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Raum 2 Das Onsernone

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2. Stock<br />

1.Stock<br />

EG<br />

Temporäre<br />

Ausstellungen<br />

(<strong>Raum</strong> 7)<br />

Strohindustrie<br />

(<strong>Raum</strong> 4)<br />

Transport und<br />

Kommunikation<br />

(<strong>Raum</strong> 3)<br />

Führer durch die Ausstellung<br />

Treppen<br />

Temporäre<br />

Ausstellungen<br />

(<strong>Raum</strong> 8)<br />

Strohindustrie<br />

(<strong>Raum</strong> 5)<br />

Geschichte und<br />

Religion<br />

(<strong>Raum</strong> 2)<br />

<strong>Raum</strong> 1<br />

Temporäre<br />

Ausstellungen<br />

(<strong>Raum</strong> 9)<br />

Künstler des<br />

<strong>Onsernone</strong>tals<br />

(<strong>Raum</strong> 6)<br />

Kasse<br />

Küche<br />

(<strong>Raum</strong> 1)<br />

Sie betreten das Museum durch die Wohnküche der casa De Giorgi. <strong>Das</strong> Haus wurde 1821 erbaut und<br />

diente nach der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur als Wohnhaus der Familie De Giorgi,<br />

sondern auch als Restaurant, Bäckerei und Laden. Geo De Giorgi schenkte das Elternhaus dem Museo<br />

<strong>Onsernone</strong>se, das es seit 1976 als Hauptsitz nutzt.<br />

Die ehemalige Wohnküche dient heute als Empfangsraum. Sie finden hier eine Fülle von Publikationen<br />

über das Valle <strong>Onsernone</strong>, seine Geschichte, seine Natur- und Kulturlandschaft sowie seine Bewohner;<br />

Informationen insbesondere auch zum Leben und Werk der vielen Künstler und Intellektuellen, die das Tal<br />

vorübergehend oder dauerhaft zur ihrem Refugium gemacht haben.<br />

Die Einrichtung dieser Wohnküche und die präsentierten Gegenstände vermitteln einen Einblick in den<br />

Haushalt einer <strong>Onsernone</strong>ser Familie des späten 19. Jahrhundert.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 1<br />

Eingang


<strong>Raum</strong> 2<br />

<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> - seine Siedlungen und Gemeinwesen<br />

(Appunti di Storia <strong>Onsernone</strong>se)<br />

Erste Siedlungen dürften auf die Römerzeit zurückgehen. Vom frühen Mittelalter bis ins<br />

19. Jahrhundert konstituierten sich die fünf Dorfgemeinschaften als „ Comune di<br />

<strong>Onsernone</strong>“. Sie wurde nach der Kantonsgründung 1803 von acht politischen<br />

Gemeinden abgelöst. Seit 1994 und zwei Fusionen umfasst das Valle <strong>Onsernone</strong> fünf<br />

Gemeinden: Isorno, Mosogno, <strong>Onsernone</strong>, Vergeletto und Gresso. Zurzeit wird deren<br />

Zusammenschluss zu einer politischen Einheitsgemeinde für das ganze Tal geprüft –<br />

eine „Comune di <strong>Onsernone</strong>“ der Moderne.<br />

Es ist zu vermuten, dass die ersten Siedlungen und einfachen Formen der Bewirtschaftung des Tales auf<br />

die Römerzeit zurückgehen. Ältestes Zeugnis ist ein römisches Grab aus der Zeit zwischen 98 und 161<br />

n.Chr.; es wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Gresso entdeckt.<br />

Gut dokumentiert, unter anderem mit einer Fülle von Pergamenten, ist die mittelalterliche Talgemeinschaft,<br />

die – ähnlich der Entwicklung in anderen Tälern des Alpenbogens – ihre lokale Selbstbestimmung<br />

gegenüber kirchlichen und weltlichen Feudalherren bewahrte und sich um die erste Jahrtausendwende als<br />

„Comune di <strong>Onsernone</strong>“ konstituierte. Diese Talgemeinde, umfassend die „Squadre“ von Loco, Berzona,<br />

Mosogno, Russo und Crana (nicht aber Auressio, das zu den Terre di Pedemonte gehörte), bestimmte mit<br />

ihren Institutionen (zum Beispiel deren Organen: Console, Congresso, Vicinanza) das Leben der<br />

<strong>Onsernone</strong>si bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.<br />

Mit der Gründung des Kantons Tessin (1803) traten acht bzw. ab 1882 neun politische Gemeinden<br />

(Einwohnergemeinden) offiziell an die Stelle der „Comune Grande“ oder „Comune Generale“, wie sie<br />

zuletzt genannt wurde: Auressio, Loco, Berzona, Mosogno, Russo, Crana, Comologno, Vergeletto-Gresso.<br />

Faktisch existierte die „Comune Grande“ als Bürgergemeinde noch jahrzehntelang weiter und hat als<br />

„Patriziato generale“ auch heute noch Bestand.<br />

Seit 1994 und nach zwei Fusionen umfasst das Valle <strong>Onsernone</strong> fünf politische Gemeinden: Isorno (mit<br />

den Dörfern Auressio, Loco und Berzona); Mosogno; <strong>Onsernone</strong> (mit den Dörfern Russo, Crana und<br />

Comologno); Vergeletto und Gresso. Zurzeit wird deren Zusammenschluss zu einer politischen<br />

Einheitsgemeinde für das ganze Tal geprüft – eine „Comune di <strong>Onsernone</strong>“ der Moderne.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

1 Urkunde (Pergament) vom 30. März 1228. Ältester schriftlicher Beleg für die Existenz der "Comune di<br />

<strong>Onsernone</strong>"<br />

2 März 1798: Die Eroberung der Freiheit und das Ende des Untertanen-Staates: Appell vom 6. März 1798,<br />

gerichtet an die <strong>Onsernone</strong>si, sich an der Aufrichtung des "Freiheitsbaums" in Locarno zu beteiligen.<br />

3<br />

� Statuten, Dekrete, Weisungen der „Comunità di Locarno“, 16.-17. Jahrhundert (links)<br />

� Reglement der Burgergemeinde des <strong>Onsernone</strong> (Nachfolgeorganisation der Comune Grande), 1862-1870<br />

(rechts)<br />

4 Protokollbuch der Gemeinde Loco, in dem die erste Versammlung des souveränen und gleichberechtigten<br />

Volkes von Loco erwähnt wird (13. März 1798), nach der neugewonnen Unabhängigkeit von den<br />

herrschenden Orten.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 2


<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> und San Remigio<br />

(Clodoveo, Remigio e il Luogo d’<strong>Onsernone</strong>)<br />

Die frühmittelalterliche Pfarrkirche von Loco, deren Ursprünge auf eine Zeit deutlich vor<br />

der Jahrtausendwende zurückgehen dürften, ist eine der ersten, die weit ab von der<br />

Mutterkirche San Vittore in Locarno-Muralto (aus dem 6. Jahrhundert) an peripherem Ort<br />

errichtet wurde. Die Kirche ist San Remigio geweiht, einem Heiligen aus dem<br />

Frankenland – was im Tessin selten und erklärungsbedürftig ist.<br />

Frühes Zeichen der Christianisierung einer Gemeinschaft war die Errichtung einer religiösen Kultstätte, die<br />

einem Heiligen geweiht wurde, dem besondere Bedeutung zukam für deren spirituelle Kultur. Die<br />

frühmittelalterliche Pfarrkirche von Loco, deren Ursprünge auf eine Zeit deutlich vor der<br />

Jahrtausendwende zurückgehen dürfte, ist eine der ersten, die weit ab von der Mutterkirche San Vittore in<br />

Locarno-Muralto (aus dem 6. Jahrhundert) an peripherem Ort errichtet wurde. Die Kirche ist San Remigio<br />

geweiht, einem Heiligen aus dem Frankenland, scheinbar weit weg von der religiösen Tradition und der<br />

politischen Situation des südlichen Alpenbogens und Norditaliens zur Zeit der Jahrtausendwende.<br />

Remigius (vermutlich 436 – 533) war ein aus gallo-römischem Adel stammender Bischof von Reims. Er<br />

wird als einer der grossen charismatischen Heiligen der Franken verehrt, bekannt vor allem durch die<br />

