Erstsemester-Ausgabe - Iurratio
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Juristische Nachwuchsförderung e.V.<br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong><br />
Klausuren/Hausarbeiten, Technik und Tipps<br />
Vivien Eckhoff<br />
Wer will was von wem woraus?<br />
Jens-Peter Thiemann<br />
Was erwartet mich eigentlich im Strafrecht?<br />
Alexander Otto<br />
Wie funktioniert die Bundesrepublik?<br />
Hanna Furlkröger<br />
Erklärungsbewusstsein und Rechtsbindungswille<br />
Martin Schwab<br />
Wissenschaftlicher Beirat:<br />
Prof. Dr. Michael Kotulla<br />
Prof. Dr. Heribert Prantl<br />
Prof. Dr. Lena Rudkowski<br />
Prof. Martin Schwab<br />
ISSN 1867-660X<br />
Sonderausgabe 2011 | WWW.IURRATIO.DE<br />
Exklusiv-Partner dieser <strong>Ausgabe</strong>:
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
MANCHMAL FÄLLT DIE AUSWAHL SCHWER.<br />
DIE ENTSCHEIDUNG FÜR WHITE & CASE WAR EINFACH.<br />
Dr. Florian Kleinschmit, Associate bei White & Case<br />
„Mit White & Case habe ich die richtige Wahl getroffen. Das engagierte Team und unser globales Geschäft<br />
im Schnittfeld von Recht und Wirtschaft überzeugen mich jeden Tag: So konnten wir vor kurzem den Verkauf<br />
einer Fluggesellschaft erfolgreich begleiten. Jetzt verhandeln wir mit internationalen Investoren die Übernahme<br />
eines großen Industrieunternehmens.“<br />
White & Case ist eine der führenden internationalen Anwaltssozietäten. Wir beraten unsere Mandanten an<br />
38 Standorten in 26 Ländern weltweit. In Deutschland gehören wir zu den Top-10-Wirtschaftskanzleien – mit<br />
einem Führungsanspruch in vielen Rechtsgebieten. Basis unseres Erfolgs ist eine lebendige Kultur, die Leistung<br />
und Teamgeist verbindet. Die Förderung unserer Mitarbeiter steht bei uns im Mittelpunkt. Wir bieten vielfältige<br />
Möglichkeiten, das Talent und die Karriere unserer Mitarbeiter weiterzuentwickeln.<br />
Entscheiden auch Sie sich jetzt für uns. Weitere Informationen erhalten Sie unter:<br />
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2<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Liebe <strong>Erstsemester</strong>,<br />
liebe Leserinnen und Leser,<br />
volle Ziele im Sinne der juristischen Nachwuchsförderung gesetzt.<br />
So gehört es zu unseren Vereinsleistungen, dass alle Mitglieder die<br />
„<strong>Iurratio</strong> – Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen“ kostenlos<br />
nach Hause geschickt bekommen. In Planung für die nächsten Jahre<br />
sind die Einrichtung von Stipendien und die Organisation von Veranstaltungen,<br />
bei denen Studierende ihr Netzwerk erweitern und<br />
potentielle Arbeitgeber kennenlernen können. Schon jetzt können<br />
Mitglieder darüber hinaus bei Förderern unseres Vereins Rabatte<br />
für Leistungen und Produkte erhalten – wie beispielsweise bei dem<br />
Online-Karteikartenprogramm CoboCards.<br />
Für diejenigen unter Euch, die an einer Mitgliedschaft interessiert<br />
sind, haben wir in dieser <strong>Ausgabe</strong> auch unser Mitgliedschaftsantragsformular<br />
abgedruckt – Studierende zahlen gerade mal 10 Euro<br />
für ein Kalenderjahr Mitgliedschaft.<br />
Wir wünschen Euch, dass auch dank unserer Unterstützung der Weg<br />
durch das Studium nicht so lang und beschwerlich wird, wie es beim<br />
ersten Anblick der Wegstrecke bis zum Ziel eines erfolgreichen<br />
Staatsexamens erscheinen mag.<br />
Herzliche Grüße<br />
Sabrina Mokulys<br />
Vorsitzende <strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V.<br />
P.S.: Mehr Informationen über unseren Verein findet Ihr unter:<br />
www.iurratio.de/verein<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
stellvertretend für unseren Verein „<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung<br />
e.V.“ möchte ich Euch im Kreise der Jura-Studierenden<br />
herzlich willkommen heißen.<br />
Der Einstieg in das Studium ist sicherlich der Beginn eines neuen Kapitels<br />
im Laufe des Lebens eines Menschen. Er bedeutet häufig eine<br />
gravierende Umstellung des Alltags, verbunden mit z.B. dem Umzug<br />
in eine andere Stadt, der ersten eigenen Wohnung, dem Erledigen<br />
von Bürokratie sowie selbstverständlich und nicht zuletzt dem Verschaffen<br />
eines Überblicks über das neue Studienfach.<br />
Unser Verein hat sich insbesondere die juristische Nachwuchsförderung<br />
zur Aufgabe gemacht. Daher möchten wir Euch im letztgenannten<br />
Punkt unter die Arme greifen, und haben die Redaktion der<br />
„<strong>Iurratio</strong> – Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen“ gebeten, für<br />
Euch eine <strong>Erstsemester</strong>-Sonderausgabe als erste Orientierungshilfe<br />
zusammen zu stellen.<br />
Vielleicht überrascht es Euch, zu lesen, dass damit auch für uns ein<br />
neues Kapitel beginnt: Denn unser Verein wurde erst in diesem Jahr<br />
gegründet. Die vor Euch liegende „<strong>Iurratio</strong> - Sonderausgabe für <strong>Erstsemester</strong>“<br />
ist gewissermaßen die erste Maßnahme unseres Vereins.<br />
Die enthaltenen Inhalte bieten viele nützliche Informationen für das<br />
vor Euch liegende Studium.<br />
Aber auch während Eures Studiums wird unser Verein „<strong>Iurratio</strong> –<br />
Juristische Nachwuchsförderung e.V.“ ein treuer Begleiter sein und<br />
Euch zeigen, dass der Weg oftmals auch das Ziel sein kann. Denn<br />
Jura macht Spaß, entgegen aller Vorurteile!<br />
Darum haben wir uns neben der regelmäßigen Veröffentlichung<br />
einer Sonderausgabe für Studienanfänger auch weitere anspruchsdiese<br />
Sonderausgabe haben wir ganz speziell nur für Sie zusammengestellt,<br />
um Ihnen in den ersten Tagen Ihres Studiums eine kleine<br />
Orientierung zu geben. Auf den nächsten Seiten werden Sie erfahren,<br />
was Sie in den kommenden Monaten in den drei Kerngebieten des<br />
Rechts erwartet. Zudem hat meine Kollegin Eckhoff Ihnen wertvolle<br />
Hinweise zum Bearbeiten von Klausuren und Hausarbeiten zusammengestellt<br />
– ein Thema, das Sie die gesamte juristische Ausbildung<br />
hindurch begleiten wird. Wie diese Methodik dann auf den konkreten<br />
Lebenssachverhalt angewendet wird, können Sie an einigen<br />
Anfänger-Klausuren zu den für Sie relevanten Themen der ersten<br />
Semester nachvollziehen.<br />
Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen die einleitenden Worte<br />
unseres geschätzten Beirats-Mitglieds Prof. Dr. Martin Schwab. Er<br />
gibt Ihnen wirklich einige wichtige Hinweise für den Start in Ihre<br />
juristische Berufsausbildung, die Sie sich unbedingt zu Herzen nehmen<br />
sollten.<br />
Neben dieser <strong>Ausgabe</strong> veröffentlichen wir derzeit vierteljährlich eine<br />
kostenlose Ausbildungszeitschrift für Jurastudierende und junge Juristen.<br />
Neben aktuellen Titelthemen finden Sie darin wegweisende<br />
Ausbildungsaufsätze zu wichtigen Themen des juristischen Studiums<br />
und Vorbereitungsdienstes (auch Referendariat genannt). In jeder<br />
<strong>Ausgabe</strong> publizieren wir zudem Beiträge, die für das Schwerpunktstudium<br />
von Interesse sind. Auch finden Sie im Heft stets Fallbearbeitungen,<br />
mit denen Sie sich hervorragend auf Ihre Klausuren<br />
vorbereiten können. Meine Kollegen stellen Ihnen darüber hinaus<br />
lesenswerte Beiträge zu zentralen Themen in Studium und späterer<br />
Berufspraxis zusammen. Aufgelockert wird alles durch unsere Rubrik<br />
lawlifestyle mit spannenden, mitunter amüsanten Beiträgen zu<br />
law, life und style – der Name ist Programm.<br />
Ganz neu: Seit kurzem stellen wir Ihnen mit jeder <strong>Ausgabe</strong> auf acht<br />
Karteikarten neue Rechtsprechung und Rechtsprechungs-Klassiker<br />
zusammen. Damit und mit unserer Übersicht zu aktuelle, ausbildungsrelevanten<br />
Entscheidungen sind Sie immer „up to date“.<br />
Wer sind wir eigentlich? Wir sind ein ehrenamtlich tätiges Team von<br />
etwa 100 Studierenden, Doktoranden, Referendaren, Wissenschaftlichen<br />
Mitarbeitern, Berufsträgern und Professoren. Dabei suchen wir<br />
stets weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – v.a. Jurastudierende<br />
aus den ersten Semestern. Dabei sollten Sie keine Berührungsängste<br />
haben. Auch <strong>Erstsemester</strong> sind bei uns sehr willkommen und können<br />
sich stets in unserem Team dem jeweiligen Ausbildungsstand<br />
entsprechend verändern. Sollten Sie Interesse an einer Mitarbeit<br />
haben, schauen Sie doch mal unter www.iurratio.de/mitarbeit vorbei<br />
und nehmen Sie Kontakt zu uns auf. Wir freuen uns auf Sie!<br />
Für Ihr Studium wünsche ich vor allem viel Freude, viel Erfolg und<br />
das „nötige Glück“.<br />
Ihr<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
3
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
SCHWAB Begrüßung 6<br />
ECKHOFF Klausuren/Hausarbeiten, Technik und Tipps 8<br />
THIEMANN Wer will was von wem woraus? –<br />
„BGB AT“ die Basis des Zivilrechts 12<br />
OTTO Was erwartet mich eigentlich im Strafrecht? 15<br />
ECKHOFF<br />
Was sind eigentlich Grundrechte?<br />
Und wie gehe ich damit um? 18<br />
FURLKRÖGER Wie funktioniert die Bundesrepublik? 21<br />
Impressum Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Herausgeber: Jens-Peter Thiemann (V.i.S.d.P.)<br />
herausgeber@iurratio.de<br />
<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V., vertreten durch den Vorstand: Sabrina<br />
Mokulys (Vorsitzende), Judith Simon (stellv. Vorsitzende), Georg Dietlein (stellv.<br />
Vorsitzender)<br />
Chefredaktion: Alexander Otto, Vivien Eckhoff (Stellvertreterin),<br />
Hanna Furlkröger (2. Stellvertreterin)<br />
chefredaktion@iurratio.de<br />
Redaktion:<br />
Ressort Fallbearbeitungen (fallbearbeitung@iurratio.de) Hanna Furlkröger (Ltg.),<br />
Tamina Preuß, Larissa Bechthold<br />
Schreibpool Florian Waldhorst<br />
Unsere Ansprechpartner an den Standorten erreichen Sie unter unistadtname@iurratio.de,<br />
also z.B. die Standortleiterin in Bremen unter unibremen@iurratio.de.<br />
Wissenschaftlicher Beirat:<br />
Prof. Dr. Michael Kotulla (Universität Bielefeld),<br />
Prof. Dr. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung/Universität Bielefeld),<br />
Prof. Dr. Lena Rudkowski (Freie Universität Berlin)<br />
Prof. Martin Schwab (Freie Universität Berlin)<br />
Ausschluss: Namentlich gekennzeichnete Beiträge repräsentieren nicht unbedingt die<br />
Meinung der Redaktion.<br />
Lektorat: Annica Klemme, Susanne Bettendorf, Hanna Caesar<br />
Layout & Satz: Anja Krohn, Hamburg, layout@iurratio.de<br />
<strong>Iurratio</strong>-Logo: Tobias Kunkel<br />
Anzeigenabteilung: Sabrina Mokulys (Ltg.), Niels Grotjohann, Valentina Leis, Merissa<br />
Gabor, Kim-Aniko Naujok, Eva Mast, Björn Wittenstein, Lea Benning, Jenny Ryszka,<br />
Marlene Alker, Daniel Frey, anzeigen@iurratio.de<br />
Logistik: Xinia Bitterlich, Lars Buchtmann, Niels Grotjohann (Ltg.), Vanessa Faber<br />
logistik@iurratio.de<br />
Postanschrift: <strong>Iurratio</strong>, Röckumstraße 63, 53121 Bonn<br />
Redaktionsanschrift: Postfach 1540, 26645 Westerstede<br />
Auflage: 10.000 Exemplare<br />
Druck: Gutverlag, 48477 Hörstel, www.gutverlag.com<br />
Urheber- und Verlagsrechte Alle in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich<br />
geschützt. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen<br />
Einrichtungen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />
ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert werden.<br />
Autorenhinweise: Ausführliche Autorenhinweise finden Sie auf unserer Homepage<br />
www.iurratio.de<br />
Fallbearbeitung<br />
BALZER/<br />
KINDLER Anfänger im Zivilrecht: „Fit in den Sommer“ 24<br />
SOTIRIADIS Anfänger im Strafrecht: „Weltuntergangssekte“ 30<br />
FRANCK Anfänger im Straforganisationsrecht:<br />
„Operation Display Deterrence“ 33<br />
DURU<br />
Anfängerklausur Grundrechte:<br />
„Horrido und Waidmannsheil“ 36<br />
SCHWAB Erklärungsbewusstsein und Rechtsbindungswille:<br />
Zwei Begriffe mit gänzlich verschiedener Bedeutung! 41<br />
Lawlife Style 28/29<br />
Empfehlungen für die Muppet Show –<br />
„nicht nachahmenswert, aber auch nicht rechtswidrig“<br />
Lustiges und Kurioses aus der Rechtsprechung<br />
„Jura vom „Hören-Sagen“<br />
„Die Gretchen-Frage des Studienanfängers“ – Welches Gesetz?<br />
4<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
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<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
5
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Liebe Studentinnen und<br />
Studenten im ersten Fachsemester Jura<br />
M it1 diesem Grußwort heiße ich Sie herzlich<br />
willkommen im Studium der Rechtswissenschaft.<br />
Sie haben sich für ein spannendes und lebendiges<br />
Studienfach entschieden. Über das Vorurteil,<br />
das Jurastudium sei „trocken“, werden Sie<br />
bald nur noch milde lächeln können. Sie werden<br />
nämlich in den nächsten Jahren existentiellen Fragen<br />
des menschlichen Zusammenlebens auf den<br />
Grund gehen: Wie funktioniert unser Gemeinwesen?<br />
An welche Regeln muß ich mich halten und<br />
wo darf ich meine Freiheiten in Anspruch nehmen?<br />
Was muß ich mir gefallen lassen und was<br />
Martin Schwab 1<br />
nicht – sei es von den Behörden, sei es von meinen Mitbürgerinnen<br />
und Mitbürgern? Was passiert, wenn ich rechtliche Grenzen überschreite?<br />
Sie werden lernen, wie man die Lösung von Konfliktfällen<br />
aus dem Gesetz ableitet, und ganz nebenbei und ganz automatisch<br />
werden Sie Kompetenzen erwerben, die Sie später, egal wohin die<br />
Flügel des Berufslebens Sie tragen, immer werden brauchen können:<br />
Sie werden lernen, schlüssig zu argumentieren und sich sprachlich<br />
präzise auszudrücken.<br />
Kurzum: Mit Ihrer Entscheidung für das Jurastudium haben Sie eine<br />
gute Wahl getroffen. Ich möchte aber nicht verhehlen, dass man Sie<br />
auch mit ungemütlichen Begleittönen konfrontieren wird. Da nämlich<br />
in einer juristischen Prüfung kein auswendig gelerntes Wissen<br />
abgefragt wird, sondern die Lösung von Fällen und damit eine reine<br />
Transferleistung, ist die Notengebung in unserem Fach recht streng:<br />
Wer 12 von 18 möglichen Punkten erzielt hat, darf sich schon zu den<br />
Besten zählen. Gerade diese strenge Notengebung bringt es mit sich,<br />
dass unter den Jurastudierenden verbreitet der Geist der Panikmache<br />
wabert. Potentielle künftige Arbeitgeber zeichnen ein Schreckbild<br />
von schier unerfüllbaren Anforderungen an ihre künftigen Bewerber/innen;<br />
kommerzielle Repetitoren (das sind Einrichtungen, in<br />
denen für viel Geld Nachhilfeunterricht für die Examensvorbereitung<br />
angeboten wird) machen ihr Geschäft mit der Examensangst<br />
der Studierenden, nicht zuletzt verunsichern sich die Studierenden<br />
gegenseitig.<br />
Mein ganz persönliches Ziel ist es, Sie mit den allfälligen Sorgen und<br />
Ungewissheiten nicht allein zu lassen – und vor allem möchte ich Sie<br />
ermuntern, sich von jenem Geist der Panikmache nicht anstecken zu<br />
lassen. Vieles von dem, was Sie vor allem von potentiellen Arbeitgebern<br />
und von kommerziellen Repetitoren hören, erschöpft sich in<br />
reiner Marktschreierei. Es gibt aber in der Tat ein paar Dinge, die Sie<br />
beachten sollten:<br />
ERSTENS:<br />
Sie sind noch von der Schule her gewöhnt, daß Sie eine bestimmte<br />
Stoffmenge für eine Prüfung lernen müssen und danach wieder<br />
vergessen können. An der Universität wird sich das ändern: Alles,<br />
was Sie vom ersten Tag an in den Vorlesungen hören, kann Ihnen<br />
in der staatlichen Pflichtfachprüfung am Ende des Studiums wie-<br />
1 Martin Schwab, Jahrgang 1967, studierte in Regensburg und Heidelberg Rechtswissenschaft und<br />
legte 1991 sein 1. Examen ab. Es folgte das Referendariat am Landgericht Heidelberg, das er 1994 mit<br />
dem 2. Examen abschloss. Er promovierte 1997, 2002 habilitierte er. Seit Oktober 2003 ist er Professor<br />
für Bürgerliches Recht, Verfahrens- und Insolvenzrecht an der Freien Universität Berlin.<br />
der begegnen. Ich möchte Sie daher dringend ermuntern, sich den<br />
Stoff der Vorlesungen ohne Rücksicht auf konkret bevorstehende<br />
Prüfungen zu erarbeiten. Bitte fangen Sie mit dem Lernen nicht<br />
erst in den letzten Wochen vor den Semesterabschlussklausuren<br />
an! Der Stoff wird nur dann dauerhaft in Ihrem Gedächtnis haften<br />
bleiben, wenn Sie ihn von Zeit zu Zeit wiederholen.<br />
ZWEITENS:<br />
Sie sind noch von der Schule her gewöhnt, daß in den Prüfungen<br />
niemals mehr abgefragt werden konnte, als im Unterricht behandelt<br />
wurde. Auch das wird sich ändern: Nur in seltenen Fällen<br />
kann in einer Vorlesung der gesamte Stoff behandelt werden, den<br />
Sie später in der staatlichen Pflichtfachprüfung wissen müssen.<br />
Die Vorlesung versteht sich vielmehr als Anregung, den Stoff selbständig<br />
zu vertiefen und sich auch mit rechtlichen Zweifelsfragen<br />
zu beschäftigen, die nicht im Unterricht behandelt wurden.<br />
DRITTENS:<br />
Sie sind noch von der Schule her gewöhnt, daß Prüfungstermine<br />
angekündigt wurden und Sie nur noch zu erscheinen brauchten.<br />
Das ist an der Universität keine Selbstverständlichkeit mehr: An<br />
vielen juristischen Fachbereichen müssen Sie sich selbstständig für<br />
die Prüfungen anmelden. Und für diese Anmeldung laufen Fristen,<br />
deren Versäumung zur Folge hat, daß Sie an den Prüfungen nicht<br />
teilnehmen können. Geben Sie sich hier bitte keine Blöße!<br />
VIERTENS:<br />
Im Studium der Rechtswissenschaft gibt es nicht die Kategorien<br />
„richtig“ oder „falsch“, sondern allenfalls die Kategorien „vertretbar“<br />
oder „nicht vertretbar“. Von Ihnen wird erwartet, daß Sie sich<br />
kritisch mit dem Stoff – und dabei durchaus auch kritisch mit den<br />
Positionen, die der/die Dozent/in im Hörsaal vertritt – auseinanderzusetzen.<br />
Haben Sie den Mut, sich Ihres eigenen Verstandes zu<br />
bedienen!<br />
Wenn Sie das aber alles beachten, werden Sie vieles von der nervlichen<br />
Anspannung, von denen vor allem Studierende in Examensnähe<br />
fortgesetzt berichten, für sich persönlich vermeiden können: Je<br />
früher Sie beginnen, kontinuierlich zu lernen, desto leichter wird Ihnen<br />
hinterher die Vorbereitung auf die Abschlußprüfungen – nämlich<br />
einerseits auf die universitäre Schwerpunktbereichsprüfung und<br />
andererseits auf die staatliche Pflichtfachprüfung – fallen. Ich selbst<br />
habe seinerzeit als Student recht frühzeitig damit begonnen, mich<br />
täglich und ohne den Anlass bevorstehender Klausuren mit dem<br />
Pflichtfachstoff zu beschäftigen, und konnte mir daher neun Tage vor<br />
der ersten Klausur im Staatsexamen den Luxus leisten, bis nachts um<br />
halb drei auf einem Fachbereichsfest mit meinem Keyboard aufzutreten,<br />
ohne die Sorge zu haben, dadurch mit meinem Lernpensum<br />
in Rückstand zu geraten. Je weniger Angst Sie haben, nicht genügend<br />
vorbereitet zu sein, desto selbstsicherer werden Sie die Prüfungen<br />
meistern. Und diese Selbstsicherheit werden Sie benötigen, um in<br />
den Prüfungen gut abzuschneiden.<br />
Einen gewichtigen Unterschied zu dem, was Sie noch von der Schule<br />
her kennen, möchte ich gesondert herausgreifen: Ihr Verhältnis zu<br />
6<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Ihren Professorinnen und Professoren. Waren Sie noch in der Schule<br />
mit ca. 30 – in den Leistungskursen z. T. noch mit deutlich weniger –<br />
Mitschülerinnen und Mitschülern im Klassenraum unterrichtet worden,<br />
so werden Sie sich im ersten Semester in einem prall gefüllten<br />
Hörsaal mit mehreren hundert Studierenden wiederfinden. An vielen<br />
juristischen Fachbereichen kommt ein Professor auf über 100 Studierende.<br />
Diese sog. Betreuungsrelation ist zugegebenermaßen schlecht.<br />
Dieser Zustand ist aber nicht auf ein Versagen der Universitäten zurückzuführen,<br />
sondern politisch gewollt, weil die Kapazitätenverordnung<br />
entsprechende rechnerische Vorgaben macht. Der Unterricht<br />
ist für Ihre Professoren/innen eine von mehreren Aufgaben: Als<br />
Hochschullehrer/in muß man außerdem (und, wenn man ernst genommen<br />
werden will, in erheblichem Umfang) Forschung betreiben<br />
und sich darüber hinaus noch in der akademischen Selbstverwaltung<br />
engagieren. Das bedeutet für Sie zweierlei: Zum einen müssen Sie es<br />
Ihren Professoren/innen nachsehen, wenn sie nicht zu jeder beliebigen<br />
Zeit ansprechbar sind und wenn sie nicht auf jede Frage, die<br />
Sie zu Ihrem Studium oder zum Stoff der Vorlesung haben, sofort<br />
antworten. Zum anderen aber müssen Sie es auch nicht hinnehmen,<br />
wenn ein/e Professor/in zur Schau trägt, daß ihm/ihr Ihr persönlicher<br />
Werdegang und Ihr Studienerfolg bedeutungslos sind: Wer an<br />
einer Universität lehrt, ist selbstverständlich auch Dienstleister und<br />
als solcher dazu aufgerufen, Sie in einem wichtigen Abschnitt Ihres<br />
Lebens engagiert zu begleiten. Sie brauchen nicht in der Anonymität<br />
eines Massenstudiengangs zu versinken. Sie dürfen und sollen das<br />
individuelle Gespräch mit Ihren Professoren/innen suchen!<br />
Überhaupt möchte ich Sie gerne ermuntern, aktiv an Ihrem Fachbereich<br />
mitzuarbeiten. Sie haben sich, anders als in der Schule, das<br />
Fach, das Sie studieren, selbst ausgesucht – Grund genug, sich nicht<br />
nur die nötigen Kenntnisse anzueignen, sondern sich auch in jener<br />
Institution zu engagieren, die Ihnen diese Kenntnisse vermitteln soll.<br />
Sie dürfen von Ihren Professoren/innen erwarten, dass sie ein Interesse<br />
an Ihnen um Ihrer selbst willen haben. Daß ein solches Interesse<br />
keinesfalls überall selbstverständlich ist, zeigt die folgende Passage,<br />
die ich jüngst in einem von drei Tübinger Kollegen verfassten Lehrbuch<br />
gelesen habe: „Die Lehre macht neben der Forschung nur einen<br />
geringen Teil des Aufgabenbereichs von Professoren und Assistenten<br />
aus. Für die Karriere als Wissenschaftler zählen didaktische Kenntnisse<br />
wenig. Kein Professor wird z. B. nach Tübingen berufen, weil<br />
er gute Vorlesungen hält.“ (Kühl/Reichold/Ronellenfitsch, Einführung<br />
in die Rechtswissenschaft, München 2011, S. 31). Aus diesen Zeilen<br />
– vor allem aus dem letzten Satz – spricht eine bemerkenswerte<br />
Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen der Studierenden. Wenn<br />
Sie das Gefühl haben, dass die Professoren/innen an der Fakultät, an<br />
der Sie das Studium aufgenommen haben, Ihnen mit einer solchen<br />
Haltung gegenübertreten, sollten Sie es dabei nicht bewenden lassen.<br />
An jedem Fachbereich gibt es organisierte Interessenvertretungen<br />
der Studierenden, die sog. Fachschaften. Diese werden sich um so<br />
erfolgreicher für bessere Studienbedingungen einsetzen, je breiter sie<br />
personell aufgestellt sind und je überzeugender das Mandat ist, das<br />
sie von den Studierenden erhalten haben; deshalb mein Aufruf an<br />
Sie: Gehen Sie unbedingt zu den Wahlen zur Fachschaft und zu den<br />
anderen akademischen Gremien, und stellen Sie sich, wenn es Ihre<br />
Zeit irgendwie zulässt, selbst für die Mitarbeit in diesen Gremien zur<br />
Verfügung!<br />
Vor Ihnen liegt ein spannender und bedeutsamer Lebensabschnitt.<br />
Sie werden eintauchen in eine große unbekannte Welt. Dies bedeutet<br />
aber nicht, daß Sie in dieser Welt untergehen müssen. Im Studium<br />
der Rechtswissenschaft darf man keine schnellen Erfolge erwarten.<br />
Es wird eine Zeitlang dauern, bis Sie hinter dem komplexen Gemenge<br />
von Vorschriften gedankliche Zusammenhänge erkennen. Sie<br />
dürfen und müssen also ein wenig Geduld mit sich haben. Ich wünsche<br />
Ihnen für Ihr Studium viel Erfolg und später für Ihren Beruf jenes<br />
Verantwortungsbewusstsein, das Sie benötigen werden, um den<br />
Menschen gerecht zu werden, deren Schicksal Ihnen anvertraut ist.<br />
Ihnen allen einen guten Start!<br />
Prof. Dr. Martin Schwab<br />
Wir danken den Sponsoren dieser <strong>Erstsemester</strong>-Sonderausgabe:<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
7
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Klausuren/Hausarbeiten, Technik und Tipps: 1<br />
von stv. Chefredakteurin Vivien Eckhoff (Braunschweig)<br />
1 Dieser Beitrag ist meiner Hausarbeit bei Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität Bremen, mit dem Titel „Justizsyllogismus und Subsumtion“ entsprungen. Danken möchte ich Herrn Wissenschaftlichen<br />
Mitarbeiter Alexander Otto, ebenfalls Universität Bremen, der aus seinen Tätigkeiten als Korrekturassistent einige Hinweise geben konnte.<br />
A. ALLGEMEINES 1<br />
Die Bearbeitung von juristischen Sachverhalten während des Studiums<br />
erfordert Genauigkeit und Disziplin. Dabei ist es gerade bei<br />
komplexeren Sachverhalten oder Hausarbeiten wichtig, eine übersichtliche<br />
Struktur und Gliederung zu finden. Dies hat mehrere<br />
Funktionen: Zum einen kann man damit komplexe Sachverhalte<br />
„aufhellen“ und sich vor dem eigenen Auge besser verdeutlichen.<br />
Zum anderen sollte es auch dazu führen, wichtige Einzelheiten<br />
nicht zu übersehen. Zuletzt kann es von Vorteil sein dem Korrekturassistenten<br />
mit einer systematischen Gliederung die Korrektur zu<br />
erleichtern. Eine Gliederung sollte deshalb sowohl in Klausuren, als<br />
auch in Hausarbeiten vorgenommen werden, wobei in Hausarbeiten<br />
noch deutlicher auf die Feingliedrigkeit geachtet werden sollte.<br />
In Klausuren führt eine Gliederung zu Übersichtlichkeit. An dieser<br />
Gliederung können die oftmals mit nur sehr wenig Zeit ausgestatteten<br />
Korrekturassistenten erkennen, ob wichtige Kernprobleme<br />
angesprochen werden. Zudem sind übersichtliche Klausuren und<br />
Hausarbeiten besser zu lesen, was den Korrektor gegenüber der<br />
Arbeit freundlicher stimmen wird (dieser Punkt sollte nicht unterschätzt<br />
werden!). Zudem hilft eine Gliederung jedem Prüfling bei<br />
der Strukturierung eines Sachverhalts und vermittelt eine Agenda,<br />
die kontinuierlich abgearbeitet werden kann.<br />
Ebenso wichtig ist aber das Werkzeug zur Darstellung juristischer<br />
Sachverhalte und deren gutachterliche Betrachtung. Auf die Einhaltung<br />
des Gutachtenstils wird (gerade in den ersten Semestern) besonderer<br />
Wert gelegt.<br />
B. GUTACHTENSTIL<br />
Im juristischen Studium bestehen die Prüfungen überwiegend aus<br />
Fallklausuren und Fallhausarbeiten. Der Klausurtext enthält einen<br />
Lebenssachverhalt, der juristisch betrachtet werden muss. Diese<br />
Begutachtung stellt nicht einen formlosen „Besinnungsaufsatz“ dar,<br />
wie man ihn vielleicht noch aus der Schulzeit kennt, sondern erfolgt<br />
in einer bestimmten Form. Die juristische Fallbearbeitung wird in<br />
der Ausformulierung im sog. Gutachtenstil vorgenommen. Der Gutachtenstil<br />
ergibt sich aus dem juristischen Syllogismus. Der Begriff<br />
des Syllogismus stammt von dem griechischen Wort syllogismos ab,<br />
welches „Zusammenrechnen“ und/oder „logischer Schluss“ bedeutet.<br />
Er ist also Bestandteil von Argumentation und dem daraus folgendem<br />
Ergebnis. Der Syllogismus ist der Kerngedanke der Lehre<br />
von der Folgerichtigkeit, sog. Logik 2 und wird auch das Schlussverfahren<br />
genannt. 3 Das Denkschema des Syllogismus stellt die Schlussfolgerung<br />
aus zwei Prämissen auf einen Schlusssatz, also auf eine<br />
Konklusion dar. 4 Mit dem Syllogismus kann man logisch beweisen,<br />
dass eine ganz bestimmte Ableitung aus dem Gesetz zu einem ganz<br />
bestimmten Ergebnis führen muss, wenn die Zwischenschritte jeweils<br />
richtig gebildet worden sind.<br />
Der aus dem juristischen Syllogismus abgeleitete Gutachtenstil<br />
1 Dieser Beitrag ist meiner Hausarbeit bei Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität Bremen, mit<br />
dem Titel „Justizsyllogismus und Subsumtion“ entsprungen. Danken möchte ich Chefredakteur Alexander<br />
Otto, der aus seinen Tätigkeiten als Korrekturassistent einige Hinweise geben konnte.<br />
2 Schwintowski, Juristische Methodenlehre, S. 61.<br />
3 Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, S. 15, §4.<br />
4 Joerden, Logik im Recht, S. 311.<br />
(auch: 4-Schritt-Methode) besteht, wie der Name es bereits sagt, aus<br />
vier Schritten, die immer „gegangen“ werden müssen.<br />
I. OBERSATZ<br />
I. OBERSATZ<br />
II. DEFINITION<br />
III. SUBSUMTION<br />
IV. KONKLUSION/ERGEBNIS<br />
Der Obersatz bildet gemeinsam mit der Konklusion den Rahmen<br />
eines jeden Gutachtens und eines jeden Prüfungspunktes.<br />
Der Obersatz wirft eine Frage auf, die dann mittels der anderen<br />
Schritte (2 + 3) geklärt und im Rahmen der Konklusion beantwortet<br />
wird. Die Fragestellung wird nicht direkt getätigt, sondern in der<br />
Form des Konjunktivs.<br />
Der Obersatz wird nicht nur für das gesamte Gutachten geschrieben,<br />
sondern für jeden einzelnen Prüfungspunkt.<br />
Bsp.: “A könnte sich gemäß § 240 StGB wegen Nötigung strafbar gemacht<br />
haben, indem er an einer Sitzblockade auf einer Bundesstraße<br />
teilgenommen hat und so den Autofahrern die Weiterfahrt verwehrte.“<br />
→ So könnte der Obersatz für ein Gutachten lauten, indem geprüft<br />
werden soll, ob sich der A wegen (nicht: einer !) Nötigung nach § 240<br />
StGB strafbar gemacht hat.<br />
Bei der Begutachtung eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts ist<br />
es immer erforderlich, die für die Strafbarkeit relevante Tathandlung<br />
im Obersatz kurz darzustellen (..., indem...). Die „indem“-Formulierung<br />
ist eine gängige Formulierung, die es ermöglicht, kurz und<br />
prägnant das Wichtigste in einem Satz unterzubringen.<br />
Beispiel:<br />
„Fraglich ist, ob der B den C an der Gesundheit geschädigt hat.“<br />
→ So würde ein Obersatz für einen einzelnen Prüfungspunkt aussehen.<br />
Hier würde man prüfen, ob das objektive Tatbestandsmerkmal<br />
der Gesundheitsschädigung aus dem Tatbestand des§ 223 I StGB<br />
vorliegt.<br />
Man sollte allerdings nicht jedes Mal denselben Satzanfang wählen.<br />
Das ist zu monoton und liest sich schlecht. Wer immer „Fraglich ist,<br />
...“ schreibt, hat unter Umständen Punktabzug wegen erheblicher stilistischer<br />
Mängel zu befürchten. Besser ist es zu variieren:<br />
• Weiter ist zu prüfen, ob...<br />
• Zu prüfen ist...<br />
• Der B müsste des Weiteren den C auch...<br />
• Eine weitere Voraussetzung ist, dass...<br />
Dies sind nur einige wenige Beispiele für verschiedene Formulierungsmöglichkeiten.<br />
Es gilt immer die aufzuwerfende Frage im Konjunktiv<br />
zu stellen, jedenfalls nicht in direkter Form. Ein Obersatz endet<br />
also niemals mit einem Fragezeichen. Einleitungen wie „Fraglich<br />
ist, ob…“ sollten auch nur dann zur Anwendung kommen, wenn der<br />
im Folgenden zu prüfende Kontext umstritten ist, es Abgrenzungs-<br />
8<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
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schwierigkeiten gibt oder berechtigte Zweifel am Vorliegen der zu<br />
prüfenden Voraussetzung bestehen, deren Vorliegen also tatsächlich<br />
„fraglich“ ist.<br />
II. DEFINITION<br />
Mittels Auslegung des Gesetzestextes wird dieser konkretisiert und<br />
genauer umschrieben. Es wird abstrakt vom Sachverhalt ermittelt,<br />
welchen Inhalts beispielsweise ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal<br />
ist, lediglich ein Rückgriff auf den Gesetzestext findet statt.<br />
Die Definitionen findet man in allen gängigen Kommentaren, in der<br />
Rechtsprechung oder in Lehrbüchern. Für die Klausur ist es von Vorteil<br />
die gängigsten Definitionen auswendig zu beherrschen, das spart<br />
Zeit und Nerven!<br />
Beispiel:<br />
„Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines<br />
wenn auch vorübergehenden pathologischen Zustands 5 .“<br />
→ So würde die Definition für das Tatbestandsmerkmal der Gesundheitsschädigung<br />
aus § 223 I StGB aussehen.<br />
Es gibt noch einen weiteren „Typ“ von Definitionen, die sog. Legaldefinitionen.<br />
Das sind Definitionen, die direkt im Gesetz zu finden<br />
sind. Teilweise sind sie daran zu erkennen, dass das Definierte in<br />
Klammern genannt wird.<br />
Beispiel:<br />
Unfallbeteiligter (§ 142 V StGB), Amtsträger (§ 11 I Nr. 2. StGB),<br />
Verbraucher (§ 13 BGB), Unternehmer (§14 BGB), Anspruch (§ 194<br />
BGB), Polizei (§ 2 Nr.1 BremPolG).<br />
→ Das sind nur einige wenige Beispiele von Legaldefinitionen. Diese<br />
kann und sollte man in seiner Bearbeitung verwenden und dabei<br />
auch den entsprechenden § benennen.<br />
In Hausarbeiten ist es erforderlich, Definitionen aus Rechtsprechung<br />
und Literatur zu belegen. Häufig lassen sich die Fundstellen für Definitionen<br />
in Kommentaren und Aufsätzen zu dem jeweiligen Thema<br />
finden.<br />
III. SUBSUMTION<br />
Als Subsumtion wird das „Einordnen eines Sachverhaltes unter eine<br />
Norm“ verstanden, welches auch als rechtliche Würdigung eines<br />
Umstandes beschrieben werden kann. Hinzu kommt die Vorstellung,<br />
dass der Sachverhalt die Merkmale des Gesetzes aufweist. 6 Es<br />
wird folglich mit Hilfe von Subsumtion eine Rechtsfolge für den konkreten<br />
Fall aus Rechtsnormen (auch aus Schrifttum und Gewohnheitsrecht)<br />
hergeleitet. 7<br />
Die Subsumtion ist der wichtigste Teil einer jeden Klausur und Hausarbeit.<br />
