermindern<br />
die unwillkürliche Detrusorkontraktion,<br />
da sie das vegetative Nervensystem<br />
über Muskarinrezeptoren hemmen. Es<br />
soll zu selteneren Entleerungen, aber<br />
dann mit größeren Harnvolumina und einer<br />
Steigerung der Blasenkapazität, kommen.<br />
Die Nebenwirkungsprofile dieser<br />
Medikamentengruppe sind anticholinerg:<br />
Mundtrockenheit, Hypohidrosis, Obstipation,<br />
Übelkeit, Tachykardien. Die wichtigsten<br />
Wirkstoffe sind Oxybutinin, Tolterodine,<br />
Propiverin, Solifenacin,<br />
Darifenacin und Trospium. Derzeit kennt<br />
man fünf Subtypen der Muskarinrezeptoren<br />
M1 bis M5, alle fünf Subtypen finden<br />
sich im Musculus detrusor. Am häufigsten<br />
vertreten sind der Typ M2 und M3. Über<br />
diese Rezeptoren wird die Übertragung<br />
von Acetylcholin gehemmt und damit der<br />
Detrusormuskel entspannt. Der Unterschied<br />
dieser Medikamente liegt in ihren<br />
muskarinergen (anticholinergen) Nebenwirkungen<br />
an anderen Organen. Vor allem<br />
bei der geriatrischen Bevölkerung sollten<br />
Präparate mit einer möglichst geringen<br />
Kognition-reduzierenden Nebenwirkungsrate,<br />
wie zum Beispiel das Darifenacin,<br />
gewählt werden. Auch bei Trospiumchlorid<br />
nimmt man an, dass es weniger<br />
Anticholinergika<br />
Parkinson Medikamente<br />
Betaadrenorezeptor Antagonisten<br />
Diuretika<br />
Adaptiert, gekürzt und übersetzt nach Tsakiris et al. 2008<br />
niedrig<br />
niedrig<br />
niedrig<br />
theoretisch<br />
zweifelhaft<br />
theoretisch<br />
theoretisch<br />
theoretisch<br />
theoretisch<br />
zweifelhaft<br />
kognitive Nebenwirkungen macht, da es<br />
in seiner Molekülgröße nicht in der Lage<br />
ist die Bluthirnschranke zu überwinden.<br />
Für Oxybutinin gibt es mehrer Studien die<br />
eine negative Auswirkung auf die Kognition<br />
belegen.<br />
Bei Detrusor-Hyperreflexie können<br />
nach urologischer Indikationsstellung unter<br />
anderem Anticholinergika eingesetzt<br />
werden, wie zum Beispiel Scopolamin<br />
(Buscopan® ), Tolerodin (Detrusitol ® ),<br />
Oxybutynin (Ditropan®), Trospiumchlorid<br />
(Spasmolyt® , Spasmo-Urgenin ®<br />
) oder Darifenacin<br />
(Emselex®). Da über den muskarinergen<br />
Wirkungsmechanismus kognitive<br />
Defizite verstärkt werden, ist jüngeren<br />
muskarinsubspezifischen Medikamenten<br />
der Vorzug zu geben (siehe oben).<br />
Calciumantagonisten setzen bei Detrusor-Hyperreflexie<br />
ebenfalls den gehäuften<br />
Harndrang herab und erhöhen die<br />
Blasenkapazität – zum Beispiel Nifedipin<br />
(Adalat® ) oder Verapamil (Isoptin ®<br />
). Erfolgsversprechend<br />
erscheinen Ergebnisse<br />
neuester Studien mit Vardenafil, welche in<br />
Studien<strong>des</strong>igns zu einer 30-prozentigen<br />
Reduktion der Miktionsfrequenz führen.<br />
Bei Detrusor-Hyperreflexie mit äußerer<br />
Sphinkter-Dyssynergie werden auch<br />
Therapien mit Diazepam (Valium®<br />
calm® , Gewa-<br />
) oder Baclofen (Lioresal ® ) empfohlen.<br />
An wenigen spezialisierten neurourologischen<br />
Zentren wird Botulinumtoxin A<br />
in den Detrusormuskel injiziert. Die Wirkdauer<br />
wird im Schnitt mit neun Monaten<br />
angegeben.<br />
Obstruktive Miktionsstörungen werden<br />
mit Alphablockern wie zum Beispiel<br />
Alfuzosin (Xatral®, Generica), Doxazosin<br />
(Suppression® , Hibadren ® , Prostadilat ®<br />
Doxapress® ,<br />
, Generica), Terazosin (Vicard®<br />
, Urocard ®<br />
Generica) und Tamsulosin<br />
(Alna ret.® , Aglandin ®<br />
, Generica) the-<br />
28 1-2/2009 © Springer-Verlag<br />
focus neurogeriatrie
diplomfortbildung<br />
rapiert. Im Verlauf ist auf Nebenwirkungen<br />
wie orthostatische Dysregulationen oder<br />
Müdigkeit und Fallneigungen zu achten.<br />
Bei Detrusorschwäche können Alphaadrenorezeptorenblocker<br />
wie zum Beispiel<br />
Phenoxybenzamin (Dibenzyran® )<br />
oder Parasympatikomimetika wie zum<br />