Taufe des Merowinger-Königs Chlodowig I. Als Apostel der Franken bezeichnet, gilt er als Wegbereiter<br />

des Christentums in Europa.<br />

Es ist eher selten, dass mittelalterliche Kirchen im Tessin Heiligen aus dem Fränkischen geweiht sind: S.<br />

Ilario in Bioggio und Balerna; S. Fiorenzo in Dongio; S. Leonardo in Robasacco; S. Martino in Malvaglia,<br />

Preonzo, Calonico und Ghirone; S. Remigio in Corzoneso und in Loco. Grösstenteils handelt es sich um<br />

Kirchen, die um 1200 erbaut wurden.<br />

<strong>Das</strong>s die Pfarrkirche von Loco, mit ihren wesentlich älteren Ursprüngen, San Remigio geweiht ist, ist<br />

rätselhaft. Es stellt sich die Frage, weshalb dieser Heilige im Locarnese bekannt war und welche<br />

Bedeutung seine Wahl als Schutzpatron der ersten Kirche im Tal gehabt haben könnte. Sicher ist es ein<br />

Beleg für einen wie immer gearteten kulturellen und spirituellen Austausch zwischen zwei geografisch weit<br />

entfernten Regionen, die damals Teil eines unter der Herrschaft Karl des Grossen vereinten Europas<br />

waren.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

5 Wetterfahne des Campanile der Pfarrkirche von Loco<br />

6 Remigius, Bischof von Reims, tauft den Merowinger-König Chlodowig (ca. 496 – 499). Verschiedene<br />

Darstellungen in der Pfarrkirche von Loco, die Remigius geweiht ist.<br />

7 Der Kirchgang nach Loco ist für die Berzoneser beschwerlich, wie die Darstellung deutlich macht. Sie<br />

beantragen dem Bistum unter Beilage dieser Skizze, eine selbständige Kirchgemeinde Berzona zu<br />

schaffen. 1768 werden die beiden Pfarrgemeinden getrennt<br />

8 Weihwasserbecken (Arzo-Marmor), aus dem "Oratorio della Santissima Trinità di Loco", erbaut zwischen<br />

1591 und 1612, abgebrochen 1856, heute Casa comunale e Scuola di Loco<br />

9 Reliquiar von San Giovanni da Nepomuceno, Oratorio di Niva, Ende XVIII Jahrhundert<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 3


<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> und seine Migranten<br />

(L’emigrazione: il caso onsernonese)<br />

Die sozioökonomischen und soziokulturellen Charakteristika des Valle <strong>Onsernone</strong> sind<br />

stark geprägt von der Migration, vom 15. bis ins 19. Jahrhundert vor allem als saisonale<br />

Emigration in die französischsprachigen Regionen und nach Norditalien im<br />

Zusammenhang mit dem Vertrieb der Strohwaren. Im 19. Jahrhundert nahm im Kontext<br />

der schwierigen sozialen und politischen Situation des Tales und dem schrittweisen<br />

Niedergang der Strohmanufaktur die dauerhafte Ab- und Auswanderung zu. Dies hat zur<br />

massiven Entvölkerung des Tales entscheidend beigetragen.<br />

Bereits im 15. Jahrhundert verliessen die Bewohner des Alpenbogens ihre Bergtäler in der Hoffnung, in<br />

den Städten oder in fremden Landen ihr Glück zu machen.<br />

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts handelte es sich vor allem um eine saisonale Emigration. Viele Täler und<br />

Regionen des Tessins spezialisierten sich auf bestimmte Destinationen der Migration oder auf bestimmte<br />

Erwerbssektoren: aus dem <strong>Onsernone</strong> kamen beispielsweise die Hutmacher, aus dem Bleniotal die<br />

Marronibrater, aus dem Sottoceneri die Stuckateure. Ziel der ersten Migranten war hauptsächlich Italien:<br />

anfänglich das Piemont und die Lombardei, dann Genua, Florenz, Rom und Neapel. Es fehlte aber auch<br />

nicht an denjenigen, die in die deutsche oder französische Schweiz gingen oder noch weiter nach Norden<br />

ins Rheinland, nach Flandern und sogar bis nach Russland.<br />

Die für das <strong>Onsernone</strong>tal verfügbaren Zeugnisse (mündliche und schriftliche Überlieferungen, Artefakte der<br />

materiellen und künstlerischen Kultur) machen deutlich, dass die saisonale Emigration der <strong>Onsernone</strong>si<br />

über die Jahrhunderte hinweg vor allem ausgerichtet war auf die französischsprachigen Regionen<br />

(Frankreich, Westschweiz), Flandern, das Piemont der Savoyer und die Toskana, was zu einem<br />

entsprechend intensivierten kulturellen Austausch mit diesen Gebieten führte.<br />

Im 17. Jahrhundert gaben Emigranten in Frankreich und Flandern bei lokalen Malern Bilder und Ex-voto in<br />

Auftrag, die sie dann nach Hause in die <strong>Onsernone</strong>ser Kirchen brachten, um damit ihre besondere<br />

religiöse Hingabe und Bindung an das Herkunftstal zum Ausdruck zu bringen. Zwei schöne Beispiele sind<br />

L’Ultima Cena von Godfried Maes (1683), unter nicht völlig bekannten Umständen in die Pfarrkirche von<br />

Loco gekommen, und la Pala della Pietà von Pierre Bergaigne (1691) im Oratorio della Beata Vergine<br />

Addolorata von Mosogno, in Auftrag gegeben von den Gebrüdern Ganzinotti, Kaufleute in Lille.<br />

Für das 18. und 19. Jahrhundert sind viele Einzelschicksale von Migranten belegt; Menschen aus<br />

einfachen oder wohlhabenden Familien, die aus unterschiedlichsten Motiven in der Emigration die Lösung<br />

ihrer Existenzsicherungsprobleme und/oder die Erfüllung ihrer Hoffnungen und Ziele sahen – und dies ab<br />

und zu auch mit beträchtlichem Erfolg. Die meisten von ihnen blieben dem Tal verbunden, viele kehrten<br />

auch zurück. Carlo Francesco Remonda (1761 – 1843) zog als Handwerker nach Bourges, liess sich von<br />

der französischen Armee anwerben und brachte es in Diensten von Napoleon bis zum General.<br />

Demgegenüber machte Tommaso Rima (1775 – 1843), aus einer gut gestellten <strong>Onsernone</strong>ser Familie,<br />

nach seinen Studien in Medizin mit Spezialisierung in Chirurgie Karriere als Universitätsdozent, Chefarzt<br />

renommierter Kliniken (z.B. Venedig) und Truppenarzt im italienischen Heer. Paolo Antonio Calzonio<br />

(1831 – 1900) aus Auressio hingegen wurde als Kaminfegerjunge nach Paris verbracht, fand dabei sein<br />

Glück (angeblich in Form von Goldmünzen in einem Kamin), macht sein Geld als Unternehmer in Paris,<br />

kehrte reich zurück ins Tal und wurde Tessiner Kantonsrat.<br />

Die saisonale Migration wurde, insbesondere nach dem Niedergang der Strohindustrie ab<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts, die dem Tal die ökonomische Basis entzog, abgelöst von einer eigentlichen<br />

Ab- und Auswanderungswelle. Dies war einer der Faktoren, die zur Entvölkerung des <strong>Onsernone</strong><br />

beitrugen. Ende des 17. Jahrhunderts bis anfangs des 19. Jahrhunderts lag die Bevölkerungszahl im<br />

Durchschnitt um 2'300 Personen; nach einem Maximum von 3'470 im Jahr 1870 sank sie rapid auf 1'730<br />

im Jahr 1941. Der Trend liess sich trotz verschiedener ökonomischer Stimulierungsprogramme nicht<br />

umkehren, die Industrialisierung des Tessins in den 50/60 Jahren bewirkte eine weitere<br />

Abwanderungswelle. Im Jahr 2009 hatte das Tal noch 797 Einwohner.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 4