An dieser Stelle kann man die meisten Punkte sammeln, muss<br />
demzufolge aber genau und schlüssig argumentieren. Im Rahmen<br />
der Subsumtion wird der konkrete Sachverhalt unter die abstrakte<br />
Definition subsumiert. Man prüft also, ob die konkreten Abläufe, Zustände<br />
und Handlungen mit der Definition vergleichbar sind. Man<br />
argumentiert zum Beispiel, warum eine bestimmte Handlung gerade<br />
die Anforderungen der Definition erfüllt oder gerade nicht erfüllt.<br />
5 Fischer, StGB Kommentar, § 223, Rn. 6.<br />
6 Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, S. 15, § 4.<br />
7 Rothfuß, Logik und Wertung bei der Subsumtion, S. 1.<br />
Beispiel:<br />
(Sachverhalt in Kurzform: Nach dem Besuch in seiner Stammkneipe<br />
will A mit seinem Fahrrad nach Hause fahren. Er glaubt, dass er trotz<br />
Genusses einiger Weißbiere noch in der Lage ist, sicher nach Hause zu<br />
kommen. Er wird auf dem Weg wegen eines defekten Rücklichts von<br />
der Polizei angehalten.) „Fraglich ist, ob A ein Fahrzeug geführt hat<br />
(Obersatz). Ein Fahrzeug wird geführt, wenn der Fahrer das Fahrzeug<br />
selbst oder zusammen mit einem Anderen in Bewegung setzt oder in<br />
Bewegung hält. Von § 315c StGB werden nicht nur Kraftfahrzeuge<br />
gemäß § 1 II StVG, sondern auch andere Fahrzeuge ohne Motorkraft<br />
erfasst (Definition).“<br />
„A will nach dem Kneipenbesuch nach Hause fahren und benutzt dazu<br />
sein Fahrrad. Kennzeichnend für ein Fahrrad ist gerade, dass es vom<br />
Fahrer selbst, durch Treten der Pedale in Bewegung gebracht und gehalten<br />
wird. Deshalb fällt das Fahrrad trotz mangelnder Motorkraft unter<br />
den Fahrzeugbegriff des § 315c StGB.“ (Subsumtion)<br />
Der Umfang einer Subsumtion kann unterschiedlich ausfallen. Decken<br />
Definition und Sachverhalt sich eindeutig, unmissverständlich<br />
und ohne erkennbare Probleme, sollte die Subsumtion eher kurz ausfallen<br />
und nicht unnötig problematisiert werden.<br />
Sind Sachverhalt und Definition im Verhältnis zueinander aber eher<br />
problematisch, so muss das Problem mit der Subsumtion in gegebenem<br />
Umfang gelöst werden. Das erfordert häufig eine Darstellung<br />
von Meinungsstreiten. Wenn ein Problem dies erfordert, muss eine<br />
kurze Darstellung des Meinungsstandes auch in einer Klausur erfolgen.<br />
In Hausarbeiten ist die Aufarbeitung von Meinungsstreiten die<br />
Kernarbeit.<br />
Herrschen zu einem zivilrechtlichen oder sonstigen juristischen Problem<br />
verschiedene Meinungen, so sind sie in einer Hausarbeit gegenüberzustellen:<br />
Man stellt zunächst die Auffassung dar, subsumiert<br />
den Sachverhalt unter die entsprechende Meinung und kommt dann<br />
zu einem Zwischenergebnis. Diesen Vorgang wiederholt man dann<br />
für alle darzustellenden Meinungen. Kommen alle Auffassungen<br />
zum gleichen Ergebnis, so ist eine Stellungnahme nicht erforderlich<br />
und sollte nicht erfolgen. Bei verschiedenartigen Ergebnissen muss<br />
man alle Argumente für und gegen die jeweiligen Meinungen darstellen<br />
und dann in der Stellungnahme den Streit entscheiden.<br />
Meinungsstreite können auch in einer komprimierten Form dargestellt<br />
werden (also erst Vorstellung aller verschiedenen Meinungen<br />
und dann eine zusammenfassende Subsumtion), diesen Weg sollte<br />
aber nur der geübte Bearbeiter wählen, da dies schnell zu Ungenauigkeiten,<br />
Unverständlichkeiten und Unübersichtlichkeit führen kann.<br />
Meinungsstreite sind allgemein nur darzustellen, wenn sie für den zu<br />
bearbeitenden Fall von besonderer Bedeutung sind.<br />
In einer Hausarbeit bedient man sich dabei Literatur und Rechtsprechung.<br />
Beispiel:<br />
„Fraglich ist, ob eine Erste Hilfe auch erforderlich ist, wenn der Hilfsbedürftige<br />
trotz dieser versterben würde. In diesem Fall ist sich die Literatur<br />
uneins.<br />
Zum einen wird vertreten, dass die Hilfeleistung dann nicht mehr erforderlich<br />
ist, wenn jede Hilfe aussichtslos ist, insbesondere beim sofortigen<br />
Tod des Verunglückten 8 .<br />
Schließt man sich dem an, ist die Hilfe für O nie erforderlich gewesen. A<br />
hätte also keinerlei Hilfeleistungsversuche anstrengen müssen und wäre<br />
auch nicht wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323 c strafbar.<br />
Andererseits vertritt ein anderer Teil der Literatur, dass die Erforder-<br />
8 Küpper, Strafrecht BT 1, § 5, Rn. 80.<br />
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lichkeit der Hilfe dort zu bejahen ist, wo erst aus der Rückschau klar zu<br />
erkennen ist, dass der Verunglückte auch bei sofortiger ärztlicher Hilfe<br />
keine Überlebenschance hätte, die in Betracht kommende Hilfeleistung<br />
also vergeblich gewesen wäre 9 .<br />
Im vorliegenden Fall konnte man zum Unfallzeitpunkt lediglich erkennen,<br />
dass O u.a. erhebliche Kopfverletzungen erlitten hat. Eindeutige<br />
Todeszeichen sind keineswegs erkennbar gewesen. Erst später wird lt.<br />
Sachverhalt festgestellt, dass O nicht mehr zur Besinnung gekommen ist<br />
und auch mit umgehender notärztlicher Hilfe nicht mehr hätte am Leben<br />
erhalten werden können. Folgt man also der letzteren Auffassung<br />
wäre die Hilfe erforderlich gewesen.<br />
Diese Auffassung kommt der h.M. sehr nahe. Denn auch aus Sicht<br />
eines „verständigen Beobachters“ 10 darf man zum Unfallzeitpunkt kein<br />
Spezialwissen annehmen, mit dem man schon an der Unfallstelle hätte<br />
erkennen können, dass jede Hilfe zu spät kommt. Diese Auffassung<br />
wird damit gerade dem u.a. präventiven Schutzcharakter einer Strafnorm<br />
gerecht. Denn geht man davon aus, dass die im Nachhinein, am<br />
Ort nicht erkennbare, nicht bestehende Möglichkeit der Hilfeleistung<br />
strafbefreiend wirkt, verleitet dies unter Umständen zu einem geringeren<br />
Grad der Hilfsbereitschaft. Zudem würde dies dem besonderen<br />
Unrechtscharakter dieser Tat nicht gerecht werden, wenn es straflos<br />
bleibt, dass ein Täter eine hilflose Person in dem Bewusstein ihr könnte<br />
vielleicht doch geholfen werden auf sich gestellt liegen lässt.<br />
Im Ergebnis ist also der letzteren Auffassung zu folgen und im vorliegenden<br />
Fall die Erforderlichkeit der Hilfe zu bejahen.“<br />
→ Dieser Weg ist der, wie oben beschrieben, „sicherste“ Weg einen<br />
Meinungsstreit darzustellen.<br />
Beispiel für den komprimierten Weg:<br />
(Fall: Brandstiftung an einer Kneipe, an der im oberen Stockwerk eine<br />
Wohnung angeschlossen ist) „Ob diese Handlung für ein Inbrandsetzen<br />
einer Wohnung reicht, ist umstritten. Es handelt sich hier um ein gemischt<br />
genutztes Gebäude, wobei nur der gewerblich genutzte Bereich<br />
als Start des Feuers dienen sollte. Gemäß der herrschenden Meinung<br />
reicht es für das Inbrandsetzen aus, wenn sich das Feuer auf die den<br />
Wohnzwecken dienenden Bereiche ausbreiten kann. Laut einer anderen<br />
Ansicht ist ein Inbrandsetzen erst dann verwirklicht, wenn sich die<br />
abstrakte Gefahr des Brandes derart zugespitzt hat, dass die Rechtsgutsverletzung<br />
unmittelbar bevorsteht. Für die zweite Ansicht spricht,<br />
dass es sich hier um einen Verbrechenstatbestand handelt, der zum<br />
Schutz des Beschuldigten restriktiv ausgelegt werden sollte; dieses Argument<br />
kann jedoch vorliegend nicht überzeugen. Der § 306 a ist als Gefährdungsdelikt<br />
dem Schutze der Allgemeinheit verpflichtet, sodass von<br />
einem Inbrandsetzen schon ausgegangen werden kann, wenn das Feuer<br />
nur auf den Wohnungsteil übertreten kann. Zudem wollte A nicht nur<br />
die gewerblichen Gebäudeteile, sondern auch die Wohnung in der S<br />
wohnt, niederbrennen und wusste auch, dass sich die Wohnung dort<br />
befindet. Der ersten und herrschenden Ansicht ist somit zu folgen.“<br />
→ In diesen Beispielen führen die Meinungen zu verschiedenen Ansichten.<br />
Deshalb musste der Meinungsstreit entschieden werden.<br />
IV. ERGEBNIS/KONKLUSION<br />
An dieser Stelle beantwortet man kurz und prägnant die im Obersatz<br />
aufgeworfene Frage.<br />
9 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, § 23, Rn. 1046.<br />
10 BGHSt 17, 166, 169.<br />
Beispiel:<br />
„A hat sich wegen Nötigung gemäß § 240 StGB strafbar gemacht, indem<br />
er an einer Sitzblockade auf einer Bundesstraße teilnahm und den<br />
Autofahrern die Weiterfahrt verwehrte.“<br />
→ So könnte das Ergebnis/die Konklusion für ein Gutachten lauten,<br />
indem geprüft wurde, ob sich der B wegen (nicht: einer!) Nötigung<br />
strafbar gemacht hat.<br />
Beispiel:<br />
„Folglich hat B den C an der Gesundheit geschädigt.“<br />
→ So würde ein Ergebnis für einen einzelnen Prüfungspunkt aussehen.<br />
Hier hätte man geprüft, ob das objektive Tatbestandsmerkmal<br />
der Gesundheitsschädigung aus § 223 I StGB vorliegt.<br />
Diese 4 Schritte werden sowohl auf das gesamte Gutachten, als auch<br />
auf jedes zu prüfende Detail angewandt.<br />
Hier noch ein kleines Beispiel für einen zivilrechtlichen Fall:<br />
Obersatz:<br />
Für einen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung müsste<br />
der Schuldner die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben.<br />
Definition:<br />
Der Schuldner hat gemäß § 276 I BGB grundsätzlich Vorsatz und<br />
Fahrlässigkeit zu vertreten. Vorsatz ist das Wissen und Wollen des<br />
rechtswidrigen Erfolges. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche<br />
Sorgfalt außer Acht lässt.<br />
Subsumtion:<br />
A wusste vorliegend weder von der Reparatur, noch von einem<br />
Mangel. Er hat nichts zu der Unmöglichkeit (Pflichtverletzung) beigetragen.<br />
Ergebnis:<br />
Er hat diese somit auch nicht zu vertreten.<br />
C. PRÜFUNGSREIHENFOLGE<br />
Neben dem Gutachtenstil und der Reihenfolge der vier Schritte,<br />
muss auch eine Prüfungsreihenfolge eingehalten werden. Hierbei ist<br />
insbesondere im Strafrecht und im Zivilrecht zu unterscheiden.<br />
Im Strafrecht kann man verschiedentlich verfahren. Entweder man<br />
prüft nach der Schwere der Taten, nach dem Verhältnis in dem die<br />
Taten zueinander stehen oder man bildet chronologisch Handlungskomplexe<br />
und prüft in diesen Komplexen in der o.g. Reihenfolge.<br />
Was die für den Fall „beste“ Variante ist, hängt vom Fall ab und kann<br />
(leider) nicht pauschalisiert werden.<br />
Im Zivilrecht hingegen gibt es starre Vorgaben. Es gilt: Vertragliche<br />
Ansprüche sind immer vor gesetzlichen Ansprüchen zu prüfen. Insgesamt<br />
gilt folgende Prüfungsreihenfolge:<br />
I. Vertragliche Ansprüche<br />
1. Primäransprüche<br />
2. Sekundäransprüche<br />
II. Quasivertragliche Ansprüche (z.B. § 280 I i.V.m. § 311 II BGB)<br />
III. Allgemeine gesetzliche Ansprüche (z.B. § 426 I BGB)<br />
IV. Dingliche Ansprüche ( § 985 BGB)<br />
V. Deliktische Ansprüche (§§ 823 ff. BGB)<br />
VI. Bereicherungsrechtliche Ansprüche (§§ 812 ff. BGB)<br />
VII. Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB)<br />
10<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
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Diese Reihenfolge ist sowohl in Klausuren, als auch in Hausarbeiten<br />
strikt einzuhalten. Hinsichtlich einzelner Punkte (insbesondere GoA<br />
und Bereicherungsrecht) herrscht Uneinigkeit über die Prüfungsreihenfolge.<br />
Hier sollte man, soweit bekannt, auf die von dem jeweiligen<br />
Dozenten vertretene Auffassung oder einschlägige Literatur zurückgreifen.<br />
D. FORMALIEN EINER HAUSARBEIT<br />
Eine Hausarbeit muss neben der eigentlichen Fallbearbeitung noch<br />
einige weitere Dinge enthalten, die wiederum in einer bestimmten<br />
Reihenfolge angeordnet sein müssen.<br />
Die Hausarbeit besteht aus folgenden Elementen, die auch in folgender<br />
Reihenfolge in der Hausarbeit enthalten sein müssen:<br />
1. Deckblatt (ohne Seitenzahl).<br />
2. Sachverhalt (römische Seitenzahlen, beginnend mit II.).<br />
3. Inhaltsverzeichnis/Gliederung (fortlaufende römische<br />
Seitenzahlen im Anschluss an den Sachverhalt).<br />
4. Literaturverzeichnis (Seitenzahlen wie beim<br />
Inhaltsverzeichnis).<br />
5. Lösung bzw. Fallbearbeitung (arabische Seitenzahlen).<br />
6. Versicherung der eigenständigen Anfertigung und das<br />
ausschließliche Verwendung der .angegebenen Quellen.<br />
7. Unterschrift.<br />
Soweit im Sachverhalt der Hausarbeit zu den Formalien nichts anderes<br />
angegeben ist, gilt:<br />
· Zeilenabstand: 1 ½.<br />
· 1/3 Korrekturrand – also 7 cm (grundsätzlich rechts,<br />
kann aber je nach Dozent variieren).<br />
· Schriftgröße: 12 P., bei Standardschriftarten<br />
→ Arial, Times New Roman.<br />
· Fußnoten: 10 P., Schriftart wie im Gutachten selbst.<br />
E. GLIEDERUNG<br />
Sowohl Klausuren als auch Hausarbeiten sollten gegliedert werden.<br />
Klausuren sollten beispielsweise nach Anspruchsgrundlagen gegliedert<br />
werden. Es ist aber nicht erforderlich, dass sie so feingliedrig ist<br />
wie in einer Hausarbeit.<br />
Es gibt zwei verschiedene „Gliederungssysteme“. Dies sind die Dezimalgliederung<br />
und die alphanumerische Gliederung. Grundsätzlich<br />
gilt: „Wer ´a´ sagt, muss auch ´b´ sagen“!<br />
1. Dezimalgliederung 2. Alphanumerische<br />
Gliederung<br />
1.<br />
2.<br />
2.1<br />
2.2<br />
3.<br />
3.1<br />
3.2<br />
3.2.1<br />
3.2.2<br />
3.3 usw.<br />
Standard in juristischen<br />
Bearbeitungen<br />
▷<br />
A.<br />
I.<br />
1.<br />
a.<br />
b.<br />
2.<br />
a.<br />
a.a.<br />
b.b.<br />
a.a.a<br />
b.b.b<br />
c.c<br />
b.<br />
II.<br />
B. usw<br />
F. FORMALIEN EINER KLAUSUR<br />
Eine Klausur muss mit einem Deckblatt versehen werden. Das Deckblatt<br />
muss folgende Daten enthalten:<br />
1. Name (ggf. Anschrift)<br />
2. Matrikelnummer<br />
3. Anzahl Fachsemester<br />
4. Datum der Klausur<br />
5. Titel der Veranstaltung<br />
6. Dozent<br />
7. Veranstaltungskennziffer oder –nummer.<br />
Dieses Deckblatt muss als erstes Blatt der Klausur mitabgegeben werden<br />
oder als erste Seite angeheftet werden.<br />
Für die Gliederung gilt das oben bereits erwähnte Procedere.<br />
Innerhalb der Ausarbeitung sollten Zwischenergebnisse gemacht<br />
werden. Dies steigert die Übersichtlichkeit und ist somit ein wichtiger<br />
Bestandteil einer jeden Klausur. Jede Klausur endet mit einem<br />
Endergebnis, in dem praktisch die Zwischenergebnisse noch einmal<br />
zusammengefasst werden.<br />
Zudem muss immer ein Korrekturrand gelassen werden. In der Regel<br />
geht man von 1/3 der Seite aus und lässt diesen Rand auf der rechten<br />
Seite. Besondere Wünsche und Angaben des jeweiligen Dozenten<br />
sollten natürlich beachtet werden.<br />
G. HÄUFIGE FEHLER<br />
Da Gutachtenstil und Argumentationstechnik ein wichtiges Handwerkszeug<br />
für Juristen sind, sollte bereits zu Beginn des Studiums<br />
versucht werden, bei der Anwendung dieser bisweilen nicht gerade<br />
sehr beliebten Methoden Sorgfalt walten zu lassen. Möglichst früh<br />
sollten typische Fehler behoben werden.<br />
I. OBERSATZ<br />
Obersätze werden häufig zu oberflächlich formuliert und wichtige<br />
Bestandteile ausgelassen. Da der Obersatz aber die zu prüfende<br />
Fragestellung aufwirft, beschränkt und umschreibt, ist hier besondere<br />
Präzision erforderlich. Soweit es sich um den Obersatz für ein<br />
gesamtes Gutachten handelt sind alle wesentlichen Bestandteile zu<br />
nennen. Im Zivilrecht beispielsweise sind dies die sog. W´s (Wer will<br />
was von wem warum woraus). Häufig werden Obersätze diesbezüglich<br />
nicht genau genug formuliert. Angesichts der Umgrenzungsfunktion<br />
von Obersätzen sollte sich der Bearbeiter deshalb sorgsam<br />
überlegen, welche Fragestellung er beantworten möchte.<br />
Hinzukommt, dass häufig zu viele Prüfungspunkte in einen Obersatz<br />
integriert werden. So werden zum Beispiel gelegentlich von Klausurbearbeitern<br />
alle objektiven Tatbestandsmerkmale einer Körperverletzung<br />
gemäß § 223 I StGB in einen Obersatz gequetscht und im<br />
weiteren Verlauf auf Obersätze verzichtet. Das ist falsch. Jeder Prüfungspunkt<br />
muss mit einem eigenen Obersatz eingeleitet werden.<br />
Das vermeidet Verwirrungen und trägt zur Übersichtlichkeit eines<br />
Gutachtens bei.<br />
II. DEFINITION<br />
Bei der Definition muss strikt darauf geachtet werden, dass es nicht<br />
zu einer Vermischung mit der Subsumtion kommt. Häufig gelingt es<br />
Prüflingen nicht, diese beiden Schritte voneinander zu trennen.<br />
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III. SUBSUMTION<br />
Die Liste möglicher Fehlerquellen im Rahmen einer Subsumtion ist<br />
lang. Hier soll nur auf die häufigsten Fehler im Überblick eingegangen<br />
werden.<br />
1. ARBEIT MIT DEM SACHVERHALT<br />
Häufig geht der Blick auf den Sachverhalt verloren. In den meisten<br />
Fällen ist es so, dass die Sachverhalte ausreichend Argumentationsmaterial<br />
liefern. Dabei darf aber nicht der Fehler gemacht werden,<br />
dass der Sachverhalt lediglich wiedergegeben und nicht mit der Definition<br />
in Beziehung gesetzt wird. Es ist ja gerade die Aufgabe des<br />
Prüflings, den Sachverhalt unter die Definition zu subsumieren.<br />
Gelegentlich stehen die Bearbeiter einer Klausur oder Hausarbeit<br />
aber auch vor dem Problem, dass sie den Eindruck haben, der Sachverhalt<br />
liefere keine klaren Antworten auf ihre Fragen und lasse wesentliche<br />
Aspekte aus. Umstritten ist, wie damit umzugehen ist. Auf<br />
der einen Seite wird vertreten, dass der Sachverhalt in den Grenzen<br />
der sog. lebensnahen Auslegung interpretiert werden darf. Dies ist<br />
ein sehr schmaler Grad, bei dessen Beschreitung Vorsicht geboten<br />
ist. Andererseits wird jegliche Sachverhaltsauslegung für unzulässig<br />
erachtet. Wichtig ist nur: Sollten Bearbeiter das Bedürfnis haben, einen<br />
Sachverhalt auszulegen, sollten Sie dabei sehr vorsichtig sein und<br />
mit derartigen Interpretationen sparsam sein. So ist die Auslegung,<br />
die an einer norddeutschen Universität mal von einem Studierenden<br />
vorgenommen worden ist, dass alleinerziehende Mütter generell<br />
dazu neigen ein Problem mit Alkoholmissbrauch zu haben, fernab<br />
jeglicher lebensnaher Interpretation. Im Grundsatz gilt: „Der Sachverhalt<br />
ist heilig!“<br />
2. UMGANG MIT MEINUNGSSTREITEN<br />
Auch der Umgang mit Meinungsstreiten enthält einige Fehlerquellen.<br />
Insbesondere die Darstellung von Meinungsstreiten überfordert<br />
einige Bearbeiter gelegentlich. Wichtig ist, dass jeder Meinungsstreit<br />
klar strukturiert dargestellt und vermieden wird, verschiedene Meinungen<br />
wild durcheinander zu werfen. Ist ein Streitenscheid erforderlich,<br />
gelingt es vielen Bearbeitern bei der eigenen Stellungnahme<br />
nicht, sich von den Argumenten anderer ausreichend zu distanzieren.<br />
Eine Stellungnahme darf nicht aus einer Zusammenfassung der<br />
gerade dargestellten Auffassungen bestehen.<br />
IV. ERGEBNIS/KONKLUSION<br />
Gelegentlich wird aus dem Blick verloren, welche Frage im Obersatz<br />
aufgeworfen worden ist. Nur diese und nichts anderes sollte im Ergebnis<br />
beantwortet werden. Die Konklusion muss sich also eng an<br />
der Fragestellung im Obersatz orientieren.<br />
Unabhängig von diesen Fehlern im Bereich der 4-Schritt-Methode<br />
fällt auf, dass häufig Schwerpunkte falsch gesetzt werden. In Klausuren<br />
und Hausarbeiten sollte die meiste Energie in problematische<br />
Punkte investiert werden. Unproblematisches kann kurz und prägnant<br />
abgehandelt werden.<br />
Viel zu häufig wird den Fallfragen nicht gebührend Beachtung geschenkt.<br />
Insgesamt sollte ein Gutachten auf die Fallfrage fokussiert<br />
werden. In Kombination mit den erkannten Problemen gibt diese<br />
den Weg für eine erfolgreiche und ausgewogene Prüfung vor und eröffnet<br />
den Blick auf sich ggf. stellende Anschlussprobleme.<br />
Wer will was von wem woraus? – „BGB AT“ 1 die Basis des Zivilrechts<br />
von Herausgeber Jens-Peter Thiemann (Bielefeld) 2<br />
A. EINFÜHRUNG 12<br />
II. DIE SYSTEMATIK DES BÜRGERLICHEN GESETZBUCHES<br />
1 BGB=Bürgerliches Gesetzbuch<br />
2 Der Autor ist derzeit Rechtsreferendar am OLG Hamm und Herausgeber dieser Zeitschrift. Sie erreichen den Autor unter herausgeber@iurratio.de.<br />
Im folgenden Beitrag soll Ihnen ein erster Einblick in die Inhalte der<br />
im ersten Semester angebotenen Veranstaltung „BGB – Allgemeiner<br />
Teil“ gegeben werden.<br />
I. DAS BÜRGERLICHE GESETZBUCH<br />
Das Bürgerliche Gesetzbuch ist das zentrale Gesetzeswerk des<br />
Zivilrechts. Dabei regelt das Zivilrecht, ausgehend von der sog.<br />
„Privatautonomie“ 3 , als der Freiheit seine Rechtsverhältnisse selbst<br />
gestalten zu können, 4 die Rechtsbeziehungen von Rechtssubjekten,<br />
hierzu gehören insbesondere die Bürger als natürliche Personen und<br />
die von diesen gegründeten sog. juristischen Personen. Dabei wird<br />
sowohl das Verhältnis der Bürger als natürliche Personen zueinander,<br />
im Verhältnis zu von diesen gegründeten juristischen Personen<br />
sowie zwischen jur. Personen geregelt. Das bürgerliche Recht ist neben<br />
dem Arbeitsrecht, dem Handelsrecht, dem Gesellschaftsrecht,<br />
der Zivilprozessordnung und dem „Internationalen Privatrecht“ der<br />
wichtigste Teil des Zivilrechts innerhalb der juristischen Ausbildung<br />
für das erste juristische Staatsexamen.<br />
1 BGB=Bürgerliches Gesetzbuch.<br />
2 Der Autor ist derzeit Rechtsreferendar am OLG Hamm und Herausgeber dieser Zeitschrift. Sie erreichen<br />
den Autor unter herausgeber@iurratio.de.<br />
3 Privatautonomie bedeutet in erster Linie Vertragsfreiheit.<br />
4 Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 34. Auflage § 5 Rn. 1.<br />
Das Bürgerliche Gesetzbuch ist systematisch in fünf Bücher unterteilt:<br />
1. Buch: Allgemeiner Teil (§§ 1 – 240)<br />
2. Buch: Schuldrecht ( §§ 241 – 853)<br />
3. Buch: Sachenrecht ( §§ 854 – 1296)<br />
4. Buch: Familienrecht ( §§ 1297 – 1921)<br />
5. Buch: Erbrecht ( §§ 1922 – 2385)<br />
Die Systematik des BGB lässt sich am einfachsten an Hand der aus<br />
der Schulzeit bekannten mathematischen Methode „etwas vor die<br />
Klammer zu ziehen“ beschreiben. Die Inhalte des „Allgemeinen<br />
Teils“ gelten für das gesamte Bürgerliche Gesetzbuch, also für das 2.<br />
bis 5. Buch, sofern nicht in einem der anderen Teile etwas anderes,<br />
spezielleres geregelt ist. In diesem Fall tritt entweder die speziellere<br />
Regel an die Stelle der allgemeinen Regelung oder ergänzt und konkretisiert<br />
diese. Etwas anderes gilt grundsätzlich für die anderen Bücher:<br />
Regelungen des 2. Buches gelten beispielsweise nicht automatisch<br />
für das dritte, vierte oder fünfte Buch. Innerhalb des zweiten<br />
Buches gibt es beispielsweise auch einen allgemeinen Teil, der innerhalb<br />
des gesamten besonderen Teiles des Schuldrechts allgemeingültige<br />
Regelungen trifft, sonst aber nur in Ausnahmen für das 3. bis 5.<br />
Buch Gültigkeit hat.<br />
12<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
III. BGB – „ALLGEMEINER TEIL“<br />
Aufgrund der dargestellten Systematik kommt dem „Allgemeinen<br />
Teil“ des BGB eine besondere Bedeutung zu, die nicht zuletzt von<br />
Examenskandidaten oftmals unterschätzt wird: Der „Allgemeine<br />
Teil“ des Bürgerlichen Gesetzbuches bildet nicht nur die Basis des<br />
Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern des gesamten Zivilrechts. Das<br />
Verständnis spezieller Probleme und Regelungen der weiteren Bücher<br />
des BGB und sonstiger zivilrechtlicher Regelungen hängt nicht<br />
zuletzt davon ab, ob die Grundprinzipien des „Allgemeinen Teils“<br />
des BGB verstanden wurden.<br />
Innerhalb des Allgemeinen Teils werden die Grundregeln für Rechtsubjekte<br />
im Zivilrecht, also die Subjekte, die auf der Grundlage des<br />
Zivilrechts berechtigt und oder verpflichtet werden können, behandelt.<br />
Dabei kommt den Regelungen für die Begründung von<br />
Rechtsgeschäften (§§ 104-185 BGB, insbesondere zu Verträgen die<br />
§ 145-157 BGB, sowie zu den für den Abschluss von Verträgen notwendigen<br />
Erklärungen, einen Vertrag abschließen zu wollen, sog.<br />
„Willenserklärungen“ 5 ) eine besondere Bedeutung zu. 6<br />
B. KLAUSURPRÜFUNG, -THEMEN UND ANFORDERUNGEN<br />
Im Folgen sollen die wichtigsten Grundlagen für die Bearbeitung<br />
einer zivilrechtlichen Klausur sowie die typischen Probleme einer<br />
Anfängerklausur im BGB AT behandelt.<br />
I. KLAUSURPRÜFUNG<br />
1. DIE PRÜFUNG IM ZIVILRECHT<br />
Ausgangspunkt bürgerrechtlicher Klausuren ist immer die Frage,<br />
wer von wem ein Tun oder Unterlassen fordern kann, wie es beispielsweise<br />
auch in § 194 I BGB und somit im „Allgemeinen Teil“, legal<br />
definiert ist. 7 Dabei ist grundsätzlich die bereits in der Überschrift<br />
genannte Frage „Wer will was von wem woraus“ die Grundlage jeder<br />
Prüfung. Mit „wer“ ist der jeweilige Anspruchssteller gemeint, der<br />
etwas erhalten möchte. Mit „was“ ist der jeweilige Anspruchsgegenstand<br />
gemeint, der vom jeweiligen Anspruchsgegner („wem“) verlangt<br />
wird. Voraussetzung dafür ist, dass der Anspruchssteller eine<br />
Anspruchsgrundlage hat, aufgrund derer er zum Fordern des Anspruchsgegenstandes<br />
berechtigt ist („woraus“). 8<br />
Meist lauten die Klausuraufgaben etwa „K verlangt von V Herausgabe<br />
eines Fahrrades. Zu Recht?“ oder „Kann K von V Rückzahlung<br />
des Kaufpreises in Höhe von 1000,- € verlangen?“.<br />
In diesen Fällen ergibt sich bereits aus der Aufgabenstellung, „wer“<br />
von „wem“ „was“ will. Gelegentlich kommt es vor, dass diese Frage<br />
aus dem Kontext des Falles zu entnehmen ist. Hier lautet die Fragestellung<br />
dann meist „Wie ist die Rechtslage?“.<br />
Wenn also die Frage, wer von wem was will noch relativ einfach<br />
zu beantworten ist, so kommt es danach entscheidend darauf an,<br />
mögliche Anspruchsgrundlagen für das jeweilige Begehren des Anspruchsstellers<br />
zu finden. 9<br />
Dabei gibt es eine ganz klare Prüfungsreihenfolge:<br />
1. vertragliche Ansprüche (z.B. aus einem Kaufvertrag)<br />
2. Vertragsähnliche Ansprüche (z.B. aus einer<br />
Geschäftsführung ohne Auftrag)<br />
3. Sachenrechtliche Ansprüche (z.B. aufgrund einer<br />
Eigentümerstellung i.S.d. § 903 BGB)<br />
4. Bereicherungsrechtliche Ansprüche<br />
(z.B. aus einer ungerechtfertigten Bereicherung)<br />
5. Deliktische Ansprüche<br />
(z.B. auf Grund einer Unfallverursachung)<br />
Diese Prüfungsreihenfolge ist zwingend und folgt systematischen<br />
Gesichtspunkt. Dies ist am einfachsten so zu erklären: Wenn A und<br />
B einen (Kauf-)Vertrag i.S.d. § 433 I BGB über den Kauf eines Buches<br />
zum Preis von 10,- € schließen und B an A das Buch übergibt, dann<br />
hat B gegen A einen Anspruch auf Bezahlung des Buches aus § 433<br />
II BGB. Aufgrund des geschlossenen Vertrages, scheidet dann ein<br />
vertragsähnlicher Anspruch aus einer möglichen Geschäftsführung<br />
ohne Auftrag denklogisch aus. B handelte gerade nicht ohne Auftrag,<br />
sondern übergab das Buch an A auf Grund der Verpflichtung aus<br />
dem mit A geschlossenen Kaufvertrag gemäß § 433 I BGB.<br />
Da es allerdings eine Vielzahl vertraglicher, vertragsähnlicher, sachenrechtlicher,<br />
bereicherungsrechtlicher und deliktischer Ansprüche<br />
gibt und gerade in Fortgeschrittenen-Klausuren oftmals mögliche<br />
Anspruchsgrundlagen übersehen werden, sollte von Anfang an<br />
in jeder Klausur zumindest kurz über mögliche Anspruchsgrundlagen<br />
der hier genannten fünf Bereiche nachgedacht werden.<br />
2. DIE PRÜFUNG EINER ANSPRUCHSGRUNDLAGE<br />
Sobald die in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen ermittelt<br />
wurden, so ist dann zu prüfen, ob der mögliche Anspruchsinhaber<br />
im vorliegenden Fall tatsächlich einen Anspruch aufgrund einer bestimmten<br />
Anspruchsgrundlage hat.<br />
a) Anspruch entstanden?<br />
Zunächst ist dabei zu prüfen, ob ein möglicher Anspruch entstanden<br />
ist. 10 Hier wird die Frage geklärt, ob die tatbestandlichen Anforderungen<br />
einer Anspruchsgrundlage erfüllt sind.<br />
Sind diese Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, so gilt die jeweilige<br />
Rechtsfolge der Anspruchsgrundlage, sofern der jeweilige Anspruch<br />
tatsächlich noch besteht und der Anspruchsgegner seinerseits keine<br />
Rechte besitzt, die der Durchsetzung des jeweiligen Anspruches entgegenstehen.<br />
Diese Prüfung folgt dem Gedanken, dass zunächst festzustellen ist,<br />
ob tatsächlich ein Anspruch nach den Voraussetzungen einer Anspruchsgrundlage<br />
dem Grunde nach entstanden ist.<br />
b) Anspruch untergegangen?<br />
Dann ist zu prüfen, ob dieser Anspruch nicht möglicherweise dadurch<br />
erloschen bzw. untergegangen ist, dass der zugrundeliegende<br />
Vertrag nach Vertragsschluss unwirksam 11 oder unmöglich 12 geworden<br />
ist oder vielleicht der Anspruchsgegner den bestehenden Anspruch<br />
längst erfüllt hat. 13<br />
Dies soll an einem kurzen Beispielsfall 14 verdeutlicht werden:<br />
Der A hat bei B ein Fahrrad zum Preis von 100,- € gekauft. A zahlt<br />
an B die 100,- €. B übergibt an A das Fahrrad. Dennoch behauptet A,<br />
dass B ihm das Fahrrad nicht übergeben hätte und erhebt eine Klage.<br />
Hier haben sich A und B darauf geeinigt, das B an A gegen einen<br />
Preis von 100,- € ein Fahrrad aushändigt, also einen Kaufvertrag<br />
5 Eine Willenserklärung ist die Willensäußerung einer Person, die unmittelbar auf den Eintritt einer<br />
privatrechtlichen Rechtsfolge gerichtet ist (vgl. Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 34. Auflage, § 6 m.w.N.).<br />
6 Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 34. Auflage, § 5 Rn. 5.<br />
7 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. Rn. 8.<br />
8 Vgl. Medicus, Grundwissen zum Bürgerlichen Recht, 9. Auflage, Rn. 16.<br />
9 Ebenda.<br />
10 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage, Rn. 11.<br />
11 Z.B. durch eine Anfechtung i.S.d. §§ 142 ff. BGB, s. hierzu „typische Klausurprobleme“.<br />
12 Z.B. durch eine nachträgliche Unmöglichkeit i.S.d. § 275 I BGB.<br />
13 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage, Rn. 26, 27.<br />
14 Beachte: Die folgenden Ausführungen sind zu Zwecken der vereinfachten Darstellung nicht im<br />
Gutachtenstil gehalten. In einer Klausur muss der Gutachtenstil penibel eingehalten werden.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
13
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
i.S.d. § 433 I BGB abgeschlossen. Demnach kann A von B die Übergabe<br />
des Fahrrades verlangen. Der entsprechende Anspruch ist also<br />
entstanden. Allerdings hat B das Fahrrad bereits übergeben, so dass<br />
der Anspruch durch die Übergabe erfüllt wurde und damit gem.<br />
§ 362 I BGB erloschen ist. In diesem Fall ist der Anspruch zwar anfänglich<br />
entstanden, besteht aber aufgrund der Erfüllung ab dem<br />
Zeitpunkt der Übergabe nicht weiter. Jetzt könnte man denken, dass<br />
die Prüfung ob ein Anspruch überhaupt entstanden ist, hier überflüssig<br />
sei, da ja bereits erkennbar war, dass dieser durch die Erfüllung<br />
erloschen ist.<br />
Allerdings zeigt hier der Prüfling, dass er den Sinn und den Umgang<br />
mit Anspruchsgrundlagen verstanden hat. Daneben könnte auch die<br />
Erfüllung wiederum unwirksam sein. Dies wäre beispielsweise der<br />
Fall, wenn B das Fahrrad geklaut hatte und daher nicht an A übergeben<br />
durfte. In diesem Fall hätte B zwar scheinbar erfüllt, der bestehende<br />
Anspruch des A wäre jedoch nicht erfüllt worden und somit<br />
nicht erloschen.<br />
c) Anspruch durchsetzbar?<br />
Wenn ein Anspruch entstanden ist und dieser nicht „untergegangen“<br />
oder „erloschen“ ist, so kann dieser möglicherweise auf Grund einer<br />
sog rechtshemmenden Einrede aber vorübergehend oder dauerhaft<br />
nicht mehr (gerichtlich) durchsetzbar sein. Dies beruht unter anderem<br />
auf dem Grundsatz, dass nach einer bestimmten Zeit Rechtssicherheit<br />
für alle Beteiligten eintreten soll. Dies geht dann meist zu<br />
Lasten des Anspruchsinhabers. Es ist dann an ihm, seinen Anspruch<br />
rechtzeitig geltend zu machen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen,<br />
dass der Anspruchsgegner auf die sog. rechtshemmenden Einreden<br />
auch berufen muss, damit sie die gerichtliche Geltendmachung<br />
auch behindern können. 15<br />
Dies bedeutet, dass dem Anspruchsgegner ein Recht eingeräumt<br />
wird, dass den Anspruchsinhaber daran hindert, seinen Anspruch<br />
durchzusetzen.<br />
Dies soll kurz an einem Beispiel verdeutlicht werden:<br />
Fall: Der A hat bei B ein Fahrrad zum Preis von 100,- € gekauft. A<br />
zahlt die 100,- €. Trotz mehrfacher Aufforderung durch B holt A das<br />
Fahrrad aber mehr als 3 Jahre lang nicht ab.<br />
Grundsätzlich haben A und B sich über den Kauf des Fahrrades geeinigt<br />
und dabei einen wirksamen Kaufvertrag i.S.d. § 433 I BGB geschlossen.<br />
Nach der Rechtsfolge des § 433 I BGB kann A von B die<br />
Übereignung und Übergabe des Fahrrades verlangen. Allerdings hat<br />
A dies mehr als 3 Jahre nicht getan. Im „Allgemeinen Teil“ des BGB<br />
ist geregelt, dass Ansprüche nach einer gewissen Zeit, in der Regel 3<br />
Jahre, zwar weiterhin bestehen, aber die Durchsetzbarkeit „verjährt“.<br />
A ist grundsätzlich ein Anspruch auf Übergabe und Übereignung des<br />