Beispiel Betanechol (Myocholine® ) verordnet<br />
werden.<br />
Bei Patienten mit überaktiver Blase<br />
müssen individuelle Toilett-Trainingsmodelle,<br />
welche aus Patientenbedarf und Betreuungsmöglichkeit<br />
bestehen, erarbeitet<br />
werden. Diese Modelle sind vor allem bei<br />
kognitiv beeinträchtigten oder pflegebedürftigen<br />
Patienten notwendig. Hilfestellung<br />
in regelmäßigen Intervallen bei Miktion<br />
(zum Beispiel im Beginn alle 2<br />
Stunden) lassen den Patienten so mit allen<br />
Lebensqualität verbessernden sozialen<br />
Vorteilen künstlich kontinent sein. Man<br />
kann auch Maßnahmen aus dem Verhaltenstraining<br />
einfließen lassen und die<br />
Miktion zum Beispiel vor den Mahlzeiten,<br />
vor dem Trinken oder vor dem Weggehen<br />
aus dem Wohnbereich ansetzen.<br />
Im geriatrischen Setting ist das Überprüfen<br />
<strong>des</strong> Wohnbereiches und der möglichen<br />
Wege zur Toilette auf gute Begehbarkeit<br />
(zum Beispiel Handläufe, kürzere<br />
Haltegriffe) und gute Ausleuchtung<br />
(eventuell Bewegungsmelderlichtquellen)<br />
sehr wichtig. Wenn es dem Patienten<br />
kognitiv möglich ist, so kann ein gutes<br />
Training der Beckenbodenmuskulatur<br />
zur Verbesserung der Inkontinenz-Situation<br />
führen.<br />
Sollten diese Maßnahmen in Kombination<br />
mit medikamentösen Interventionen<br />
nicht den gewünschten Erfolg bringen<br />
ist vor bei der Überlaufblase das<br />
Erlernen <strong>des</strong> intermittierenden Selbstkatheterisierens<br />
zu evaluieren. Bei Erfolglosigkeit<br />
muss man das Anlegen eines supra-<br />
oder infrapubischen Dauerkatheters<br />
indizieren. Eine Beratung über Pflegebehelfe<br />
sowie entsprechende Verordnungen<br />
zur Inkontinenzversorgung sind ein wichtiger<br />
Teil der ärztlichen Betreuung der geriatrischen<br />
Inkontinenz. Bei leichtgradiger<br />
<strong>Harninkontinenz</strong> wird ein offenes System<br />
mit verschiedenen Saugstärken verordnet,<br />
diese Einlagen werden in die Unterhose<br />
oder Netzhose eingelegt und festgeklebt.<br />
Es gibt für Männer und Frauen entsprechend<br />
geformte Einlagen.<br />
Für höhergradige Inkontinenz oder gemischte<br />
Harn- und Stuhlinkontinenz wird<br />
ein geschlossenes System verordnet, diese<br />
Systeme entsprechen Schutzhosen und<br />
können für Männer und Frauen gleich verordnet<br />
werden.<br />
Soziale Aspekte<br />
Die <strong>Harninkontinenz</strong> <strong>des</strong> alten <strong>Menschen</strong><br />
steht an Stelle vier jener Erkrankungen,<br />
welche die Lebensqualität entscheidend<br />
beeinflussen können. Eine sehr rezente<br />
Studie von Jye Wang untersuchte verschiedene<br />
Faktoren geriatrischer Patienten in<br />
Bezug auf deren Einfluss auf die Aktivitäten<br />
<strong>des</strong> täglichen Lebens (ATL). Die Blaseninkontinenz<br />
konnte in drei voneinander<br />
unabhängigen Rating-Skalen als<br />
deutlich ATL-limitierend verifiziert werden.<br />
Die Reduktion der ATL-Fähigkeit<br />
durch Miktionsstörungen war wesentlich<br />
drastischer als zum Beispiel jene durch<br />
Depressionen. Nykturie, welche im Rahmen<br />
von Inkontinenz vorkommt, hat einen<br />
deutlichen Einfluss auf die Erholsamkeit<br />
<strong>des</strong> Nachtschlafes und daher auf die Tagesverfassung<br />
der Patienten. Hier hat das<br />
wieder-Einschlafen-können nach dem Toilettgang<br />
eine große Bedeutung. Patienten,<br />
welche ein Problem beim wieder-Einschlafen<br />
im Rahmen von Nykturie haben,<br />
weisen oft assoziierte Erkrankungen wie<br />
zum Beispiel Restless Legs Syndrom, pathologische<br />
Atemmuster oder periodische<br />
Beinbewegungen auf. Diese Patienten leiden<br />
mit und ohne einer dieser assoziierten<br />
Begleit erkrankungen unter Tagesmüdigkeit<br />
mit Reduktion der Tagesaktivitäten.<br />
Aufgrund der stigmatisierenden Wirkung<br />