Hinweise zu Exponaten<br />

10 Valenciennes, Ölbild, R.F. Mignon, 1707, Oratorio della Natività di Maria Vergine, Mosogno-Barione.<br />

Gestiftet Giovan Vannot (Giovanni Vanotti), emigriert nach Flandern<br />

11 Räume des Palazzo della Barca in Comologno, 1770 erbaut von Antonio Maria Remonda nach seiner<br />

Rückkehr aus der Emigration in Chartres<br />

12 Zeugnisse der Emigration nach Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />

13 Brief von Cel. (?) Bezzola, wohnhaft in Nevers FR, an G.A. Remonda, Vocaglia, Valle <strong>Onsernone</strong>, datiert<br />

19. August 1792: er schildert unter anderem die Erstürmung der Tuilerien (10. August 1792), der er als<br />

zufälliger Beobachter beiwohnte.<br />

14 Brief von Guglielmo Bezzola, Maler und Ofensetzer in Paris an Vater Mario Bezzola in Comologno: er<br />

schildert die Ereignisse der Julirevolution 1830, die zur Absetzung des absolutistischen Monarchen Karl X<br />

und zur Einsetzung des "Bürgerkönigs" Louis Philippe führten<br />

15 Wahl- und Abstimmungsurne mit verschieden farbigen Bohnen<br />

16 Pietà e storia della Passione di Cristo, Ölbild, 500 x 250, Pierre Bergaigne, 1691, Oratorio della Beate<br />

Vergine Immacolata, Mosogno di Sotto. Gestiftet von den Gebrüdern Giacomo e Giuseppe Ganzinotti,<br />

Kaufleute in Lille<br />

17 L'ultima cena, Ölbild, 280 x 220, Gottfried Maes, 1683, Pfarrkirche San Remigio von Loco (Stifter und<br />

Umstände nicht bekannt)<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 5


<strong>Raum</strong> 3<br />

<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> und seine Grenzen<br />

(La questione dei confini con l’Italia: nel 1807 l’<strong>Onsernone</strong> perde definitivamente la Valle dei Bagni di<br />

Craveggia)<br />

Die <strong>Onsernone</strong>si sicherten ihre Existenz während Jahrhunderten vor allem gestützt auf<br />

ihre Strohmanifaktur, - der agropastoralen Subsistenzwirtschaft kam untergeordnete<br />

Bedeutung zu. Zu diesem Zweck nutzten die Talleute das Siedlungs- und Kulturland an<br />

den Talflanken (inklusive den sogenannten Monti), die Nutzungs- und Eigentumsrechte<br />

an ihren Alpen überliessen sie weitgehend den Nachbarn. Dies führte immer wieder zu<br />

Konflikten, die sich bisweilen zu Grenzstreitigkeiten ausweiteten. Beispiel dafür sind die<br />

Alpen des Valle dei Bagni di Craveggia (wo der <strong>Onsernone</strong> bzw. der Isorno entspringt),<br />

ein Tal, das die <strong>Onsernone</strong>si anfangs des 19. Jahrhunderts an Italien verloren.<br />

Natürliche und politische Grenzen waren und sind zu jeder Zeit und überall immer wieder Gegenstand von<br />

Auseinandersetzungen und Konflikten - auch im <strong>Onsernone</strong>tal.<br />

Historisch sind im <strong>Onsernone</strong> zwei Formen des Eigentums beziehungsweise der Nutzung von Grund und<br />

Boden zu unterscheiden: <strong>Das</strong> Siedlungs- und Kulturland an den Talflanken und -terrassen, wo sich die<br />

Dörfer und Maiensässe befanden und befinden, war im Besitz der <strong>Onsernone</strong>si und wurde von diesen<br />

einerseits genutzt für die Produktion der Güter des Alltagsbedarfs (Wein- und Obstkulturen,<br />

Kastanienhaine, Heuwiesen etc.) anderseits zur Anpflanzung von Roggen als Rohprodukt für die<br />

Strohmanufaktur. Die Alpen, die in den Sommermonaten bestossen wurden, waren grösstenteils im Besitz<br />

(mit Nutzungsrechten oder zu Eigentum) fremder Talgemeinschaften, z.B. Centovalli oder Craveggia, oder<br />

gehörten einzelnen vermögenden Familien, wie den Notablen Orelli von Locarno.<br />

Diese Eigentums- und Nutzungsverhältnisse mögen auf den ersten Augenblick erstaunen, sind aber<br />

erklärbar vor dem Hintergrund der ökonomischen Realitäten, die das <strong>Onsernone</strong> bis Ende des 19.<br />

Jahrhunderts geprägt haben: Die <strong>Onsernone</strong>si lebten von der Strohmanufaktur und konzentrierten ihre<br />

Kräfte, nebst der agropastoralen Subsistenzwirtschaft, auf die Produktion und den Vertrieb von Strohwaren<br />

(z.B. Hüte) im Rahmen der saisonalen Migration. Die Nutzungs- und häufig auch Eigentumsrechte der<br />

Alpen überliessen sie Fremden.<br />

Aus dieser Konstellation erwuchsen mannigfaltige Konflikte um Alprechte auf dem Gebiet des<br />

<strong>Onsernone</strong>tals, die sich bis zu Grenzstreitigkeiten ausweiten konnten.<br />

Historisch jüngstes Beispiel ist das Valle dei Bagni di Craveggia, wo der <strong>Onsernone</strong> beziehungsweise der<br />

Isorno entspringt, topographisch und bis 1807 auch politisch Teil des Valle <strong>Onsernone</strong>. Die zahlreichen<br />

Alpen dieses Tales wurden seit Jahrhunderten von den Bewohnern des Val Vigezzo bestossen und von<br />

den <strong>Onsernone</strong>si solange wenig beachtet, als sie nicht durch faktische und vermeintliche Übergriffe der<br />

Nachbarn dazu gezwungen wurden. Ende des 19. Jahrhunderts eskalierte wieder einmal ein derartiger<br />

Nachbarschaftskonflikt mit den Leuten von Craveggia und artete zu einem veritablen Grenzkonflikt aus, der<br />

im Rahmen der napoleonischen „Bereinigung der europäischen Landkarte“ zu Ungunsten der Schweiz<br />

beigelegt wurde. Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen der (napoleonischen) Schweiz und dem<br />

napoleonischen Königreich von Italien wurde am 15. Juli 1807 beim Oratorio dei Bagni di Craveggia eine<br />

Schlussvereinbarung unterzeichnet, bekannt als Convenzione d’Acqua calda, die den definitiven Verzicht<br />

auf das Valle dei Bagni bedeutete.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

1 Gebiet in den Valle dei Bagni di Craveggia (grün), das 1807 an Italien abgetreten werden musste<br />

2 Dokument des Kleinen Rats des Kantons Tessin (heute Regierungsrat), datiert Juli 1805, betreffend die<br />

Grenzstreitigkeiten mit Italien<br />

3 Fremde im Tal. Rechtsfälle und Massnahmen gegen Fremde, deren Anwesenheit auf und deren Zutritt zu<br />

schweizerischem Territorium:<br />

� Dokument zu einem Rechtsstreit in Russo 1754, betroffen ist eine in Russo ansässige Familie aus<br />

Craveggia.<br />

� Weisung des Regenten der „Magnifica Comunità di Locarno“, der alle „Schmarotzer” aus dem<br />

Hoheitsgebiet verbannt. Diese Anordnung wurde an der Versammlung der „Vicinanza delle Quattro Terre<br />

(Comologno) am 13. März 1785 verlesen.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 6


<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> und die Aufklärer<br />

(Illuministi in <strong>Onsernone</strong>)<br />

Ende des 18. Jahrhunderts bereisten Hans Rudolf Schinz als Sekretär des Landvogts<br />

von Locarno und Karl Viktor von Bonstetten als Syndikator und Gesandter der Republik<br />

Bern das Tal und beschrieben es aus ihrer aufklärerischen Sicht. Mit ihren nach wie vor<br />

lesenswerten Schriften vermitteln sie einen äusserst interessanten Eindruck von Natur<br />

und Kultur des Tales zur Zeit des revolutionären Umbruchs, kurz vor dem<br />

Zusammenbruch der „Alten Ordnung“ und der Gründung des Kantons Tessin.<br />

Hans Rudolf Schinz (1745 – 1790)<br />

In Zürich geboren und aufgewachsen, war er geprägt von bekannten Persönlichkeiten der Zürcher<br />