Fahrrades gemäß § 433 I BGB entstanden. Diese Rechtsfolge ist aber<br />
aufgrund der beschriebenen Verjährung jedoch nicht mehr durchsetzbar.<br />
II. KLAUSURTHEMEN<br />
Klassisch wird in BGB AT-Klausuren meist geprüft, ob beispielsweise<br />
K von V aus einem Kaufvertrag i.S.d. § 433 I BGB einen Anspruch<br />
auf Übergabe einer Sache hat oder V von K gemäß § 433 II BGB<br />
einen Anspruch auf Bezahlung des Kaufpreises hat. Dabei geht es<br />
meist um die Frage folgender Probleme:<br />
1. ob ein Vertrag aufgrund der Minderjährigkeit des Käufers oder<br />
des Verkäufers möglicherweise „unwirksam“ war und damit kein<br />
Anspruch entstanden ist. - „sog. Minderjährigkeitsprobleme“,<br />
15 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage, Rn. 28.<br />
2. um einen Vertrag, wo der Käufer oder der Verkäufer einen Dritten<br />
einschaltet und dieser dann den Käufer bzw. Verkäufer gegenüber<br />
dem Käufer bzw. Verkäufer vertritt bzw. der Dritte für diesen als Bote<br />
eine Erklärung übermittelt. Dabei erklärt oder übermittelt der Dritte<br />
meist entweder absichtlich oder unabsichtlich etwas anderes, als ihm<br />
durch den Käufer(Verkäufer) aufgetragen worden war. Dann ist meist<br />
danach gefragt, von wem der nicht vertretene Käufer(Verkäufer) die<br />
Erfüllung der vertraglichen Pflicht verlangen kann. – „sog. Stellvertretungsproblematiken“,<br />
3. um einen Vertrag, bei dem der Käufer oder Verkäufer versehentlich<br />
etwas anderes erklärt, als er erklären wollte oder bei dem der<br />
Käufer den Verkäufer über die tatsächlichen Eigenschaften des Kaufgegenstandes<br />
wissentlich täuscht. Dies wäre z.B. der Fall, wenn der<br />
Verkäufer an den Käufer wider besseres Wissen die Fälschung eines<br />
Bildes als Original verkauft. Dabei erklärt der Käufer meist, sich<br />
nicht mehr an den Kauf gebunden zu fühlen und will den Kaufpreis<br />
nicht bezahlen. - „sog. Anfechtungsproblematiken“.<br />
In anspruchsvolleren Klausuren sind die genannten Probleme nicht<br />
auf der vertraglichen Anspruchsgrundlage aus § 433 I BGB oder<br />
§ 433 II BGB zu prüfen, sondern auf der sachenrechtlichen Anspruchsgrundlage<br />
des § 985 I BGB und/oder der bereicherungsrechtlichen<br />
Anspruchsgrundlage des § 812 I 1 1.Alt BGB Gegenstand der<br />
Untersuchung. Dabei ist aufgrund der oben genannten Reihenfolge<br />
zunächst ein möglicher Anspruch aus § 985 I BGB zu prüfen.<br />
III. LITERATUR<br />
Auch im Zivilrecht sollte man sich ein Lehrbuch sorgfältig auswählen<br />
und sich dabei nicht von ausgeteilten Literaturübersichten beeinflussen<br />
lassen. Wichtig ist, dass man mit dem Lehrbuch gut lernen kann.<br />
Dafür kopiert man sich am besten einige Kapitel zum Probelesen aus<br />
den in Frage kommenden Lehrbüchern zu Vergleichszwecken und<br />
entscheidet sich dann für das Buch, mit dem man am besten arbeiten<br />
konnte.<br />
Gängige und durchaus empfehlenswerte Bücher sind die folgenden,<br />
beispielhaft benannten Werke:<br />
· Hans Brox/Wolf-Dietrich Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 35. Auflage<br />
2011, ISBN 978-3-8006-3905-2<br />
· Christian Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage 2011,<br />
ISBN 978-3-8114-9647-7b<br />
· Helmut Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 35. Auflage 2011,<br />
ISBN 978-3-406-62598-5<br />
· Rolf Schmidt, BGB Allgemeiner Teil, 7. Auflage 2010,<br />
ISBN 978-3-86651-083-8<br />
Gleichwohl sollte sich jeder selbst mit dem Lehrbuchangebot befassen<br />
und völlig unbeeinflusst von Empfehlungen eine Kaufentscheidung<br />
treffen.<br />
C. FAZIT<br />
Der „Allgemeine Teil“ des BGB ist für die zivilrechtliche Ausbildung<br />
im juristischen Studium von besonderer Bedeutung und sollte daher<br />
intensiv geübt werden. Wenn man sich dem Zivilrecht allerdings<br />
grundsätzlich mit juristischen Methoden, insbesondere systematischen<br />
Überlegungen nähert, so sind zivilrechtliche Klausuren gut<br />
zu bewältigen.<br />
14<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Was erwartet mich eigentlich im Strafrecht?<br />
von Chefredakteur Alexander Otto (Oldenburg) 1<br />
1 Der Autor war bis August 2011 Rechtsreferendar am OLG Oldenburg und absolvierte seine<br />
A. Wahlstation EINLEITUNGbei der Staatsanwaltschaft Oldenburg. Im September 2011 schloss er seine juristische<br />
1<br />
Ausbildung mit der 2. Juristischen Staatsprüfung ab. Zuvor machte er 2006 an der Universität Bremen<br />
Das<br />
sein<br />
Strafrecht<br />
erstes<br />
ist<br />
Staatsexamen,<br />
eigentlich von den<br />
wo<br />
Lebenssachverhalten<br />
er auch von 2006<br />
her mit<br />
bis<br />
das<br />
zum Beginn seines Referendariats im September 2009<br />
interessanteste Rechtsgebiet, spielt allerdings in Studium, Referendariat<br />
Wissenschaftlicher und insbesondere in den Mitarbeiter Examensprüfungen am Lehrstuhl leider eine untergeordnete<br />
Sie erreichen Rolle. Zumeist Alexander wird sowohl Otto im ersten unter Staatsexamen alexander.otto@iurratio.de.<br />
als<br />
für Straf- und Strafprozessrecht, Prof. Dr. Edda Weßlau, war.<br />
auch<br />
im zweiten Staatsexamen nur eine einzige strafrechtliche Klausur<br />
geschrieben. Dies soll aber nicht über die tatsächliche Bedeutung des<br />
Strafrechtes hinweg täuschen.<br />
Strafrecht ist nicht nur eine untergeordnete Materie des öffentlichen<br />
Rechts, sondern ein eigenständiges und umfassendes Rechtsgebiet.<br />
Wesentliche Rechtsquellen des Strafrechts sind das Strafgesetzbuch<br />
(StGB) und die Strafprozessordnung (StPO). Aber auch in diversen<br />
anderen Nebengesetzen finden sich strafrechtliche Vorschriften, die<br />
allerdings für die Ausbildung im Studium nur von eher untergeordneter<br />
Rolle sind. Bis zum ersten Staatsexamen wird der Schwerpunkt<br />
der Ausbildung im Bereich des materiellen Rechts sein, im Referendariat<br />
spielt dann das Strafverfahrensrecht eine größere Rolle.<br />
Will man etwas wissenschaftlicher ausdrücken, was Strafrecht ist,<br />
kann man dies sehr gut mit dem folgenden Satz zusammenfassen:<br />
Das Strafrecht ist der Teil der Rechtsordnung, der die Voraussetzungen<br />
und Folgen der mit einer Strafe oder Maßregel der Sicherung<br />
und Besserung bedrohten Verhaltensweisen regelt. 2 Mit anderen<br />
Worten ausgedrückt ist Strafrecht die Rechtsmaterie, die sich im Wesentlichen<br />
mit dem Fehlverhalten von Bürgern befasst, das so erheblich<br />
ist, dass der Gesetzgeber dies mit Strafe bedroht hat.<br />
Das Strafgesetzbuch ist im Wesentlichen in zwei große Abschnitte<br />
geteilt: Es gibt einen sog. „Allgemeinen Teil“ und einen „Besonderen<br />
Teil“. Der „Allgemeine Teil“ befasst sich mit all denjenigen Regelungen,<br />
die so übergreifend sind, dass sie für alle Straftatbestände<br />
Geltung haben, soweit nicht besondere Ausnahmen bei den jeweiligen<br />
Tatbeständen geregelt sind. Der „Allgemeine Teil“ bildet also,<br />
will man Anleihen bei der Mathematik nehmen, die „Klammer“<br />
für alle strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen. So ist hier z.B.<br />
geregelt, was überhaupt Vorsatz und Fahrlässigkeit sind, wann eine<br />
Straftat nur versucht, wann sie beendet oder vollendet ist und wer<br />
überhaupt Täter einer Straftat sein kann.<br />
man zu dem Ergebnis kommen, dass sich T wegen einfacher Körperverletzung<br />
gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat, im Hinblick<br />
auf das Plastik-Schwert unter Umständen sogar wegen gefährlicher<br />
Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 Nr. 2 StGB schuldig gemacht<br />
hat. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ergebnis so nicht richtig sein<br />
kann, da T erst 10 Jahre alt ist und - wie jeder weiß - damit überhaupt<br />
noch nicht strafmündig ist. Insoweit muss man zusätzlich einen Blick<br />
in den „Allgemeinen Teil“ des StGB werfen: Bei einem Blick in § 19<br />
StGB stellt man dann schnell fest, dass T aufgrund seines Lebensalters<br />
von 10 Jahren schuldunfähig ist. Demnach kann er sich auch<br />
nicht wegen Körperverletzung strafbar machen. An diesem Beispiel<br />
wird deutlich, dass die Beurteilung der Frage, ob sich eine Person<br />
durch ein bestimmtes Verhalten strafbar gemacht hat, nicht allein<br />
dadurch beantworten lässt, dass man nur die Voraussetzungen der<br />
Strafvorschriften im „Besonderen Teil“ des StGB prüft. Hinzu kommen<br />
muss eine Prüfung der allgemeinen Vorschriften.<br />
B. WICHTIGE THEMEN DES STRAFRECHTS DER ERSTEN<br />
SEMESTER UND KLAUSURANFORDERUNGEN<br />
I. THEMEN<br />
Der Schwerpunkt der universitären Ausbildung wird in den ersten<br />
etwa vier Semestern auf die Vermittlung der Vorschriften des „Allgemeinen<br />
Teils“ gelegt. Dabei steht ganz zu Anfang das sog. vorsätzliche<br />
Begehungsdelikt im Vordergrund. Die Körperverletzung gem.<br />
§ 223 Abs. 1 StGB ist z.B. ein solches vorsätzliches Begehungsdelikt.<br />
Anhand der Körperverletzung oder aber auch z.B. des Diebstahls<br />
gem. § 242 StGB lässt sich dann recht gut der Tatbestandsaufbau erklären.<br />
Hierbei wird man zunächst lernen, dass es einen objektiven<br />
und einen subjektiven Tatbestand gibt. Im objektiven Tatbestand, das<br />
sagt auch schon der Name, werden die objektiven Voraussetzungen<br />
eines Straftatbestandes geprüft. Bei der Körperverletzung nach § 223<br />
Abs. 1 StGB sind dies z.B. die „körperliche Misshandlung“ 3 und die<br />
„Gesundheitsschädigung“ 4 . Soweit dies erforderlich ist, werden im<br />
objektiven Tatbestand dann auch noch die sog. Kausalität und objektive<br />
Zurechnung geprüft. Sowohl die Kausalität, mit der ein Ursachenzusammenhang<br />
abgebildet werden soll, als auch die objektive<br />
Zurechnung, die bestimmte Ergebnisse des Ursachenzusammenhanges<br />
korrigieren soll, werden Thema der ersten Semester sein.<br />
Der „Besondere Teil“ hingegen regelt in diversen Strafvorschriften,<br />
welches Verhalten unter welchen Voraussetzungen wie mit Strafe<br />
bedroht ist. Unterschied und Zusammenwirken von „Allgemeinem“<br />
und „Besonderem Teil“ des StGB lassen sich vielleicht an einem Beispiel<br />
ganz gut verdeutlichen:<br />
„Der zehnjährige T schlägt seine 45 jährige Mutter mit einem Spielzeug-Plastik-Schwert<br />
so, dass diese ein blaues Auge davon trägt.“<br />
Würde man dieses Verhalten strafrechtlich beurteilen wollen und<br />
nur einen Blick in den „Besonderen Teil“ des StGB werfen, würde<br />
Neben den genannten Themen des „Allgemeinen Teils des Strafrechts“<br />
werden in den ersten Semestern auch noch der Versuch (§§<br />
22, 23 StGB), die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit,<br />
sowie Aspekte von Rechtswidrigkeit und Schuld vermittelt. Ebenso<br />
werden die Unterschiede von Vorsatz und Fahrlässigkeit erklärt.<br />
Hinsichtlich des „Besonderen Teils“ des Strafrechts werden zunächst<br />
die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte und dann die Eigentumsund<br />
Vermögensdelikte im Vordergrund der Ausbildung stehen. In<br />
diesem Zusammenhang werden auch erste Probleme der einzelnen<br />
Straftatbestände aufgegriffen.<br />
1 Der Autor war bis August 2011 Rechtsreferendar am OLG Oldenburg und absolvierte seine Wahlstation<br />
bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg. Im September 2011 schloss er seine juristische Ausbildung<br />
mit der 2. Juristischen Staatsprüfung ab. Zuvor machte er 2006 an der Universität Bremen sein erstes<br />
Staatsexamen, wo er auch von 2006 bis zum Beginn seines Referendariats im September 2009 Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht, Prof. Dr. Edda Weßlau, war. Sie<br />
erreichen Alexander Otto unter alexander.otto@iurratio.de.<br />
2 Kindhäuser, Strafrecht AT, §1, Rn.1, S.29.<br />
3 Definition: Eine körperliche Misshandlung ist jedes üble, unangemessene Behandeln, das das körperliche<br />
Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt.<br />
4 Definition: Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines nicht nur vorübergehenden<br />
krankhaften Zustandes.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
15
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
II. KLAUSURANFORDERUNGEN<br />
Anfängerklausuren, die in aller Regel als sog. Semesterabschlussklausuren<br />
gestellt werden, halten sich vom Schwierigkeitsgrad in der Regel<br />
in Grenzen. Dennoch sollte man den Lernaufwand im Strafrecht<br />
nicht unterschätzen. Gerade im Strafrecht ist es wichtig, bestimmte<br />
Meinungsstreitigkeiten und die dazu vertretenen Theorien zu kennen<br />
und gegebenenfalls auswendig zu lernen. Dies gilt auch für die<br />
wichtigsten Definitionen. Im Rahmen der ersten Klausuren muss<br />
man in der Lage sein, einen Straftatbestand korrekt durchzuprüfen.<br />
Deshalb ist der Deliktsaufbau auch von ganz elementarer Bedeutung.<br />
Von Beginn an sollte man zudem darauf achten, dass man die strafrechtstypischen<br />
Fachausdrücke und Ausdrucksweisen beherrscht. So<br />
ist es ein grober Fehler, wenn man die Strafbarkeit einer Person prüft<br />
und dabei ständig von Ansprüchen redet. Ansprüche prüft man im<br />
Zivilrecht, nicht jedoch im Strafrecht. Deshalb prüft man immer die<br />
Strafbarkeit einer Person. Anspruchsgrundlagen gibt es deshalb auch<br />
nur im Zivilrecht und nicht im Strafrecht. Im Strafrecht spricht man<br />
von Straftatbeständen. Auch sollten Sie spätestens nach dem 3. Semester<br />
den Unterschied zwischen einem Vorsatz- und einem Fahrlässigkeitsdelikt<br />
kennen. Es ist grob falsch, wenn man z.B. eine fahrlässige<br />
Tötung nach § 222 StGB dergestalt prüft, dass man die Fahrlässigkeit<br />
in den subjektiven Tatbestand einordnet. Der Fahrlässigkeitsaufbau<br />
unterscheidet sich erheblich vom Aufbau eines vorsätzlichen Begehungsdeliktes.<br />
Dies sollte man sich auch in den ersten Semestern<br />
verdeutlichen.<br />
Wichtig ist auch der Umstand, in welcher Reihenfolge man mehrere<br />
Straftatbestände durchprüft. Dies kommt dann in Frage, wenn ein<br />
bestimmtes Verhalten einer Person u.U. mehrere Straftatbestände<br />
verwirklicht. In der Regel ist stets mit dem schwersten Delikt zu<br />
beginnen. Schwer meint hier jedoch nicht die Komplexität des Delikts,<br />
sondern die Strafandrohung. Hat eine Person z.B. durch den<br />
gezielten Einwurf eines Molotowcocktails in ein Jugendzentrum<br />
mehrere Menschen getötet, so ist nicht mit der Brandstiftung oder<br />
der Sachbeschädigung an dem Jugendzentrum zu beginnen, sondern<br />
mit dem Mord. Denn dieser ist mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe<br />
bedroht.<br />
C. KLAUSURAUFBAU - DAS „KNOW-HOW“<br />
Dieser Aufsatz soll sich auf die Darstellung der Prüfung eines vorsätzlichen<br />
Begehungsdeliktes beschränken. Beim vorsätzlichen Begehungsdelikt<br />
gibt es drei wesentliche Prüfungspunkte: Tatbestand,<br />
Rechtswidrigkeit und Schuld. Die Prüfung des Tatbestandes teilt sich<br />
dann wiederum in objektiven und subjektiven Tatbestand auf.<br />
Eine gute Übung um zu lernen, was im Tatbestand, was in der Rechtswidrigkeit<br />
und was in der Schuld geprüft wird, ist es, wenn man sich<br />
§ 223 Abs. 1 StGB durchliest und sich dabei Gedanken macht, welche<br />
Merkmale man wo prüfen könnte: Bereits aus dem ersten Halbsatz<br />
wird deutlich, dass man im objektiven Tatbestand zu prüfen hat, ob<br />
der Täter eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit<br />
geschädigt hat. Erforderlich ist also das Vorliegen bestimmter<br />
Tathandlungen und eines bestimmten Taterfolges. Man prüft, ob<br />
ein bestimmtes Verhalten eine körperliche Misshandlung darstellt<br />
(z.B. A schlägt mit einem Plastikschwert) und ob dieses Verhalten zu<br />
einem Taterfolg (z.B. blauer Fleck, blutende Platzwunde, Kratzer) geführt<br />
hat. Dabei ist ausschließlich auf die sog. äußeren Tatumstände<br />
einzugehen. Man hat also die subjektive Tatseite - das, was sich der<br />
Täter konkret vorgestellt hat oder was er bezweckt hat - nicht mit in<br />
die Prüfung mit einzubeziehen. Wie der Name es schon sagt, geht es<br />
im objektiven Tatbestand ausschließlich um die äußere Tatseite, also<br />
nur um das äußere Tatgeschehen.<br />
Im subjektiven Tatbestand prüft man dann die innere Tatseite, also<br />
beim vorsätzlichen Begehungsdelikt die Frage, ob der Täter mit Vorsatz<br />
(Wissen und Wollen hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale)<br />
gehandelt hat. Nur hier geht es dann darum, was sich<br />
der Täter vorgestellt hat, was er z.B. billigend in Kauf genommen hat<br />
oder aber auch, was er ausdrücklich mit seinem Verhalten erreichen<br />
wollte. 5<br />
Hat man festgestellt, dass der Täter objektiv und subjektiv tatbestandsmäßig<br />
gehandelt hat, prüft man im nächsten Schritt, ob sein<br />
Handeln auch rechtswidrig war. Sofern der Sachverhalt keinerlei<br />
Hinweise darauf gibt, dass an der Rechtswidrigkeit der Tat zu zweifeln<br />
ist, stellt man lediglich mit einem Satz fest, dass keine Rechtfertigungsgründe<br />
ersichtlich sind und der Täter damit rechtswidrig<br />
gehandelt hat. Es gibt aber auch durchaus Klausuren, die darauf angelegt<br />
sind, dass man den Schwerpunkt seiner Prüfungsleistung auf<br />
die Rechtswidrigkeit legt. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn Rechtfertigungsgründe<br />
wie Notwehr (§ 32 StGB), Nothilfe oder rechtfertigender<br />
Notstand in Betracht kommen.<br />
Ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass der Täter rechtswidrig gehandelt<br />
hat, prüft man im nächsten Schritt die Schuld.<br />
Hier verhält es sich ähnlich wie bei der Rechtswidrigkeit. Sind keinerlei<br />
Anhaltspunkte für Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe<br />
ersichtlich, kann man die Schuld mit einem Satz feststellen.<br />
Aber auch hier können Probleme lauern. Einige Klausuren<br />
sind darauf angelegt, dass man hier umfänglicher prüft.<br />
Kommt man zu dem Schluss, dass sowohl der Tatbestand als auch<br />
Rechtswidrigkeit und Schuld gegeben sind, ist im Ergebnis festzuhalten,<br />
dass sich die Person entsprechend strafbar gemacht hat.<br />
Wichtig ist auch, dass man lernt, wann eine Prüfung zu Ende ist. Dies<br />
kann an den unterschiedlichsten Stellen der Fall sein. Sind z.B. ausschließlich<br />
kumulative Tatbestandsmerkmale und nicht alternative<br />
Tatbestandsmerkmale vorgesehen, endet eine Prüfung bereits dann,<br />
wenn ein zwingendes Tatbestandsmerkmal nicht gegeben ist. Stellt<br />
man z.B. beim Diebstahl fest, dass die Sache dem Täter überhaupt<br />
nicht fremd ist, handelt er schon nicht objektiv tatbestandsmäßig, so<br />
dass die Prüfung bereits nach der Fremdheit der Sache abgebrochen<br />
werden muss.<br />
Stellt man hingegen bei der Körperverletzung nach § 223 StGB fest,<br />
dass eine körperliche Misshandlung nicht zu bejahen ist, ist die Prüfung<br />
dennoch fortzusetzen, weil auch die bloße Gesundheitsschädigung<br />
als eigenständiges Tatbestandsmerkmal für die objektive Tatbestandsmäßigkeit<br />
ausreichend ist. Kommt man bei seiner Prüfung zu<br />
dem Ergebnis, dass der Täter nicht vorsätzlich handelt, endet auch<br />
hier die Prüfung nach dem subjektiven Tatbestand. Genauso verhält<br />
es sich bei Rechtswidrigkeit und Schuld. Gibt es einen Rechtfertigungs-,<br />
Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgrund, so endet<br />
die Prüfung nach Feststellung eines solchen. Nur dann, wenn der<br />
Sachverhalt bzw. die Aufgabenstellung es eindeutig erfordern, ist eine<br />
hilfsgutachterliche Prüfung vorzunehmen. Ein Hilfsgutachten setzt<br />
5 Hier muss dann ggf. zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz (dolus eventualis)<br />
abgegrenzt werden oder die konkrete Vorsatzform (dolus eventualis, dolus directus 1. und 2. Grades)<br />
bestimmt werden.<br />
16<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
die eigentliche Prüfung dann fort. Man nimmt dann einfach an, dass<br />
das gerade abgelehnte Merkmal der Tat doch vorliegt und prüft vor<br />
diesem Hintergrund weiter.<br />
Für die Klausurvorbereitung ist es also wichtig, sowohl die Methodik<br />
(Gutachtenstil, Argumentationstechnik), den Deliktsaufbau als auch<br />
die materiell rechtlichen Probleme des Allgemeinen und Besonderen<br />
Teils zu lernen.<br />
D. SCHLUSSBEMERKUNGEN/LITERATUR<br />
Ein wichtiger Schritt der ersten Wochen des Studiums ist die Auswahl<br />
der richtigen Literatur zum Lernen, vor- und nachbereiten der<br />
Vorlesungen. Dabei sollte man – nicht nur aus finanziellen Erwägungen<br />
– darauf verzichten, wahllos alle auf den ausgeteilten Literaturübersichten<br />
benannten Bücher zu erwerben. Denn jeder Mensch<br />
lernt anders und hat andere Wünsche an die didaktische Aufbereitung<br />
und den Stil des Autors. Deshalb ist es viel sinnvoller, sich die<br />
Zeit zu nehmen, um die gängigen Lehrbücher in der Bibliothek in<br />
Ruhe einzusehen. Am besten kopiert man sich zur Nachbereitung<br />
eines Vorlesungsthemas die jeweiligen Kapitel aus den in Frage kommenden<br />
Büchern heraus und vergleicht diese untereinander. So kristallisiert<br />
sich schnell heraus, mit welchem Buch man sich beim Lernen<br />
am wohlsten fühlt – und das muss nicht unbedingt das vom Lehrenden<br />
vorgeschlagene Werk sein. Allerdings sollte man auch nicht<br />
zu den Sparversionen der Lehrbuchliteratur greifen. Da bekommt<br />
man in aller Regel nur eine oberflächliche Einführung in die gängigen<br />
Themen, die sich vielleicht locker liest, aber bei weitem nicht<br />
alle Themen abdeckt, die für die juristische Ausbildung von Relevanz<br />
sind. Solche Kurzlehrbücher oder Skripten dienen in der Tat eher als<br />
Einstieg oder kurze Wiederholung der absoluten „basics“.<br />
Die folgenden Werke hat der Verfasser im Laufe seiner juristischen<br />
Ausbildung intensiv genutzt und kann sie uneingeschränkt empfehlen:<br />
- Urs Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Auflage 2011,<br />
ISBN 978-3-8329-6467-2<br />
- Rolf Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Auflage 2011, ISBN<br />
978-3-86651-090-6<br />
- Johannes Wessels/Werner Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 40.<br />
Auflage 2010, ISBN 978-3-8114-9752-8<br />
Es gilt aber: Das beste Lehrbuch ist das, welches alle wesentlichen<br />
Themen abdeckt und mit dem man persönlich am besten lernen kann.<br />
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<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Was sind eigentlich Grundrechte? Und wie gehe ich damit um?<br />
von stv. Chefredakteurin Vivien Eckhoff (Braunschweig)<br />
A. EINLEITUNG<br />
I. ALLGEMEINES<br />
Dieser Beitrag soll Ihnen einen ersten Einblick in die Inhalte der vor<br />
Ihnen liegenden Veranstaltung „Verfassungsrecht“, in einigen Universitäten<br />
auch einfach „Grundrechte“ oder „Staatsrecht II“ genannt,<br />
geben. Was sind Grundrechte, welche Bedeutung haben sie, nicht<br />
nur für die stattfindenden Klausuren, sondern auch für die Hausarbeiten<br />
und wie prüft man Grundrechte eigentlich?<br />
Die Grundrechtslehre gehört zu dem Rechtsgebiet des Öffentlichen<br />
Rechtes, welches neben dem Zivilrecht und dem Strafrecht zum<br />
Pflichtfach jeder juristischen Ausbildung gehört. Die Grundrechtsveranstaltung<br />
ist bei Studierenden häufig eine der beliebtesten im<br />
Studium, was wohl nicht nur an der Anschaulichkeit der meisten<br />
Fälle liegt, sondern auch daran, dass sich jeder zumeist gut in diese<br />
hineinversetzen kann und ein gutes Rechtsgefühl einem schon in den<br />
meisten Fällen weiterhilft. Auch der Klausur- und Hausarbeitenaufbau<br />
ist - im Gegensatz zu denen im Zivilrecht oder anderen Rechtsgebieten<br />
- meistens der gleiche.<br />
Das Grundgesetz und dessen Grundrechte bilden in Deutschland<br />
das sog. höherrangige Recht und binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG<br />
die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.<br />
Danach stehen jedem Bürger wichtige Freiheits- und Gleichheitsrechte<br />
grundsätzlich uneingeschränkt zu. In der heutigen Zeit gelten<br />
Grundrechte nicht mehr nur als Abwehrrechte gegen den Staat, sondern<br />
auch als Leistungs-, Gleichheits- und Mitwirkungsgrundrechte. 1<br />
Grundsätzlich gilt es zwischen Gleichheitsrechten und Freiheitsrechten<br />
sowie den Justizgrundrechten zu unterscheiden. Gleichheitsrechte<br />
zielen primär darauf ab, dass es dem Staat verwehrt bleiben<br />
soll, sich in bestimmten Fällen anders zu verhalten, als er dies in der<br />
Vergangenheit bei gleichgelagerten Fällen getan hat. Sie haben also<br />
eine Nichtdiskriminerungs- oder Gleichbehandlungsfunktion 2 (Art.<br />
3 Abs. 1, 3 Abs. 2, 3 Abs. 3, 33 Abs. 1, 33 Abs. 2, 33 Abs. 3, 38 Abs. 1<br />
S. 1 GG). Freiheitsrechte sind solche, die dem Einzelnen bestimmte<br />
Handlungsfreiheiten und Rechte gewährleisten (Art. 2 Abs. 1, 2 Abs.<br />
1 i.V.m. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2, 4 Abs. 1, Abs. 2, 4 Abs. 3, 5 Abs. 1, 5 Abs. 3,<br />
6, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1,Abs. 3, 10, 11, 12, 13, 14, 16 Abs. 1,Abs. 2, 16a, 17,<br />
20 Abs. 4, 38 Abs. 1 S. 1 GG). Justizgrundrechte garantieren dem Einzelnen,<br />
seine Rechte gegenüber dem Staat durchsetzen zu können.<br />
Daneben gewährleisten sie bestimmte Verfahrensgrundsätze (Art. 19<br />
Abs. 4, 101 Abs. 1 S. 1, 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1, 103 Abs. 2, 103 Abs.<br />
3, 104 GG). Daneben gibt es noch die grundrechtsgleichen Rechte:<br />
Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103, 104 GG.<br />
B. KLAUSURTHEMEN UND ANFORDERUNGEN<br />
I. KLAUSURTHEMEN<br />
Art. 12 GG Berufsfreiheit (unverzichtbares Wissen hier: die Drei-<br />
Stufen-Theorie 3 ), Art. 8 GG Versammlungsfreiheit (Problem ist<br />
hier häufig der Versammlungsbegriff), Art. Art. 4 GG Glaubens-,<br />
Gewissens- und Religionsfreiheit (z.B. das Problem der Sekten),<br />
Art. 5 GG Meinungsfreiheit (die Abgrenzung von Tatsachenbehauptungen<br />
und Meinungen muss hier beherrscht werden), Art. 14 GG<br />
Eigentumsfreiheit (Inhalts- und Schrankenbestimmungen) und Art.<br />
3 GG Gleichheitsrechte (Unterscheidung und Prüfungsschema für<br />
die Gleich- und Ungleichbehandlung ist sehr wichtig) Thema dieser<br />
Klausuren sein.<br />
II. ANFORDERUNGEN<br />
In einer Klausur in den ersten Semestern liegen die Anforderungen<br />
noch relativ niedrig. Hauptsache ist, dass Sie das Grundkonzept<br />
verstanden haben und den Klausuraufbau (sowohl für Freiheitsgrundrechte<br />
als auch für Gleichheitsgrundrechte) beherrschen. Alle<br />
Grundrechte (es sind ja nicht so viele) sollten Ihnen geläufig sein, das<br />
heißt, Sie sollten die Schutzbereiche und die wichtigsten Problemstellungen<br />
kennen. Weiterhin sollten Sie die Definitionen für diese,<br />
am besten im Schlaf, beherrschen.<br />
C. KLAUSURAUFBAU – DAS „KNOW HOW“<br />
I. VERFASSUNGSBESCHWERDEN<br />
Verfassungsbeschwerden trennen sich in Zulässigkeit und Begründetheit.<br />
In der Zulässigkeit geht es vor allem darum zu prüfen, ob der<br />
Beschwerdeführer überhaupt eine Berechtigung hat, seine Verfassungsbeschwerde<br />
vor dem BVerfG zu führen. Da sich in den ersten<br />
Semsestern kaum Probleme in der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde<br />
ergeben werden, wird hier nur kurz auf die Prüfungsreihenfolge<br />
einer Zulässigkeit eingegangen und für Details auf die<br />
entsprechende Literatur verwiesen.<br />
Prüfungspunkte einer Zulässigkeit sind:<br />
I. Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG,<br />
§ 13 Nr. 8a BVerfGG<br />
II. Beteiligtenfähigkeit § 90 Abs. 1 BVerfG (Kann Beschwerdeführer<br />
Träger eines GR sein? → Jedermann)<br />
III. Prozessfähigkeit (GR-Mündigkeit des Beschwerdeführers)<br />
IV. Tauglicher Beschwerdegegenstand, § 90 Abs. 1 BVerfGG<br />
(Akte öffentlicher Gewalt)<br />
V. Beschwerdebefugnis § 90 Abs. 1 BVerfGG<br />
(Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung und Beschwerdeführer<br />
selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschwert)<br />
VI. Rechtswegerschöpfung § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG<br />
VII. Grundsatz der Subsidiarität<br />
VIII. Frist § 93 BVerfG<br />
Klassisch wird in einer Grundrechte-Klausur eine Verfassungsbeschwerde<br />
oder eine Normenkontrolle abgeprüft. (Klausuraufbau siehe<br />
unten, III., 1 und 2.)<br />
Am häufigsten, jedoch ohne Garantie, werden die Grundrechte<br />
1 Rolf Schmidt, Grundrechte, 12. Auflage 2010, S. 3, Rn. 12.<br />
2 Rolf Schmidt, Grundrechte, 12. Auflage 2010, S. 8, Rn. 18.<br />
3 Genauere Informationen zur Berufsfreiheit finden Sie auch auf der <strong>Iurratio</strong>-Karteikarte VerfR 3002<br />
„Das Apothekenurteil“, abzurufen auf unserer Homepage www.iurratio.de/rechtsprechung/karteikarten<br />
18<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Ist die Prüfung der Zulässigkeit abgeschlossen und kommen Sie zu<br />
dem Ergebnis, dass die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, und nur<br />
dann (ansonsten ist die Prüfung hier zu Ende, da eine unzulässige<br />
Verfassungsbeschwerde vom BVerfG nicht entschieden wird) fahren<br />
Sie mit der Prüfung der Begründetheit fort. In dieser Prüfung stellen<br />
Sie nun in den folgenden Schritten fest, ob der Beschwerdeführer<br />
ohne Rechtfertigung in seinen Rechten verletzt ist.<br />
I. Schutzbereich<br />
II. Eingriff<br />
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung<br />
1. Schranken<br />
2. Schranken-Schranken<br />
a. Formelle Verfassungsmäßigkeit (selten Thema in Klausuren<br />
der ersten Semester, hier wird das ordnungsgemäße<br />
Zustandekommen des Gesetzes geprüft)<br />
b. Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
Bei der Prüfung einer Verfassungsbeschwerde in der Klausur müssen<br />
Sie sich hauptsächlich (!), nicht ausschließlich, mit diesen drei<br />
Prüfungspunkten auseinandersetzen: Schutzbereich, Eingriff und<br />
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung.<br />
In einer Klausur müssen Sie prüfen, ob der Beschwerdeführer in<br />
einem seiner Grundrechte (z. B. Art. 8 GG) verletzt ist. Dazu müssen<br />
Sie zuallererst den Schutzbereich dieses Grundrechtes aufzeigen. Ein<br />
Schutzbereich ist der Lebensbereich jeder Person, der handlungsund<br />
sachbezogen durch das Grundgesetz geschützt wird. Was genau<br />
dieser Lebensbereich ist, muss für jedes Grundrecht durch die Auslegungsmethoden<br />
4 entwickelt werden.<br />
Beispiel für Art. 8 GG:<br />
Der Schutzbereich des Art. 8 GG ist die Versammlung. Eine Versammlung<br />
liegt vor, wenn mehrere Personen zur gemeinsamen Verfolgung<br />
eines gemeinsamen Zweckes zusammenkommen und damit an der<br />
öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen. Geschützt werden sowohl<br />
öffentliche als auch nichtöffentliche friedliche Versammlungen unter<br />
freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen, die ohne Waffen stattfinden.<br />
Es gilt sodann zu prüfen, ob der vorgegebene Lebenssachverhalt auf<br />
den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit passt. Z. B. wäre das<br />
Zusammenkommen für eine Demonstration hier vom Schutzbereich<br />
erfasst, eine Geburtstagsfeier in einem Club jedoch nicht. Fällt der<br />
vorgegebene Fall in den Schutzbereich, muss noch festgestellt werden,<br />
ob ein Eingriff in diesen vorliegt, denn nur dann kann jemand<br />
auch in seinen Grundrechten verletzt sein. Ein Eingriff ist „jedes<br />
staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den<br />
Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich<br />
macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt,<br />
unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne<br />
Befehl und Zwang eintritt“. 5<br />
Unter diesem Punkt ist dann zu prüfen, ob die Maßnahme, gegen die<br />
sich der Beschwerdeführer wendet, überhaupt Eingriffsqualität 6 hat.<br />
4 Die Auslegungsmethoden sind die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische<br />
Auslegung. Maßgeblich für die Auslegung eines Schutzbereiches ist der objektive Wille des<br />
Gesetzgebers, der sich aus dem Wortlaut und den Sinngehalt ergibt.<br />
5 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, § 6, Rn. 251; eigentlich wird noch zwischen dem weiten<br />
und dem engen Eingriffsbegriff unterschieden, dazu wird auf entsprechende Literatur verwiesen.<br />
6 Wichtig ist dabei auch: dass es verschiedene Eingriffsbegriffe gibt: den klassischen und den modernen<br />
Eingriffsbegriff. Der moderne Eingriffsbegriff wird mittleiweile in ständiger Rechtsprechung vom<br />
BVerfG angewandt.<br />
Beispiel:<br />
Beidseitige polizeiliche Überwachung einer Demonstration durch mit<br />
Einsatzanzug, Helm und Schlagstock ausgerüstete Beamte wäre ein<br />
Eingriff. 7<br />
Nicht jeder Eingriff bedeutet aber gleichzeitig auch eine Verletzung<br />
des Grundrechtes. Denn der Eingriff könnte verfassungsrechtlich<br />
gerechtfertigt sein. Um dies beurteilen zu können, muss geprüft werden,<br />
ob die Maßnahme, welche einen Eingriff in das Grundrecht darstellt,<br />
zum einen die Qualität besitzt in das Grundrecht eingreifen zu<br />
dürfen und dann, ob dies im Einzelfall auch gerechtfertigt ist.<br />
Beispiel:<br />
Eine Versammlung wird durch die zuständige Behörde nach § 15 VersG<br />