von <strong>Harninkontinenz</strong> und dem damit<br />
verbundenen sozialen Rückzug ist es wichtig,<br />
den Patienten entsprechen zu beraten,<br />
um ihm auch die Angst vor Problemen mit<br />
seiner Erkrankung zu nehmen. Dazu gehört<br />
neben der ärztlichen Beratung auch<br />
entsprechen<strong>des</strong> Wissen im Bereich der<br />
pflegerischen Inkontinenzversorgung, da<br />
der Arzt die entsprechenden Pflegebehelfe<br />
verordnen muss. Bei der Verordnung und<br />
bei Kontrolluntersuchungen sollte diese<br />
Versorgung wiederholt angesprochen werden.<br />
Der Patient oder seine Betreuungsperson<br />
sollten dazu aufgefordert werden<br />
anzugeben, ob eine bereits verordnete Versorgung<br />
suffizient ist oder ob eine andere<br />
Lösung gefunden werden muss. Entsprechend<br />
muss man sich für ein solches Gespräch<br />
Zeit nehmen und dem Patienten<br />
und seinen Bezugspersonen eine Normalität<br />
im Umgang mit dem Thema der Miktionsstörung<br />
vorleben.<br />
Probleme der<br />
geriatrischen <strong>Harninkontinenz</strong><br />
Viele geriatrische Patienten halten ihre<br />
<strong>Harninkontinenz</strong> für einen Teil <strong>des</strong> natürlichen<br />
Alterungsprozesses. Sie haben<br />
Hemmungen darüber zu sprechen beziehungsweise<br />
können sie aufgrund, beeinträchtigter<br />
kognitiver Fähigkeiten nicht<br />
oder nur inadäquat darüber berichten.<br />
In der ärztlichen geriatrischen Betreuung<br />
sollte wiederholt die Kontinenzfähigkeit<br />
hinterfragt werden. Bei älteren pflegebedürftigen<br />
<strong>Menschen</strong> ist die Pflegeperson<br />
eine wichtige Schlüsselfigur. Im Rahmen<br />
der Multidisziplinarität um den geriatrischen<br />
Patienten sollen auch das Pflegepersonal/die<br />
Betreuer im Rahmen der Erhebung<br />
der ADLs nach dem Toilettverhalten<br />
befragt werden. Selbst wenn der Patient zu<br />
diesem Thema Angaben macht, so muss<br />
mit einem Nivellieren oder Verheimlichen<br />
von <strong>Harninkontinenz</strong> gerechnet werden.<br />
Dem soll durch einen entstigmatisierenden<br />
Umgang im ärztlichen Gespräch entgegengewirkt<br />
werden. Konservative und medikamentöse<br />
Empfehlungen sollten überprüft<br />
und im Bedarfsfall adaptiert werden. Ein<br />
weiterer Punkt der multidisziplinären Patientenbetreuung<br />
ist das Hinterfragen der<br />
Vormedikamente auf Inkontinenz verstärkende<br />
Nebenwirkungen beziehungsweise<br />
bei Verordnung eines urologischen Präparates<br />
die Wahl eines nebenwirkungsarmen<br />
Medikamentes.<br />
Depressive Verarbeitung und sozialer<br />
Rückzug können die Mobilität und die körperliche<br />
Fitness reduzieren – somit kann es<br />
zur Verschlechterung der Ausgangssituation<br />
kommen. Harnwegsinfekte sind ein<br />
möglicher Ausgangspunkt von Sepsis oder<br />
Bakteriämie mit potentiell letalem Ausgang<br />
bei einem immunseneszenten Patienten.<br />
Aufgrund der möglichen Folgen von<br />
<strong>Harninkontinenz</strong> ist die ständige gemeinsame<br />
interdisziplinäre Weiterentwicklung<br />
eines State of the Art von Diagnose,<br />
Therapie und Hilfsmaßnahmen, sowie<br />
eine entsprechende Prävention von Folgeerkrankungen<br />
und das individuelle Patientenmanagement<br />
aus dem Alltag der<br />
<strong>Harninkontinenz</strong> <strong>des</strong> geriatrischen Patienten<br />
nicht wegzudenken. <br />
•<br />
Literatur beim Verfasser<br />
Korrespondenz<br />
Dr. Sabine Urbanits, MSc<br />
Neurologische Abteilung, SMZ-Süd, Kaiser Franz Josef Spital<br />
Kundratstrasse 3, 1100 Wien<br />
Sabine.urbanits@wienkav.at<br />
Lecture Board<br />
Prof. Dr. Franz Böhmer, Graz<br />
Prim. Dr. Dieter Volc, Wien<br />
Prof. Dr. Iglseder, Salzburg<br />
Herausgeber<br />
Haus der Barmherzigkeit, Abteilung für neurologische Geriatrie<br />
und Rehabilitation, Seeböckgasse 30a, 1160 Wien<br />
focus neurogeriatrie © Springer-Verlag<br />
1-2/2009 29