Aufklärung wie Bodmer, Lavater, Füssli, Hirzel. Im Geiste Rousseaus interessierte er sich schon früh für<br />

Natur und Landschaft und hatte bereits als 18-jähriger zu Fuss eine Rundreise durch die Schweiz<br />

absolviert. Nach dem Theologiestudium beschäftigte er sich mit Landwirtschaftsreformen (Kleinjogg),<br />

vertrat die politischen Visionen der Aufklärung und hegte durchaus auch revolutionäre Sympathien.<br />

Für das Biennium 1770-1772 wurde Johann Ludwig von Meiss zum Landvogt in Locarno gewählt, sein<br />

Freund Hans Rudolf Schinz folgte ihm als Sekretär. So hatte er Gelegenheit, in offizieller Mission die<br />

Tessiner Vogteien intensiv zu bereisen. Gestützt auf Fragenkataloge beobachtete und erkundete er<br />

verschiedensten Bereiche und sammelte sorgfältig entsprechende geographische, geologische,<br />

ökonomische, soziale, politische und religiöse Daten. Diese „Feldarbeit“ bildete die Basis für seine<br />

Reiseberichte und seine vielschichtige Beschreibung und Bewertung des Zustandes von Land und Leuten<br />

in den Tessiner Vogteien. Sein aufklärerisch-reformerisches Ziel war es, dem Souverän (d.h. den<br />

eidgenössischen Orten) die Grundlagen zu liefern für eine „vernünftige“ Gesetzgebung und „väterliche“<br />

Verwaltung zum Wohle der Untertanen in den ennetbirgigen Vogteien. Gastgeber und Vertrauenspersonen<br />

im <strong>Onsernone</strong> waren don Paolo Antonio Broggini von Loco (casa Broggini in Rossa) und don Carlo Maria<br />

Remonda von Russo. Seine Schriften wurden publiziert in den Heften „Beyträgen zur näheren Kenntnis<br />

des Schweizerlandes“ (1783-1784).<br />

Karl Viktor von Bonstetten (1745 – 1832)<br />

In Bern als Spross einer Burgerfamilie geboren, studierte er in Yverdon und Genf und lernte in jüngeren<br />

Jahren nebst der Schweiz halb Europa und die wichtigsten Figuren des europäischen Kulturlebens (z.B.<br />

Voltaire, de Saussure, Diderot, D’Alambert, Mme de Staël) der damaligen Zeit kennen. Nach dem Tod<br />

seines Vaters wurde er Mitglied des Burgerrats von Bern und Vogt von Nyon.<br />

In den Jahren 1795, 1796 und 1797 bereiste er als Syndikator und Gesandter Berns in offizieller Mission<br />

die Tessiner Vogteien.Im September 1776 und 1797 besuchte er das <strong>Onsernone</strong> und war Gast von don<br />

Carlo Maria Remonda.<br />

Die Ergebnisse seiner Tessiner Reisen, interessante Beobachtungen und pointierte Einschätzungen aus<br />

der Sicht eines aufgeklärten Burgers, publizierte er als „Briefe über die italienischen Aemter Lugano,<br />

Mendrisio, Locarno, Valmaggia“ (in Neue Schriften, III-IV, Kopenhagen 1800-01). Er beklagt in seinen<br />

Schriften die Rückständigkeit von Land und Leuten in den Tessiner Vogteien, die er der weit verbreiteten<br />

Unwissenheit und Ignoranz zuschreibt. Folgerichtig betont er die Notwendigkeit der Volksbildung und setzt<br />

sich mit aller Deutlichkeit vor allem für eine breit zugängliche Elementarbildung ein. Zudem wendet er sich<br />

gegen eine rückständige Kirche und fordert, dass aufgeklärte Pfarrer sich auch für das irdische<br />

Alltagsleben einsetzten.<br />

Im <strong>Onsernone</strong> stiess von Bonstetten auf revolutionäres Gedankengut, vermutlich von Emigranten aus<br />

Frankreich importiert, das er deutlich missbilligte: „Der Einfluss der französischen Revolution verdirbt Moral<br />

und Sitten der <strong>Onsernone</strong>si vollständig; weil diese Talleute von Zeit zu Zeit nach Frankreich gehen und<br />

Französisch verstehen, die jakobinischen Gebräuche sind wie massgeschneidert für ihre Ungehobeltheit, ihre<br />

Eifersucht, ihre Rachsucht. Sie haben die Taktik der Volksversammlungen erlernt, um das Volk zu berauben;<br />

jede Form von Autorität ist für sie Tyrannei; sie verhöhnen die Religion. Die besten Geistlichen wurden abgesetzt<br />

und an ihrer Stelle wählte das Volk die niederträchtigsten.“ (rückübersetzt aus dem Italienischen)<br />

Von Bonstetten kritisiert aber genauso scharf das Herrschafts- und Verwaltungssystem in den italienischen<br />

Vogteien: „… eine Schule der Korruption und der Unmoral für die Kantone, die diese dann nach Hause bringen<br />

und so die ganze Schweiz verseuchen.“ (rückübersetzt aus dem Italienischen)<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 7


<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> - seine Verkehrswege und Transportmittel<br />

(Le vie di comunicazione e di trasporto)<br />

Bis ins 18. Jahrhundert wurde das Tal ausschliesslich durch Fusswege erschlossen.<br />

Sämtliche Güter mussten auf dem Rücken der Menschen (d.h. vor allem der Frauen)<br />

transportiert oder auf dem Isorno geflösst werden. Mit dem 1771 eröffneten Saumpfad<br />

(mulattiera) konnten auf der Hauptachse nach Intragna Maulesel, Maultiere oder Pferde<br />

für den Personen- und Warentransport eingesetzt werden – eine Verbesserung, von der<br />

allerdings nur der Handel und Privilegierte (Amtspersonen, Geistliche etc.) profitieren<br />

konnten. Auf eine befahrbare Strasse mussten die <strong>Onsernone</strong>si lange warten. Ein erstes<br />

Teilstücke der Talstrasse wurde Mitte des 19. Jahrhunderts eröffnet, fertiggestellt bis<br />

Spruga und Vergeletto wurde sie erst 1886.<br />

Die Transportmittel<br />

(I mezzi di trasporto)<br />

Während Jahrhunderten wurden die Waren ausschliesslich auf dem Rücken ins Tal und aus dem Tal<br />

transportiert – und dies vor allem von den Frauen.<br />

Der Bau des Saumpfades (mulattiera) 1768-1771 änderte an dieser Situation wenig, da es das Privileg<br />

einiger weniger Händler war und blieb, ihre Waren auf dem Rücken von Muli zu transportieren. Nur wenige<br />

konnten sich den Luxus erlauben, mit Maultier, Maulesel oder Pferd zu reisen – vor allem Fremde,<br />

Amtspersonen oder Geistliche.<br />

Auch der Postverkehr erfolgte zu Fuss, nicht weiter als bis Russo. Die Briefpost wurde dreimal pro Woche<br />

verteilt.<br />

Die traditionelle Waldbewirtschaftung war seit je und bis zur Eröffnung der Fahrstrasse darauf<br />

angewiesen, ihr Schlagholz – lange Lärchen- und Tannenstämme – auf dem Isorno zu flössen.<br />

Ab 1870 wurden die ersten „Seile“ („fili a sbalzo“) für den Transport von Heu und Holz von den „Monti“ in<br />

die Talsiedlungen installiert. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Bewirtschaftung der Monti nach und<br />

nach aufgegeben, die „fili a sbalzo“ verloren ihre Funktion und die Helikopter hielten ab den 70er Jahren<br />

auch im <strong>Onsernone</strong> Einzug – die Seile wurden gekappt. Aufmerksame Wanderer können in unwegsamem<br />

Gelände auf Reste dieser Zeitzeugen stossen.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