verboten, weil eine ähnliche Veranstaltung im vergangenen Jahr zu<br />
Krawallen auf dem Demonstrationsweg führte und dabei Unbeteiligte<br />
Dritte zu Schaden kamen.<br />
Es gilt zu unterscheiden zwischen den sog. Schranken eines Grundrechts:<br />
der einfache Gesetzesvorbehalt, der qualifizierte Gesetzesvorbehalt<br />
und Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt. Grundrechte die<br />
laut GG „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt<br />
werden dürfen, haben einen sog. einfachen Gesetzesvorbehalt (z.B.<br />
Art. 2 Abs. 2, 10 Abs. 2 S. 1 GG). Ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt<br />
liegt vor, bei Grundrechten bei denen das GG nicht fordert, dass<br />
Eingriffe auf Grund oder durch ein Gesetz erfolgen können, sondern<br />
außerdem dieses Gesetz an bestimmte Situationen anknüpft oder<br />
bestimmten Zwecken dient oder bestimmte Mittel benutzt (z.B. Art.<br />
11 Abs. 2 GG). Darüber hinaus gibt es auch Grundrechte, die vorbehaltlos<br />
gewährleistet werden, also ohne Gesetzesvorbehalt sind. Hier<br />
sieht das Grundgesetz keine Eingriffe durch Gesetze vor (z.B. Art. 5<br />
Abs. 3 GG).<br />
Beispiel:<br />
Art. 8 Abs. 2 GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, weil<br />
er an Versammlungen unter freiem Himmel anknüpft. Diese können<br />
dann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden.<br />
Vorliegend haben wir im o. g. Beispiel eine Demonstration unter freiem<br />
Himmel, deswegen kann die Versammlungsfreiheit hier vom VersG<br />
eingeschränkt werden. Das Verbot genügt also dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt.<br />
Dies war im Prüfungsablauf die Prüfung der Schranken (s.o.). Darauf<br />
folgt die Prüfung der Schranken-Schranken. In einem ersten<br />
Punkt wird hierbei die Verfassungsgemäßheit des einschränkenden<br />
Gesetzes (hier des VersG) geprüft. Was diesen Teil betrifft sei auf den<br />
Beitrag zum Staatsorganisationsrecht verwiesen.<br />
Für die Prüfung des zweiten Punktes, der materiellen Verfassungsmäßigkeit<br />
müssen Sie sich nun fragen, ob die Maßnahme im konkreten<br />
Fall auch gerechtfertigt ist. Dies machen sie in folgenden<br />
vier Schritten:<br />
- Legitimer Zweck, legitimes Mittel<br />
- Geeignet<br />
- Erforderlich<br />
- Angemessenheit (auch: Verhältnismäßigkeit i. e. S.)<br />
Im legitimen Zweck und Mittel, kommt es darauf an, ob der vom<br />
Staat verfolgte Zweck als solcher verfolgt und das benutzte Mittel<br />
auch angewandt werden darf. Weiterhin muss das Mittel zur Errei-<br />
7 OVG Bremen NVwZ 1990, 1188.<br />
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chung des Zweckes geeignet und auch erforderlich (i. S. e. mildesten<br />
Mittels) sein. Zum Schluss muss das Mittel für den zu erreichenden<br />
Zweck für den Einzelnen auch angemessen sein. In diesem Punkt<br />
müssen Aspekte wie Proportionalität und Zumutbarkeit für den Betroffenen<br />
gegeneinander abgewogen werden. Dieser Teil der Prüfung<br />
wird wohl immer am meisten Argumentation von Ihnen verlangen<br />
und am meisten Zeit in Anspruch nehmen, planen Sie daher ihre<br />
Klausur zeitlich so ein, dass Sie am Ende noch genügend Zeit für eine<br />
Abwägung haben.<br />
Dies ist der grundsätzliche Aufbau einer Verfassungsbeschwerde. Zu<br />
unterscheiden ist hier noch zwischen einer Rechtssatzbeschwerde<br />
und einer Urteilsbeschwerde: Eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde<br />
richtet sich gegen ein formelles Gesetz, eine Rechtsverordnung oder<br />
Satzung, welche ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht verletzt.<br />
Hierbei ist lediglich die Norm einer formellen und materiellen<br />
Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu unterziehen.<br />
Handelt es sich jedoch um eine Urteilsverfassungsbeschwerde, also<br />
eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen ein Urteil eines Gerichtes<br />
wendet, muss zunächst das Gesetz auf dessen Grundlage die Entscheidung<br />
gefallen ist, überprüft werden. Dann folgt die Prüfung der<br />
Anwendung dieser Norm durch das Gericht. Hier muss dann nochmal<br />
separat die Verhältnismäßigkeit (legitimer Zweck, Geeignetheit,<br />
Erforderlichkeit und Angemessenheit) des Urteils geprüft werden.<br />
Die Prüfung von Gleichheitsrechten unterscheidet sich von der Prüfung<br />
von Freiheitsrechten. Der Aufbau für die Gleichheitsrechte ist<br />
hier dargestellt und wird unterschieden in die unzulässige Ungleichbehandlung<br />
und die unzulässige Gleichbehandlung:<br />
- Ungleichbehandlung von wesentlich gleichen Sachverhalten oder<br />
Gleichbehandlung von wesentlich ungleichen Sachverhalten<br />
- Verfassungsrechtliche Rechtfertigung<br />
Ein Schutzbereich ist also nicht zu prüfen. Es geht hier lediglich darum,<br />
dass eine Vergleichsgruppe ermittelt wird und dann anhand<br />
von Vergleichsmerkmalen festgestellt werden muss, ob eine Gleichoder<br />
Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist oder nicht. In der Regel<br />
ist sie immer dann nicht verhältnismäßig, wenn sie willkürlich, sachfremd<br />
oder unverhältnismäßig erfolgte.<br />
II. NORMENKONTROLLE<br />
Eine weitere Verfahrensart, die Ihnen in Klausuren begegnen kann,<br />
ist die konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 GG. Auch hierauf<br />
müssen Sie - wenn auch selten - als Prüfungsstoff gefasst sein. Da<br />
der Anteil der Semesterabschlussklausuren in Form einer konkreten<br />
Normenkontrolle kaum prüfungsrelevant ist, wird hierzu auf die entsprechende<br />
Literatur verwiesen.<br />
D. LITERATUR<br />
I. KLASSISCHE LEHRBÜCHER<br />
Klassische Lehrbücher, die von Professoren häufig auch als Standardwerke<br />
bezeichnet werden sind z. B. folgende:<br />
· Jörn Ipsen, Staatsrecht II, Grundrechte aus dem Vahlen Verlag<br />
· Bodo Pieroth und Bernhard Schlink, Grundrechte,<br />
Staatsrecht II aus dem C.F. Müller Verlag<br />
· Rolf Schmidt Grundrechte aus dem Rolf Schmidt Verlag.<br />
Sie sollten auf keinen Fall einfach eines der Bücher kaufen. Gehen Sie<br />
in die Bibliothek und entscheiden Sie selbst, welches der Bücher Ihnen<br />
aufbaumäßig, lesetechnisch und im Hinblick auf die Übersichtlichkeit<br />
am besten gefällt. Die wichtigsten Dinge stehen erfahrungsgemäß<br />
sowieso in jedem Buch, es kommt nur darauf an, welches Sie<br />
am schnellsten verstehen und mit welchem Sie persönlich am besten<br />
lernen können. Achten Sie bei Lehrbüchern zu den Grundrechten<br />
auch darauf, dass diese einen Leitfaden für den Klausur- und Hausarbeitenaufbau<br />
enthalten, darauf kann besonders in diesem Rechtsgebiet<br />
nicht verzichtet werden.<br />
II. KOMMENTARE<br />
Kommentare wie „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.<br />
Der Kommentar für Ausbildung und Praxis“ von Hans Jarass und<br />
Bodo Pieroth oder „Grundgesetz. Kommentar“ von Michael Sachs<br />
sind die Hilfsmittel für Haus- und Seminararbeiten (da Sie in der<br />
Klausur keine Kommentare, sondern lediglich Gesetzestexte benutzen<br />
dürfen). In Kommentaren haben meist verschiedene Autoren die<br />
jeweiligen Artikel bzw. Paragraphen kommentiert. Dort finden Sie<br />
unter anderem wichtige Hinweise auf Entscheidungen der Gerichte<br />
(insb. OLGs, BGH und BVerfG), aber auch den aktuellen Meinungsstand<br />
in Literatur und Rechtsprechung. Dieser ist für die berühmten<br />
und besonders in Hausarbeiten zu berücksichtigenden Meinungsstreits<br />
besonders wichtig. Deswegen ist es für Sie auch unverzichtbar,<br />
immer den aktuellsten Kommentar zu benutzen und zu zitieren!<br />
Sollte dies nicht geschehen, kann das in vielen Fällen zu Punktabzug<br />
in der Gesamtnote einer Hausarbeit führen. Auch sollten Sie sich<br />
niemals mit nur einem Kommentar beschäftigen, dafür weichen zumeist<br />
die Meinungen der verschiedenen Autoren zu sehr voneinander<br />
ab und können zu einer einseitigen Sichtweise führen.<br />
III. ENTSCHEIDUNGSSAMMLUNGEN<br />
Wichtige Entscheidungssammlungen für die Grundrechte sind die<br />
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) diese werden<br />
in den Bibliotheken und in wissenschaftlichen Arbeiten, sowie<br />
beim Zitieren mit BVerfGE abgekürzt.<br />
Beispiel:<br />
BVerfGE 4, 80 = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Band<br />
4, Beginn der Entscheidung auf Seite 80.<br />
E. SCHLUSS<br />
Alles in allem ist zu sagen, dass die Grundrechtsveranstaltung im Studium<br />
sehr viel Spaß macht. Den meisten gelingt es schnell, sich in das<br />
System der Grundrechte und der Verfassungsbeschwerden einzufinden.<br />
Das Geheimnis hierfür ist das Auswendiglernen der Prüfungsreihenfolgen<br />
und der Schutzbereiche der GR. Wenn man sich in der<br />
Klausur nur auf die wirklich wichtige Argumentation konzentrieren<br />
kann, weil alles andere „sitzt“ kann man die Klausuren, die zumeist<br />
zeitlich von den Professoren eng geplant werden, gut meistern und<br />
sich eine gute Note mehr für die Zwischenprüfung abholen!<br />
20<br />
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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Wie funktioniert die Bundesrepublik?<br />
von stv. Chefredakteurin Hanna Furlkröger<br />
A. DER ERSTE EINSTIEG<br />
Das Staatsorganisationsrecht vermittelt Ihnen an den meisten Universitäten<br />
den ersten Einblick in das öffentliche Recht der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Im Laufe des Semesters werden Sie die obersten<br />
Staatsorgane samt ihrer Funktionen, das föderale Verhältnis<br />
von Bund und Ländern und die herausragenden Prinzipien kennen<br />
lernen, auf denen sich der deutsche Staat seit 1949 gründet. Sicherlich<br />
werden Sie aufgrund der Kenntnisse, die Sie bereits in Fächern<br />
wie Geschichte und Politik erworben haben, eine Vorstellung vom<br />
Aufbau und der Funktionsweise der Bundesrepublik haben, die Sie<br />
aufgreifen und vertiefen können.<br />
I. WARUM DAS „GRUNDGESETZ“ NICHT „VERFASSUNG“ HEIßT<br />
Oft wird zu Anfang des Semesters die historische Entwicklung<br />
Deutschlands von der Paulskirchen-Verfassung von 1848/1849 über<br />
die Reichsverfassung von 1871 und die Weimarer Reichsverfassung<br />
von 1919 bis zu dem am 23. Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetz<br />
skizziert. Das Grundgesetz war ursprünglich aufgrund der<br />
Teilung Deutschlands nur als Übergangsordnung 1 bis zur Wiedervereinigung<br />
gedacht, weshalb die Bezeichnung „Grundgesetz“ statt<br />
„Verfassung“ gewählt wurde. 2 Beim Ende der deutschen Teilung<br />
hatte das Grundgesetz sich allerdings derart bewehrt, dass von einer<br />
Neufassung Abstand genommen wurde. 3 Die geschichtlichen<br />
Grundlagen des Verfassungsrechts sind meist Thema einer gesonderten<br />
Grundlagenveranstaltung. Im weiteren Verlauf wird dann das<br />
Verfassungsrecht thematisiert. Dabei kommt dem Grundgesetz eine<br />
Doppelfunktion zu. Einerseits regelt es das Gesetzgebungsverfahren,<br />
bildet aber gleichzeitig die Grenze für neue vom Parlament erlassene<br />
Gesetze. Sofern diese nicht im Hinblick auf Verfahren und Inhalt den<br />
Vorgaben des Verfassungsrechts entsprechen, werden sie vom Bundesverfassungsgericht<br />
als verfassungswidrig verworfen. Zum materiellen<br />
Verfassungsrecht gehören alle für die staatliche Grundordnung<br />
wichtigen Normen, so etwa das Grundgesetz und die Landesverfassungen<br />
(„formelles Verfassungsrecht“) und der Einigungsvertrag 4 .<br />
Ebenso zum materiellen Verfassungsrecht zählen einfache, unterhalb<br />
der Verfassung angesiedelte Gesetze, soweit sie wie das Bundeswahlgesetz<br />
oder das Parteigesetz die Grundordnung ausgestalten. Schließlich<br />
bilden auch die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane z.B.<br />
des Bundestages materielles Verfassungsrecht, wenn sie Normen des<br />
Grundgesetzes konkretisieren. 5<br />
II. „EIN BLICK INS GESETZ ERLEICHTERT<br />
DIE RECHTSFINDUNG“ 6<br />
Dieses Sprichwort der Juristerei sollten Sie nicht nur in Ihren Anfangssemestern<br />
beherzigen! Lehrbücher und Kommentare enthalten<br />
viele wertvolle Hinweise, ersparen Ihnen aber nicht die konsequente<br />
Gesetzeslektüre. Den besten Überblick verschaffen Sie sich, indem<br />
Sie sich das Grundgesetz zur Hand nehmen und es anhand dieses<br />
1 Präambel a.F.: „ um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“.<br />
2 Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Einleitung, Rn. 1; in Art. 146 GG wird der Unterschied deutlich.<br />
3 Roelleke, „Brauchen wir ein neues Grundgesetz ?“ in: NJW 1991, 2441 m.w.N.<br />
4 Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR vom 31.08.1990, Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1990 II 885.<br />
5 Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, S. 1, 2.<br />
6 Das Zitat geht wohl auf den Kölner Professor und späteren (ersten) Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts<br />
Hans Carl Nipperdey zurück.<br />
Beitrags systematisch durchlesen.<br />
B. DAS GRUNDGESETZ IM ÜBERBLICK<br />
I. BEGINNEN SIE BEI DER PRÄAMBEL!<br />
Die Präambel spiegelt die Entstehungsgeschichte und Änderungen<br />
wieder, die sich seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ereignet haben.<br />
Die ursprüngliche Fassung enthielt ein Wiedervereinigungsgebot<br />
und wurde sie mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 neu<br />
gefasst; 7 beibehalten wurde der Verfassungsauftrag zur Integration<br />
Deutschlands in die Europäische Union (lesen Sie hierzu Art. 23<br />
GG). 8 Zum anderen drückt die Präambel das verfassungsrechtliche<br />
Selbstverständnis der Bundesrepublik aus. 9 Hier wird Bezug genommen<br />
auf das Deutsche Volk als verfassungsgebende Gewalt. Das<br />
Grundgesetz leitet sich nicht von einer anderen, früheren Verfassung<br />
ab, es legitimiert sich unmittelbar aus der Volkssouveränität. 10 Damit<br />
wird ein weiterer tragender Grundsatz des deutschen Verfassungsrechts<br />
angesprochen: Ohne das Demokratieprinzip (Art. 20 II 2 GG)<br />
wäre eine Legitimation durch das Volk nicht vorstellbar.<br />
Auf die Präambel folgen die Grundrechte in den Art. 1-19 GG, die<br />
in einem gesonderten Beitrag behandelt werden. Eine kurze Bemerkung<br />
dazu sei aber an dieser Stelle gestattet: Der erste Satz „Die<br />
Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 I 1 GG) ist gemeinhin<br />
bekannt, der zweite aber umso wichtiger „Sie zu achten und zu<br />
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“; damit bindet<br />
das Grundgesetz alle Organe und Institutionen des Staates an die<br />
Achtung der Menschenwürde, eine Lehre, die das Grundgesetz aus<br />
den Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus gezogen hat. 11<br />
Sich gegen eine erneute Willkürherrschaft zu wappnen, war erkennbar<br />
Grundgedanke der Väter und Mütter des Grundgesetzes.<br />
II. DIE VERFASSUNGSRECHTLICHEN<br />
GRUNDENTSCHEIDUNGEN 12<br />
Dreh- und Angelpunkt der Verfassung ist Art. 20 GG, der die grundlegenden<br />
Prinzipien auflistet, die das öffentliche Leben der Bundesrepublik<br />
bestimmen: Republik, Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung,<br />
Sozialstaat und Bundesstaat.<br />
1. DIE „UNUNTERBROCHENE<br />
DEMOKRATISCHE LEGITIMATIONSKETTE“ 13<br />
Deutschland ist – das wird Sie wenig überraschen – eine parlamentarische<br />
Demokratie. Das Volk ist zwar Träger der Staatsgewalt („Alle<br />
Staatsgewalt geht vom Volke aus“, Art. 20 II 1 GG). Es kann diese<br />
Staatsgewalt aber – anders als das noch in der attischen Demokratie<br />
7 Art. 4 Nr. 1 des Einigungsvertrages; Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (BVerfGE) Bd. 5, S.<br />
127 f.; Hillgruber in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Rn. 2.<br />
8 BVerfG NJW (= Neue juristische Woche) Jg. 2009, S. 2267.<br />
9 Hillgruber (Fn. 7) Präambel Vor Rn. 1.<br />
10 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Präambel Rn. 2; weitere Nachweise bei Maurer, Staatrecht I, S. 84 f.<br />
11 vgl. Herdegen in: Maunz/Düring Grundgesetzkommentar Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 14 f.<br />
12 Davon zu unterscheiden sind die Staatszielbestimmungen, die den Staat verpflichten, auf die Verwirklichung<br />
bestimmter Ziele (Umweltschutz, Tierschutz – Art. 20 a GG) hinzuwirken, Degenhart,<br />
Staatsorganisationsrecht, S. 220 m.w.N. Der Unterschied zu den Grundentscheidungen des Art. 20 GG<br />
liegt darin, dass sie nicht die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik prägen, sondern so Maurer<br />
(Fn. 9) S. 166, „die Bundesrepublik das bliebe, was sie ist, auch dann, wenn die eine oder andere<br />
Staatszielbestimmung beseitigt würde“.<br />
13 Degenhart (Fn. 12), S. 10.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
der Fall war und in der Schweiz 14 teilweise noch der Fall ist – nur<br />
in beschränktem Maße selbst ausüben; es kann abstimmen, es kann<br />
wählen, es kann aber nicht alle Entscheidungen selbst treffen. 15 Daher<br />
statuiert Art. 20 II GG, dass das Volk als Souverän seine Repräsentanten<br />
regelmäßig durch Wahlen bestimmt. Wenn die Abgeordneten<br />
dann Gesetze erlassen, übt das Volk seine von ihm ausgehende<br />
Staatsgewalt aus. 16 Damit distanziert sich das Grundgesetz von anderen<br />
Staatsformen wie der Monarchie bis 1918 und der Diktatur von<br />
1933 bis 1945, die Deutschland geprägt hatten.<br />
a) One man, one vote?<br />
Um eine demokratische Legitimation tatsächlich begründen zu können,<br />
müssen Wahlen einige Voraussetzungen erfüllen. So normiert<br />
Art. 38 II 1 GG, dass die Abgeordneten des Bundestages „in allgemeiner,<br />
unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt<br />
werden. Allgemein ist eine Wahl, wenn grundsätzlich alle Bürger, die<br />
das achtzehnte Jahr vollendet haben, ein aktives und passives Wahlrecht<br />
haben. 17 Die Unmittelbarkeit der Wahl heißt, dass die Mitglieder<br />
einer Volksvertretung direkt ohne Einschaltung von Wahlmännern<br />
– wie es etwa in den USA üblich ist – gewählt werden. 18 Nach<br />
dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl muss zudem gewährleistet<br />
sein, dass jede Stimme das gleiche Gewicht hat: den gleichen Zählwert<br />
und die gleiche Erfolgschance. 19 Ein konkretes Wahlsystem für<br />
die Bundestagswahl bestimmt das Grundgesetz nicht. Der Gesetzgeber<br />
hat sich des Auftrages in Art. 38 III GG angenommen und die<br />
Details durch das Bundeswahlgesetz (bitte hereinschauen!) geregelt.<br />
Mit der „personalisierten Verhältniswahl“ (erste Stimme für den Abgeordneten<br />
aus dem zugehörigen Wahlkreis, zweite Stimme für die<br />
Landesliste einer bestimmten Partei) hat sich der Gesetzgeber für<br />
eine Kombination aus Mehrheitswahl und Verhältniswahl entschieden.<br />
20 Auch wenn dadurch unerwünschte Nebenwirkungen, wie die<br />
verfassungsmäßigen Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 BWahlG), die<br />
Fünf-Prozent-Hürde 21 (§ 6 Abs. 6 BWahlG) und das verfassungswidrige<br />
negative Stimmgewicht 22 auftreten, sind Sperrklauseln auf Bundesebene<br />
doch unabdingbar, um der Gefahr der Zersplitterung und<br />
einer daraus resultierenden Funktionsuntüchtigkeit des Parlaments<br />
entgegenzuwirken. 23 Nach dem Grundsatz der Freiheit der Wahl<br />
muss der Akt der Stimmabgabe zudem frei von Zwang und unzulässigem<br />
Druck bleiben, 24 dies korrespondiert mit der der Geheimheit<br />
der Wahl, die vor der Offenbarung schützt, wie jemand wählen will,<br />
wählt oder gewählt hat. 25<br />
14 Andreas Glaser, „Nachhaltige Entwicklung und Demokratie – Ein Verfassungsvergleich der politischen<br />
Systeme Deutschlands und der Schweiz, S. 6, 11 ff., 16 ff.<br />
15 Degenhart (Fn. 12) S. 10.<br />
16 BVerfGE 49, 89 (125) – „Kalkar“; BVerfGE 68, 1 (89) – „Raketenstationierung“; BVerfGE 93, 37 (66<br />
f.); Böckenförde in: Isensee/Kirchhof Handbuch des Staatsrechts Bd. II § 24 Rn. 15 f.<br />
17 Achterberg/Schulte in: v. Mangoldt/Klein/Starck Grundgesetzkommentar, Art. 38 Rn. 120.<br />
18 BVerfGE 47, 253 (279 f.); Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 38 Rn. 8.<br />
19 Anders als noch im preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht; BVerfGE 95, 335 (353 f.): allerdings soll<br />
hinsichtlich des gleichen Erfolgswertes bei der für zulässig gehaltenen Mehrheitswahl (eine Person ist<br />
gewählt, wenn sie die meisten Stimmen erhält) ausreichen, dass alle Wähler auf Grundlage gleichgroßer<br />
Wahlkreise, d.h. annähernd gleich großem Stimmgewicht an der Wahl teilnehmen können; Jarass/<br />
Pieroth (Fn. 2) Art. 38 Rn. 6.<br />
20 BVerfGE 16, 130 (140); m.w.N. Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 117 ff.<br />
21 Die Fünf-Prozent-Hürde wurde auf Bundes- und Landesebene für zulässig erklärt, BVerfGE 51, 222<br />
(236 f.); auf Kommunalebene wurde sie in NRW, Thüringen und Schleswig-Holstein von Landesverfassungsgerichten<br />
für unzulässig erklärt, in vielen Bundesländern daraufhin abgeschafft, vgl. VerfGH<br />
NRW OVGE 47, 304; Herdegen (Fn. 11), Art. 38 GG, Rn. 134.<br />
22 Das BVerfG hat in einem Urteil vom 3.7.2008 (BVerfGE 121, 268) entschieden, dass die zum negativen<br />
Stimmgewicht führenden Regelungen des BWahlG gegen die Grundsätze der Gleichheit und<br />
Unmittelbarkeit der Wahl verstoßen und den Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 30.6.2011 eine verfassungsgemäße<br />
Regelung zu beschließen. Da dies bisher nicht erfolgt ist, kündigte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts,<br />
Andreas Voßkuhle jüngst an, das BVerfG könne mit einer einstweiligen Anordnung<br />
einschreiten, sofern der Gesetzgeber beabsichtige, auch 2013 noch auf verfassungswidriger<br />
Grundlage zu wählen – beck-aktuell vom 2.9.2011<br />
23 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 121.<br />
24 BVerfGE 44, 125 (139); zur Wahlpflicht Haack „Wahlpflicht und Demokratie“ KritV 2011, 80.<br />
25 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 38 GG Rn. 10.<br />
b) „Ja zur Demokratie zu sagen, aber nein zu Parteien, ist nicht<br />
möglich“ 26<br />
Die Wahlgrundsätze führen Sie auf direktem Wege zu den Vereinigungen,<br />
durch die die Bürger an den Wahlen teilnehmen können.<br />
Art. 21 I 1 GG erteilt den Parteien den Auftrag, bei der politischen<br />
Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Sie sind zwar keine staatlichen<br />
Organe, werden aber vom Bundesverfassungsgericht als „verfassungsrechtliche<br />
Institutionen“ anerkannt. 27 Ihre Aufgabe ist zum<br />
einen die Einflussnahme auf die politische Willensbildung und zum<br />
anderen die Teilnahme an der Vertretung des Volkes (dazu § 2 I ParteiG).<br />
Durch die Parteien sollen also die unterschiedlichen Ansichten<br />
der Bürger zu politischen Fragestellungen kanalisiert und einem Lösungsansatz<br />
zugeführt werden, über den im Parlament debattiert und<br />
abstimmt werden kann. Sie bilden demnach das Bindeglied zwischen<br />
Volk und Staat. 28 Durch die Teilnahme an Wahlen stellen die Parteien<br />
sich und ihre Programme zur Abstimmung, das Volk entscheidet<br />
dabei über die Annahme der politischen und gesellschaftlichen<br />
Lösungsvorschläge (Stichwort: „demokratische Rückkopplung“ 29 ).<br />
In dieser Aufgabenverteilung kommt auch ihre ambivalente Stellung<br />
zur Ausdruck: Einerseits sind sie als Vereinigungen von Bürgern<br />
im gesellschaftlich-politischen Bereich des Volkes verwurzelt, 30<br />
und können diesbezüglich Grundrechte für sich in Anspruch nehmen<br />
(Art. 19 II GG), 31 andererseits sind sie, wenn sie im in Form<br />
von Fraktionen Parlament vertreten sind, an die Grundrechte und<br />
die verfassungsmäßige Grundordnung gebunden (Art. 20 III, Art. 1 I<br />
2 GG). Erst die mittels Art. 21 I 2 GG garantierte Gründungsfreiheit<br />
und Chancengleichheit gewährleisten einen freien Wettbewerb und<br />
machen Demokratie letztlich möglich. 32<br />
2. WOZU BRAUCHEN WIR DEN RECHTSSTAAT?<br />
Betrachten Sie nun die Art. 20 II 2, III, Art. 19 IV GG und blättern Sie<br />
zu Art. 1 III GG zurück! All diese Grundsätze bilden gemeinsam das<br />
elementare Rechtsstaatsprinzip. 33 Erkennbares Ziel der Mütter und<br />
Väter des Grundgesetzes war, die Konzentration und den Missbrauch<br />
von Macht zu verhindern. Dementsprechend folgt das Grundgesetz<br />
dem schon von John Locke (1690) und dem Baron de Montesquieu<br />
(1748) herausgearbeiteten Strukturprinzip der horizontalen Gewaltenteilung<br />
in die gesetzgebende (Legislative), vollziehende (Exekutive)<br />
und rechtsprechende (Judikative) Gewalt. Dabei ist die Legislative<br />
an die verfassungsmäßige Ordnung, d.h. des Grundgesetzes,<br />
Exekutive und Legislative an Recht und Gesetz gebunden, Art. 20 III<br />
GG. Weiteres Element des Rechtsstaatsprinzips ist die Gesetzmäßigkeit<br />
der Verwaltung, wonach die Verwaltung bei der Einschränkung<br />
von Grundrechten nur aufgrund eines Gesetzes tätig werden darf<br />
(Vorbehalt des Gesetzes) und Verwaltungsmaßnahmen nicht gegen<br />
bestehende Gesetze verstoßen dürfen (Vorrang des Gesetzes). 34 All<br />
diese Garantien und Prinzipien wären allerdings wertlos, gäbe es die<br />
Rechtsweggarantie gem. Art. 19 IV GG nicht. Derjenige, der durch<br />
die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt sieht, kann bei den<br />
Gerichten – in letzter Konsequenz beim Bundesverfassungsgericht –<br />
Rechtsschutz suchen und finden.<br />
26 Wolfgang Thierse (Bundestagsvizepräsident), Frankfurter Rundschau vom 11.7.1992.<br />
27 BVerfG 69, 92 (110); beim BVerfG liegt auch die alleinige Verbotskompetenz für Parteien, die darauf<br />
zielen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, Art.<br />
21 Abs. 2 S. 2 GG.<br />
28 Klein (Fn. 11) Art. 21 GG Rn. 159, auch BVerfGE 44, 125 (145) – Parteien als „Zwischenglied“.<br />
29 Maurer (Fn.10) S. 331, Rn. 14 ff.: ein Monopol auf politische Willensbildung haben die Parteien<br />
nicht.<br />
30 BVerfGE 20, 56 (100 f.); Klein (Fn. 11) Art. 21 GG Rn. 152 f.<br />
31 Degenhart (Fn. 12) S. 37 Rn. 82.<br />
32 BVerfGE 111, 382 (404); Jarass/Pieroth (Fn.2) Art. 21 GG Rn. 1.<br />
33 BVerfGE 20, 323 (331).<br />
34 Rolf Schmidt (Fn. 5) S. 59 Rn. 160. Näheres dazu hören Sie in der Vorlesung zum Verwaltungsrecht.<br />
22<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
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3. BUNDESRECHT BRICHT LANDESRECHT<br />
Dass die Bundesrepublik ein föderalistischer Bundesstaat ist, ist<br />
eigentlich keine Grundentscheidung, sondern vielmehr Folge der<br />
historischen Entwicklung. 35 Sowohl Bund als auch Länder haben<br />
jeweils eine eigene staatliche Organisation (Bundes- bzw. Landtag,<br />
Regierung, Verwaltung, Gerichte), sodass die Hauptaufgabe des<br />
Bundesstaatsprinzips darin besteht, Aufgaben auf Bund und Länder<br />
zu verteilen. 36 Verfolgen Sie die Systematik anhand der Lektüre des<br />
Grundgesetzes! Grundsätzlich ist das Verhältnis in Art. 30 GG geregelt,<br />
wonach die Länder für die Ausübung staatlicher Befugnisse und<br />
die Erfüllung staatlicher Aufgaben, insbesondere der Gesetzgebung<br />
(Art. 70 ff. GG) und Verwaltung (Art. 83 ff. GG) zuständig sind, soweit<br />
das Grundgesetz keine andere Regelung trifft. Nach Art. 31 GG<br />
kommt aber dem Bundesrecht im Fall einer Kollision mit Landesrecht<br />
der Vorrang zu. Dies gilt auch für das Landesverfassungsrecht.<br />
D.h., einerseits besitzen die Länder Verfassungsautonomie – das Volk<br />
eines Bundeslandes kann sich eine eigene Verfassung geben – andererseits<br />
wird die Autonomie durch das Homogenitätsprinzip (Art.<br />
28 I GG) eingeschränkt, wonach die verfassungsmäßige Ordnung<br />
in den Ländern den Grundentscheidungen des Grundgesetzes für<br />
Republik, Demokratie und Rechtsstaat entsprechen (nicht gleichen)<br />
muss. 37 Dies klingt paradox, zeigt aber nur, dass die Länder an höherrangige<br />
Grundsätze des Bundes gebunden sind. 38 In letzter Konsequenz<br />
kann der Bund ein Land mittels Bundeszwanges, Art. 37 GG,<br />
zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, wenn es diese nicht von<br />
sich aus erfüllen will.<br />
4. DIE EWIGKEITSGARANTIE<br />
Einige der vorgenannten Prinzipien wurden beim Entwurf des<br />
Grundgesetzes für derart fundamental erachtet, dass deren Bestand<br />
mit Hilfe einer Ewigkeitsgarantie (Art. 79 III GG) abgesichert wurde.<br />
So dürfen das Bundesstaatsprinzip und der Kernbestand eigener<br />
Aufgaben und Kompetenzen der Länder nicht abgeschafft werden. 39<br />
Darüber hinaus sind die Grundentscheidungen für die Achtung der<br />
Menschenwürde, Art. 1 I GG, die Demokratie, den Rechtsstaat, die<br />
Republik und den Sozialstaat, Art. 20 GG erfasst. 40 Alle anderen Normen<br />
können mit Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und -rat geändert<br />
werden, Art. 79 I, II GG.<br />
III. DIE OBERSTEN VERFASSUNGSORGANE<br />
1. WER WÄHLT EIGENTLICH DEN BUNDESPRÄSIDENTEN?<br />
Wer der erste Mann im Staate ist, kann wohl jeder beantworten.<br />
Aber wer kommt danach? Diese Frage wurde relevant, als Bundespräsident<br />
Horst Köhler am 31.05.2010 überraschend zurücktrat.<br />
Auch darauf hält das Grundgesetz eine Antwort in Art. 57 parat:<br />
Der Bundespräsident wird vom Bundesratspräsidenten 41 vertreten.<br />
Allein zum Zweck seiner Wahl tritt ein weiteres Verfassungsorgan<br />
zusammen: die Bundesversammlung. Sie besteht aus allen Bundestagsmitgliedern<br />
und von den Landtagen entsandten Personen des öf-<br />
35 So setzte sich das Deutsche Reich bei seiner Gründung 1871 aus 25 Bundesstaaten, u.a. Bayern,<br />
Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen und Preußen zusammen, m.w.N. Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 9.<br />
Dass es die Bundesländer gibt, war auch eine Vorgabe der Alliierten, die deren Ministerpräsidenten mit<br />
einem GG-Entwurf beauftragen.<br />
36 Maurer, (Fn.10) S. 285 Rn. 1.<br />
37 Degenhart (Fn.12) Rn. 464.<br />
38 BVerfGE 60, 175 (208).<br />
39 Hain (Fn.17) Art. 79 GG, Rn. 119 f. Einzelne Länder können abgeschafft werden, Art. 29 I 1 GG.<br />
40 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 79 GG, Rn. 6 ff; sofern keine neue Verfassung in Kraft tritt, Art. 149 GG.<br />
41 Dieser wird jährlich vom Bundesrat gewählt, Art. 52 I GG, derzeit amtierende Bundesratspräsidentin<br />
ist NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Protokollarisch steht der Bundesratspräsident an<br />
vierthöchster Stelle nach Bundespräsident, Bundestagspräsident und Bundeskanzler aber vor dem Bundesverfassungsgerichtspräsidenten<br />
(www.bmi.bund.de – Protokollarische Rangfragen)<br />
fentlichen Lebens. Zu den Aufgaben des Bundespräsidenten gehören<br />
die Ernennung und Entlassung der Regierungsmitglieder, Art. 63, 64<br />
GG, die Auflösung des Bundestages, Art. 68 I GG, die völkerrechtliche<br />
Vertretung des Bundes, Art. 59 GG und die Ausfertigung von<br />
Bundesgesetzen. Neben repräsentativen und administrativen Aufgaben<br />
hat der Bundespräsident eine Prüfungskompetenz, Art. 82 GG,<br />
da er nur verpflichtet ist, solche Gesetze auszufertigen, die nach den<br />
Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen sind. 42<br />
2. BUNDESTAG UND BUNDESRAT<br />
Das Parlament ist das einzige unmittelbar demokratisch legitimierte<br />
Verfassungsorgan. 43 So kommt dem Bundestag die Wahl anderer<br />
Staatsorgane gem. Art. 63, 94 I 2 GG zu, um die „ununterbrochene<br />
demokratische Legitimationskette“ zu gewährleisten. Daraus erklärt<br />
sich auch der „Parlamentsvorbehalt“, nach dem alle wesentlichen Regelungen,<br />
insbesondere solche, die in Grundrechte eingreifen, vom<br />
Parlament getroffen werden müssen. 44 Grundsätzlich entscheidet der<br />
Bundestag mit relativer Mehrheit der abgegeben Stimmen. Wann<br />
ausnahmsweise eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, ist im<br />
Grundgesetz explizit geregelt. Gemäß Art. 40 I 2 GG gibt sich der<br />
Bundestag eine Geschäftsordnung, die die Rechtsverhältnisse seiner<br />
Mitglieder, der Fraktionen, Abgeordneten, Ausschüsse und Untersuchungsausschüsse<br />
45 konkretisiert. Der Bundesrat rekrutiert sich nach<br />
Art. 51 I GG aus Mitgliedern der Landesregierung. Anders als der<br />
Bundestag, der jeweils für eine Legislaturperiode von vier Jahren zusammentritt,<br />
Art. 39 I 1 GG, können sich die Mehrheiten im Bundesrat<br />
mit den Ergebnissen von Landtagswahlen ändern.<br />
3. CHEFSACHE!?<br />
Die Bundesregierung besteht aus Bundeskanzler und den Bundesministern,<br />
Art. 62 GG. Ihr fallen sämtliche mit der Staatsleitung<br />
verbundenen Kompetenzen und Aufgaben zu, die allein durch<br />
Kompetenzbereiche anderer Verfassungsorgane begrenzt sind. 46 Die<br />
wohl wichtigste ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers,<br />
der nach Art. 65 S. 1, 4 GG die Richtlinien der inneren und äußeren<br />
Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt. Die Minister<br />
leiten unter dem Dach dieser Kompetenz ihr Ressort in eigener<br />
Verantwortung. Streitig ist, inwiefern der Kanzler Einzelfragen zur<br />
„Chefsache“ erklären und dem Minister diesbezüglich Weisungen<br />
erteilen darf. 47 Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern<br />
entscheidet die Bundesregierung als Kollegial, Art. 65 S. 3<br />
GG. Der Bundeskanzler wird vom Parlament gewählt und durch den<br />
Bundespräsidenten berufen, Art. 63 I GG. Er scheidet aus dem Amt,<br />
wenn ein neuer Bundestag zusammentritt, Art. 39 I 2 GG, er in der<br />
Vertrauensfrage unterliegt, Art. 68 I GG oder der Bundestag mittels<br />
konstruktiven Misstrauensvotums mit Mehrheit seiner Mitglieder<br />
einen Nachfolger wählt, Art. 67 I GG. 48<br />
42 Ob der Bundespräsident auf ein lediglich formelles Prüfungsrecht beschränkt ist, oder ihm auch ein<br />
materielles Prüfungsrecht zusteht, ist umstritten, die h.M. beschränkt das materielle Prüfungsrecht auf<br />
offensichtliche Verfassungsverstöße (Evidenzkontrolle), dazu Rolf Schmidt (Fn. 5), Rn. 591 ff.<br />
43 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 433.<br />
44 BVerfGE 49, 89 = NJW 1979, 359 (Atomkraftwerk – Schneller Brüter ).<br />
45 Siehe dazu Fallbearbeitung von Hellermann, <strong>Iurratio</strong> 2008 S. 54 ff.<br />
46 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 545.<br />
47 Dazu Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 65 GG Rn. 3 ff ; Achterberg in : Isensee/Kirchhof, Handbuch des<br />
Staatsrechts Bd. II § 52 Rn. 20 ff.; Herzog in: Maunz/Dürig, Art. 65 GG Rn. 6 ff., die wohl h.M. gesteht<br />
dem Bundeskanzler eine Weisungsbefugnis in Einzelfragen von besonderer Bedeutung für die Staatsleitung<br />
zu, sofern sie nicht in den unantastbaren Kernbereich des Ressorts eingreifen.<br />
48 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 555 ff.; zur Vertrauensfrage Gerhard Schröders BVerfG NJW 2005, 2669;<br />
Ipsen „Zur Regierung verurteilt? Verfassungsrechtliche Probleme der Vertrauensfrage nach Art. 68<br />
GG“ NJW 2005, 2201; Baumeister/Schenke „Vorgezogene Bundestagswahlen: Überraschungscoup oder<br />
Verfassungsbruch“ NJW 2005, 1844.<br />
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4. HÜTER DER VERFASSUNG 49<br />
Das Bundesverfassungsgericht ist damit betraut, die Normen des<br />
Grundgesetzes verbindlich auszulegen und anzuwenden und dafür<br />
Sorge zu tragen, dass Exekutive und Legislative nicht die vom<br />
Grundgesetz gezogenen Grenzen übertreten. 50 Seine Entscheidungen<br />
binden alle übrigen Staatsorgane, § 31 II BVerfGG. 51<br />
IV. WIE ENTSTEHT EIN GESETZ?<br />
Soll das Gesetz seine Funktion erfüllen, demokratische Legitimation<br />
zu vermitteln und Rechtssicherheit zu schaffen, so muss verlässlich<br />
geregelt sein, wer Gesetze erlässt und wie sie zustande kommen. 52 Die<br />
Legislative ist an die verfassungsmäßige Ordnung gem. Art. 20 III<br />
GG gebunden. Mithin muss ein Gesetz sowohl formell (dem Verfahren<br />
nach) als auch materiell (dem Inhalt nach) verfassungsgemäß<br />
sein, was von Ihnen im Rahmen einer Abschlussklausur und letzten<br />
Endes vom Bundesverfassungsgericht überprüft wird.<br />
Geregelt wird das Gesetzgebungsverfahren in den Art. 70 ff. GG.<br />
Dabei dürfte Ihnen bereits bekannt vorkommen, dass die Gesetzgebungskompetenzen<br />
zwischen Bund und Ländern aufgeteilt sind. Gebiete,<br />
auf denen dem Bund die ausschließliche, d.h. Kernkompetenz<br />
zukommt, sind im Grundgesetz, u.a. in Art. 73 I aufgezählt. Die Länder<br />
sind dabei nur dann zur Gesetzgebung befugt, wenn der Bund<br />
sie dazu ermächtigt, Art. 71 GG. Im Bereich der konkurrierenden<br />
Gesetzgebung sind die Länder gemäß Art. 72 I GG für die in Art. 74 I<br />
GG aufgelisteten Gebiete zuständig, solange der Bund keine Gesetzte<br />
erlassen hat. In den Fällen des Art. 72 II GG muss der Bund zudem<br />
nachweisen, dass eine bundeseinheitliche Regelung im gesamtstaatlichen<br />
Interesse erforderlich ist (Erforderlichkeitsklausel). 53 Mit dem<br />
Erlass eines Bundesgesetzes besteht eine Sperrwirkung für die Länder.<br />
54 In den in Art. 72 III GG aufgelisteten Fällen dürfen die Länder<br />
durch Gesetz von einer bestehenden Bundesregelung abweichen (für<br />
die Lateiner: lex posterior derogat legi priori) 55 . Daneben haben sich<br />
eng gefasste ungeschriebene Kompetenzen in richterlicher Rechtsfortbildung<br />
entwickelt. 56<br />
Die Mitwirkung des Bundesrates bei der Bundesgesetzgebung ist<br />
ein entscheidendes Element des Bundesstaatsprinzips. Der Grad der<br />
Mitwirkung bemisst sich nach der Art des Gesetzes: Einspruchsoder<br />
Zustimmungsgesetz. 57 Die meisten Gesetze sind Einspruchsgesetze,<br />
d.h. sie kommen ohne aktive Mitwirkung des Bundesrats<br />
zustande, der in das Gesetzgebungsverfahren nur eingreifen kann,<br />
indem er fristgerecht Einspruch einlegt. Dagegen ist nur in den vom<br />
Grundgesetz aufgezählten Fällen, in denen Länderinteressen voraussichtlich<br />
empfindlich tangiert werden, eine explizite Zustimmung<br />
des Bundesrates erforderlich, z.B. Art. 74 II GG.<br />
49 So sieht sich das BVerfG, wie in BVerfGE 1, 184 (195 f.) deutlich wird selbst, dennoch steht es nicht<br />
über, sondern unter der Verfassung und ist an den Maßstab des Grundgesetzes gebunden.<br />
50 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 93 Rn. 3.<br />
51 In den Fällen des Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. § 31 Abs. 2 BVerfG, Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG hat die Entscheidung<br />
sogar Gesetzeskraft.<br />
52 Degenhart (Fn. 12) S. 60.<br />
53 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 72 GG, Rn. 20 ff. Die Regelungsziele sind alternativ zu verstehen. Bejaht<br />
wurde die Notwendigkeit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Rahmen der Sozialversicherung<br />
(BVerfGE 113, 167, 198), nicht aber bei unterschiedlichen Standards im Umweltrecht (Jarass/<br />
Pieroth (Fn. 2) Art. 72 Rn. 20). Hinsichtlich der Wirtschaft- und Rechtseinheit ist vor allem an europäische<br />
Vorgaben zu denken.<br />
54 BVerfGE 98, 265 (300); Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 72 GG, Rn. 11.<br />
55 Dt.: Das spätere Gesetz geht dem früheren vor, Art. 72 III GG ist eine Ausprägung dieses Grundsatzes.<br />
56 Zur Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs, kraft Natur der Sache und zur Annexkompetenz<br />
mit Beispielen und Klausurhinweisen: Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 843 ff; Maurer (Fn. 10) S. 295 f.<br />
57 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 872.<br />
V. DIE AUSFÜHRUNG DER GESETZE DURCH DIE VERWALTUNG<br />
Aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik wäre es ineffizient,<br />
wenn der Bund für alle seine Zuständigkeitsbereiche eigene<br />
Behörden schaffen müsste. Daher bestimmt Art. 83 GG, dass die<br />
Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen. Es<br />
besteht, ähnlich dem Art. 70 GG, eine Zuständigkeitsvermutung für<br />
die Ausführung von Gesetzen durch die Länder. So verwundert es<br />
nicht, dass die Länder die Einrichtung ihrer Behörden selbst regeln<br />
können, Art. 84 Abs. I 1 GG.<br />
Hiervon macht Art. 85 GG eine Ausnahme: „Bundesauftragsverwaltung“<br />
bedeutet, dass die Länder die Gesetze nicht als eigene Angelegenheit,<br />
sondern lediglich im Auftrag des Bundes ausführen. Die<br />
Sachkompetenz verbleibt dabei beim Bund, während die Wahrnehmungskompetenz,<br />
d.h. das Handeln nach außen, den Ländern<br />
übertragen wird. 58 Die Bundesauftragsverwaltung liegt nur in den<br />
im Grundgesetz genannten Fällen vor, z.B. bei der Bundesfernstraßenverwaltung,<br />
Art. 90 GG. Dem Bund steht gegenüber den Landesministerien<br />
eine Fachaufsicht zu, d.h. er darf gemäß Art. 85 III GG<br />
Weisungen erteilen. Beschränkt wird dieses Weisungsrecht denklogisch<br />
nur durch die Gesetzgebungszuständigkeit, da eine Weisung<br />
nicht weiterreichen darf, als die Gesetzgebungszuständigkeit selbst. 59<br />
Außerdem ist nach dem Grundsatz der Bundestreue eine Weisung<br />
anzukündigen und dem Land Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.<br />
60 Die Weisung ist jeweils an die oberste Landesbehörde, i.d.R.<br />
an den zuständigen Landesminister, zu richten. 61 Ist das Land der<br />
Auffassung, dass die Weisung rechtswidrig ist, kann es im Wege des<br />
Bund-Länder-Streites eine Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht<br />
erwirken, Art. 93 I Nr. 3 GG. 62<br />
C. WIE BEIM LOTTO - OHNE GEWÄHR<br />
An den meisten Universitäten werden vorlesungsbegleitende Tutorien<br />
angeboten, in denen Sie die Techniken der Fallbearbeitung<br />
einüben können. Häufig thematisieren Abschlussklausuren als<br />
Fall- oder Frageklausur das Gesetzgebungsverfahren, die Grundentscheidungen<br />
und amtliche Warnungen 63 . Von den Verfahren sind<br />
das Organ-Streit-Verfahren und die Normenkontrollverfahren besonders<br />
relevant. Ihrer Lektüre seien diesbezüglich uneingeschränkt<br />
empfohlen:<br />
Maurer, Hartmut, Staatsrecht I, Verlag C.H. Beck München, 6. Auflage<br />
2010, 784 Seiten<br />
Degenhart, Christoph, Staatsorganisationsrecht, Verlag C.F. Müller,<br />
26. Auslage 2010, 363 Seiten<br />
Schmidt, Rolf, Staatsorganisationsrecht, Verlag Rolf Schmidt,<br />
10. Auflage 2010, 421 Seiten<br />
58 Wolst, Die Bundesauftragsverwaltung als Verwaltungsform, 1974, S. 54.<br />
59 BVerfGE 102, 176; Lerche, in: Maunz/Dürig, Art. 85 Rn. 49-69.<br />
60 BVerfGE 81, 310, 337 (Kalkar II).<br />
61 Suerbaum, in BeckOK GG, Art. 85 Rn. 36.<br />
62 BVerfGE 81, 310, 330 (Kalkar II); dazu Fallbearbeitung von Pietrzyk in: <strong>Iurratio</strong> 2011, 172.<br />
63 BVerfG NJW 2002, 2621 (Glykolwein); BVerfGE 105, 279 (Osho) BVerwG NJW 1989, 2272 (Jugendsekten);<br />
OVG Münster NJW 1997, 1459 (Warnung vor Scientology), dazu Fallbearbeitung Cremer/Jeand’Heur<br />
JuS 2000, 991.<br />
24<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Anfänger im Zivilrecht: „Fit in den Sommer“<br />
von Dr. Peter Balzer und Volker Kindler (Bonn)<br />
Dr. Peter Balzer ist Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht und Partner der Kanzlei Balzer Kühne Lang mit Sitz in Bonn.<br />
Er ist Lehrbeauftragter an den Universitäten Bonn und Siegen, Autor einer Fallsammlung zum Schuldrecht und zahlreicher<br />
Fachveröffentlichungen im Bank- und Kapitalmarktrecht.<br />
Volker Kindler hat sein Studium der Rechtswissenschaften in Bonn mit dem Schwerpunkt „Bank- und Kapitalmarktrecht“<br />
Mitte 2010 mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Danach war er als Tutor im Zivilrecht tätigt. Seit Mitte 2011 ist er<br />
Rechtsreferendar am Oberlandesgericht Köln und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kanzlei Balzer Kühne Lang in Bonn.<br />
I. SACHVERHALT<br />
F betreibt in Bonn ein großes Fitnessstudio. A ist dort seit dem Jahr<br />
2007 Mitglied, zuletzt hat er im August 2010 seine Mitgliedschaft<br />
(Monatsbeitrag € 29,-) um ein weiteres Jahr bis zum 31.7.2011 verlängert.<br />
Am Morgen des 15.9.2010 begibt sich A in das Studio des F,<br />
um sein regelmäßiges Ausdauertraining zu absolvieren. Nachdem er<br />
sich wie üblich kurz auf dem Laufband aufgewärmt hat, begibt sich A<br />
zu den Rudergeräten, um hier sein Training fortzusetzen. Leider ist<br />
das Rudergerät, das A für sein Training auswählt, defekt, da die Befestigung<br />
der Zugkette am Schwungrad abgerissen ist. Als A zum ersten<br />
Ruderzug ausholt, fällt er mangels Widerstands rückwärts vom<br />
Rollsitz herunter und zieht sich eine schmerzhafte Schulterprellung<br />
zu, die eine ärztliche Behandlung erforderlich macht.<br />
Es stellt sich heraus, dass bereits am Vorabend das Studiomitglied<br />
S den Mitarbeiter M des F, der für die Überwachung und Instandhaltung<br />
der Geräte zuständig ist, über den Defekt des Rudergerätes<br />
informiert hatte. M hatte sich vorgenommen, das Rudergerät zur Reparatur<br />
in den Keller zu bringen, dies aber in der Folge auf Grund der<br />
Hektik des Studiobetriebs wieder vergessen. Als A hiervon erfährt,<br />
macht er dem F Vorhaltungen, dass er sich nicht um die Sicherheit<br />
seiner Mitglieder kümmere. F ist der Meinung, dass er für das Fehlverhalten<br />
des M nichts könne. Er verweist auf eine schriftliche Arbeitsanweisung,<br />
die allen Mitarbeitern (und damit auch dem M) zur<br />
Kenntnis gebracht worden sei. Dort steht ausdrücklich, dass defekte<br />
Geräte unverzüglich entsprechend zu kennzeichnen und nach Möglichkeit<br />
aus dem Trainingsbereich zu entfernen sind. F kontrolliert<br />
auch regelmäßig, ob sich seine Mitarbeiter an diese Vorgabe halten;<br />
bei M hat es in der Vergangenheit keinerlei Beanstandungen gegeben.<br />
Nach seiner Verletzung hat A das Vertrauen in sein Fitnessstudio verloren<br />
und beschließt, nun zuhause zu trainieren. Aus diesem Grund<br />
bestellt er am 9.10.2010 beim Gerätehersteller G einen Crosstrainer<br />
„LifeFitness X7 Advanced“ zum Preis von € 4.999,-. Die Lieferung<br />
soll spätestens am 29.02.2011 erfolgen, da A das Gerät ab März 2011<br />
in seinen erweiterten Räumlichkeiten einsetzen will. Am 15.03.2011<br />
teilt G dem A schriftlich mit, dass er infolge gestiegener Lohn- und<br />
Materialkosten den Preis für den Crosstrainer auf € 5.499,- anheben<br />
müsse. A besteht auf Lieferung des Gerätes zum vereinbarten<br />
Preis von € 4.999,-. Hierzu ist G nicht bereit, er teilt A mit Fax vom<br />
17.03.2011 mit, dass dieser sich dann das Gerät anderweitig beschaffen<br />
müsse. A gelingt es erst am 20.03.2011, beim Händler H einen<br />
Crosstrainer „LifeFitness X7 Advanced“ zu erwerben, für den er allerdings<br />
€ 5.199,- aufwenden muss. Mit Schreiben vom 22.03.2011<br />
nimmt A den G auf Ersatz der Mehrkosten für die Anschaffung des<br />
Crosstrainers in Höhe von € 200,- in Anspruch. A verlangt weiter<br />
von F und M Ersatz der Behandlungskosten von € 300,- sowie ein<br />
angemessenes Schmerzensgeld von € 100,-.<br />
Wie ist die Rechtslage? Zu prüfen sind nur Vorschriften des BGB.<br />
II. LÖSUNG<br />
1. TEIL: DAS DEFEKTE RUDERGERÄT<br />
A. Ansprüche des A gegen F auf Zahlung von € 400,- (Behandlungskosten<br />
von € 300,- und Schmerzensgeld von € 100,-)<br />
I. ANSPRUCH DES A GEGEN F AUS §§ 280 I, 241 II BGB<br />
A könnte gegen A einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von<br />
€ 400,- aus §§ 280 I, 241 II BGB haben.<br />
1. SCHULDVERHÄLTNIS<br />
Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist zunächst das Bestehen<br />
eines Schuldverhältnisses zwischen A und A. Ein Schuldverhältnis<br />
besteht dann, wenn die eine Partei von der anderen ein Tun oder Unterlassen<br />
verlangen kann, § 241 I BGB. Zwischen A und F bestand,<br />
nachdem A seine Mitgliedschaft bis zum 31.7.2008 verlängert hatte,<br />
ein Fitnessstudiovertrag (typengemischter Vertrag mit miet- und<br />
dienstvertraglichen Elementen 1 , §§ 535, 611 BGB). Das erforderliche<br />
Schuldverhältnis liegt daher vor.<br />
2. PFLICHTVERLETZUNG<br />
Weiterhin müsste A eine aus diesem Schuldverhältnis resultierende<br />
Pflicht verletzt haben, § 280 I 1 BGB. Im Rahmen des bestehenden<br />
Fitnessstudiovertrages traf F nach § 241 II BGB die (Neben-)Pflicht,<br />
alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zu veranlassen, um<br />
Schädigungen der Mitglieder zu vermeiden. 2 In diesem Fall besteht<br />
die darin, dass, sofern bei einzelnen Geräten ein Defekt auftritt, diese<br />
unverzüglich zu kennzeichnen sind, damit Mitglieder bei der Benutzung<br />
nicht zu Schaden kommen. Diese Sorgfaltspflicht könnte auf<br />
Grund der unterbliebenen Kennzeichnung bzw. Entfernung des defekten<br />
Rudergerätes aus dem Trainingsbereich verletzt worden sein.<br />
1 LG Darmstadt, NJW-RR 1991, 1015.<br />
2 Katzenstein, Jura 2004, 800 ff; Mangel, in: Jauernig, § 241 Rn. 10.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
25
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Bearbeiterhinweis: Im Folgenden ist es wichtig zu erkennen, dass die<br />
Pflichtverletzung gerade nicht durch F sondern durch seinen Mitarbeiter<br />
M erfolgte. Die Zurechnung erfolgt dann über § 278 S. 1 BGB<br />
bei einem Erfüllungsgehilfen. 3 Dies dient dazu, dass sich derjenige,<br />
der sich der Arbeitsleistung Dritter zur Erfüllung eigener Verpflichtungen<br />
bedient, hierfür auch so haften soll, als hätte er die Verpflichtungen<br />
selbst übernommen. 4 § 278 BGB ist somit eine bloße Zurechnungsnorm,<br />
und keine eigene Anspruchsgrundlage. Anders jedoch<br />
bei einem Verrichtungsgehilfen. Hier handelt es sich bei § 831 um<br />
eine eigene Anspruchsgrundlage. 5<br />
Zwar ist F hierfür nicht selbst unmittelbar verantwortlich, ihm<br />
könnte aber das sorgfaltswidrige Verhalten seines Mitarbeiters M<br />
nach § 278 S. 1 BGB zuzurechnen sein. Dann müsste M Erfüllungsgehilfe<br />
des F gewesen sein.<br />
a) Erfüllungsgehilfe<br />
Erfüllungsgehilfe ist jede Person, der sich der Schuldner zur Erfüllung<br />
seiner Verpflichtungen aus dem Schuldverhältnis bedient. 6 M<br />
war Erfüllungsgehilfe i.S.d. § 278 S. 1 BGB, da er bei der Überwachung<br />
und Instandhaltung der Trainingsgeräte mit Wissen und Wollen<br />
des F in dessen Pflichtenkreis tätig wurde und daher auch die<br />
Sorgfaltspflichten des F zu erfüllen hatte.<br />
b) Sorfaltspflichtverstoß<br />
Gegen die ihm übertragenen Sorgfaltspflichten hat M verstoßen, indem<br />
er entgegen der Arbeitsanweisung nicht dafür sorgte, dass die<br />
Mitglieder durch das defekte Rudergerät nicht gefährdet wurden.<br />
c) Bei Ausübung seiner Pflichten<br />
Der Sorgfaltspflichtverstoß des M erfolgte auch in Ausübung der ihm<br />
von F übertragenen Pflichten und nicht nur bei Gelegenheit. 7<br />
3. VERTRETENMÜSSEN/VERSCHULDEN<br />
M müsste die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben. Der Schuldner<br />
hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, § 276 I BGB. Die<br />
Pflichtverletzung des M kann vorliegend durch die unterbliebene<br />
Kennzeichnung bzw. Entfernung des defekten Rudergerätes, die auch<br />
sorgfaltswidrig und damit fahrlässig i.S.d. § 276 II BGB 8 erfolgte, erblickt<br />
werden. Dieses ist dem F nach § 278 S. 1 BGB zuzurechnen.<br />
Bearbeiterhinweis: Nach § 280 I S.2 BGB findet eine Beweislastumkehr<br />
statt. 9 „Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung<br />
nicht zu vertreten hat“. Die Beweislast trifft damit den Schuldner und<br />
nicht, wie sonst üblich, den Gläubiger.<br />
4. SCHADEN<br />
Rechtsfolge der schuldhaften Pflichtverletzung ist, dass F dem A den<br />
hieraus entstehenden Schaden ersetzen muss. Der Umfang des zu leistenden<br />
Schadensersatzes bestimmt sich nach §§ 249 ff. BGB. Die<br />
Schadensberechnung erfolgt nach der Differenzhypothese, es ist also<br />
die Vermögenslage nach der Pflichtverletzung mit der Vermögenslage<br />
die ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, zu vergleichen. 10<br />
Nach § 249 II 1 BGB kann A somit Ersatz der Behandlungskostenvon<br />
€ 300,- verlangen. Weiterhin hat er gem. § 253 II BGB zudem einen<br />
Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von<br />
€ 100,- 11<br />
ERGEBNIS:<br />
A hat somit gegen F einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von<br />
€ 400,- aus §§ 280 I, 241 II BGB.<br />
II. ANSPRUCH DES A GEGEN F AUS § 831 I 1 BGB<br />
A könnte gegen F zudem einen Anspruch auf Schadensersatz in<br />
Höhe von € 400,- aus § 831 I 1 BGB haben.<br />
1. VERRICHTUNGSHILFE<br />
Dann müsste M Verrichtungsgehilfe des F gewesen sein und bei Ausführung<br />
der Verrichtung dem A rechtswidrig einen Schaden zugefügt<br />
haben.<br />
Verrichtungsgehilfe ist, wer von einem anderen (dem sog. Geschäftsherrn),<br />
von dem er weisungsabhängig ist, mit einer bestimmten Tätigkeit<br />
betraut worden ist. 12 Vorliegend war M als Mitarbeiter weisungsabhängig<br />
und übte bei der Überwachung und Instandhaltung<br />
der Trainingsgeräte eine ihm von F übertragene Tätigkeit aus. Er war<br />
damit Verrichtungsgehilfe des F i.S. von § 831 I 1 BGB.<br />
2. IN AUSFÜHRUNG DER VERRICHTUNG<br />
Weiterhin müsste er bei Ausführung der Verrichtung und nicht nur<br />
bei Gelegenheit gehandelt haben. 13<br />
Als er die Kennzeichnung bzw. die Entfernung des defekten Rudergerätes<br />
entgegen der Arbeitsanweisung unterließ, handelte M in Ausführung<br />
der ihm von F übertragenen Verrichtung.<br />
3. RECHTSWIDRIGE SCHÄDIGUNG<br />
Es müsste auch eine rechtswidrige Schädigung des A durch M vorliegen.<br />
14<br />
Dies ist durch die zugefügten Verletzungen des A der Fall. Indem M<br />
die Kennzeichnung bzw. die Entfernung des defekten Rudergerätes<br />
unterließ, setzte er eine Ursache dafür, dass A rückwärts vom Rollsitz<br />
herunterfiel und sich eine Schulterprellung zuzog. Hieraus resultierte<br />
ein Schaden des A in Höhe von € 400,- (Behandlungskosten<br />
von € 300,-; Schmerzensgeld in Höhe von € 100,-).<br />
4. KEINE EXKULPATION<br />
Nach § 831 I 2 BGB tritt die Ersatzpflicht aber nicht ein, wenn den<br />
Geschäftsherrn kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden<br />
trifft .15<br />
Ein solches Verschulden wird nach § 831 I 2 BGB grundsätzlich vermutet.<br />
Da M ein entsprechender Fehler in der Vergangenheit indes<br />
noch nie unterlaufen ist, muss davon ausgegangen werden, dass F ihn<br />
sorgfältig ausgewählt hat. Zudem hat F auch regelmäßig kontrolliert,<br />
ob M die Arbeitsanweisung einhielt. F kann sich somit nach § 831<br />
3 zur Vertiefung: Armbrüster, Grundfälle zum Schadensrecht, JuS 2007, 605.<br />
4 BGHZ 95, 128, 132 = BGH NJW 1985, 1939.<br />
5 Sprau in: Palandt, § 831 Rn.1.<br />
6 Stadler in: Jauernig, § 278 Rn. 6; Schmidt-Kessel in Prütting/Wegen/Weinreich, § 278 Rn. 7 f.<br />
7 Grundmann in: MüKo, § 278 Rn. 46.<br />
8 Vgl. ausführlich zum Begriff der Fahrlässigkeit: Lorenz, JuS 2007, 611.<br />
9 Ernst in: MüKo, § 280 Rn. 27 f.<br />
10 Teichmann in: Palandt, § 249 Rn. 6.<br />
11 Die Höhe des Schmerzensgeldes ist im Sachverhalt im Regelfall immer angegeben. In der Praxis<br />
richtet sich die Berechnung nach der Art und der Schwere der Verletzung, vgl. hierzu BGHZ 138, 391.<br />
Auch gibt es verschiedene Schmerzensgeldtabellen, u.a. vom ADAC, die einen ersten Anhaltspunkt liefern<br />
können. Vgl. weiterhin die Übersicht bei Jeager/Luckey, VRR 2010, 84.<br />
12 Sprau in: Palandt, § 831 Rn. 5; Wagner in: MüKo § 831 Rn. 14.<br />
13 Teichmann in: Jauernig, § 831 Rn. 8.<br />
14 Sprau in: Palandt, § 831 Rn. 8.<br />
15 Wagner in: MüKo, § 831 Rn. 33 f.<br />
26<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
I 2 BGB entlasten (exkulpieren), so dass eine Schadensersatzpflicht<br />
gegenüber A nicht besteht.<br />
ERGEBNIS:<br />
A hat daher gegen F keinen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe<br />
von € 400,- aus § 831 I 1 BGB.<br />
B. ANSPRUCH DES A GEGEN M AUS § 823 I BGB<br />
Anspruch des A gegen M auf Zahlung von € 400,- (Behandlungskosten<br />
von € 300,- und Schmerzensgeld von € 100,-).<br />
A könnte gegen M einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von<br />
€ 400,- aus § 823 I BGB haben.<br />
I. RECHTSGUTSVERLETZUNG<br />
Voraussetzung für das Bestehen dieses Anspruchs ist zunächst, dass<br />
M ein durch § 823 I BGB geschütztes Rechtsgut des A verletzt hat.<br />
§ 823 I schützt u.a. den Körper und die Gesundheit eines Menschen.<br />
Durch den Sturz des A vom Rollsitz ist sein Körper sowie seine Gesundheit<br />
verletzt worden, sodass eine Beeinträchtigung des Körpers<br />
und seiner Gesundheit vorliegt.<br />
II. ZURECHENBARKEIT DER RECHTSGUTSVERLETZUNG<br />
Die Handlung des M führt nur dann zu einer Rechtsgutverletzung,<br />
wenn diese ihm objektiv zugerechnet werden kann. 16 Dies setzt zunächst<br />
voraus, dass die Handlung adäquate kausal für die Rechtsgutsverletzung<br />
geworden ist. 17 Der Sturz ist darauf zurückzuführen, dass<br />
M das defekte Rudergerät nicht gekennzeichnet bzw. aus dem Trainingsbereich<br />
entfernt hat. M hat daher durch sein Verhalten die Ursache<br />
für die Rechtsgutverletzung des A gesetzt.<br />
III. VERTRETENMÜSSEN<br />
M müsste die Rechtsgutverletzung des A ferner zu vertreten haben,<br />
d.h. er müsste fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt haben,<br />
§ 276 I 1 BGB. Da M trotz Kenntnis des Defekts am Rudergerät die<br />
Kennzeichnung bzw. die Entfernung in der Folge vergessen hat, hat<br />
er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen, sodass<br />
die Rechtsgutverletzung nach § 276 II BGB fahrlässig und damit<br />
schuldhaft erfolgt ist.<br />
IV. RECHTSWIDRIGKEIT<br />
Die Rechtsgutsverletzung müsste auch rechtswidrig sein. Dieses ist<br />
immer dann der Fall, wenn keine Rechtfertigungsgründe vorliegen.18<br />
Auch die Rechtswidrigkeit der Rechtsgutverletzung ist gegeben,<br />
da keine Rechtfertigungsgründe zu Gunsten des M eingreifen.<br />
V. SCHADEN<br />
Als Rechtsfolge ordnet § 823 I BGB eine Haftung auf Schadensersatz<br />
an, dessen Umfang sich wiederum nach §§ 249 ff. BGB bestimmt. 19<br />
Bearbeiterhinweis: an dieser Stelle können Sie, da sich keine Abweichungen<br />
zu der oben vorgenommenen Berechnung ergeben, nach<br />
oben verweisen.<br />
Nach den obigen Ausführungen beträgt der ersatzfähige Schaden des<br />
A € 400,-.<br />
16 Teichmann in: Jauernig, § 823 Rn. 20.<br />
17 BGHZ 41, 123.<br />
18 Wagner in: MüKo, § 823 Rn. 304; BGHZ 122, 6 f.<br />
19 Sprau in: Palandt, vor § 823 Rn 17.<br />
ERGEBNIS:<br />
A hat daher gegen M einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe<br />
von € 400,- aus § 823 I BGB.<br />
2. TEIL: DER CROSSTRAINER<br />
A. ANSPRUCH DES A GEGEN G AUS §§ 280 I, III, 281 I BGB<br />
Anspruch des A gegen G auf Schadensersatz in Höhe von € 200,-<br />
A könnte gegen G einen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung<br />
in Höhe von € 200,- aus §§ 280 I, III, 281 I BGB haben.<br />
I. SCHULDVERHÄLTNIS<br />
Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist zunächst das Bestehen<br />
eines Schuldverhältnisses zwischen A und G. Zwischen A und G ist<br />
infolge der Bestellung des Crosstrainers „LifeFitness X7 Advanced“<br />
zum Preis von € 4.999,- ein Kaufvertrag i.S.d. § 433 BGB zustande gekommen.<br />
Ein Schuldverhältnis zwischen F und G bestand daher.<br />
II. PFLICHTVERLETZUNG<br />
Weiterhin müsste G eine aus diesem Schuldverhältnis resultierende<br />
Pflicht verletzt haben, § 280 I 1 BGB. 20 G hat entgegen der vertraglichen<br />
Absprachen den bestellten Crosstrainer nicht (spätestens) am<br />
29.02.2011 geliefert. Eine Pflichtverletzung des G liegt daher vor.<br />
III. VERSCHULDEN<br />
Das nach § 280 I 2 BGB erforderliche Verschulden wird vermutet 21 ;<br />
G hat sich nicht exkulpiert.<br />
IV. FRISTSETZUNG<br />
Für einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung müssen weiterhin<br />
die Voraussetzungen des § 281 BGB erfüllt sein. Nach § 281 I 1<br />
BGB ist insoweit erforderlich, dass der Gläubiger dem Schuldner erfolglos<br />
eine angemessene Nachfrist zur Leistung bestimmt. Eine solche<br />
Nachfrist hat F dem G indes nicht eingeräumt.<br />
Allerdings ist die Setzung einer Nachfrist nach § 281 II BGB u.a.<br />
entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig<br />
verweigert. Vorliegend hat G dem F sowohl mit Schreiben vom<br />
15.03.2011 als auch mittels Telefax vom 02.04.2011 zu erkennen gegeben,<br />
dass er den Vertrag nicht wie vereinbart erfüllen wird, sondern<br />
auf eine Änderung des Vertrages in Form einer Preiserhöhung<br />
besteht. Hierin liegt eine Erfüllungsverweigerung 22 des G, so dass die<br />
Setzung einer Nachfrist durch A nach § 281 II BGB entbehrlich war.<br />
V. SCHADEN<br />
Die Tatbestandsvoraussetzungen nach §§ 280 I, III, 281 BGB sind<br />
mithin erfüllt, A hat gegen G einen Anspruch auf Schadensersatz<br />
statt der Leistung, dessen Höhe sich nach §§ 249 ff. BGB bestimmt. G<br />
muss den A daher so stellen, als hätte er den bestellten Crosstrainer<br />
vereinbarungsgemäß zum Preis von € 4.999,- geliefert. Dann wäre es<br />
dem A erspart geblieben, sich den Crosstrainer bei H zum Preis von<br />
€ 5.199,- besorgen zu müssen. Der ersatzfähige Schaden des A beläuft<br />
sich demnach auf € 200,-.<br />
B. ERGEBNIS:<br />
A hat daher gegen G einen Anspruch auf Schadensersatz statt der<br />
Leistung in Höhe von € 200,- aus §§ 280 I, III, 281 BGB.<br />
20 Stadler in: Jauernig, § 280 Rn. 58.<br />
21 vgl. die Ausführungen unter A I c).<br />
22 Ernst in: MüKo, § 281 Rn. 50 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
27
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Empfehlung für die Muppet-Show:<br />
„nicht nachahmenswert, aber auch nicht rechtswidrig“<br />
Lustiges und Kurioses aus der Rechtsprechung<br />
Immer wieder wird man in den ersten Monaten seines Jurastudiums auf die Frage von Bekannten und Freunden, was<br />
man denn nun studiere, fassungslos angesehen und muss sich das Folgende anhören: „Was, Du studierst Jura? Das ist<br />
ja total trocken und langweilig!“ Nach der Lektüre der folgenden Urteile werden Sie darüber nur müde lächeln, aus<br />
dem Nähkästchen plaudern und von diesen kuriosen, mitunter sehr witzigen Urteilen berichten können.<br />
Und ja, es sind wirklich „echte Fälle“ und nicht lustige Ideen unserer Redaktion.<br />
Kein Schmerzensgeld bei Sturz aus Gefrierschrank<br />
Steigt ein Kunde in den Gefrierkühlschrank eines<br />
Großmarktes, um die im hinteren Bereich befindlichen<br />
Lebensmittel zu erreichen und stürzt<br />
auf dem Weg hinaus über eine zuvor bereits beim<br />
Einstieg überwundene Stufe, kann er vom Betreiber<br />
der Großmarkthalle keinen Schadensersatz wegen<br />
Verletzung der Verkehrssicherungspflicht verlangen.<br />
Der Kunde gab an, als er sich im Schrank befand,<br />
sei dir Tür hinter ihm zugefallen und das Innere<br />
des Glases sei beschlagen. Beim Hinausgehen<br />
stürzte der dann mit dem Karton in seinen Händen<br />
über die Stufe und erlitt einen Knochenbruch des<br />
Wadenbeins. Er wandte sich an den Betreiber des<br />
Großmarktes und verlangte Schmerzensgeld i.H.v.<br />
mindestens 4.000 Euro. Die Stufe, so der Kläger,<br />
hätte gekennzeichnet werden müssen, da sie auf<br />
Grund der schlechten Sichtverhältnisse in dem<br />
Kühlschrank und den beschlagenen Fenstern nicht<br />
erkennbar gewesen sei. Der Beklagte verwies auf<br />
die gute Beleuchtung des Gefrierschrankes und auf<br />
den Umstand, dass er nicht zum Betreten gedacht<br />
sei. Das Gericht wies die Klage ab. Wer schon die<br />
Stufe hinaufsteige, müsse selber wissen, dass er<br />
diese beim Gehen auch wieder hinunterzusteigen<br />
habe. Im Übrigen hätte er eine Selbstgefährdung<br />
auch dadurch abwenden können, dass er das Personal<br />
des Marktes um die Entnahme des Kartons<br />
hätte bitten können. AG München v. 01.08.2011,<br />
113 C 20523/10<br />
Jura vom „Hören-Sagen“<br />
Hörbücher stellen die perfekte Alternative oder Ergänzung für jeden<br />
dar, der seine Augen einmal schonen möchte oder schlichtweg<br />
in Situationen lernen möchte, in denen das Lesen unmöglich ist, wie<br />
z.B. beim Autofahren, Radfahren oder Joggen. Vorliegend werden die<br />
Hör-Materialien von Hemmer/Wüst und Niederle Media vorgestellt.<br />
Die Materialien von Hemmer/Wüst nennen sich Audio-Cards und<br />
wurden in Zusammenarbeit mit dem Verlag Ohrenmenschen produziert.<br />
Bisher werden die Bereiche BGB-AT, Schuldrecht, Sachenrecht,<br />
Deliktsrecht, Bereicherungsrecht und Staatsrecht angeboten; die Themengebiete<br />
Zivilprozessrecht, Strafrecht und weitere sind noch für<br />
diesen Herbst geplant. Die Audio-Cards können sowohl über den<br />
Shop des Verlages Ohrenmenschen, als auch den von Hemmer/Wüst<br />
bestellt werden; die praktische Option des Online-Downloads wird<br />
ebenfalls angeboten. Die Dateien sind alle im Frage-Antwort-Stil<br />
aufgebaut. Eine freundliche Männerstimme stellt die Fragen, danach<br />
ertönt ein kurzer Gong, der es einem ermöglicht, sich selbst Gedanken<br />
über die Antwort zu machen und schließlich beantwortet eine<br />
Frauenstimme die aufgeworfene Frage. Die Stimmen legen eine angenehme<br />
Betonung an den Tag, so dass man ihnen problemlos folgen<br />
kann. Alle Audio-Cards enthalten zusätzlich ein pdf-Dokument,<br />
welches den gesamten vorgetragenen Inhalt wortwörtlich enthält. Die<br />
Dateien sind in zwei Spalten aufgeteilt: Die linke Spalte enthält die<br />
Fragen, die rechte die Antworten, so dass man es ideal zum Selbsttest<br />
heranziehen kann, indem man die Spalte mit den Antworten mit<br />
einem Zettel abdecken und sich so selbst abfragen kann. Die Audio-<br />
Cards sind äußerst ausführlich. So hat z.B. allein das Komplettpaket<br />
der Audio-Cards zum BGB-AT einen Umfang von über 400 Minuten!<br />
Die Cards zum BGB AT bestehen aus drei Teilen, die man auch einzeln<br />
für je 19,95 € erwerben kann, das Komplettpaket kostet 44,80 €.<br />
Niederle Media bietet in seinem Sortiment vom BGB-AT über sämtliche<br />
Strafrechtsbereiche bis hin zu Nebengebieten wie Arbeitsrecht<br />
oder Handels- und Gesellschaftsrecht die gesamte Palette der juristischen<br />
Fachgebiete. Alle Hörbücher sind sowohl als Audio-CD als auch<br />
als mp3-Dateien erhältlich; letztere stehen auch online als Download<br />
inklusive pdf-Dateien im Originalwortlaut bereit. Die Dateien sind<br />
ebenfalls im Frage-Antwort-Stil aufgebaut; hier stellt eine Frauenstimme<br />
die Fragen, eine Männerstimme beantwortet diese dann direkt<br />
im Anschluss. Auch hier wird in einer angenehmen Tonlage vorgetragen,<br />