4 Filo a sbalzo<br />

� Stück eines Eisenkabels für Heu- und Holztransport<br />

� Anhängehaken mit Strick<br />

� Laufrolle<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 8


Die Verkehrswege<br />

(Le vie di comunicazione)<br />

Wann, wo und wie die ersten Kolonisatoren ins Tal gelangt sind, wissen wir nicht. Bis ins 18. Jahrhundert<br />

waren die Talbewohner jedenfalls auf ein Netz von Trampelpfaden und Fusswegen angewiesen. Einer<br />

dieser Wege führte ins Centovalli (la via Mosogno-Comino), ein anderer erreicht auf der rechten Talseite<br />

(la via delle Vose) Intragna und Ascona.<br />

Die Bevölkerungszunahme, die zunehmende Bedeutung der Weidwirtschaft und vor allem der<br />

Strohmanufaktur gaben 1768 den Anstoss dazu, einen Saumpfad zu bauen, der das Tal mit Intragna<br />

verbindet. Die Abnahme und offizielle Eröffnung erfolgte am 23. Juli 1771. Investitionen für den Ausbau<br />

und die Verbesserung dieses Saumweges, der alle Orte und Ortsteile miteinander verband, wurden von<br />

Emigranten mitfinanziert, beispielsweise von Francesco Xaverio Moschini von Russo, Nicola Garbani,<br />

wohnhaft in Rom, und Guglielmo Maria Remonda, Erbauer der „Casa della Barca“ in Comologno.<br />

Die Grenzen dieses „archaischen“ Transportweges wurden zunehmend zum Problem. Ohne Fahrstrasse<br />

konnten grössere und schwerere Güter nicht befördert werden und der Transport der Verkaufsgüter (z.B.<br />

der Strohmanufaktur) und der Konsumgüter war ausserordentlich kostspielig. Die Forderung der<br />

<strong>Onsernone</strong>si, eine befahrbare Talverbindung zu bauen, wurde anfangs des 19. Jahrhunderts immer lauter,<br />

blieb aber lange Zeit unerhört. Der junge Kanton Tessin war mit dem Ausbau seiner Verkehrswege völlig<br />

überfordert und konzentrierte sich vorerst auf die Hauptachsen, d.h. vor allem die Gotthardstrasse.<br />

<strong>Das</strong> erste Stück der Talstrasse von Cavigliano bis Russo, wurde erst 1849 in Angriff genommen und am<br />

20. Oktober 1852 eingeweiht. 1862 wurden die Arbeiten mit dem Bau des Ponte Oscuro und dem<br />

Strassenstück bis Spruga fortgesetzt. 1867 konnte der Abschnitt bis Vergeletto fertiggestellt werden,<br />

während die Abzweigung nach Gresso erst 1886 realisiert wurde. Anfangs des 20. Jahrhunderts wurde der<br />

Abschnitt zwischen Cresmino und Auressio neu gebaut, seither entspricht die Streckenführung der<br />

heutigen Kantonsstrasse. Die alte Strasse zwischen Cresmino und Auressio (ca. 100 m tiefer gelegen) ist<br />

gut erhalten und begehbar.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

5 Langholzwagen auf der Piazza von Russo (drei Fotografien)<br />

6 Zwei Kutschen in Mosogno, anfangs 20. Jahrhundert<br />

7 Blick von Osten auf die Piazza von Russo<br />

8 Pferdeschlitten der Post<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 9


<strong>Raum</strong> 4<br />

<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> und seine Strohmanufaktur<br />

(Industria della Paglia)<br />

Die Strohindustrie ist eine Besonderheit des Valle <strong>Onsernone</strong>, die ihm in vielerlei Hinsicht<br />

eine Sonderstellung verleiht, ein Unikum in den lombardischen Alpen. Während<br />

Jahrhunderten war das <strong>Onsernone</strong> nebst Wohlen im Kanton Aargau das Zentrum der<br />

Strohindustrie der Schweiz, mit durchaus europaweiter Ausstrahlung. Den <strong>Onsernone</strong>si<br />

ist es seit dem 16. Jahrhundert bis gegen Ende des 19. Jahrhundert gelungen, die<br />

gesamte Produktions- und Vertriebskette vom Anbau des Rohstoffes bis zum Verkauf<br />

der Endprodukte (Hüten, Taschen etc.) mit ihren eigenen Ressourcen zu entwickeln,<br />

voranzutreiben und zu kontrollieren. Die intensiven Handelsbeziehungen, - die<br />

<strong>Onsernone</strong>si waren auf vielen Märkten im Piemont, in der Lombardei, in Flandern, in<br />

Frankreich und in der französischen Schweiz mit ihren Strohprodukten präsent, - führten<br />

zu einem regen Kulturaustausch. Die Strohmanufaktur hat das <strong>Onsernone</strong><br />

sozioökonomisch und soziokulturell nachhaltig geprägt.<br />

Die <strong>Onsernone</strong>si haben ihre Kräfte voll auf diesen Erwerbszweig konzentriert; er hat ihrem Tal<br />

phasenweise grossen Reichtum beschert. Der agropastorale Subsistenzwirtschaft kam unterordnete<br />

Bedeutung zu. In die Produktion und den Vertrieb waren alle involviert: sie sorgten für den Anbau und die<br />

Verarbeitung des Roggens, die Frauen verflochten den Roggenstroh zum Zwischenprodukt, der<br />

sogenannten binda, die Kinder säuberten die Strohgeflechte, die Männer vernähten die binda zu Hüten und<br />

anderen Endprodukten und vertrieben die Ware im Rahmen der saisonalen Migration auf den<br />

verschiedenen nationalen und europäischen Märkten.<br />

Organisiert und finanziert wurde das Ganze in zunehmendem Masse von einigen Patrizierfamilien, die<br />

darauf ihren Reichtum und ihren politischen und kulturellen Einfluss aufbauten. Davon zeugen einerseits<br />

die herrschaftlichen Häuser, die im 17. und 18. Jahrhundert in verschiedenen Dörfern erbaut wurden,<br />

andererseits die wertvollen Sakralgeräte und Gemälde einzelner Kirchen. Die intensiven<br />

Handelsbeziehungen, - die <strong>Onsernone</strong>si waren auf vielen Märkten im Piemont, in der Lombardei, in<br />

Flandern, in Frankreich und in der französischen Schweiz mit ihren Strohprodukten präsent, - führten zu<br />

einem regen Kulturaustausch.<br />

Die kleinen Leute konnten sich auf dieser Basis ihre Existenz sichern, gerieten aber auch oftmals in<br />

auswegslose Abhängigkeit von den „Strohbarone“. So waren die Marktfahrer oftmals gezwungen, ihre<br />

Ware den Strohherren auf mit Hypotheken abgesicherten Krediten abzukaufen – was in vielen Fällen zu<br />

übermässigen Verschuldungen und einer Zersplitterung des Eigentums an Häusern, Grund und Boden<br />

führte.<br />

Vor allem im 19. Jahrhundert resultierten daraus unterschiedlichste soziale und politische Spannungen,<br />

Konflikte zwischen einflussreichen Familien, sozialen Gruppierungen und Schichten, die nicht selten auch<br />

gewaltsam ausgetragen wurden.<br />

Der Niedergang der Strohindustrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts war für das <strong>Onsernone</strong> von<br />

einschneidender Bedeutung, der Anfang eines grundlegenden sozioökonomischen und soziokulturellen<br />

Transformationsprozesses, der durch die Industrialisierung eine weitere Beschleunigung erfuhr und dessen<br />

Ende noch nicht absehbar ist. Neues ermutigendes Element in diesem Prozess ist seit dem Beginn des 20.<br />

Jahrhunderts die Immigration von Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund, die im <strong>Onsernone</strong> ihren<br />

periodischen oder permanenten Zufluchtsort gefunden haben, angezogen von einem Tal, das abseits von<br />

urbanen Zentren seine Stille und Ruhe, den ganz besonderen Zauber von Natur und Kultur zu bewahren<br />

vermochte.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 10


Ursprünge<br />

(Le origini)<br />

Diese Technik der Strohverarbeitung hat ihren Ursprung vermutlich in der Toskana, wo Ende des 13.<br />