so dass man dem Vortrag sehr gut folgen kann. In den pdf-<br />
Dokumenten sind die Fragen und Antworten in einem fortlaufenden<br />
Text aufgeführt. Die Dateien bieten einen kompakten Überblick über<br />
die verschiedenen Themenbereiche, sind aber nicht so ausführlich<br />
wie die von Hemmer/Wüst; so wird vergleichsweise das Basiswissen<br />
BGB-AT in 79 Minuten dargestellt. Dies macht sich aber natürlich<br />
preislich bemerkbar. Die Audio-CD ist für 7,90 € erhältlich, der mp3-<br />
Download bereits für 5,99 €. Zudem werden auch verschieden CDs<br />
mit Standardfällen, Streitfragen oder Definitionen angeboten. Als<br />
Wiederholung, Auffrischung oder Ergänzung sind auch diese Hörbücher<br />
sehr zu empfehlen.<br />
Weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten unter:<br />
http://www.hemmer-shop.de/<br />
http://www.niederle-media.de/13.html<br />
28<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Polizisten dürfen nicht in Pornos mitspielen<br />
In einem Disziplinarverfahren wurde die Entfernung eines Polizeibeamten<br />
aus dem Beamtenverhältnis ausgesprochen, der wegen<br />
Beihilfe zur verbotenen Prostitution zu einer Geldstrafe von 30<br />
Tagessätzen verurteilt worden war und zuvor als Pornodarsteller in<br />
einem Film mitgewirkt hatte. Die Bundesrepublik klagte u.a. wegen<br />
der Beihilfe zur verbotenen Prostitution, der Mitwirkung in einem<br />
Pornovideofilm und den damit jeweils verbundenen nicht genehmigten<br />
Nebentätigkeiten auf Entfernung, da das Vertrauensverhältnis<br />
zu dem Beamten unwiderruflich zerstört sei. Das VG befand, der<br />
Beamte habe schuldhaft ein schweres Dienstvergehen begangen und<br />
dadurch das Vertrauen seines Dienstherrn und der Allgemeinheit<br />
endgültig verloren. Ein Beamter müsse innerhalb und außerhalb des<br />
Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein<br />
Beruf verlange. Das Verhalten des Beamten außerhalb des Dienstes<br />
sei in besonderem Maße geeignet gewesen, Achtung und Vertrauen<br />
in einer bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen. Zudem habe er sich<br />
auch nach seiner Verurteilung weiterhin im „Rotlichtmilieu“ aufgehalten<br />
und sei im Jahre 2008 anlässlich einer Polizeikontrolle sogar<br />
bei einer „Gang-Bang-Party“ in einem Bordell angetroffen worden.<br />
Der Polizeibeamte habe sich somit durch ein schweres Dienstvergehen<br />
endgültig untragbar gemacht, weshalb die Disziplinarmaßnahme<br />
der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu verhängen gewesen sei.<br />
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Verwaltungsgericht Stuttgart v.<br />
27.07.11, DB 23 K 5319/10<br />
Lehmann 0:1 Wiese –<br />
Nicht nachahmenswert, aber eben auch nicht rechtswidrig<br />
Das Gericht hatte die Frage zu beantworten, ob die folgenden<br />
Worte eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstellen: „Der<br />
Lehmann soll in die Muppet-Show gehen. Der Mann gehört auf die<br />
Couch. Vielleicht wird ihm da geholfen. Einweisen – am besten in<br />
die Geschlossene! Was soll ich da bitte machen? Geh ich ein Stück in<br />
die Mitte, geht der Ball in die kurze Ecke rein. Ich weiß nicht, warum<br />
über so ein Tor diskutiert wird. Schwachsinn.“ So reagierte die Bremer<br />
Nummer Eins Tim Wiese auf die kritischen Kommentare des ehemaligen<br />
Nationaltorwartes Jens Lehmann, der Wieses Leistung beim Spiel<br />
Werder Bremen gegen Tottenham Hotspurs kritisierte. Lehmann verklagte<br />
Wiese daraufhin auf Schmerzensgeld i.H.v. 20.000,00€. Das Gericht<br />
nahm eine fallbezogene Abwägung zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht<br />
des Klägers und der Meinungsfreiheit des Beklagten<br />
vor. Danach gelte im öffentlichen Meinungskampf der Grundsatz der<br />
Zulässigkeit der freien Rede. Die Meinungsfreiheit decke daher auch<br />
starke Formulierungen oder als unangemessen empfundene Kritik ab.<br />
Im Milieu des Profifußballs seien Schimpfwörter und die Austragung<br />
von Konflikten zwischen Sportlern über die Medien ohnehin an der<br />
Tagesordnung. Hierbei dürfe nicht jede Aussage auf die Goldwaage<br />
gelegt werden. Das Gericht wies die Klage ab und erklärte, solche<br />
Äußerungen seien zwar nicht unbedingt nachahmenswert, aber eben<br />
auch nicht rechtswidrig. Das Urteil war bei Redaktionsschluss noch<br />
nicht rechtskräftig. LG München v. 25.08.11, II 8 O 127/11<br />
Die Gretchen-Frage des Studienanfängers<br />
Jeder Jurastudent wird zu Beginn des Studiums vor eine wichtige<br />
Entscheidung gestellt: Welches Gesetz soll mich in den nächsten<br />
Monaten durch mein Studium begleiten? Hier gibt es in erster Linie<br />
zwei Möglichkeiten: Zum einen wäre da die imposant aussehende und<br />
bekannte Textsammlung Schönfelder nebst dem Sartorius, zum anderen<br />
die Gesetzestextsammlung des Nomos-Verlages. Beide haben<br />
ihre Vor- und Nachteile und sollen daher an dieser Stelle einmal überblickartig<br />
vorgestellt werden. Bei den erstgenannten Texten handelt es<br />
sich um Loseblattsammlungen, welche in unregelmäßigen Abständen<br />
durch Ergänzungslieferungen aktualisiert werden. Diese werden dann<br />
an die Stelle der veralteten Blätter geheftet, so dass ein Übertrag der<br />
Paragraphenverweise möglich ist. Die Kosten für diese Ergänzungslieferungen,<br />
deren Zusendung beim Kauf direkt bequem vereinbart<br />
werden kann, variieren je nach ihrem Umfang. In letzter Zeit lag die<br />
Preisspanne zwischen 6,50€ und 19,50€ pro Ergänzungslieferung.<br />
Der Schönfelder wird durch sein imposantes Äußeres mit dickem<br />
roten Einband und dem Gewicht von fast 3kg gern als Statussymbol.<br />
Neben dem BGB sind die Zivilprozessordnung (ZPO), das Handelsgesetzbuch<br />
(HGB), das Strafgesetzbuch (StGB) sowie etwa 100 weitere<br />
Gesetze enthalten. Das Gebiet des Öffentlichen Rechts muss ergänzend<br />
durch den Kauf des Sartorius abgedeckt werden.<br />
Die Gesetzessammlung des Nomos-Verlages kommt in drei gebundenen<br />
Teilen unterschiedlicher Außenfarbe daher. Der Einband der<br />
Bücher besteht aus dünnem Pappdeckel, so dass Beschädigungen<br />
kaum vermeidbar sind. Bei Gesetzesänderungen können diese Werke<br />
nicht ergänzt werden, sondern müssen neu erworben werden. Eingetragene<br />
Paragraphenverweise müssen komplett übertragen werden.<br />
Allerdings können die Bände auch einzeln gekauft werden. Ein Vorteil<br />
dieser Sammlung ist, dass sie leichter ist, die einzelnen Bände auch<br />
separat mitgenommen werden können und überflüssiges „Schleppen“<br />
entfällt. Wo man mit Schönfelder und Sartorius bereits fast 6 kg auf<br />
dem Rücken trägt, sind es an einem Tag mit einer Vorlesung zum<br />
Öffentlichen Recht und einer zum Zivilrecht mit den Nomos-Texten<br />
nicht einmal 1,2 kg. Zudem sind sie preiswerter und daher gerade für<br />
die ersten Semester, in denen manch ein Student nicht abzuschätzen<br />
vermag, ob er das Studium auch ernsthaft bis zum Abschluss betreiben<br />
kann, gut geeignet. Die drei Bände enthalten alles, was der Student<br />
benötigt. In den meisten Bundesländern sind beide Gesetzestexte für<br />
das erste Staatsexamen als Hilfsmittel zugelassen.<br />
Wer als <strong>Erstsemester</strong> ganz sparsam in den neuen und unbekannten<br />
Abschnitt des Lebens starten möchte, wird an die Einzelgesetze des<br />
dtv-Verlages verwiesen.<br />
Schönfelder: ISBN 978-3-406-46119-4, 38€ und Sartorius: ISBN 978-<br />
3-406-45645-9, 35€<br />
Gesetzestextsammlung von Nomos: ISBN 978-3-8329-6783-3, 44€<br />
dtv-Verlag: BGB ISBN 978-3-423-05001-2, 5€, StGB ISBN 978-3-<br />
423-05007-4, 7,90€, GG ISBN 978-3-423-05003-6, 5,90€<br />
Weitere interessante Berichte finden Sie auf unserer Homepage<br />
www.iurratio.de<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
29
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
Anfänger im Strafrecht: „Weltuntergangssekte“<br />
von Wiss. Mit. Dr. Georgios Sotiriadis (Universität Bremen)<br />
I. SACHVERHALT:<br />
Georgios Sotiriadis, Jahrgang 1979, ist Wissensch. Mitarbeiter<br />
am Lehrstuhl für Strafrecht einschließlich Grundlagen und Nebengebiete<br />
bei Prof. Dr. Felix Herzog. Er studierte Rechtswissenschaften<br />
an der Aristoteles Universität zu Thessaloniki,<br />
Griechenland und an der Humboldt Universität zu Berlin. Es<br />
folgte ein Masterstudium der Rechtswissenschaften (LL.M.) an<br />
der Freien Universität Berlin. Sotiriadis promovierte auf dem<br />
Gebiet des Strafrechts an der Humboldt Universität zu Berlin.<br />
B ist Anführer einer „Weltuntergangssekte“. In der Nacht zum<br />
21. Juni erscheint ihm Gott im Traum und befiehlt, dass die jüngste<br />
Mutter der Gemeinde getötet werden muss, um den Weltuntergang<br />
in der kommenden Nacht abzuwenden. Er weist deswegen das Gemeindemitglied<br />
M, den Ehemann der jüngsten Mutter der Gemeinde,<br />
an, seine Frau gleich nach dem Einschlafen mit dem Kissen zu<br />
ersticken und weiht den M ein, dass ansonsten der Weltuntergang<br />
drohe.<br />
Nach den Aussagen eines psychiatrischen Sachverständigen ist davon<br />
auszugehen, dass B tief davon überzeugt ist, dass Gott zu ihm gesprochen<br />
hat, und dass der M ein treu ergebenes Gemeindemitglied ist,<br />
das keinerlei Zweifel an der Wahrheit der Weissagungen des B hat.<br />
Um den Weltuntergang abzuwenden, tötet M am 21. Juni kurz nach<br />
22 Uhr seine schlafende, nichtsahnende Frau, indem er ihr ein Kissen<br />
auf das Gesicht drückt.<br />
Strafbarkeit von B und M?<br />
Ausführungen zur Schuldfähigkeit i. S. des § 20 StGB 1 sind nicht zu<br />
machen!<br />
II. LÖSUNGEN<br />
A. STRAFBARKEIT DES M NACH §§ 211, 212 STGB 2 ABS. 1<br />
M könnte sich des Mordes nach §§ 211, 212 Abs. 1 strafbar gemacht<br />
haben, indem er seine schlafende Frau mit einem Kissen erstickte.<br />
I. TATBESTAND<br />
1. OBJEKTIVER TATBESTAND<br />
a. Grundtatbestand des § 212 Abs. 1<br />
Zunächst müsste der M einen anderen Menschen getötet haben. M<br />
hat seine Frau mit einem Kissen erstickt. Diese Handlung bewirkt<br />
den Tod als irreversibles Erlöschen der Hirntätigkeit. Somit ist die<br />
Handlung des M auch kausal für den Tod seiner Frau und dieser ihm<br />
objektiv zurechenbar.<br />
b. Qualifikation des § 211<br />
Zudem könnte der M ein Mordmerkmal verwirklicht haben. In Betracht<br />
kommt an dieser Stelle das Merkmal „heimtückisch“ aus der 2.<br />
Gruppe der Mordmerkmale, die sich durch die besondere Verwerf-<br />
1 Soweit nicht anders bezeichnet, sind alle folgenden Normen solche des StGB.<br />
2 Alle nicht anderweitig bezeichneten §§sind solche des StGB.<br />
lichkeit ihrer Begehungsweise auszeichnen.<br />
Dieses Mordmerkmal ist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter<br />
dem Opfer in besonders niederträchtiger Weise seinen Schutz und<br />
seine Chance raubt, den Angriff auf sein Leben erfolgreich abzuwehren.<br />
Da die Bejahung eines Mordmerkmals eine besonders schwere<br />
Folge hat (lebenslange Freiheitsstrafe), ist dabei besondere Vorsicht,<br />
das heißt eine restriktive Auslegung, geboten. Aus diesem Grund<br />
sind die Anforderungen im Einzelnen umstritten. Ausgangspunkt<br />
für die Prüfung ist jedoch das Verständnis von Heimtücke als das<br />
bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers 3 . Arglos<br />
ist dabei, wer sich zum Zeitpunkt der Tat keines tätlichen Angriffs auf<br />
seine körperliche Unversehrtheit oder sein Leben versieht 4 . Die Ehefrau<br />
schläft, als der M sie erstickt. Bei Schlafenden stellt sich jedoch<br />
die Frage, ob diese überhaupt arglos bzw. zum Argwohn fähig sein<br />
können. Der BGH stellt hier darauf ab, ob das Opfer seine Arglosigkeit<br />
„mit in den Schlaf genommen“ hat. Die Fähigkeit zum Argwohn<br />
sei somit zu verneinen bei Personen, die vom Schlaf übermannt<br />
wurden 5 . Im Sachverhalt finden sich keine Hinweise dafür, dass die<br />
Ehefrau von dem Vorhaben ihres Mannes wusste, sodass davon ausgegangen<br />
werden kann, dass sie sich ahnungslos schlafen gelegt hat.<br />
Demnach ist sie als arglos zu beurteilen.<br />
Weiterhin müsste sie auch wehrlos, also aufgrund ihrer Arglosigkeit<br />
in ihrer Verteidigungsbereitschaft und –fähigkeit eingeschränkt<br />
sein 6 . Infolgedessen dass die Ehefrau schläft, besitzt sie keinerlei<br />
Möglichkeit, sich zu verteidigen. Ihre Abwehrbereitschaft während<br />
des Schlafs ist nicht nur erheblich, sondern gänzlich verhindert.<br />
Folglich ist sie auch wehrlos. Das Mordmerkmal der Heimtücke<br />
erfordert weiter ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit<br />
des Opfers in tückisch-verschlagener Weise. Ein solches liegt<br />
vor, wenn der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit nicht nur äußerlich<br />
wahrgenommen, sondern sich die zugrunde liegenden Umstände für<br />
seine Tatbegehung gerade zu Nutze gemacht hat 7 . M ist sich im Klaren<br />
darüber, dass seine schlafende Frau sich nicht wehren kann, und<br />
hat diese Situation, auf Anweisung des B, bewusst gewählt, um seinen<br />
„Auftrag“ durchzuführen. Ein bewusstes Ausnutzen ist also gegeben.<br />
(Anm.: Dieses Merkmal kann alternativ auch erst im subjektiven Tatbestand<br />
geprüft werden)<br />
Zur Einschränkung des weiten Anwendungsbereichs dieses Mordmerkmals<br />
und zur besseren Erfassung des Elements der „Tücke“,<br />
die durch eine derartige Mordhandlung besonders zum Ausdruck<br />
kommt, hat die Rechtslehre vorgeschlagen, neben der oben erläuterten<br />
Formel auch ein Handeln in feindlicher Willensrichtung zu verlangen,<br />
um darüber Mitleidstötungen zum vermeintlich Besten des<br />
Opfers auszuschließen 8 . Dieser Fall ist hier jedoch nicht einschlägig.<br />
Schließlich verlangt die h. L. einschränkend einen besonders verwerflichen<br />
Vertrauensbruch, womit jedoch zum Beispiel der klassische<br />
Meuchelmord aus dem Anwendungsbereich fallen würde 9 . In<br />
3 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 107; weitere Nachweise und aktuelle Rechtssprechung bei<br />
Geppert, Jura 07, 270.<br />
4 Vgl. BGHSt 28, 210; BGH NJW 06, 1008, 1010.<br />
5 Vgl. BGHSt 23, 119, 121; BGH NStZ 07, 523, 524; Fischer, StGB, § 211 Rn. 20.<br />
6 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 112.<br />
7 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 115.<br />
8 So etwa Hassemer, in: JuS 71, 626, 630; s. auch Fischer, StGB, § 211 Rn. 21; Otto, in: Grundkurs Strafrecht<br />
Rn. 18.<br />
9 Eser, in; Schönke/Schröder/ § 211 Rn. 26 mwN.<br />
30<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Anbetracht dessen, dass vorliegend das Opfer die Ehefrau des Täters<br />
ist und daher ein Vertrauensverhältnis besteht, welches der M ausnutzt,<br />
kann der Streit jedoch offen bleiben. Das Drücken des Kissens<br />
während des Schlafs vom eigenen Ehemann und zwar ohne jeglichen<br />
für die Frau erkennbaren Grund stellt auf jeden Fall einen besonders<br />
verwerflichen Vertrauensbruch dar. Das Merkmal der Heimtücke<br />
kann daher bejaht werden. Weitere objektive Mordmerkmale sind<br />
nicht ersichtlich.<br />
2. SUBJEKTIVER TATBESTAND<br />
In subjektiver Hinsicht ist Vorsatz, also das Wissen und Wollen der<br />
Tatbestandsverwirklichung, in Bezug auf die Tötung ebenso wie in<br />
Bezug auf das objektive Mordmerkmal der Heimtücke erforderlich.<br />
a. Grundtatbestand des § 212 Abs. 1<br />
M will seine Frau töten, um den Weltuntergang abzuwenden. Er<br />
handelte diesbezüglich also mit zielgerichtetem Erfolgswillen, dolus<br />
directus 1. Grades.<br />
b. Qualifikation des § 211<br />
Dass er seine Frau im Schlaf mit dem Kissen erstickte, entsprach dem<br />
Tatplan, sodass die heimtückische Begehungsweise ebenfalls vom<br />
Vorsatz in Form des dolus directus 1. Grades umfasst ist.<br />
II. RECHTSWIDRIGKEIT<br />
Weiterhin müsste die Tat des M rechtswidrig sein. Fraglich ist, ob der<br />
M, vor dem Hintergrund, dass er die Welt retten wollte, gerechtfertigt<br />
ist.<br />
Mangels eines tatsächlich bevorstehenden Weltuntergangs liegt auch<br />
keine notstandsbegründende Gefahr nach § 34 vor. Vielmehr irrt der<br />
M gerade über die sachlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes.<br />
Folglich wäre dieser als (Erlaubnis-) Tatbestandsirrtum<br />
nach § 16 Abs. 1 (analog) zu behandeln, wenn die Umstände, über<br />
die der M irrt, im Fall ihres Vorliegens zu seiner Rechtfertigung führen<br />
würden 10 . Stünde aber in der Tat ein Weltuntergang bevor, käme<br />
es im Rahmen von § 34 bei der Verhältnismäßigkeit zu der Abwägung<br />
„Leben gegen Leben“. Diese ist jedoch unzulässig, sodass § 34<br />
an dieser Stelle scheitern würde. Aber auch in dieser Hinsicht unterliegt<br />
der M einem Irrtum. Er glaubt nicht nur fälschlicherweise an<br />
das Eintreten des Weltuntergangs, sondern auch daran, dass der Tod<br />
der gesamten Menschheit, die Tötung seiner Ehefrau rechtfertigen<br />
würde. Hierbei handelt es sich um einen Irrtum auf der Wertungsebene.<br />
Die vorliegende Konstellation des sog. Doppelirrtums wird im<br />
Ergebnis als Verbotsirrtum nach § 17 behandelt und ist daher in der<br />
Schuld zu prüfen 11 .<br />
Möglich ist auch die Bejahung eines Verbotsirrtums. Ein solcher<br />
(direkter Verbotsirrtum) liegt vor, wenn der Täter die seine Tat betreffende<br />
Verbotsnorm nicht kennt, sie für ungültig hält oder infolge<br />
unrichtiger Auslegung zu Fehlvorstellungen über ihren Geltungsbereich<br />
gelangt und aus diesem Grund sein Verhalten als rechtlich<br />
zulässig ansieht 12 . Aus dem Sachverhalt ergeben sich allerdings keine<br />
Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen Verbotsirrtums. M<br />
scheint sich des Unrechts seiner Tat bewusst zu sein. Der M hat die<br />
faktische Lage (bezüglich des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale)<br />
richtig eingeschätzt. Er wusste, dass durch seine Handlung seine Frau<br />
sterben würde und wollte auch dieses Ergebnis. Er agiert lediglich,<br />
„um den Weltuntergang abzuwenden“, er nimmt also irrig an, dass<br />
seine Handlung von einem Rechtfertigungsgrund gedeckt wäre, irrt<br />
sich also hinsichtlich der rechtlichen Bewertung der Umstände, die<br />
sein Verhalten rechtfertigen ließen. Somit handelt es sich dabei um<br />
einen indirekten Verbotsirrtum bzw. um einen Erlaubnisirrtum.<br />
Dessen Rechtsfolgen sind identisch mit denen des direkten Verbotsirrtums<br />
(§ 17) und auch auf der Ebene der Schuld zu prüfen.<br />
III. SCHULD<br />
Schließlich müsste die Tat des M schuldhaft begangen worden sein.<br />
Wie bereits festgestellt könnte die Schuld des M jedoch aufgrund<br />
eines Verbotsirrtums gemäß § 17 ausgeschlossen sein. Danach entfällt<br />
die Schuld, wenn der Irrtum vermeidbar war. Entscheidend ist,<br />
ob dem Täter sein Vorhaben unter Berücksichtigung seiner sozialen<br />
Stellung, seiner individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse hätte<br />
Anlass geben müssen, über dessen mögliche Rechtswidrigkeit nachzudenken<br />
oder sich zu erkundigen und er auf diesem Wege zur Unrechtseinsicht<br />
gekommen wäre 13 . Laut Sachverhalt handelte M als<br />
treu ergebenes Mitglied einer „Weltuntergangssekte“ auf Anweisung<br />
des Anführers B. Allein das Handeln auf Anweisung entbindet jedoch<br />
noch nicht von einer eigenen Gewissensanspannung. Die Tat<br />
des M entsprach den Vorstellungen einer Glaubensgemeinschaft,<br />
es liegen jedoch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass für ihn keine<br />
Zweifel auftauchten, die ihm Grund geboten hätten, sein Verhalten in<br />
Frage zu stellen. Erkundigungen, zumindest innerhalb der Gemeinde,<br />
hätten allerdings kein anderes Ergebnis hervorgebracht. Insofern<br />
besteht ein Unterschied zu dem vom BGH entschiedenen „Katzenkönig-Fall“,<br />
in dem der Täter sich lediglich in einem „neurotischen<br />
Beziehungsgeflecht“ befand, welches keine Unvermeidbarkeit seines<br />
Irrtums begründete, da der Täter Polizist war und es ihm nach Ansicht<br />
des Gerichts zumutbar gewesen wäre, eine Vertrauensperson<br />
zu fragen 14 . Zudem ist insbesondere das psychiatrische Sachverständigengutachten<br />
zu berücksichtigen, wonach der M keinerlei Zweifel<br />
an seinem Auftrag hegte.<br />
Auf der anderen Seite stellt die Rechtsprechung strenge Anforderungen<br />
an die Unvermeidbarkeit. Dies gilt umso mehr, wenn es um<br />
die Tötung eines anderen Menschen geht. Dabei kann der Irrtum<br />
schwerlich vermeidbar sein, da es sich um das grundlegendste rechtliche<br />
sowie auch ethische Handlungsverbot handelt. Es kann daher<br />
angeführt werden, dass der M zwar in seiner Sekte stark integriert<br />
war, aber dennoch davon auszugehen ist, dass er die in Deutschland<br />
allgemein geltenden Gesetze kannte und somit auch um das Verbotensein<br />
der Tötung wusste.<br />
IV. ERGEBNIS<br />
M hat sich des Mordes nach §§ 211, 212 Abs. 1 strafbar gemacht.<br />
B. STRAFBARKEIT DES B NACH §§ 211, 212 ABS. 1,<br />
25 ABS. 1 2. ALT.<br />
B könnte sich des Mordes in mittelbarer Täterschaft nach §§ 211, 212<br />
Abs. 1, 25 Abs. 1 2. Alt. strafbar gemacht haben, indem er dem M<br />
dazu anwies, seine schlafende Frau mit einem Kissen zu ersticken.<br />
10 Heinrich, Strafrecht, AT II, Rn. 1123.<br />
11 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 485; Heinrich, Strafrecht-AT II, Rn. 1148.<br />
12 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 461.<br />
13 Fischer, StGB § 17 Rn. 7; vgl. auch BGHSt 21, 18 ff.<br />
14 Vgl. BGHSt 35, 347 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
31
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
I. TATBESTAND<br />
1. OBJEKTIVER TATBESTAND<br />
Zunächst müsste der Tatbestand „durch einen anderen“ verwirklicht<br />
sein. Kennzeichen des Tatmittlers ist dabei seine unterlegene Stellung,<br />
die sich darin widerspiegelt, dass er nicht volldeliktisch handelt<br />
15 . Im vorliegenden Fall begeht B die Tötung der Ehefrau nicht<br />
selbst, sondern lässt sie durch den M vornehmen. Wie unter A. III.<br />
festgestellt, handelt jedoch dieser (der vermeintliche Tatmittler) aufgrund<br />
eines vermeidbaren Verbotsirrtums schuldhaft, sodass er den<br />
für den Tatmittler erforderlichen Strafbarkeitsmangel nicht aufweist.<br />
Von der Regel des Strafbarkeitsmangels des Tatmittlers werden jedoch<br />
Ausnahmen vor allem im Rahmen von Organisationsstrukturen<br />
statuiert (Stichwort „Täter hinter dem Täter“). Maßgebend in<br />
solchen Fällen ist, dass der als Hintermann fungierende Befehlsgeber<br />
das Gesamtgeschehen kraft seiner „Organisationsherrschaft“ bedingungslos<br />
in die von ihm gewünschte Richtung lenken kann und der<br />
Vordermann quasi beliebig austauschbar ist 16 . Für die Begründung<br />
einer mittelbaren Täterschaft bedarf es beim Hintermann eine überlegene<br />
Stellung aufgrund seiner Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens<br />
oder Wollens 17 .<br />
Handelt der Tatmittler in vermeidbarem Verbotsirrtum, stellt diese<br />
Vermeidbarkeit nach Ansicht des BGH und weiter Teile der Literatur<br />
kein Hindernis für die Annahme einer mittelbaren Täterschaft dar<br />
(Theorie der eingeschränkten Verantwortlichkeit). Denn das Merkmal<br />
der Vermeidbarkeit verkörpert kein sicheres Abgrenzungskriterium<br />
für den Beitrag eines Tatbeteiligten. Denn dem in vermeidbarem<br />
Irrtum handelnden Täter fehlt es zum Tatzeitpunkt in jedem<br />
Fall an Unrechtseinsicht, mit der Folge, dass auch in diesem Fall mittelbare<br />
Täterschaft grundsätzlich möglich ist. Entscheidend ist dann<br />
bei normativer Betrachtung die Art und Tragweite des Irrtums sowie<br />
die Intensität der Einwirkung durch den Hintermann 18 .<br />
Innerhalb einer religiösen Sekte wie die unseres Sachverhalts entstehen<br />
ebenfalls solche Hierarchien, die eine mittelbare Täterschaft<br />
rechtfertigen, wenn der Tatmittler aufgrund abergläubischer Ängste<br />
in einem vermeidbaren Verbotsirrtum handelt.<br />
In Betracht könnte ebenso eine Anstiftung gem. § 26 kommen, sodass<br />
das Verhalten des B gegenüber einem bloßen Bestimmen abgegrenzt<br />
werden muss. Bedenken hinsichtlich der Überlegenheit des B bestehen<br />
hier insoweit, als dass dieser laut Sachverständigengutachten tief<br />
davon überzeugt ist, dass Gott ihm befohlen hat, die jüngste Mutter<br />
der Gemeinde töten zu lassen, sodass er dem gleichen Irrtum unterliegt<br />
wie der M. Im Rahmen der Abgrenzung zu § 26 wird gefordert,<br />
dass der Hintermann die Schuldunfähigkeit des Tatmittlers oder die<br />
Umstände kennt, die den Schuldvorwurf entfallen lassen, und dass<br />
er die von ihm richtig erfasste Situation zur Begehung der von ihm<br />
gewollten Straftat ausnutzt 19 . Dem steht nach Ansicht des BGH ein<br />
ebenfalls beim Hintermann vorliegender Verbotsirrtum nicht entgegen,<br />
solange dieser mit Täterwillen und Tatherrschaft handelt 20 .<br />
Im vorliegenden Fall weist der B den M an, seine Frau im Schlaf mit<br />
einem Kissen zu ersticken. Dabei kommt ihm bereits aufgrund seiner<br />
Position als Anführer der Sekte eine gewisse Macht zu, die er auch<br />
gegenüber M nutzt und die sich darin bestätigt, dass dieser die Tat,<br />
15 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 535.<br />
16 Wessels/Beulke, Strafrecht At Rn 541; vgl. auch BGHSt 48, 77, 89.<br />
17 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 535.<br />
18 BGHSt 35, 347, 351 f.; Otto, Grundkurs Strafrecht, § 21, Rn. 84; Heinrich, Strafrecht-AT II, Rn. 1260.<br />
19 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 538.<br />
20 BGHSt 40, 257, 267.<br />
ohne sie in Frage zu stellen, ausführt. Zudem handelt es sich bei dem<br />
M laut Sachverhalt auch um ein treu ergebenes Gemeindemitglied.<br />
Für die Tatherrschaft des B spricht weiter, dass dieser dem M auch<br />
genau vorgibt, wie er seine Frau töten soll und dieser sich daran hält.<br />
Hätte z. B. der B vor der Tatbestandsverwirklichung dem M befohlen,<br />
die Tötung der Frau doch nicht durchzuführen, hätte der M von seiner<br />
Tat abgesehen. Im Ergebnis fungiert der M daher wie ein Werkzeug<br />
in der Hand des B, sodass dieser als mittelbarer Täter im Sinne<br />
des § 25 Abs. 1 2. Alt. zu qualifizieren ist.<br />
Der objektive Tatbestand ist damit erfüllt.<br />
2. SUBJEKTIVER TATBESTAND<br />
Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz, also das Wissen und<br />
Wollen der Tatbestandsverwirklichung.<br />
Zunächst müsste dieser die durch den Tatmittler begangene Tat umfassen.<br />
B wollte, dass der M seine Frau mit einem Kissen im Schlaf<br />
erstickt. Diesbezüglich hatte er also dolus directus 1. Grades. Aufgrund<br />
dessen dass er die Tatausführung auch genau vorgegeben hatte,<br />
erstreckt sich sein zielgerichteter Erfolgswille gerade auch auf das<br />
objektive Mordmerkmal der Heimtücke.<br />
Weiter müsste sich sein Vorsatz auch auf die eigene Tatherrschaft sowie<br />
die unterlegene Stellung des Tatmittlers beziehen. B ging davon<br />
aus, dass der M, als treu ergebenes Gemeindemitglied, seiner Aufforderung<br />
Folge leisten würde. Zudem teilte er selbst ihm mit, dass<br />
andernfalls der Weltuntergang drohe, sodass ihm auch die Umstände,<br />
die den Strafbarkeitsmangel des M begründen, bekannt waren.<br />
Folglich handelte er diesbezüglich mit dolus directus 2. Grades.<br />
Subjektive Mordmerkmale in der Person des B sind darüber hinaus<br />
nicht ersichtlich.<br />
Der subjektive Tatbestand ist somit ebenfalls zu bejahen.<br />
II. RECHTSWIDRIGKEIT<br />
In Bezug auf eine Rechtfertigung nach § 32 bzw. § 34 gelten die unter<br />
A. II. gemachten Ausführungen zu M entsprechend, mit der Folge,<br />
dass kein Rechtfertigungsgrund greift und die Tat des B daher rechtswidrig<br />
ist.<br />
III. SCHULD<br />
Schließlich ist die Schuld des B festzustellen. Wie bereits erwähnt<br />
unterliegt er dem gleichen Irrtum wie der M, der als Verbotsirrtum<br />
nach § 17 zu behandeln ist. Fraglich ist also dessen Unvermeidbarkeit.<br />
Im Vergleich zu M ergibt sich kein Unterschied daraus, dass der<br />
B Anführer der Sekte ist. Obwohl der Sachverhalt keine Anhaltspunkte<br />
dafür liefert, dass B die Mitglieder seiner Sekte bewusst in<br />
einen Irrglauben führen würde, kann nicht ernsthaft behauptet werden,<br />
dass er das Tötungsverbot der Rechtsordnung nicht kannte. Im<br />
Ergebnis ist daher auch im Fall des B von einer Vermeidbarkeit des<br />
Verbotsirrtums auszugehen, so dass seine Schuld entfällt, § 17 S. 1<br />
(andere Ansicht vertretbar).<br />
IV. ERGEBNIS<br />
B hat sich nach §§ 211, 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 2. Alt. strafbar gemacht.<br />
32<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Anfänger im Staatsorganisationsrecht: Operation Display Deterrence“<br />
Wiss. Mit. Gunnar Franck, LL.M.oec. (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)<br />
I. SACHVERHALT:<br />
Zu Beginn des Jahres 2008 kam es verstärkt zu Verstimmungen zwischen<br />
den USA und dem Staat X. Diese führten ab dem 20.03.2008<br />
zu Kampfhandlungen einer Allianz angeführt von den USA gegen<br />
das Regime im Staat X, die schließlich im Sturz des Regimes mündeten.<br />
Im Vorfeld des Konflikts hatte der Staat X angekündigt, sich<br />
Kampfhandlungen gegen alle Unterstützer der Alliierten vorzubehalten.<br />
Zu den Unterstützern zählte u. a. auch der Staat Z, der sich vom<br />
Staat X konkret bedroht sah und daher im Rahmen der NATO um<br />
Unterstützung durch die Verbündeten anfragte. Die NATO beschloss<br />
daher am 19.02.2008, den Staat Z zu unterstützen. Im Rahmen der<br />
sog. Operation Display Deterrence wurden sowohl AWACS-Flugzeuge<br />
als auch das Flugabwehrraketensystem PATRIOT zur Abwehr<br />
möglicher Raketenangriffe und Angriffe mit chemischen und biologischen<br />
Waffen durch den Staat X im Staat Z stationiert.<br />
Am 20.03.2008 beschloss die Bundesregierung, dass auch deutsche<br />
Soldaten der Bundeswehr in den Staat Z zur Erfüllung der Bündnispflicht<br />
entsandt werden. Die deutschen Soldaten nahmen daraufhin<br />
an allen Überwachungsflügen und anderen Maßnahmen im Rahmen<br />
der Operation Display Deterrence teil, ohne dass es letztlich zu<br />
Kampfhandlungen kam. Die NATO-Operation wurde am 30.04.2008<br />
offiziell beendet und daraufhin auch alle Soldaten der Bundeswehr<br />
aus dem Staat Z abgezogen.<br />
Die oppositionelle F-Fraktion im Deutschen Bundestag ist der Meinung,<br />
dass die Bundesregierung den Einsatz der Bundeswehr im<br />
Staat Z nicht hätte alleine beschließen dürfen. Vielmehr wäre nach<br />
der deutschen Verfassung und der darin verankerten starken Stellung<br />
des Parlamentes die Zustimmung des Bundestages zum Einsatz<br />
der Bundeswehr notwendig gewesen, zumal aufgrund der Aggressionen<br />
durch den Staat X auch konkrete Kampfhandlungen der Bundeswehr<br />
nicht unwahrscheinlich waren. Indem die Bundesregierung<br />
den Bundestag nicht beteiligte, seien dessen Rechte verletzt wurden.<br />
Die F-Fraktion beantragt am 23.03.2008 beim Bundesverfassungsgericht<br />
die Feststellung, dass das Vorgehen der Bundesregierung die<br />
Rechte des Bundestages verletzt hat.<br />
Hat der Antrag der F-Fraktion Aussicht auf Erfolg?<br />
Vermerk für den Bearbeiter:<br />
Völkerrechtliche Aspekte sind nicht zu behandeln. Auch Vorschriften<br />
des „Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung<br />
über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland“<br />
(Parlamentsbeteiligungsgesetz) 1 vom 18.03.2005 sind nicht zu prüfen.<br />
II. LÖSUNG:<br />
Der Antrag der F-Fraktion hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet<br />
ist.<br />
1 Zu dieser einfach-gesetzlichen Ausgestaltung siehe: Wiefelspütz, NVwZ 2005, 496-500.<br />
Gunnar Franck, Jahrgang 1983, ist Rechtsreferendar in Hamburg<br />
und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut<br />
für Ausländisches- und Internationales Privatrecht, Referat<br />
Nordeuropa. Er studierte Rechtswissenschaft an der Martin-<br />
Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der Universitete i<br />
Bergen in Norwegen mit dem Schwerpunkt Europäischesund<br />
Internationales Wirtschaftsrecht. Daneben absolvierte er<br />
den Ergänzungsstudiengang Wirtschaftsrecht am Institut für<br />
Wirtschaftsrecht in Halle (Saale).<br />
A. ZULÄSSIGKEIT DES ANTRAGES 2<br />
I. ZUSTÄNDIGKEIT DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS<br />
Vorliegend könnte ein Organstreitverfahren einschlägig sein. Die<br />
Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts hierfür ergibt sich aus<br />
Art. 93 I Nr. 1 GG; §§ 13 Nr. 5; 63 ff. BVerfGG.<br />
II. BETEILIGTENFÄHIGKEIT<br />
Des Weiteren müssten Antragsteller und Antragsgegner beteiligtenfähig<br />
sein.<br />
1. ANTRAGSSTELLER<br />
Antragsstellter ist die F-Fraktion. Sie könnte als „oberstes Bundesorgan“<br />
i. S. v. Art. 93 I Nr. 1 GG beteiligtenfähig sein. Hierunter fallen<br />
jedoch lediglich die in § 63 1. HS BVerfGG genannten Organe, mithin<br />
nicht Fraktionen.<br />
Die F-Fraktion könnte aber als „anderer Beteiligter“ i. S. v. Art. 93 I<br />
Nr. 1 GG, § 63 2. HS BVerfGG beteiligtenfähig sein. Hierfür müsste<br />
sie durch das GG oder durch eine Geschäftsordnung (GO) mit eigenen<br />
Rechten ausgestattet sein. Fraktionen sind nach Art. 53a I 2 GG,<br />
§§ 10 ff. Geschäftsordnung des Bundestages (GO BT) mit eigenen<br />
Rechten ausgestattet (u. a. Entsende- und Proporzrechte) und daher<br />
beteiligtenfähig. Damit ist die F-Fraktion zulässiger Antragssteller.<br />
2. ANTRAGSGEGNER<br />
Wie sich aus den Art. 62 ff. GG ergibt, ist die Bundesregierung selbst<br />
ein „oberstes Bundesorgan“ i. S. d. Art. 93 I Nr. 1 GG. Zudem ist sie<br />
auch ausdrücklich in § 63 BVerfGG genannt. 3 Die Bundesregierung<br />
ist daher ebenfalls beteiligtenfähig.<br />
III. STREITGEGENSTAND 4<br />
Es müsste auch ein zulässiger Streitgegenstand vorliegen. Dies ist<br />
jede rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners<br />
(vgl. § 64 I BVerfGG). 5 Hier geht es um den Beschluss der<br />
Bundesregierung, die Bundeswehr zu einem Einsatz in den Staat Z<br />
2 Zum Prüfungsaufbau eines Organstreitverfahrens vor dem BVerfG vgl. Degenhart, Staatsrecht I (24.<br />
Auflage, 2008), Rn. 750-756.<br />
3 Die Aufzählung der möglichen Beteiligten in § 63 1. HS BVerfGG ist rein deklaratorisch. Die Beteiligtenfähigkeit<br />
der Bundesregierung ergibt sich bereits direkt aus dem GG, hierzu: Pieroth, in: Jarass/<br />
Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 93 Rn. 5.<br />
4 Dieser gesonderte Gliederungspunkt ist nicht zwingend erforderlich. Diese Erwägungen können<br />
auch unter dem Prüfungspunkt der Antragsbefugnis erörtert werden.<br />
5 Degenhart, Staatsrecht I (24. Auflage, 2008), Rn. 751.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
33
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
zu entsenden, so dass eine Maßnahme des Antragsgegners (der Bundesregierung)<br />
vorliegt.<br />
IV. ANTRAGSBEFUGNIS<br />
Die F-Fraktion muss gem. § 64 I BverfGG geltend machen, dass<br />
die Maßnahme oder Unterlassung des Gegners eigene Rechte oder<br />
Organrechte aus dem GG verletzt. 6 Eine Verletzung in Fraktionsrechten<br />
kommt vorliegend nicht in Betracht. Jedoch könnten Rechte<br />
des Bundestages verletzt worden sein, indem die Bundesregierung<br />
ohne dessen Beteiligung über den Einsatz der Bundeswehr entschied.<br />
Hierfür ist es ausreichend, wenn die F-Fraktion die Möglichkeit einer<br />
Rechtsverletzung dartut. 7<br />
1. VERLETZUNG VON RECHTEN DES BUNDESTAGES<br />
Vorliegend könnte der Bundestag in seinen Beteiligungsrechten<br />
aus der Verfassung verletzt worden sein. 8 Insbesondere könnte der<br />
Bundestag in seinen Rechten aus Art. 59 II 1 GG verletzt worden<br />
sein. Des Weiteren kommen die Rechte aus Art. 115a I GG sowie die<br />
Rechte aus dem – aus einer Gesamtschau des GG entwickelten – sog.<br />
wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt in Betracht.<br />
2. GESETZLICHE PROZESSSTANDSCHAFT<br />
Fraglich ist aber, ob die F-Fraktion auch berechtigt ist, die Rechte<br />
des Bundestages geltend zu machen. Nach § 64 I BVerfGG können<br />
einzelne Organteile Rechte des Organs dem sie angehören im fremden<br />
Namen geltend machen (sog. gesetzliche Prozesstandschaft). Die<br />
F-Fraktion ist ein Organteil des Bundestages (siehe oben), so dass sie<br />
die Rechte des Bundestages – notfalls gar gegen den Mehrheitswillen<br />
des Organs Bundestag – geltend machen kann. 9<br />
Die F-Fraktion ist daher antragsbefugt.<br />
V. ANTRAGSFRIST<br />
Der Antrag wurde auch innerhalb von sechs Monaten nach Bekanntgabe<br />
der Maßnahme gestellt, § 64 III BVerfGG.<br />
VI. ORDNUNGSGEMÄßER ANTRAG<br />
Von der Ordnungsmäßigkeit des Antrages nach §§ 64 II, 23 BVerfGG<br />
ist auszugehen.<br />
VII. RECHTSSCHUTZBEDÜRFNIS 10<br />
Der F-Fraktion könnte aber das Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Dies<br />
ist u. a. der Fall, wenn der Antragsteller durch eigenes Handeln die<br />
Rechtsverletzung auf anderem Wege beseitigen kann. 11 Möglicher-<br />
6 Es muss erkannt werden, dass im Rahmen der Beteiligtenfähigkeit auch Rechte aus einer GO ausreichen,<br />
während bei der Befugnis lediglich Rechte aus dem GG geltend gemacht werden können.<br />
7 Im Rahmen der Antragsbefugnis ist nach st. Rspr. des BVerfG die Möglichkeit einer Rechtsverletzung<br />
bzw. die unmittelbare Gefährdung eines Rechtes ausreichend, siehe hierzu: Pieroth, in: Jarass/<br />
Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 93 Rn. 12.<br />
8 Hier ist entscheidend, dass die Bearbeiter kreative Ideen entwickeln, welche Rechte in Betracht kommen<br />
könnten. Solange nicht völlig fernliegende Rechte aufgeworfen werden, sind hier alle Gedanken zu<br />
einer möglichen Rechtsverletzung dienlich.<br />
9 Zu beachten ist aber auch, dass nach ständiger Rspr. des BVerfG (z. B. BVerfGE 70, 324, 354; 90, 286,<br />
343 f.) nur sog. ständige Untergliederungen des Bundestages im Rahmen der gesetzliche Prozessstandschaft<br />
für den Bundestag Rechte geltend machen können. Hierunter fallen z. B. Fraktionen, Gruppen<br />
und Ausschüsse, jedoch nicht der einzelne Abgeordnete, was ein sehr klausurrelevantes Problem darstellt.<br />
Siehe hierzu auch: Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 93 Rn. 12.<br />
10 Ausführungen hierzu sind nicht selbstverständlich. Für Bearbeiter, die hier Problembewusstsein erkennen<br />
lassen, besteht daher die Möglichkeit, durch gute Ideen Pluspunkte zu sammeln.<br />
11 Degenhart, Staatsrecht I (24. Auflage, 2008), Rn. 753.<br />
weise muss die F-Fraktion zunächst versuchen, die ihres Erachtens<br />
verfassungswidrige Maßnahme der Bundesregierung durch einen<br />
Beschlussantrag im Bundestag über den Einsatz der Bundeswehr<br />
abzuändern. Es ist jedoch festzustellen, dass die F-Fraktion als Oppositionsfraktion<br />
voraussichtlich gar keine Mehrheit hierfür auf sich<br />
vereinigen könnte. Im Übrigen ist die Frage, ob denn ein Bundestagsbeschluss<br />
überhaupt notwendig ist, ja gerade die umstrittene. Ein<br />
Beschluss des Bundestages würde daher nicht gleichsam automatisch<br />
die rechtliche Wirkung des Regierungsbeschlusses beseitigen können.<br />
Ferner ist das Organstreitverfahren nicht subsidiär gegenüber<br />
anderen – politischen – Handlungsmöglichkeiten. Andere realistische<br />
Handlungsalternativen hat die F-Fraktion nicht, so dass ein<br />
Rechtsschutzbedürfnis gegeben ist.<br />
VIII. ZWISCHENERGEBNIS<br />
Der Antrag der F-Fraktion ist zulässig.<br />
B. BEGRÜNDETHEIT DES ANTRAGES<br />
Der Antrag der F-Fraktion ist begründet, wenn der Beschluss der<br />
Bundesregierung verfassungswidrig ist und den Bundestag in seinen<br />
Rechten verletzt.<br />
I. VERFASSUNGSWIDRIGKEIT DES REGIERUNGSBESCHLUSSES<br />
Der Beschluss der Bundesregierung muss in formeller und/ oder in<br />
materieller Hinsicht verfassungswidrig sein. 12<br />
1. FORMELLE VERFASSUNGSMÄßIGKEIT DES BESCHLUSSES<br />
a) Zuständigkeit der Bundesregierung<br />
Zunächst müsste die Bundesregierung für den Entschluss über die<br />
Entsendung der Bundeswehr überhaupt zuständig gewesen sein.<br />
aa) Verbandskompetenz des Bundes<br />
Der Bund müsste – in Abgrenzung zu den Ländern – als Verband zuständig<br />
sein, den Einsatz der Bundeswehr zu regeln. Eine ausdrückliche<br />
Generalnorm, die die Entscheidungskompetenz bzgl. des Einsatzes<br />
der Bundeswehr regelt, findet sich im GG nicht. Jedoch weist<br />
Art. 32 I GG dem Bund die Kompetenz bzgl. der sog. auswärtigen<br />
Gewalt zu. Im Übrigen hat der Bund nach Art. 87a I GG die Kompetenz<br />
bzgl. der Aufstellung der Streitkräfte, sowie nach Art. 115 a<br />
I und Art. 35 III GG die Kompetenz über die Einsatzentscheidung<br />
im Rahmen des sog. äußeren bzw. inneren Notstandes. Aus dieser<br />
Gesamtschau ergibt sich, dass der Bund über den Einsatz der Bundeswehr<br />
entscheidet. 13<br />
bb) Organkompetenz der Bundesregierung<br />
Des Weiteren stellt sich die Frage, wer innerhalb des Gefüges „Bund“<br />
für die Entscheidung über den Auslandseinsatz der Bundeswehr<br />
zuständig ist. 14 Im Grundsatz ist die auswärtige Gewalt 15 eine Kom-<br />
12 Hier ist wichtig, dass die Bearbeiter sauber zwischen formellen und materiellen Aspekten der Prüfung<br />
unterscheiden. Es ist äußerst negativ, wird allein das Problem der Verfassungswidrigkeit des Bundestagsbeschlusses<br />
„an sich“ ohne genaue Verortung der Problematik diskutiert.<br />
13 Siehe hierzu auch: Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 87a Rn. 1.<br />
14 Von den Bearbeitern des Falles kann kein Spezialwissen bzgl. des Einsatzes der Bundeswehr verlangt<br />
werden. Jedoch soll hier Problembewusstsein erkennbar gemacht werden, da die Abgrenzung zwischen<br />
Rechten der Legislative (hier: Bundestag) und denen der Exekutive (hier: Bundesregierung) ein „Klassiker“<br />
des Staatsorganisationsrecht darstellt. Vgl. hierzu den Überblick bei Degenhart, Staatsrecht I (24.<br />
Auflage, 2008), Rn. 599; sowie bei Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (32. Auflage, 2008), §<br />
42 Rn. 17-20.<br />
15 Zu Begriff und Inhalt der „auswärtigen Gewalt“ siehe Schweitzer, Staatsrecht III (9. Auflage, 2008),<br />
Rn. 743-759.<br />
34<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
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petenz der Exekutive, wobei der Bundeskanzler die sog. Richtlinienkompetenz<br />
inne hat und die Bundesregierung als Kollegialorgan<br />
handelt.16 Zur auswärtigen Gewalt zählt auch der Einsatz der Bundeswehr<br />
in auswärtigen Staaten, so dass grundsätzlich die Bundesregierung<br />
zuständig ist.<br />
Möglichweise ergibt sich aus dem GG jedoch eine Ausnahme, so dass<br />
im vorliegenden Fall der Bundestag über die Entsendung der Bundeswehr<br />
zu entscheiden hat.<br />
aaa)<br />
Zunächst könnte sich dies aus Art. 59 II 1 GG ergeben. Hierfür<br />
müsste die Entscheidung über die Entsendung der Bundeswehr aber<br />
ein völkerrechtlicher Vertrag im Sinne der Norm sein. Die Entscheidung<br />
ist zunächst erstmal aber nur eine einseitige Entschließung und<br />
kein völkerrechtlicher Vertrag, so dass Art. 59 II 1 GG nicht einschlägig<br />
ist.<br />
bbb)<br />
Die Bundeswehr wurde im Rahmen einer NATO-Operation tätig, so<br />
dass sich die Zuständigkeit des Bundestages aus Art. 24 I und II GG<br />
ergeben könnte. Vom Anwendungsbereich des Art. 24 GG ist aber<br />
nur der Beitritt zur NATO „als solcher“ erfasst und nicht die Teilnahme<br />
an einzelnen späteren Einsätzen der NATO. Damit scheidet auch<br />
Art. 24 GG als Kompetenznorm aus.<br />
ccc)<br />
Im Übrigen könnte der Bundestag die Kompetenz bzgl. der Entscheidung<br />
über den Einsatz der Bundeswehr kraft des parlamentarischen<br />
Kontrollrechtes nach den Art. 45a, 45b und 87a I 2 GG haben. Allerdings<br />
regeln diese Normen nur die parlamentarische Kontrolle und<br />
nicht die Befugnis über die Einsatzentscheidung, so dass sich auch<br />
hieraus keine Kompetenz des Bundestages ableiten lässt.<br />
ddd)<br />
Letztlich könnte sich noch aus Art. 115a I, III GG und dem hierin<br />
verankerten Entscheidungs- und Verwendungsrecht des Bundestages<br />
eine Kompetenz ableiten lassen. Jedoch war vorliegend beim<br />
Einsatz der Bundeswehr im Staat Z weder ein „Verteidigungsfall“ im<br />
Sinne des Art. 115a I 1 GG noch ein „Spannungsfall“ im Sinne des<br />
Art. 115a III, 80 I 1 GG gegeben, so dass sich auch hieraus keine<br />
Kompetenz ableiten lässt.<br />
Eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung an den Bundestag findet sich<br />
im GG also nicht.<br />
eee)<br />
Möglicherweise kann dem GG aber ein Prinzip entnommen werden,<br />
dass Einsätze der Bundeswehr auch über Art. 115a GG hinaus der<br />
vorherigen konstitutiven Zustimmung des Bundestages bedürfen.<br />
Hierfür sprechen zunächst die o. g. Kontrollrechte (ccc) sowie die<br />
erwähnten Entscheidungs- und Verwendungsrechte des Bundestages<br />
(ddd), die das Prinzip des sog. Parlamentsheeres repräsentieren. Aus<br />
dem Zusammenspiel der genannten Artikel des GG ergibt sich ein<br />
sog. wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt. Dies entspricht<br />
auch der Verfassungstradition in Deutschland. Bereits nach<br />
der Verfassung des Kaiserreiches und in der Weimarer Reichsverfassung<br />
war ein Parlamentsvorbehalt bzgl. des Einsatzes des Heeres<br />
enthalten. 17 Diese Erwägungen sind letztlich auch Ausfluss der sog.<br />
16 Vgl. hierzu die maßgebliche „Pershing-II-Entscheidung“: BVerfGE 68, 1 (85 f.) = NJW 1985, 603.<br />
17 Wissen um diesen Fakt kann freilich nicht vorausgesetzt werden.<br />
Wesentlichkeitstheorie. Diese besagt, dass alle „wesentlichen“ Entscheidungen<br />
vom Parlament selbst getroffen werden sollen. 18<br />
Gegen die Annahme eines solchen wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehaltes<br />
spricht jedoch, dass es gerade keine ausdrückliche<br />
Zuweisung im GG gibt. Darüber hinaus ist die auswärtige Gewalt<br />
grundsätzlich eine Angelegenheit der Exekutive und legislative<br />
Zugriffsrechte werden nur nach Maßgabe von Art. 59 II 1 GG gewährt.<br />
Außerdem war der Bundestag bereits im Rahmen von Art. 24<br />
I, 59 II 1 GG an der Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO<br />
beteiligt.<br />
Hiergegen lässt sich jedoch anführen, dass durch die damalige Zustimmung<br />
des Bundestages zur Beteiligung der Bundesrepublik an<br />
der NATO „als solche“ noch keine Zustimmung zu einem konkreten<br />
Einsatz der Bundeswehr, wie er vom 20.03. – 30.04.2008 erfolgte, erteilt<br />
wurde.<br />
fff) Position des BVerfG<br />
In seinen beiden hierzu maßgeblichen Entscheidungen „AWACS-I“ 19<br />
und „AWACS-II“ 20 schließt sich das BVerfG den Pro-Argumenten an<br />
und nimmt einen ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt bzgl. des<br />
„bewaffneten“ Einsatzes der Bundeswehr an. Das BVerfG spricht in<br />
staatstragender Weise davon, dass die Bundeswehr ein „Parlamentsheer“<br />
darstellt und dass das GG „die Entscheidung über Krieg und<br />
Frieden dem Deutschen Bundestag als Repräsentationsorgan des<br />
Volkes anvertraut“ hat. 21 Vorliegend lag im Staat Z eine konkrete Bedrohung<br />
durch den Staat X vor. Außerdem fanden bereits AWACS<br />
und PATRIOT-Systeme Anwendung, so dass bereits von einem „bewaffneten<br />
Einsatz“ im Sinne der Rspr. des BVerfG auszugehen ist. 22<br />
cc) Zwischenergebnis<br />
Folgt man der Ansicht des BVerfG, lag die Organzuständigkeit – zumindest<br />
auch – beim Bundestag und nicht allein bei der Bundesregierung.<br />
Der Beschluss der Bundesregierung ist daher schon formell<br />
verfassungswidrig, weil der Bundestag hätte beteiligt werden müssen.<br />
23 Wird dagegen ein wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt<br />
abgelehnt, war die Bundesregierung für die Entscheidung<br />
über die Entsendung der Bundeswehr zuständig.<br />
b) Verfahren und Form des Beschlusses der Bundesregierung<br />
Es ist davon auszugehen, dass Verfahren und Form gewahrt wurden.<br />
c) Zwischenergebnis<br />
Je nach Argumentation ist der Beschluss mangels Organzuständigkeit<br />
verfassungswidrig oder verfassungsgemäß.<br />
2. MATERIELLE VERFASSUNGSWIDRIGKEIT<br />
Hier stellt sich dasselbe Problem wie oben unter I. 1., nun aber in<br />
materieller Hinsicht. So kann insbesondere angedacht werden, ob ein<br />
Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung nach Art. 20 II 2 GG<br />
und das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 III GG vorliegt. Inhaltlich<br />
ist auf die Argumente von oben zu verweisen. Auch hier kann sich<br />
dann wieder je nach Argumentation entschieden werden. Wichtig ist<br />
18 Siehe hierzu: Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (32. Auflage, 2008), § 12 Rn. 43 und 44.<br />
19 BVerfGE 90, 286 (381 ff.) = NJW 1994, 2207 (2217 ff.) m. Anm. Schroeder, in: JuS 1995, 398.<br />
20 BVerfG NJW 2008, 2018 ff. m. Anm. Sachs, in: JuS 2008, 829.<br />
21 BVerfG NJW 2008, 2018 (2019).<br />
22 Zum Parlamentsvorbehalt für den Einsatz der Streitkräfte siehe Zippelius/Würtenberger, Deutsches<br />
Staatsrecht (32. Auflage, 2008), § 51 Rn. 16.<br />
23 Auch wenn bereits hier die Verfassungswidrigkeit festgestellt wird, ist es dennoch lohnenswert, weiter<br />
zu prüfen, ob der Beschluss der Regierung auch noch aus anderen Gründen verfassungswidrig ist.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
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Sonder-Ausgab<br />
jedoch, dass die Diskussion um die Kompetenzzuweisung nur einmal<br />
ausführlich geführt werden darf. Entweder oben im Rahmen der Zuständigkeit<br />
oder – soweit dies nicht erkannt wird – hier als Problem<br />
der materiellen Verfassungsmäßigkeit. Wurde das Problem oben bereits<br />
ausführlich erörtert, kann auf diese Ausführungen verwiesen<br />
werden. Es darf sich aber kein Widerspruch ergeben. Wer oben die<br />
Kompetenz des Bundestages bejaht, muss folgerichtig auch hier eine<br />
materielle Verfassungswidrigkeit annehmen und umgekehrt.<br />
3. ZWISCHENERGEBNIS<br />
Folgt man der Ansicht des BVerfG, ist der Beschluss der Bundesregierung<br />
sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht verfassungswidrig<br />
(a. A. vertretbar). 24<br />
24 Soweit die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses bejaht wurde, endet die Prüfung des Antrages der<br />
F-Fraktion hier. Der Antrag ist als zulässig, aber unbegründet und daher nicht erfolgreich einzuschätzen.<br />
II. VERLETZUNG IN ORGANRECHTEN<br />
Durch den verfassungswidrigen Beschluss der Bundesregierung<br />
müsste der Bundestag in seinen Organrechten verletzt worden sein.<br />
Hier wurde der Bundestag in seinem Recht auf Abstimmung bzgl.<br />
der Entsendung der Soldaten der Bundeswehr, welches aus dem<br />
wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt folgt, verletzt.<br />
III. ERGEBNIS<br />
Der Beschluss der Bundesregierung ist daher sowohl in formeller als<br />
auch in materieller Hinsicht verfassungswidrig. Der Antrag der F-<br />
Fraktion ist damit begründet.<br />
C. GESAMTERGEBNIS<br />
Der Antrag der F-Fraktion ist somit zulässig und begründet und hat<br />
daher Erfolg.<br />
„HORRIDO UND WAIDMANNSHEIL“<br />
von Boris Duru (Universität Gießen)<br />
I. SACHVERHALT 1<br />
Boris Duru, Jahrgang 1980, absolvierte ein Studium der<br />
Rechtswissenschaften, internationalen und europäischen<br />
Rechts sowie der Verwaltungswissenschaften in Marburg,<br />
Hannover und Gießen u.a. Derzeit übt der Autor neben seinem<br />
Promotionsstudium (hilfs-)wissenschaftliche Tätigkeiten<br />
an den Universitäten Marburg und Gießen aus und ist<br />
Lehrbeauftragter an den Fachbereichen Rechts- und Erziehungswissenschaften<br />
der Universität Gießen.<br />
Seit kurzem ist E Eigentümer zweier zusammenhängender, in der<br />
Universitätsstadt Gießen gelegener Waldgrundstücke. Seine Grundstücke<br />
bilden mit anderen land-, forst- bzw. fischereiwirtschaftlich<br />
genutzten Grundstücken einen gemeinschaftlichen Jagdbezirk.<br />
Wegen seiner Eigentümerstellung ist E einer Jagdgenossenschaft<br />
zugehörig. Dieser Jagdgenossenschaft steht im gemeinschaftlichen<br />
Jagdbezirk das Jagdrechtsausübungrecht zu. Die Jagdgenossenschaft<br />
nutzt die Jagd durch Verpachtung an Dritte.<br />
Die gesetzlichen Bestimmungen ergeben sich aus dem BJagdG. Nach<br />
§ 1 BJagdG und § 3 BJagdG gehören Eigentum und Hege untrennbar<br />
zusammen. Eigentümer betroffener Grundstücke sind zur Jagdausübung<br />
verpflichtet. Eigentümer sind aber nach § 9 BJagdG mitgliedschaftlich<br />
in einer Jagdgenossenschaft organisiert. Nach § 10 BJagdG<br />
erfolgt die Jagdausübung durch die Jagdgenossenschaft. Die Jagdgenossenschaft<br />
stellt Abschußpläne auf und sorgt für deren Durchführung<br />
(§ 22 BJagdG). Die Ausübung des Jagdrechts kann durch<br />
die Jagdgenossenschaft an Dritte verpachtet werden (§ 11 BJagdG).<br />
Nach § 2 BJagdG sollen durch die Jagd ein artenreicher und gesunder<br />
Wildbestand erhalten, der Schutz vor Wildschäden gewährleistet<br />
und natürliche Lebensgrundlagen dadurch gepflegt und erhalten<br />
bleiben. In §§ 19 ff. BJagdG sind grausame Erlegungsmethoden<br />
verboten, beispielsweise das Verwenden von Schrot, gehacktem Blei,<br />
1 Es handelt sich um eine Klausur mit mittelschwerem Schwierigkeitsgrad. Der Sachverhalt beruht im<br />
Wesentlichen auf dem Beschluß des BVerfG vom 13. 12. 2006 - 1 BvR 2084/05.<br />
Pfeilen oder Schlingen jeder Art. Das Beunruhigen von Wild an dessen<br />
Zuflucht-, Nist-, Brut- oder Wohnstätten ist verboten. Das Wild<br />
ist vor vermeidbaren Schmerzen und Leiden zu bewahren. Die Jagd<br />
ist nur in den gesetzlich bestimmten Jagdzeiten erlaubt.<br />
All das war E vor der Übereignung nicht bewusst. E besitzt keinen<br />
Jagdschein. Er lehnt die Jagd aus ethisch-sittlichen Gründen ab.<br />
Der Jagd könne er keinen vernünftigen Grund abgewinnen. Es entspräche<br />
dem moralisch-verantwortungsvollen Umgang des Menschen,<br />
das Tier als Mitgeschöpf zu achten. Leben und Wohlbefinden<br />
des Tieres seien zu schützen. Leid, Schmerzen und Schäden seien<br />
diesem zu ersparen. Das sähe auch der Verfassungsgesetzgeber so,<br />
der den Tierschutz zum Verfassungsschutzgut erklärt habe. Es könne<br />
ferner nicht angehen, dass E seine eigenen Freiheiten einbüßen und<br />
für das bloße Freizeitvergnügen von Hobbyjägern herhalten müsse.<br />
Der Freizeit- und Erholungswert seiner Waldgrundstücke tendiere<br />
gegen Null. Die willkürliche und sinnlose Tötung von Lebewesen,<br />
verbrieft durch einen ‘Jagdfreischein’, gehöre abgeschafft, denn die<br />
“Hege mit der Büchse” schade insgesamt mehr als sie nütze.<br />
Nachdem sich E erfolglos durch die Instanzen geklagt hat, sieht er<br />
das Bundesverfassungsgericht als Heilsbringer. Bitte begutachten Sie<br />
die Erfolgsaussichten eines verfassungsrechtlichen Vorgehens des E<br />
anhand der angegeben BJagdG-Vorschriften. Gemeinschaftsrecht,<br />
insbesondere das Verhältnis zwischen EMRK und nationalem Recht,<br />
ist außer Acht zu lassen.<br />
II. LÖSUNG<br />
E könnte sich an das Bundesverfassungsgericht wenden, wenn ihm<br />
ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der zulässig und begründet ist.<br />
Als Rechtsbehelf kommt die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I<br />
Nr. 4 a GG, §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BVerfGG in Betracht. Hierbei handelt<br />
es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf des Bürgers gegen<br />
den Staat zur Durchsetzung des Grundrechtsschutzes. 2 Die Verfassungsbeschwerde<br />
müsste zulässig und begründet sein.<br />
2 Vgl. Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 1223.<br />
36<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
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A. ZULÄSSIGKEIT<br />
I. BESCHWERDEFÄHIGKEIT<br />
E ist als natürliche Person („jedermann“), grundrechtsberechtigt, d.h.<br />
beschwerdefähig i. S. d. Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG.<br />
II. PROZESSFÄHIGKEIT<br />
E ist volljährig und geschäftsfähig. Er kann Prozesshandlungen selbst<br />
oder durch einen Bevollmächtigten vornehmen. E ist somit prozessfähig.<br />
3<br />
III. BESCHWERDEGEGENSTAND 4<br />
Gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG müsste sich E gegen<br />
einen Akt der öffentlichen Gewalt zur Wehr setzen. 5 Als ein solcher<br />
Akt kommen Handlungen aller drei Staatsgewalten in Betracht.<br />
Bestimmungen des BJagdG sind Akte der Legislative und stellen bereits<br />
einen tauglichen Beschwerdegegenstand dar. Darüber hinaus ist<br />
E mit seinem Antrag auf Grundrechtsschutz ist in allen staatlichen<br />
Instanzen erfolglos geblieben, wodurch weitere Akte staatlicher Gewalt<br />
der Exekutiven und Judikativen, vorliegen Liegen mehrere Akte<br />
der öffentlichen Gewalt in derselben Angelegenheit vor, steht dem<br />
Beschwerdeführer ein Wahlrecht zu. Das Wahlrecht folgt aus Art. 93<br />
I Nr. 4 a, §§ 90 I, 92, 93 I, 95 II BVerfGG 6 , es ist E überlassen, ob er nur<br />
gegen einzelne oder gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt vorgeht.<br />
Ohne die ausdrückliche Benennung des Beschwerdegegenstandes<br />
darf davon ausgegangen werden, dass sich der Beschwerdeführer<br />
mit der Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung<br />
zur Wehr setzen möchte, 7 denn im Zweifel ist anzunehmen,<br />
dass sich der Beschwerdeführer gegen alle staatlichen Akte<br />
wehren möchte, die sich in der Gestalt dieser letzten gerichtlichen<br />
Entscheidung manifestiert haben. 8 Nach den Angaben des E geht es<br />
ihm vornehmlich um Bestimmungen des BJagdG. Ein tauglicher Beschwerdegegenstand<br />
i.S.d. Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG<br />
liegt somit vor.<br />
IV. BESCHWERDEBEFUGNIS<br />
Gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG sowie § 90 I BVerfGG müsste E behaupteten,<br />
durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte<br />
oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. Entgegen<br />
des Wortlautes genügt das bloße Behaupten nicht. Es bedarf einer<br />
substanziierten Darlegung der Möglichkeit, selbst, gegenwärtig und<br />
unmittelbarer verletzt zu sein. 9<br />
3 Die Prozessfähigkeit ist im Verfassungsrecht nicht eigens geregelt, sodass es eines Rückgriffs auf allgemeine<br />
Prozessrechtsgrundsätze bedarf, vgl. Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger,BVerfGG, § 90<br />
Rn. 49; Detterbeck, Öffentliches Recht, ein Basislehrbuch, Rn. 957. Sie ist jedoch eine Sachentscheidungsvoraussetzung.<br />
4 Der Beschwerdegegenstand sollte sauber herausgearbeitet werden vgl. dazu Hinweis bei Gersdorf,<br />
Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, Rn. 20 f.<br />
5 Vgl. Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, Rn. 19.<br />
6 Zum Wahlrecht vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 1233; Pieroth-Jarass/Pieroth, Art. 93 GG Nr. 51 m.w.N.;<br />
wegen § 90 II BVerfGG und der Praxis des BVerfG handelt es sich jedoch nur um vermeintliches Wahlrecht,<br />
vgl. dazu Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 485.<br />
7 Vgl. Gersdorf, , Gusy, Rn. 38; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 213.<br />
8 Hartmann, in: Pieroth/Silberkuhl, die Verfassungsbeschwerde, Einführung, Verfahren, Grundrechte,<br />
§ 90 BVerfGG, Rn. 25 f., Rn. 51.<br />
9 Detterbeck Rn. 966 f.; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rn. 336 f.;<br />
Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 67.<br />
1. MÖGLICHE VERLETZUNG IN EIGENEN GRUNDRECHTEN<br />
Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. 10 Eine Rechtmäßigkeitsüberprüfung<br />
des einfachen Rechts erfolgt nicht. Im Falle von<br />
Urteilsverfassungsbeschwerden bedarf es grundsätzlich der Darlegung,<br />
fachgerichtliche Entscheidungen hätten spezifisches Verfassungsrecht<br />
verletzt. 11 Dieser bedarf es aber nicht, wenn die Verfassungswidrigkeit<br />
der Entscheidungen auf die Anwendung einer<br />
verfassungswidrigen Rechtsgrundlage zurückzuführen ist. Entscheidungen,<br />
die auf Grundlage eines verfassungswidrigen Gesetzes ergangen<br />
sind, sind ebenfalls verfassungswidrig. 12 Die Überprüfung<br />
von Rechtsvorschriften auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist ausschließlich<br />
dem BVerfG vorbehalten (Normverwerfungsmonopol). E geht es<br />
um Bestimmungen des BJagdG. Diese könnten E möglicherweise in<br />
dessen Grundrechten aus Art. 14 I GG, Art. 9 I GG, Art. 4 I GG sowie<br />
Art. 2 I GG verletzen.<br />
a) Art. 14 GG<br />
E ist Eigentümer zweier zusammenhängender Waldgrundstücke, die<br />
mit anderen Grundstücken einen gemeinschaftlichen Jagdbezirk bilden.<br />
Durch § 1 BJagdG wird die Jagdpflicht statuiert. Durch §§ 3, 9,<br />
10 BJagdG wird sie im Einzelnen konkretisiert. Die Jagdpflicht trifft<br />
nach § 3 BJagdG jeden Eigentümer von Grund und Boden. Aufgrund<br />
dieser Vorschriften ist E nicht möglich, sein Grundstückseigentum<br />
frei zu nutzen. Eine Verletzung seines von Art. 14 GG gewährleisteten<br />
Eigentumsrecht ist nicht ausgeschlossen.<br />
b) Art. 4 I GG<br />
Auf seinen Grundstücken hat E die Jagd zu dulden. Ein entgegenstehender<br />
Wille des E ist unbeachtlich, und zwar selbst dann, wenn der<br />
Wille des E ethisch-sittlich motiviert ist. Durch die Duldungspflicht<br />
von Handlungen, die E aus Gewissensgründen ablehnt, könnte E in<br />
Art. 4 I GG verletzt sein.<br />
c) Art. 9 I GG<br />
Wegen seiner besonderen Eigentümerstellung ist E per Gesetz Mitglied<br />
einer Jagdgenossenschaft nach § 9 BJagdG, ohne dass es seiner<br />
Einwilligung bedurfte. Dieser unfreiwillige Zusammenschlusses<br />
könnte E in seinem Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit<br />
nach Art. 9 I GG verletzen.<br />
d) Art. 2 I GG<br />
Eine Verletzung des subsidiären Auffanggrundrechts der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit ist möglich.<br />
2. BETROFFENHEIT 13<br />
Durch die Bestimmungen des BJagdG müsste E selbst, gegenwärtig<br />
und unmittelbar betroffen sein. E macht die Verletzung in eigenen<br />
Rechten geltend. Er ist von Regelungen des BJagdG als Eigentümer<br />
selbst betroffen. Als Adressat der Bestimmungen des BJagdG und der<br />
darauf ergangenen Entscheidungen ist E ferner gegenwärtig und unmittelbar<br />
betroffen.<br />
10 BVerfGE 7, 198, 207; 18, 85, 92.<br />
11 Schlaich/Korioth Rn. 221; Pieroth/Schlink, Rn. 1277 f.<br />
12 Detterbeck Rn. 968.<br />
13 Vgl. Sachs, Verfassungsprozessrecht Rn. 518 f.; Gersdorf, Rn. 36 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
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Sonder-Ausgab<br />
V. RECHTSWEGERSCHÖPFUNG UND SUBSIDIARITÄT 14<br />
E hat alle Instanzen erfolglos durchlaufen, der Rechtsweg ist damit<br />
erschöpft, Art. 94 II 2 GG, § 90 II 1 BVerfGG. E hat nichts unversucht<br />
gelassen, um eine Anrufung des Bundesverfassungsgericht zu vermeiden.<br />
Das Subsidiaritätsgebot i.S.d. § 90 II 2 BVerfGG. ist gewahrt.<br />
VII. FORM/FRIST<br />
Zur ordnungsgemäßen Erhebung der Verfassungsbeschwerde<br />
müsste E das Schriftformerfordernis nach § 23 I 1 BVerfGG sowie<br />
die Monatsfrist gemäß § 93 BVerfGG einhalten.<br />
VII. ZWISCHENERGEBNIS<br />
Die Verfassungsbeschwerde des E ist folglich zulässig.<br />
B. BEGRÜNDETHEIT<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die angegriffenen<br />
Maßnahmen einen ungerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich<br />
von Grundrechten darstellen. 15<br />
I. VERLETZUNG ART. 14 GG<br />
1. EINGRIFF IN DEN SCHUTZBEREICH<br />
Art. 14 GG schützt alle vermögenswerten Rechte in ihrer konkreten<br />
gesetzlichen Ausgestaltung. 16 Ein Eingriff liegt in jeder Verkürzung<br />
der verfassungsrechtlich garantierten Eigentumsbefugnisse. 17 Als Eigentümer<br />
unterliegt E der Jagdausübungs- bzw. Jagdduldungspflicht<br />
auf seinen Grundstücken. Es ist ihm nicht möglich, nach Belieben<br />
mit seinem Eigentum zu verfahren. Ein Eingriff in den Schutzbereich<br />
liegt vor.<br />
2. QUALIFIZIERUNG DES EINGRIFFS<br />
Wegen Art. 14 I 2 GG sowie Art. 14 III GG bedarf es jedoch einer<br />
Einordnung und Abgrenzung des Eingriffs. 18 An Inhalts- und<br />
Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 I 2 GG sind andere<br />
Rechtfertigungsanforderungen zu stellen als an Enteignungsmaßnahmen<br />
nach Art. 14 III GG. 19 Während eine Inhalts- und Schrankenbestimmung<br />
nach Art. 14 I 2 GG die generelle und abstrakte<br />
Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber meint,<br />
handelt es sich bei der Enteignung um die Entziehung konkreter<br />
subjektiver Rechtspositionen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben<br />
im Einzelfall. 20 Die Entschädigungspflicht nach Art. 14 III 2 GG<br />
stellt kein taugliches Kriterium dar, Art. 14 I 2 GG und Art. 14 III 2<br />
voneinander abzugrenzen; anders hingegen die Güterbeschaffungsvorsorge.<br />
21 Bestimmungen des BJagdG betreffen alle Eigentümer<br />
im entsprechenden Anwendungsbereich. Es handelt sich um keine<br />
14 Vgl. Gersdorf Rn. 47 ff.; Sachs Rn. 523 ff.<br />
15 Detterbeck, Rn. 1009, 968; Gersdorf, Rn. 72.<br />
16 Vgl. Detterbeck, Rn. 784, 786, Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG Rn. 308; Epping, Grundrechte,<br />
Rn. 421, 446; vgl. ferner BVerfG, NJW 2005, 879, 880 m.w.N.: „Der Eigentumsschutz im Bereich des Privatrechts<br />
betrifft grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung<br />
in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher<br />
Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.“<br />
17 Detterbeck, Rn. 809; Axer-Epping/Hillgruber, Art. 14, Rn. 69.<br />
18 Bereits hier statt in der Rechtfertigung kann die Einordnung erfolgen vgl. Gersdorf Rn. 299; Epping<br />
Rn. 447, wenngleich a.A.<br />
19 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 38 Rn. 20 ff.; Detterbeck Rn. 814 ff.; kritisch hinsichtlich der gesetzlichen<br />
Ausgestaltung des normgeprägten Grundrechts hin zum „Umschlagen“ in eine verfassungswidrigen<br />
Ausgestaltung. Epping, Rn. 421 f. 429.<br />
20 Hufen § 38 Rn. 20, 28; Epping, Rn. 448 f., 458 ff.; Detterbeck, Rn. 820, 822; Berkemann, in: Umbach/<br />
Clemens Art. 14 Rn. 277 f.<br />
21 Epping Rn. 459; Detterbeck Rn. 823; Hufen, § 38 Rn. 20.<br />
Einzelfallregelung. Eine Güterbeschaffung unterbleibt. Durch die<br />
BJagdG-Bestimmungen werden dem E weder Eigentumspositionen<br />