Jahrhunderts die Herstellung von Strohhüten dokumentiert ist.<br />

Erste Hinweise auf derartige Aktivitäten im <strong>Onsernone</strong> gehen auf das 16. Jahrhundert zurück. Für anfangs<br />

den 17. Jahrhunderts ist der Export von Hüten und Geflechten aus Stroh auf dem Seeweg in Richtung<br />

Lombardei und Piemont belegt.<br />

Im 18. Jahrhundert war die Produktionsmenge offenbar bereits sehr beträchtlich. Belegt wird dies durch ein<br />

Dokument, in dem festgehalten ist, dass am 15. März 1757 vier Händler von Loco versuchten, mit 44<br />

Trägern 10'000 Strohhüte nach Italien zu schmuggeln.<br />

Die Strohindustrie des Valle <strong>Onsernone</strong> wurde für das Locarnese zu einer neuen Einkommensquelle, die<br />

den Niedergang der Olivenölproduktion kompensierte und in ihrer Bedeutung der Seidenindustrie des<br />

Luganese vergleichbar war.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

1 Fresco im vorchristlichen Baptisterium von Riva San Vitale. "Wenn es regnet schützen sie sich mit<br />

einem kurzen Mantel aus Roggenstroh, den sie um den Hals schnüren und um den Körper wickeln und<br />

der das Wasser abweist" (V. Schinz)<br />

2 Heumonat. Wandmalerei in Mesocco, Santa Maria del Castello, Ende 15. Jahrhundert<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 11


Vom Roggen zum Strohgeflecht<br />

(Dalla segale alla treccia)<br />

Rohstoff der Strohmanufaktur war der Roggen, der auf den unzähligen rund um die Dörfer angelegten<br />

terrassierten Feldern angebaut wurde. Die Wintersaat ergab Roggen mit einer Halmlänge von circa 1.80 m,<br />

die Frühjahrssaat hingegen erreichte eine Höhe von knapp einem Meter. Wichtigstes Produkt war der<br />

Halm, deshalb liess man den Roggen nicht vollständig ausreifen. Am besten war die Qualität dann, wenn<br />

die Pflanze begann, sich gelblich zu verfärben.<br />

Die Strohhalme wurden gebleicht, indem man sie zuerst mehrere Male in einem Brunnen oder einem Bach<br />

einweichte und sie dann auf den Wiesen unter der Sonne zum Bleichen ausbreitete. In der Folge legte man<br />

sie für einen weiteren Bleichprozess in Truhen, durch die schwefliger Rauch strömte, erzeugt von<br />

Schwefelstücken, die auf Glut verbrannt wurden.<br />

Für die verschiedenen Geflechtarten wurden Strohhalme von unterschiedlichem Durchmesser benötigt.<br />

Spezielle Siebe (discernitt) ermöglichten es, die verschieden dicken Strohhalme auszuscheiden.<br />

In einem nächsten Arbeitsschritt wurden die Halme von den Frauen zu unterschiedlichen Geflechten (binda<br />

oder treccia) verflochten, unter Verwendung einer unterschiedlichen Zahl von Halmen (von 3 bis 11) und in<br />

unterschiedlicher Grösse. Als letztes wurden die Geflechte von überstehenden Anfangs- und Endstücken<br />

der Halme gesäubert und gemangelt, d.h. durch spezielle Pressgeräte mit Holzrollen (mangano) gedreht.<br />

Zusammenrollt in Knäuel war die binda schlussendlich bereit für die Endverarbeitung zu Hüten, Taschen<br />

etc.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

3 Ähren und Internodien des Roggenstrohs werden geschnitten<br />

4 Bleichen des Strohs:<br />

� Truhe (Lärche), in der das Stroh im Schwefelrauch gebleicht wurde<br />

� Tongefäss, in dem Schwefelstücke verbrannt wurden<br />

5 Brett mit 12 unterschiedlich kalibrierten Sieben zur Selektion von Strohhalmen nach Durchmesser<br />

6 Behälter mit 10 Kalibermassen zur Selektion von Strohhalmen nach Durchmesser<br />

7 Gerät (Lärche) zur Selektion von Strohhalmen nach Durchmessern mit auswechselbaren Kalibermassen<br />

8 Schere (Eisen), zum Ausputzen der frisch geflochtenen "Binda"<br />

9 Unterschiedlicheste Formen von Strohbändeln („treccia“ oder „binda“ genannt)<br />

10 Mangel mit drei Rollen (Lärche und Nussbaum) zum Pressen der "Binda"<br />

11 Haspel zum Aufwickeln der "Binda" oder "Treccia"<br />

12 Messen und Abrechnen<br />

- Messgeräte (links)<br />

- Rechnungsführung von Heimarbeiterfamilien (rechts)<br />

13 Kaufverträge<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 12


Strohprodukte<br />

(I prodotti della paglia)<br />

<strong>Raum</strong> 5<br />

<strong>Das</strong> Vorrecht der Herstellung von Strohhüten gehörte seit je den Männern. Die Strohgeflechte wurden bis<br />

1878 von Hand vernäht, dann hielten die ersten Nähmaschinen ihren Einzug. Ab 1870 wurden die ersten<br />

Bügelmaschinen eingesetzt.<br />

Anfänglich stützte sich die Strohverarbeitung auf die Familien als Produktionsgemeinschaften, unterstützt<br />

von Korporationen, die ihre Interessen vertraten und gleichzeitig die Qualität der Produkte garantierten.<br />

In den Wintermonaten trafen sie sich in Privaträumen, genannt stüe. In den Phasen der saisonalen<br />

Emigration begaben sie sich als Angestellte oder Verwalter von kleinen Produktionsläden ins Ausland.<br />

Die ersten Manufakturen entstanden im Tal gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurden auch<br />

im Kanton Genf entsprechende Betriebe eröffnet. Die Gründung dieser Manufakturen begünstigte nützliche<br />

Handelsbeziehungen mit aargauischen und freiburgischen Strohfabriken.<br />

Die Produkte waren vielfältig und folgten der modischen Nachfrage.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

1 Frauen von Comologno und Spruga in Loco auf dem Weg zum Markt (1906)<br />

2 Nadel zum Herstellen von Strohgeflechten (z.B. für Stühle)<br />

3 Nähmaschine zum Vernähen der "Binda" zu Strohhüten<br />

Handel und Vertrieb<br />

(Il commercio)<br />

Nebst dem Verkauf von Tür zu Tür war der Markt zentraler Vertriebsweg für die <strong>Onsernone</strong>ser<br />

Strohprodukte:<br />

Auf dem Markt von Russo am Mittwoch und auf demjenigen von Loco am Dienstag wurden von den<br />

Strohflechterinnen vor allem die treccia an Grossisten, Hutmacher und manchmal auch an Händler von<br />

außerhalb des Tessins verkauft. Die Hutmacher verkauften ihre Produkte auf den Märkten und<br />

Jahrmärkten des ganzen Tessins und Norditaliens, vor allem des Piemonts.<br />

Die Strohhüte des <strong>Onsernone</strong>, insbesondere die exquisiten Modelle, wurden auch in spezialisierten<br />

Geschäften in den wichtigsten schweizerischen Städten verkauft.<br />

Die Strohprodukte des <strong>Onsernone</strong> erhielten auf nationalen und internationalen Märkten Preise für ihre<br />

Qualität, so dass große Mengen auch nach Frankreich, Italien, Deutschland und Amerika exportiert werden<br />

konnten.<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Zugang zu den ausländischen Absatzmärkten durch prohibitive Zölle<br />

(z.B. im Rahmen von Handelskriegen mit Italien) zunehmend erschwert. Die zahlreichen Bittschreiben an<br />

die eidgenössischen, französischen und italienischen Behörden führten zu keinerlei Verbesserungen. So<br />

trug auch die unüberwindbare Zollschranke zum Niedergang der Strohindustrie im <strong>Onsernone</strong>tal bei.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

4<br />

� Zolltarife für Strohprodukte (links)<br />

� Briefpapier und Visitenkarte der "Manufacture de Chapeaux et Tresses de Paille" Schira Frères, Loco (Mitte)<br />

� Rechnungen der Manufaktur Chiesa frères (rechts)<br />

5 Buchhaltung der <strong>Onsernone</strong>ser Strohmanufaktur AG<br />

6 Statuten der Aktiengesellschaft "Strohmanufaktur <strong>Onsernone</strong>", von der Generalversammlung verabschiedet<br />

am 28.01.1872<br />

Aktie der "Strohmanufaktur <strong>Onsernone</strong>" à Fr. 50.-, ausgestellt am 1.3.1872 auf Contorbia Angelo<br />

Entwurf eines Reglements der <strong>Onsernone</strong>ser Sparkasse für die Industrie, den Handel und die<br />

Landwirtschaft. Ziel der Kasse ist die Kapitalbeschaffung für die Strohmanufaktur<br />

Pass von Giacomo Chiesa, geboren in Loco, 68jährig, Strohhutmacher, für die Reise ins Piemont,<br />

ausgestellt 9. März 1854<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 13


Politik, Hüte und Prügeleien<br />

(Politica, capelli e botte)<br />

Mit der Niederlage Napoleons bei Waterloo bekamen die konservativen Kräfte in Europa Auftrieb und<br />

läuteten die Epoche der „Restauration“ ein, die im neu gegründeten Kanton Tessin repräsentiert wurde<br />

durch das tyrannische Regime der „Landamani“ (1815 – 1830).<br />

In dieser Zeit etablierte sich im Valle <strong>Onsernone</strong> eine lokale Oligarchie, die ihre wirtschaftlichen und<br />

politischen Interessen mit allen verfügbaren Mitteln durchsetzte und das Gemeinwesen zu diesen Zwecken<br />

instrumentalisierte. Konsequenz waren politische, soziale und ökonomische Konflikte, die allzu häufig<br />

Macht- und Gewaltmitteln ausgetragen wurden. Dies hat das Alltagsleben der <strong>Onsernone</strong>si während des<br />

ganzen 19. Jahrhunderts nachhaltig und mit teilweise verheerenden Konsequenzen geprägte. Erste<br />

Repräsentanten dieser Oligarchie waren die Familien der Chiesa „Migiotin“ und der Rusca.<br />

Mit der „liberalen Revolution“ von 1839 kamen andere Familien an die Macht, Schira „Taroch“ und<br />

Mordasini, die eine ebenso unheilvolle ökonomische und politische Hegemonie errichteten. Sie<br />

usurpierten und monopolisierten die gesamte Strohmanufaktur, beuteten die übrigen im Produktions- und<br />

Vertriebsprozess beteiligten kleinen Leute aus und entzogen ihnen ihre bisher als passabel erachteten<br />

materiellen Lebensgrundlagen.<br />

Damit war das 19. Jahrhundert im Valle <strong>Onsernone</strong> geprägt von unzähligen gewaltsamen Konflikten<br />

zwischen den um Vorherrschaft ringenden Familien, die unterschiedlichen politischen Lagern (Liberale und<br />

Radikale) angehörten, von Ausbeutung und Unterdrückung kleiner Leute, freiwilliger Abwanderung und<br />

erzwungener Emigration. All dies trug bei zum soziokulturellen und sozioökonomischen Niedergang des<br />

Tales.<br />

Hinweise zu Exponaten<br />

7 Hinweise auf politische und soziale Ereignisse und Konflikte im <strong>Onsernone</strong> des 19. Jahrhunderts:<br />

� 1856. In Loco werden die Beichtstühle der Pfarrkirche verbrannt<br />

� 1857. In Bern stirbt Bundesrat Stefano Franscini (*1796) von Bodio. In Loco wird das Oratorio della SS.ma<br />

Trinità aus dem 17. Jahrhundert abgebrochen, um Platz zu schaffen für das Gemeinde- und Schulhaus<br />

� 1859. Am 17. März wird bei der Brücke "ai Mulini" in Loco der "Mangler" Boscazzi ermordet. Am 27.<br />

November werden in der Kirche von Loco Beichtstühle verbrannt. Schwerer Wahlbetrug bei den Wahlen in<br />

den Tessiner Kantonsrat<br />

� 1862. Die Gedenkschrift von Remigio Chiesa von Loco, überschrieben mit "Meine Verteidigung", wird<br />

publiziert. Garibaldi ist am 8. Juni in Locarno<br />

� 1863. In Mosogno wird Carlo Nottaris ermordert. Am 15. Dezember wird das Konzept der Zeitschrift "Il<br />

Martello" von Remigio Chiesa publiziert<br />

� Risposta di Chiesa Remigio: An die ehrenwerte Gemeindeversammlung von Loco im <strong>Onsernone</strong>tal;<br />

Stellungnahme von Chiesa Remigio zum Rapport der Kommission vom 22. Januar 1888<br />

� Avvertenza: Hinweis: Damit die konservativen Leser einige Passagen des "Martello" richtig zu würdigen<br />

wissen, sei darauf aufmerksam gemacht, dass diese Zeitung von Liberalen unter der Fuchtel von<br />

Radikalen verfasst wird<br />

8 M. Rima: Die Strohindustrie im Valle <strong>Onsernone</strong> (Büchlein) und Fotos<br />

9 Heimarbeiter von Loco, die für die Gebrüder Chiesa arbeiteten (1872/73), Foto<br />

Der Niedergang<br />

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann der unaufhaltsame und unumkehrbare Niedergang der<br />

<strong>Onsernone</strong>ser Strohindustrie, bedingt durch eine Vielzahl von Faktoren: die geografischen Bedingungen,<br />

die die Produktionsmenge von Roggen beschränkte; die prekäre Situation der Produzenten/ Arbeitskräfte;<br />

mangelnder technologischer Fortschritt; die Zollschranken; der Wechsel der modischen Nachfrage sowie<br />

die starke Konkurrenz von asiatischen Produkten, die sich auf den europäischen Märkten zunehmend zu<br />

behaupten vermochten.<br />

Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts haben die Strohprodukte des <strong>Onsernone</strong> höchstens noch<br />

folkloristische Bedeutung. Seit einigen Jahren bemüht sich eine Gruppe junger Kunstgewerblerinnen,<br />

organisiert im Verein „PagliArte“ mit kreativen Strohprodukten um eine Wiederbelebung der <strong>Onsernone</strong>ser<br />

Tradition. Ihr Verkaufsladen befindet sich im ehemaligen Gemeindehaus von Berzona.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 14


<strong>Raum</strong> 6<br />

<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> und seine Künstler im 19. Jahrhundert<br />

(Artisti onsernonesi dell’Ottocento)<br />

Leben und Werk <strong>Onsernone</strong>ser Kunsthandwerker und Künstler sind geprägt durch die<br />

Emigration. Sie belegen den regen kulturellen Austausch, den das <strong>Onsernone</strong> mit den<br />

europäischen und überseeischen Orten der Auswanderung verbunden hat. Beispiel sind<br />

die Stukkateure, Bildhauer und Maler des 19. Jahrhunderts, in der Ausstellung vertreten<br />

durch Ermenegildo Degiorgi Peverada (Loco 1866 – 1900) und Carlo Agostino<br />

Meletta (Loco 1800 – Bormio 1875). Ihre Arbeiten zeugen von ihren zum Teil recht<br />

unterschiedlichen Lebenswelten und Wirklichkeitsinterpretationen im Spannungsfeld von<br />

ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen des <strong>Onsernone</strong>, des jungen<br />

Kantons Tessin und der Orte ihrer Emigration.<br />

Ausbildung und Tätigkeit als Maler oder Stukkateur waren eng verbunden mit der Emigration. Erworben<br />

wurde das Wissen und Können in der Regel in den Werkstätten der Meister im In- und Ausland, ab und zu<br />

an den vom jungen Kanton Tessin gegründeten Zeichenschulen, selten an den Akademien von Turin oder<br />

Mailand. Ihre Arbeit führte sie in alle möglichen europäischen Städte, oftmals auch nach Übersee. Ihre<br />

Welt waren die Bauplätze von Kirchen und Palästen. Eher selten fanden sie Zeit, <strong>Raum</strong> und Ressourcen<br />

für freies künstlerisches Schaffen.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> des 19. Jahrhunderts war in wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Umbruch, das<br />

Alltagsleben der meisten <strong>Onsernone</strong>si entsprechend schwierig: Höhepunkt und Niedergang der<br />

Strohmanufaktur; erbitterte Kämpfe dominierender Familien um ökonomische und politische<br />

Vormachtstellung; Übergang von der saisonalen Emigration in eine dauerhafte Auswanderung. In vielem<br />

ein Abbild der Konflikte und Verwerfungen, die insgesamt die Entwicklung des jungen Kantons Tessin<br />

prägten.<br />

<strong>Das</strong> Europa, in dem die <strong>Onsernone</strong>ser Künstler Arbeit und Verdienst fanden, verdeutlichte ihnen den<br />

ökonomischen, sozialen, politischen und ideengeschichtlichen Hintergrund der lokalen Entwicklungen: die<br />

politische Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen; technologische Fortschritte,<br />

Industrialisierung und Urbanisierung; soziale Probleme; restaurative und revolutionäre Kräfte im<br />

Widerspruch.<br />

Die <strong>Onsernone</strong>ser Künstler waren, trotz gemeinsamer Emigrationserfahrungen, in dieser vielfältigen und<br />

widersprüchlichen gesellschaftlichen Realität des 19. Jahrhunderts unterschiedlich verortet, entsprechend<br />

unterschiedlich erscheint die Wahrnehmung und künstlerische Verarbeitung dieser Wirklichkeit:<br />

Die Werke der Bildhauer - ungefähr 10, die in Bern, Turin, Konstantinopel, Buenos Aires, Montevideo<br />

lebten und wirkten, sind bis heute dokumentiert – sind geprägt von einer laizistischen, liberalen Sicht der<br />

Wirklichkeit. Thema sind oftmals die Widersprüchlichkeit einer Welt im Umbruch, Mühsal und Leiden des<br />

Alltags.<br />

Die zwei wesentlichsten Protagonisten der <strong>Onsernone</strong>ser Malerei des 19. Jahrhunderts – Meletta Vater<br />

und Sohn – erscheinen stärker verhaftet in einer traditionellen Weltsicht. Ihr Schaffen war vor allem der<br />

religiösen Kunst und der Porträtmalerei gewidmet, ihre Werke fanden und finden sich in vielen Kultstätten,<br />

aber auch in den Häusern wohlhabender Bürger.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 15


Leben und Werk des Stukkateurs und Bildhauers Ermenegildo Degiorgi Peverada und des Malers Carlo<br />

Agostino Meletta sind exemplarisch für Gemeinsamkeiten und Unterschiede <strong>Onsernone</strong>ser Künstler des<br />

19. Jahrhunderts:<br />

Über das Lebens von Carlo Agostino Meletta (Loco 1800 – Bormio 1875) wissen wir wenig. Als Maler war<br />

er Autodidakt. Tätig war er sowohl als Porträtist als auch als „Baumaler“ in privatem oder kirchlichem<br />

Auftrag, wo er sämtliche Arbeiten ausführte, von der einfachen Flachmalerei bis zu anspruchsvollen<br />

dekorativen und figurativen künstlerischen Ausgestaltungen und Darstellungen.<br />

Aktiv war er einerseits in Loco, wo er sich vor allem in den Wintermonaten aufhielt und die Leute des<br />

<strong>Onsernone</strong> und des Pedemonte porträtierte. In der wärmeren Jahreszeit lebte er in Norditalien, vor allem in<br />

der Valtellina, wo er Kirchen und Paläste dekorativ gestaltete. Von seiner intensiven Aktivität als<br />

Porträtmaler zeugen noch heute zahlreiche seiner Arbeiten, die innerhalb und ausserhalb des Tales in<br />

Museen und bei Privaten zu finden sind. Spuren seines Wirkens in Norditalien, hier meist als Teil einer<br />

Handwerker- und Künstlergruppe, sind nur noch in Mondadizza erhalten.<br />

Zeugnisse seiner dekorativen Wandmalerei finden sich auch in Loco, zum Beispiel das Zifferblatt des<br />

Campanile und höchstwahrscheinlich Malereien in der Kapelle Moretti am Saumpfad, der zum Passo della<br />

Garina führt. Meletta erhielt auch bedeutende Aufträge für religiöse Darstellungen: eines dieser Werke<br />

findet sich in der Pfarrkirche von Loco, zwei andere in der Kirche von Gordevio. Von seiner Hand sind auch<br />

sehr schöne Exvoto.<br />

Meletta war zudem einige Jahre Zeichenlehrer in der Schule von Loco (belegt ist dies für die Zeit von 1863<br />

bis 1870). Zu seinen Schülern gehörte auch sein Sohn Giovanni Samuele, der als Maler in die Fussstapfen<br />

seines Vaters trat, ohne aber dessen künstlerisches Niveau zu erreichen.<br />

Carlo Agostino Meletta blieb bis ins hohe Alter aktiv, er starb als 75jähriger bei einem Sturz vom Gerüst in<br />

der Kirche San Nicolao in Bormio.<br />

Der Stukkateur und Bildhauer Ermenegildo Degiorgi Peverada (Loco 1866 – 1900) wurde in Loco<br />

geboren und wuchs in Turin auf, wohin seine Mutter als junge Witwe emigriert war und wo sie den<br />

<strong>Onsernone</strong>ser Stukkateur Pacifico Peverada heiratete. In der piemontesischen Hauptstadt, damals ein<br />

bedeutendes urbanes Zentrum, besuchte Gildo (wie er genannt wurde) die Accademia Albertina, die ihn<br />

bereits mit 16 Jahren für seine künstlerische Begabung und Leistung auszeichnete. Eine Bildungsreise<br />

nach Florenz, Rom und Neapel machte ihn mit dem Verismus vertraut und vermittelte ihm die Sensibilität<br />

für die Menschen und ihr alltägliches Leben, die viele seiner Arbeiten charakterisiert. Zurück in Turin<br />

arbeitete er einige Jahre in der Werkstatt seines Stiefvaters Pacifico Peverada und sammelte vielfältige<br />

Erfahrungen bei Turiner Bauvorhaben. Zusammen mit seiner Frau zog er dann nach Bern, um dort eine<br />

Filiale des väterlichen Betriebs zu eröffnen. Die Bundeshauptstadt erlebte zu dieser Zeit einen grossen<br />

Aufschwung, dies auch dank des bedeutendsten helvetischen Bauvorhabens des 19. Jahrhunderts: dem<br />

Bundeshaus, an dem Degiorgi Peverada nebst anderen Tessinern mitwirkte. Die Mühsal des Alltagslebens<br />

in Bern belastete ihn und liess wenig Spielraum für freies künstlerisches Schaffen. Dazu kam gegen Ende<br />

des 19. Jahrhunderts seine Tuberkulose-Erkrankung, die schon bald zu seinem frühen Tod mit nur 33<br />

Jahren führte.<br />

Ermenegildo Degiorgi Peverada blieb dem <strong>Onsernone</strong> sein Leben lang eng verbunden: als Kind kam er<br />

zusammen mit seinem Stiefvater regelmässig ins Tal, als Erwachsener flüchtete er bei jeder sich bietenden<br />

Gelegenheit in seine Heimat, wohin in den letzten Jahren seines Berner Lebens auch seine Familie zog.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Onsernone</strong> war ihm Ort der Inspiration, fernab dem städtischen Leben. Während seiner Aufenthalte<br />

notierte und skizzierte er Motive, denen er dann - zurück im Alltag - orientiert am sozialen Realismus ihre<br />

beeindruckende und berührende Gestalt verlieh.<br />

Häufiges Motiv seiner Arbeit sind Frauen, Frauenfiguren interpretiert und dargestellt in ihrer<br />

Unterschiedlichkeit und Vielschichtigkeit: Sinnlichkeit und Behinderung, Gebet und Arbeit, Macht und<br />

Leichtfertigkeit. Frauen waren das bevorzugte Motiv seiner Studien und Arbeiten im und über das<br />

<strong>Onsernone</strong>: fasziniert von ihrem Mut und ihrer Kraft stellte er ihren harten Alltag dar, oftmals schuf er einen<br />

Kontrast zu den für ihn so ganz anderen Turiner Frauen.<br />

© Museo <strong>Onsernone</strong>se, 2011 16

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