noch damit verbundene Befugnisse entzogen. E ist und bleibt Eigentümer.<br />
Bestimmungen des BJagdG gestalten die Eigentumsbefugnisse<br />
lediglich näher aus. Entgegen dem subjektiven Empfinden des<br />
E, bleibt es diesem objektiv unbenommen über seine Grundstücke<br />
nach Belieben zu verfügen. Maßgeblich sind hierbei allein objektive<br />
Kriterien. Regelungen des BJagdG gestalten die Eigentumsordnung.<br />
Es handelt sich somit eine reine Inhalts- und Schrankenbestimmung.<br />
3. VERFASSUNGSRECHTLICHE RECHTFERTIGUNG<br />
Ein Eingriff in Gestalt von Inhalts- und Schrankenbestimmung in<br />
Art. 14 GG ist gerechtfertigt, wenn das in den Schutzbereich eingreifende<br />
Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist. 22<br />
a) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
Bedenken hinsichtlich des Gesetzgebungsverfahrens bestehen nicht,<br />
Art. 70, 73 I, III Nr. 1, 74 Nr. 28, Art. 76 ff. GG.<br />
b) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
Regelungen des BJagdG sind dann materiell verfassungsmäßig, wenn<br />
sie den besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />
an eine Inhalts- und Schrankenbestimmung genügen. 23 Hierbei<br />
ist insbesondere von Bedeutung, dass ein angemessener Ausgleich<br />
zwischen der Sozialbindung des Eigentums, Art. 14 III GG, 24 und<br />
dessen Privatnützigkeit stattgefunden hat. 25 Die grundeigentumsgebundene<br />
Zuordnung zu einem Jagdbezirk und die damit verbundene<br />
Jagdpflicht müssten in verhältnismäßiger Weise in Art. 14 I GG<br />
eingreifen. Dies ist dann der Fall, wenn der Gesetzgeber mit den<br />
gesetzlichen Bestimmungen des BJagdG ein legitimes Ziel verfolgt,<br />
dieses zur Zweckerreichung geeignet und erforderlich ist sowie widerstreitende<br />
Interessen in einem angemessen Verhältnis abgewogen<br />
wurden.<br />
aa) Legitimes Ziel<br />
Bundesjagdrechtliche Bestimmungen müssten einem verfassungslegitimen<br />
Ziel dienen. Die Ziele sind in § 2 BJagdG niedergelegt.<br />
Das BJagdG dient dem Arten- und Tierschutz (Art. 20 a GG).<br />
Ein artenreicher und gesunder Wildbestand ist ein schützenswertes<br />
Allgemeinwohlinteresse. Der Schutz vor Wildschäden an<br />
in Land- und Forstwirtschaft dient über dem Schutz der Rechte Dritter<br />
(Art. 14 I GG). Die Erhaltung und Pflege der natürlichen Lebensgrundlagen<br />
durch die Jagd, zugunsten der Allgemeinheit ist ein<br />
Gemeinwohlbelang, der der Sozialbindung des Eigentums (Art.<br />
14 I 2, II GG) als besondere Ausprägung des Sozialstaatsgebot 26<br />
(Art. 20 I GG) entspricht Verfassungslegitime Ziele liegen somit vor.<br />
bb) Geeignetheit<br />
Die eingesetzten Mittel müssten geeignet sein. Das ist dann der<br />
Fall, wenn sie das Erreichen der Ziele fördern. Fehlt den Mitteln die<br />
Zweckförderlichkeit, fehlt ihnen die Eignung. Gänzlich und offenkundig<br />
zweckförderlich untaugliche Mittel sind ungeeignet. Diesbezüglich<br />
kommt dem Gesetzgeber jedoch ein weiter Beurteilungs-<br />
22 Epping Rn. 470; Detterbeck Rn. 836.<br />
23 Vgl. dazu Papier-Maunz/Dürig, Art. 14 GG Rn. 311 f.; vgl. konkretes Formulierungsbeispiel bei<br />
Gersdorf Rn. 309.<br />
24 Art. 14 Abs. 2 GG ist keine Eingriffsermächtigung, eine solche ergibt sich ausschließlich aus Art. 14<br />
Abs. 1 S. 2 GG selbst; vgl. Epping Rn. 472.<br />
25 Vgl. dazu Epping Rn. 472 „Je stärker der soziale Bezug des Eigentumsobjekts ist, desto eher sind Einschränkungen<br />
gerechtfertigt.“ sowie zur sogenannten „Situationsgebundenheit“ des Grundeigentums<br />
Epping, Rn. 473; vgl. zur Sozialbindung des Eigentums sowie zum Verhältnis zwischen Art. 14 Abs. 1 S.<br />
2 GG sowie Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG Papier-Maunz/Dürig, Art. 14 GG, Rn 305, 308.<br />
26 Vgl. BVerfGE 25, 112, 117.<br />
38<br />
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spielraum zu, sodass die schlichte Möglichkeit, dem Zweck zu dienen,<br />
ausreicht. 27 Durch den organisatorischen Zusammenschluss von<br />
Grundstücken zu Jagdbezirken wird ein hinreichend großer Raum<br />
geschaffen, um die Jagdausübung und den damit verbunden verfassungsrechtlichen<br />
Rechtsgüterschutz gewährleisten zu können. 28 Eine<br />
evidente Ungeeignetheit der Bestimmungen ist mithin nicht ersichtlich.<br />
cc) Erforderlichkeit<br />
Fraglich ist, ob die eingesetzten Mittel erforderlich sind. Sie sind erforderlich,<br />
wenn es keine milderen, gleich geeigneten Mittel gibt, die<br />
Ziele zu erreichen, wobei dem Gesetzgeber wiederum eine Einschätzungsprärogative<br />
zukommt. 29 Als milderes Mittel käme eine staatsfreie<br />
Organisation des Jagdwesens in Betracht. Die Selbstregulierung<br />
der Natur als bloßes Ruhenlassen bzw. Außerkraftsetzen der Jagdpflicht<br />
ist kein gleich geeignetes Mittel, den in § 2 BJagdG ausgestalteten<br />
Verfassungs-Auftrag zu erfüllen. Das menschliche Eingreifen<br />
durch Jagd und Hege ist für einen ökologisch-ökonomisch Ausgleich<br />
notwendig. Wegen des Überangebots an Nahrung und mangels natürlicher<br />
Feinde würde sich das Wild unkontrolliert vermehren. 30 Die<br />
Bildung freiwilliger Zusammenschlüsse mag für einzelne Grundstückseigentümer<br />
ein weniger einschneidendes Mittel sein. Ein rein<br />
privates Jagdrecht birgt jedoch die Gefahr, dass den Jagdpflichten<br />
nicht nachgekommen wird. 31 Das würde zu Wildschäden führen und<br />
damit insgesamt den Schutz von Gemeinwohlbelangen gefährden.<br />
Vorhandene Bestimmungen des BJagdG sind erforderlich, um die<br />
genannten Ziele zu erreichen.<br />
dd) Angemessenheit<br />
Bestimmungen des BJagdG müssten angemessen sein. Eine staatliche<br />
Maßnahme ist angemessen, wenn die gewählten Mittel in<br />
einem angemessenen Verhältnis zum Ziel stehen. 32 Bei Inhalts- und<br />
Schrankenbestimmungen ist der Gesetzgeber nicht gänzlich frei, er<br />
hat die Zumutbarkeitsgrenze zu beachten. 33 An einen sachgerechten<br />
Ausgleich widerstreitender Interessen werden je nach Art und Bedeutung<br />
des betroffenen Eigentumsobjekts unterschiedliche Anforderungen<br />
gestellt. 34 Die schutzwürdigen Nutzungsinteressen des<br />
Eigentümers müssen mit den berechtigten Allgemeinwohlinteressen<br />
in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. 35 Der Eigentumsgebrauch<br />
soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Die Eigentumsnutzung ist<br />
deshalb sozialgebunden. Dies hat zur Folge, dass sozial motivierte<br />
Einschränkungen des Eigentumsfreiheitsrechts zugunsten von Gemeinwohlbelangen<br />
einfacher zu rechtfertigen sind. 36 Je wichtiger die<br />
soziale Funktion des Eigentums ist, desto größer sind die gesetzgeberischen<br />
Gestaltungsmöglichkeiten bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung<br />
des Eigentumsrechts. 37 Die mit der Jagd und Hege<br />
verbundenen Ziele weisen einen besonders starken sozialen Bezug<br />
auf (Art. 20 a GG sowie Art. 14 I GG). Um diesem Zweck nachzukommen<br />
und ohne dabei die Belange des Eigentümers außer Acht<br />
zu lassen, hat der Gesetzgeberfür einen Interessenausgleich gesorgt.<br />
Zwar kann der Eigentümer im Rahmen der bestehenden Gesetze mit<br />
27 Vgl. zur „Zweckeignung des Mittels“ Epping Rn. 52 m.w.N.; Detterbeck Rn. 484, 71 ff.<br />
28 BVerfG, Beschluß vom 13.12.2006 – 1 BvR 2084/05 Absatz-Nr. 17, = BVerfG, NVwZ 2007, S. 808 ff;<br />
alle Entscheidungen des BVerFG sind online abrufbar unter www.bverfg.de/entscheidungen jede nachstehende,<br />
nicht näher bezeichnete Entscheidung des BVerfG bezieht sich auf den vorstehenden Beschluß.<br />
29 Pieroth/Schlink Rn. 297; GersdorfRn. 272; EppingRn. 54.<br />
30 Zur Vorinstanz BVerwG, „fehlende Einsicht der Tiere“, in: BVerfG Absatz-Nr. 21 und 24.<br />
31 BVerfG Absatz Nr. 9 f., ; vgl. auch OVG Koblenz, Urt. v. 13.7.2004, Az.: 8 A 10216/04.<br />
32 Gersdorf, Rn. 273; Epping Rn. 56; Pieroth/Schlink Rn. 299.<br />
33 Jarass/Pieroth Art. 14 Rn. 38.<br />
34 Axer-Epping/Hillgruber Art. 14 Rn. 88.<br />
35 BVerfG Absatz-Nr. 5; sowie zur Ansicht des BVerwGAbsatz-Nr. 21; BVerfGE 110, 1, 28; 98, 17, 37;<br />
100, 226, 240.<br />
36 Epping Rn. 472; vgl. Badura, Staatsrecht, S. 269 Beachtung der „sozialen Gerechtigkeit“.<br />
37 BVerfGE 100, 226, 240.<br />
der Sache nach Belieben verfahren, allerdings erhält er einen Ausgleich.<br />
Die Nichtausübung der Eigentumsnutzung berücksichtigt<br />
der Gesetzgeber durch den Pachterlös. Rechtsgüter und Rechtspositionen<br />
des Eigentümers hat der Gesetzgeber über die Inhalts- und<br />
Schrankenbestimmug hinaus in einem ausgewogenen Verhältnis<br />
berücksichtigt. Zwar kann ein schutzwürdiges Vertrauen 38 bei der<br />
Abwägung eine Rolle spielen, nicht jedoch hinsichtlich der von E<br />
vorgetragenen Gesichtspunkte. Die Regelungen des BJagdG und<br />
die damit verbundenen Pflichten sind als besondere, auf den jeweiligen<br />
Grundstücken ruhende Last zu verstehen. Durch die Auflassung<br />
ist diese Last auf den neuen Eigentümer übergehen. E hat also<br />
niemals „lastenfreies“ Eigentum besessen. Eine etwaige Unkenntnis<br />
begründet hier keine berücksichtigungsfähige Vertrauensposition.<br />
Regelungen des BJagdG sind damit angemessen. Darüber hinaus, hat<br />
der Gesetzgeber im Rahmen von Art. 14 I 2 GG dem unveräußerlichen<br />
Kernbereich des Eigentumsrecht Rechnung zu tragen. Dem<br />
Eigentümer muss eine Rechtsposition verbleiben, die den Namen<br />
„Eigentum“ noch verdient. 39 Der Übergang des Jagdausübungsrechts<br />
auf die Jagdgenossenschaft ändert an der rechtlichen Zuordnung des<br />
Eigentums zu E nichts. E kann über seine Grundrechte im Rahmen<br />
der gesetzlichen Bestimmungen frei verfügen. Privatnützigkeit des<br />
Eigentumsrechts meint gerade keine absolut unbeschränkte Handlungsfreiheit.<br />
40 Das persönliche Empfinden kann weder über die<br />
wirtschaftliche Wertigkeit von Eigentum noch über rechtliche und<br />
tatsächliche Verfügungsbefugnisse bestimmen. Hinzu tritt eine Kompensation,<br />
für Nutzungsbeschränkungen erhält E ein „Surrogat“ 41<br />
in Gestalt von Mitwirkungsrechten in der Jagdgenossenschaft und<br />
eines Teilhaberechts aus der Jagdpachtnutzung durch eine geldwerte<br />
Entschädigung. 42 Also erbringt E kein unzumutbares Sonderopfer.<br />
Der Gesetzgeber hat die Privatnützigkeit ausreichend berücksichtigt<br />
und den Kernbereich nicht angetastet. Regelungen des BJagdG<br />
sind verhältnismäßig. Sie verletzen E nicht in seinem Grundrecht aus<br />
Art. 14 I GG.<br />
II.VERLETZUNG VON ART. 4 GG<br />
Im Falle einer etwaigen Verletzung von Art. 4 GG ist bereits das<br />
Verhältnis zwischen Art. 14 I GG und Art. 4 GG fraglich. Grundstückseigentumsgebundene<br />
Regelungen sind allein an Art. 14 I GG<br />
zu messen. 43 Für Art. 4 GG verbleibt daher nur „der Rest“. 44 Für die<br />
Schutzbereichseröffnung des Art. 4 I 2. Var. GG bedarf es einer Entscheidung,<br />
die ernstlich und sittlich ist und sich an den Kategorien<br />
von Gut und Böse orientiert, die der Einzelne in einer bestimmten<br />
Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt,<br />
so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln<br />
könnte. 45 Zur bloßen inneren Haltung (forum internum) muss Handeln<br />
hinzutreten. 46 Fraglich ist, ob von E eine für Art. 4 I 2. Var. GG<br />
relevante Handlung verlangt wird. Nicht jede Handlung fällt in den<br />
Schutzbereich des Art. 4 I 2 GG. Hier wird E kein bestimmtes Handeln<br />
aufgebürdet. Zwar ist die Jagd und damit die Tötung von Tieren<br />
auf den Grundstücken des E rechtlich möglich, jedoch wird E weder<br />
gezwungen, in der Jagdgenossenschaft noch an der Jagd und der damit<br />
der Tötung von Tieren mitzuwirken. Die Entscheidung, Tiere zu<br />
38 Vgl. EppingRn. 474; Axer-Epping/Hillgruber Art 14 Rn. 92, 98 f.<br />
39 BVerfG Absatz- Nr. 8; BVerfGE 24, 367, 389.<br />
40 Badura S. 269.<br />
41 So das BVerwG, in: BVerfG Absatz-Nr. 20.<br />
42 BVerfG Absatz-Nr. 22.<br />
43 Eine Schutzbereichsverstärkung des Art. 14 GG durch Art. 4 GG soll vermieden werden, so zwar<br />
OVG Koblenz Urt. v. 13.7.2004, Az.: 8 A 10216/04, aber dagegen BVerwG, sowie BVerfG Absatz-Nr. Absatz-Nr.<br />
18 und 23.<br />
44 Das stellt eine Konkretisierung der Schutzbereiche dar und keinen Fall der Konkurrenz, vgl. zu Konkurrenzfällen<br />
sehr anschaulich Winkler, Grundrechte in der Fallprüfung, S. 21.<br />
45 BVerfGE 12, 45, 55; BVerfGE 23, 191, 205; 48, 127, 173; BVerwG, NJW 2006, 77, 87.<br />
46 Hufen, § 24 Rn. 3, 5; Herzog-Maunz/DürigArt. 4 Rn. 132 f.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
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töten, hat der Gesetzgeber getroffen. 47 Die Gewissensentscheidungsfreiheit<br />
besteht zwar in der Gewährleistung, „sich in seinem Rechtskreis<br />
gemäß seiner Gewissensüberzeugung zu verhalten“, sie führt<br />
aber nicht dazu, „in den Rechtskreis anderer gebietend oder verbietend<br />
hineinzuregieren.“ 48 „Aus der Gewissensfreiheit kann niemand<br />
das Recht herleiten, die Rechtsordnung nur nach seinen Gewissensvorstellungen<br />
zu gestalten, und verlangen, dass seine Überzeugung<br />
zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung<br />
gemacht wird. 49 Mit seinen ethisch-moralischen Wertvorstellungen<br />
möchte E aus Art. 4 I 2. Var. GG einen Anspruch ableiten,<br />
eigene Rechtsvorstellungen zulasten der Rechte Dritter und gesetzgeberischer<br />
Entscheidungen durchzusetzen. 50 Ein solcher Anspruch<br />
besteht nicht. Ein Eingriff in die Freiheit der Gewissensentscheidung<br />
liegt nicht vor.<br />
III. VERLETZUNG VON ART. 9 GG<br />
Wegen seiner besonderen Eigentümerstellung ist E zwangsweise Mitglied<br />
einer Genossenschaft nach § 9 BJagdG. Fraglich ist, ob diese Art<br />
des unfreiwilligen Zusammenschlusses vom Schutzbereich des Art. 9<br />
I GG umfasst ist.<br />
1. SCHUTZBEREICH<br />
Fraglich ist, ob E einen Anspruch auf Austritt aus der Jagdgenossenschaft<br />
hat. Dazu müsste die Jagdgenossenschaft in den Schutzbereich<br />
des Art. 9 I GG fallen und die negative Vereinigungsfreiheit von<br />
ihr gedeckt sein. Vereinigungen sind freiwillige Zusammenschlüsse<br />
mehrerer natürlicher oder juristischer Personen für eine längere<br />
Zeit zu einem gemeinsamen Zweck bei Unterwerfung unter eine<br />
organisierte Willensbildung. 51 Entgegen des Wortlauts ist nicht bloß<br />
das Bilden von Vereinigungen geschützt. 52 Zum positiven Schutz<br />
(gründen, beitreten, verbleiben, auflösen) tritt der spiegelbildliche<br />
Negativschutz hinzu, Vereinigungen nicht zu gründen, ihnen nicht<br />
beizutreten, bzw. aus ihnen austreten können. 53 Die Jagdgenossenschaft<br />
wurde aber nicht freiwillig von Privatpersonen gegründet,<br />
sondern kraft öffentlich-rechtlichen Hoheitsaktes geschaffen. 54 Sie ist<br />
eine juristische Person des öffentlichen Rechts die keine Vereinigung<br />
i.S.d. Art. 9 I GG ist sein könnte. Während in Art. 9 I GG die Begriffe<br />
„Verein“ und „Gesellschaft“ gebraucht werden, wird in Art. 9 II GG<br />
der Begriff der Vereinigung verwendet. Für den Schutzbereich ist zu<br />
schlußfolgern, dass der Begriff der Vereinigung den Oberbegriff für<br />
Vereine und Gesellschaften darstellt. 55 Wenn sich aber Art. 9 I GG<br />
auf die Grundform einer juristischen Person des Privatrechts, den<br />
Verein (§§ 21 ff. BGB) sowie auf die der privatrechtlichen Personengesellschaft<br />
(§§ 705 ff. BGB) bezieht, bleibt fraglich, ob juristische<br />
Personen des öffentlichen Rechts vom Schutzbereich erfasst sind.<br />
Eine Anwendung des Art. 9 I GG auf juristische Personen des öffentlichen<br />
Rechts wäre nur dann zulässig, wenn zwischen den in Art. 9 I<br />
GG genannten Instituten und der der juristischen Person des öffent-<br />
lichen Rechts Vergleichbarkeit bestünde. Das ist strittig. 56 Für eine<br />
Einbeziehung wird vorgebracht, dem Wortlaut des Art. 9 I GG seien<br />
keine Anhaltspunkte zu entnehmen, dass eine bestimmte Rechtsform<br />
für einen Schutz nach Art. 9 I GG erforderlich sei. Auch sei<br />
der Schutzzweck vergleichbar. Diese Art des zwangsweisen Zusammenschlusses,<br />
wodurch Einzelnen die Erfüllung öffentliche Aufgaben<br />
aufgebürdet werde, stelle die „stärkste Form des Eingriffs in die<br />
Vereinigungsfreiheit“ dar. Betroffen sei daher die klassische Grundrechtsfunktion<br />
als Abwehr gegen staatliche Maßnahmen. Dagegen<br />
wird im Wesentlichen die fehlende Vergleichbarkeit das Bestehen<br />
einer Schutzlücke (Schutz über Art. 2 I GG) vorgebracht.<br />
Juristische Personen des Privatrechts sowie Personengesellschaften<br />
kennzeichnen sich durch die Freiwilligkeit ihres Gründungsaktes<br />
als Ausfluss der Privatautonomie. Tertium comparationis kann<br />
deshalb nur die Freiwilligkeit sein. Ob Art. 9 I GG einen Anspruch<br />
auf Fernbleiben von der Eingliederungen in öffentlich-rechtliche<br />
Vereinigungen gewährt, kann dahingestellt bleiben, wenn der Eingriff<br />
verfassungsrechtlich sowohl nach Art. 9 I GG wie auch nach<br />
Art. 2 I GG gerechtfertigt ist. Beide Grundrechte sind nicht vorbehaltlos<br />
gewährt. Eingriffe sind möglich, wenn sie verfassungsrechtlich<br />
gerechtfertigt sind. Dem Einzelnen steht ein Anspruch auf sorgfältige<br />
Prüfung der Notwendigkeit einer Zwangsmitgliedschaft zu. 57<br />
Eine notwendige Mitgliedschaft ist nur anzunehmen, wenn sie der<br />
Wahrnehmung legitimer öffentlicher Aufgaben dient und auch im<br />
Übrigen verhältnismäßig ist. 58 Der Sinn und Zweck solcher Zwangsmitgliedschaften<br />
wirkt zugunsten des Bürgers und der Allgemeinheit.<br />
Der Bürger soll in eigener Verantwortung an der Wahrnehmung<br />
öffentlicher Aufgaben und Interessen beteiligt werden. 59 Wie oben<br />
gezeigt, werden durch das BJagdG verfassungslegitime Ziele wahrgenommen.<br />
Die Erwägungen im Rahmen des Art. 14 GG zur Effizienz<br />
der Wahrnehmung einer öffentlichen <strong>Ausgabe</strong> durch den Staat gelten<br />
auch hier. Es liegt keine verfassungswidrige Aufgabenüberschreitung<br />
vor. Die Zwangsmitgliedschaft ist notwendig, um dem Wohle der<br />
Allgemeinheit zu dienen. Eingriffe in Art. 9 I GG und in Art. 2 I GG<br />
wären verfassungsrechtlich jeweils gerechtfertigt. Einer Klärung der<br />
Schutzbereichseröffnung des Art. 9 I GG bedarf es damit nicht.<br />
IV. ERGEBNIS<br />
Die Verfassungsbeschwerde des E ist unbegründet.<br />
C. ENDERGEBNIS<br />
Wegen der zwar zulässigen, aber unbegründeten Verfassungsbeschwerde<br />
hat das verfassungsrechtlichen Vorgehens des E keine Aussicht<br />
auf Erfolg.<br />
47 BVerfG Absatz-Nr. 25.<br />
48 BVerwGAbsatz-Nr.18.<br />
49 BVerfGE 67, 26, 37.<br />
50 Vgl. BVerfG Absatz-Nr. 25, 26.<br />
51 Vgl. Epping Rn. 864; Detterbeck Rn. 678.<br />
52 Einer Ansicht nach gewähre Art. 9 GG keine negative Vereinigungsfreiheit, vgl. dazu Steinmeyer-<br />
Umbach/Clemens, Art. 9 Rn. 43 m.w.N., sowie Epping Rn. 877; vgl. im Übrigen Kannengießer-Schmidt-BleibtreuHofmann/Hopfauf,<br />
Art. 9 GG Rn. 7.<br />
53 Rixen-Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 9 Rn. 20; Bergmann-Hömig Art. 9 GG Rn. 3.<br />
54 Vgl. hinsichtlich des Merkmals der Freiwilligkeit Kepmer-von Mangold/Klein/Starck Art. 9 GG Rn.<br />
27 f; Bauer-Dreier, Art. 9 GG, Rn. 47.<br />
55 Detterbeck Rn. 676 ff.<br />
56 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 2617, 2617/2618; Detterbeck, Rn. 443; Epping, Rn. 881; Merten, HdbStR<br />
VII, § 165 Rn. 62, Steinmeyer, in: Umbach/Clemens Art. 9 Rn. 46 m.w.N.; Leibholz/Rinck, Art. 9 Rn.<br />
1 f. ; Löwer, in: v. Münch Art. 9 Rn. 20; Scholz AöR 100 (1975), 80, 124 f.; Scholz-Maunz/Dürig, Art.<br />
9 Rn. 89; Pieroth/Schlink, Rn. 792; Höfling-Sachs, Art. 9 Rn. 22: Cornils-Epping/Hillgruber, Rixen,<br />
in: Stern/Becker, Art. 9 Rn. 21; vgl. auch Hesse, Rn. 414; Bethge, JA 1979, 281, 284 f.; Murswiek, JuS<br />
1992, 116, 118 f.<br />
57 BVerfGE 38, 281, 298; BVerfG, NVwZ 2002, 335, 336.<br />
58 Vgl. Leibholz/Rinck Art. 9 GG Rn. 120; Bergmann-Hömig, Art. 9 GG Rn. 3.<br />
59 Epping Rn. 879.<br />
40<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011
Sonder-Ausgab<br />
Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Erklärungsbewusstsein und Rechtsbindungswille:<br />
Zwei Begriffe mit gänzlich verschiedener Bedeutung!<br />
Prof. Dr. Martin Schwab, (FU Berlin)<br />
A. DAS ERKLÄRUNGSBEWUSSTSEIN<br />
Was man unter dem Begriff des Erklärungsbewusstseins zu verstehen<br />
hat, habe ich im letzten Jahr in dieser Zeitschrift in einem zweiteiligen<br />
Beitrag zu erläutern versucht 1 . Wir erinnern uns:<br />
Fall 1:<br />
Tourist T betritt einen Raum, in dem gerade Weine versteigert werden.<br />
Er vermutet dort einen Bekannten und sieht ihn, denn auch von Ferne,<br />
in diesem Raum. Er hebt die Hand, um seinem Bekannten zuzuwinken.<br />
Der Auktionator begreift dieses Handheben, den Gebräuchen in<br />
seinem Hause entsprechend, in dem Sinne, dass T das bisher abgegebene<br />
Höchstgebot um 1.000 Euro steigern will. Da keine weiteren Gebote<br />
abgegeben werden, erhält T den Zuschlag.<br />
Das Verhalten des T war im Fall 1 zwar von einem willensgetragenen<br />
Verhalten gesteuert; T hatte also Handlungswillen. Ihm fehlte aber das<br />
Erklärungsbewusstsein: Ihm war, als er die Hand hob, nicht bewusst,<br />
dass sein Verhalten überhaupt als rechtserhebliche Erklärung würde<br />
gedeutet werden können. Die Diskussion in Rechtsprechung und<br />
Schrifttum rankt sich nun darum, ob ein solches Verhalten gleichwohl<br />
als Willenserklärung angesehen werden kann. Spaltet man das<br />
Merkmal der Willenserklärung in den objektiven Tatbestand „Erklärung“<br />
und den subjektiven Tatbestand „Willen“ auf, so zeigt sich, dass<br />
die Kontroverse um die Rolle des Erklärungsbewusstseins sich am<br />
subjektiven Tatbestandselement entzündet: Die Frage lautet schlicht,<br />
ob der Handelnde (im Fall 1: T) überhaupt einen rechtlich erheblichen<br />
Willen gebildet hat. Verneint man diese Frage, so liegt eine<br />
Willenserklärung bereits im Ansatz nicht vor; bejaht man die Frage,<br />
so hat T im Fall 1 eine Willenserklärung abgegeben und kann diese<br />
allenfalls nach § 119 I BGB wegen Irrtums anfechten.<br />
B. DER RECHTSBINDUNGSWILLE<br />
Wenn man sich den Begriff des Rechtsbindungswillens in seiner<br />
Wortbedeutung vor Augen führt, scheint sein Vorhandensein bzw.<br />
Fehlen auf den ersten Blick ebenfalls das Element des „Willens“ innerhalb<br />
der Willenserklärung zu berühren. Und doch werden die<br />
einschlägigen Sachverhalte zeigen, dass dies nicht der Fall ist.<br />
I. BEISPIELSFÄLLE<br />
Fall 2:<br />
E ist Eigentümer eines PKW und bittet seinen Bekannten B, diesen<br />
PKW in die Werkstatt zu bringen. Auf der Fahrt zur Werkstatt verursacht<br />
B einen Verkehrsunfall. Haftet B dem E auf Schadensersatz?<br />
Fall 3:<br />
Maler M vereinbart mit dem Galeristen G, dass M seine Bilder im April<br />
2010 in den Räumen des G ausstellen darf. M und G vereinbaren, dass<br />
beiden dadurch keine Kosten entstehen sollen. Im März 2010 erklärt G<br />
dem M, dass er seine Räume anderweitig benötige und nicht zur Verfügung<br />
stellen könne. Kann M von G verlangen, seine Bilder im April<br />
2010 in den Räumen des G ausstellen zu dürfen?<br />
Fall 4:<br />
Das Ehepaar M und F hat einen acht Jahre alten Sohn S; das im Nachbarhaus<br />
wohnende Ehepaar N und G hat eine gleichaltrige Tochter T.<br />
S und T spielen häufig zusammen, bald bei den Eltern des S, bald bei<br />
den Eltern der T. Als T bei den Eltern des S zu Besuch ist, rutscht sie auf<br />
einer Bananenschale aus, die wegzuräumen die ansonsten zuverlässige<br />
Haushalthilfe von M und F versehentlich versäumt hat. T verletzt sich.<br />
Können N und G von M und F Schadensersatz fordern?<br />
Fall 5:<br />
M und F lernen sich bei einem Skiurlaub kennen und beginnen eine<br />
Liebesaffäre. Die Frage des M, ob F die „Pille“ nehme, bejaht F bewusst<br />
wahrheitswidrig. F wird von M schwanger und bringt das Kind zur<br />
Welt. M verlangt von F, ihn von seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem<br />
Kind freizustellen.<br />
II. DER OBJEKTIVE ERKLÄRUNGSTATBESTAND ALS PROBLEM-<br />
SCHWERPUNKT<br />
In sämtlichen soeben dargestellten Fällen 2 ist die Abgrenzung zwischen<br />
einem (rechtsverbindlichen) Vertrag und einer (nicht rechtsverbindlichen)<br />
Gefälligkeit aufgerufen. Die Unterscheidung richtet<br />
sich danach, ob die Parteien den Willen hatten, sich rechtlich zu<br />
binden (also: Rechtsbindungswille) oder nicht. Ob dieser Wille tatsächlich<br />
vorhanden war, lässt sich – als „psychologische“ Tatsache<br />
– kaum verlässlich ermitteln. Die Rechtsprechung schließt daher das<br />
Vorhandensein oder Fehlen des Rechtsbindungswillens aus den Umständen,<br />
insbesondere aus der objektiven Interessenlage. Diese Vorgehensweise<br />
führte in den Fällen 2 und 3 zur Bejahung, in den Fällen<br />
4 und 5 zur Verneinung des Rechtsbindungswillens:<br />
Im Fall 2 bejahte das OLG Frankfurt den Rechtsbindungswillen mit<br />
der Begründung, dem B sei mit dem PKW ein erheblicher wirtschaftlicher<br />
Wert anvertraut worden 3 . Der Gedankengang ist der<br />
folgende: Weil der PKW einen solchen Wert verkörpert, ist für B erkennbar,<br />
dass E auf eine sorgfältige Behandlung des Wagens Wert<br />
legt und eine solche Behandlung auch gerne von B rechtsverbindlich<br />
zugesagt wissen möchte. Bereits hier ist erkennbar, dass es nicht um<br />
ein vorhandenes oder fehlendes Erklärungsbewusstsein des B geht.<br />
Anders als in Konstellationen der in Fall 1 beispielhaft beschriebenen<br />
Art weiß B ganz genau, was er tut. Er befindet sich nicht im Irrtum<br />
darüber, dass sein Verhalten als rechtsverbindliche Erklärung gedeutet<br />
werden könnte. Das Problem liegt vielmehr in Wahrheit im<br />
objektiven Erklärungstatbestand: Die Frage lautet nicht, ob E und B<br />
tatsächlich einen Rechtsbindungswillen hatten; das lässt sich, wie soeben<br />
dargelegt, ohnehin kaum je beweisen. Die Frage lautet vielmehr,<br />
ob die Vereinbarung zwischen E und B, wonach B das Auto für E in<br />
die Werkstatt bringen soll, objektiv als Ausdruck eines Parteiwillens<br />
gedeutet werden kann, dass E und B sich rechtlich binden wollten.<br />
Es geht also bei der Abgrenzung zwischen Auftrag und Gefälligkeit<br />
in Wahrheit um die Auslegung nach §§ 133, 157 BGB; es geht darum,<br />
ob das Verhalten der Beteiligten als eine auf Herbeiführung einer<br />
Rechtsfolge (nämlich einer vertraglichen Bindung) gerichtete Erklärung<br />
und damit als Willenserklärung eingeordnet werden kann. Im<br />
1 Schwab, <strong>Iurratio</strong> 2009, 86 ff. (Teil I), 142 ff. (Teil II).<br />
2 Weitere Rechtsprechungsbeispiele bei AnwK-Schwab, BGB, 1. Aufl. 2005, § 662 Rn. 12 ff.<br />
3 OLG Frankfurt NJW 1998, 1232.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />
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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />
Sonder-Ausgab<br />
praktischen Ergebnis bedeutet die vom OLG Frankfurt gefundene<br />
(und in der Sache überzeugende) Lösung, dass B dem E aus § 280<br />
I BGB wegen Pflichtverletzung aus einem Auftragsverhältnis Schadensersatz<br />
schuldet, sofern B den Verkehrsunfall zu vertreten hatte.<br />
Die gleiche Gedankenoperation begegnet im Fall 3. Der BGH bejahte<br />
hier einen Rechtsbindungswillen 4 und zog abermals die Interessenlage<br />
heran: Wenn ein bildender Künstler mit dem Inhaber einer Galerie<br />
vereinbart, seine Werke dort in einem bestimmten Zeitraum ausstellen<br />
zu dürfen, will er ersichtlich sich selbst damit bekannt machen<br />
und potentielle Kaufinteressenten für seine Werke werben. Daraus<br />
folgt, dass die Vereinbarung zwischen M und G im Fall 3 jedenfalls<br />
nicht als unverbindliche, rechtlich belanglose Abrede abgetan werden<br />
kann. Mindestens muss man annehmen, dass G dem M die Leihe<br />
seiner Räume, also die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung zugesagt<br />
hat. Der BGH ging aber noch weiter und nahm einen „Ausstellungsvertrag<br />
eigener Art“ an. Damit war dem G insbesondere das<br />
Kündigungsrecht aus § 605 Nr. 1 BGB genommen. Wieder ist die bereits<br />
anhand von Fall 2 gezeigte Vorgehensweise deutlich geworden:<br />
Aus der objektiven Interessenlage hat der BGH geschlossen, dass M<br />
und G offenbar an der Begründung einer rechtlichen Bindung interessiert<br />
waren; er hat die Erklärungen von M und G folglich anhand<br />
objektiv nachprüfbarer Umstände als Willenserklärungen gedeutet.<br />
Abermals sind damit §§ 133, 157 BGB zur Anwendung gekommen.<br />
Mit „Erklärungsbewusstsein“ im oben unter I. beschriebenen Sinne<br />
hat das nichts zu tun: M und G wussten, welche Abrede sie getroffen<br />
hatten; es ging nur noch darum, ob sie aus dieser Abrede berechtigt<br />
und verpflichtet wurden. Das hat der BGH mit Recht bejaht. M kann<br />
daher im Ergebnis von G die Überlassung der Galerieräume verlangen.<br />
Fall 4 verkörpert einen alltäglichen und geradezu typischen Fall des<br />
fehlenden Rechtsbindungswillens; letzterer wurde daher vom BGH<br />
mit Recht verneint 5 : Es gehört zur ganz natürlichen sozialen Entwicklung<br />
eines Kindes, dass es mit Kindern aus der Nachbarschaft<br />
spielt, dass es sich zu diesem Zweck in fremden Wohnungen aufhält<br />
und dort von den Eltern des „Gastgeberkindes“ beaufsichtigt wird.<br />
Wenn die Eltern des „Gastgeberkindes“ – im Fall 4: M und F – in dieser<br />
Weise Aufsicht führen, leisten sie einen Beitrag zu jener sozialen<br />
Entwicklung sowohl des eigenen Kindes als auch fremder Kinder, die<br />
bei ihnen zu Gast sind, tun dies aber nicht mit dem Willen, sich vertraglich<br />
zu derartigen Betreuungsleistungen zu verpflichten. Das bedeutet<br />
zum einen, dass N und G von M und F keinen Schadensersatz<br />
aus § 280 I BGB wegen Pflichtverletzung aus einem Schuldverhältnis<br />
verlangen können. Denn an einem solchen fehlt es; es ist insbesondere<br />
auch nicht durch Vertrag zustande gekommen. M und F müssen<br />
sich insbesondere nicht das Fehlverhalten ihrer Haushalthilfe nach §<br />
278 BGB zurechnen lassen; denn es fehlt an einem Schuldverhältnis<br />
zwischen M und F einerseits und N und G andererseits. Zum anderen<br />
würden M und F für Schäden, die T Dritten zufügt, auch nicht<br />
aus § 832 II BGB haften; denn sie haben die Beaufsichtigung der T<br />
nicht „durch Vertrag“ übernommen. Die Ablehnung eines Rechtsbindungswillens<br />
ist abermals der objektiven Interessenlage geschuldet.<br />
Erneut haben wir es nicht mit einer Situation zu tun, in der sich<br />
die Parteien über die rechtliche Erheblichkeit ihres Verhaltens im<br />
Unklaren befunden hätten. Vielmehr ging es – wie auch schon in den<br />
Fällen 2 und 3 – um die logisch vorgelagerte Frage, ob das Verhalten<br />
der Parteien überhaupt rechtlich erheblich war, ob es sich mithin bei<br />
4 BGH NJW 1995, 3389.<br />
5 BGH NJW 1968, 1874 f.<br />
verständiger Auslegung um Erklärungen handelte, die auf die Herbeiführung<br />
von Rechtsfolgen gerichtet waren.<br />
Auch im Fall 5 hat der BGH es zutreffend abgelehnt, in die Überlegungen,<br />
die M und F vor dem Eintritt in die körperliche Intimität<br />
zum Thema Empfängnisverhütung angestellt hatten, einen Willen<br />
zur rechtlichen Bindung hineinzudeuten 6 : Zwar kann nicht geleugnet<br />
werden, dass M sich gegen mögliche zukünftige Unterhaltspflichten<br />
absichern wollte. Aber er konnte in der gegebenen Situation – wenn<br />
man so will: in the heat of the night – von F nicht ernstlich die Abgabe<br />
von Erklärungen erwarten, die geeignet gewesen wären, eine solche<br />
Sicherheit rechtsgewiss zu verbürgen. Diese Erwägungen bewegen<br />
sich ein weiteres Mal auf der Ebene des objektiven Erklärungstatbestandes:<br />
M und F haben genau gewusst, was sie verabredet hatten;<br />
die Frage lautete nur, ob diese Verabredung nach §§ 133, 157 BGB als<br />
Ausdruck des Willens gedeutet werden konnte, eine rechtliche Bindung<br />
herbeizuführen.<br />
C. ZUSAMMENFASSUNG:<br />
Die vorstehenden Überlegungen haben deutlich gemacht, dass die<br />
Begriffe „Erklärungsbewusstsein“ und „Rechtsbindungswille“ für<br />
zwei gänzlich unterschiedliche Problemlagen stehen:<br />
I.<br />
Beim Erklärungsbewusstsein legt jemand ein Verhalten an den Tag,<br />
das – legt man die Maßstäbe der §§ 133, 157 BGB an – objektiv ohne<br />
weiteres als Willenserklärung gedeutet werden kann. Das Tatbestandselement<br />
der „Erklärung“ liegt in den einschlägigen Fällen also<br />
unproblematisch vor. Die Schwierigkeiten liegen allein beim Tatbestandselement<br />
des „Willens“: Der Erklärende weiß nicht, dass sein<br />
Verhalten überhaupt als Ausdruck eines rechtlichen Bindungswillens<br />
gedeutet werden kann.<br />
II.<br />
Beim Rechtsbindungswillen stellt sich demgegenüber eine logisch<br />
vorgelagerte Frage, nämlich die, ob das Verhalten der Beteiligten<br />
überhaupt objektiv aus Ausdruck eines rechtlichen Bindungswillens<br />
gedeutet werden kann 7 . Entweder ist das zu bejahen – dann liegt das<br />
Tatbestandselement der „Erklärung“ vor, und die Feststellung des<br />
„Willens“ bereitet keine Schwierigkeiten, weil die Beteiligten den Inhalt<br />
ihrer Absprache kennen und sich daher auch über deren rechtliche<br />
Bedeutung im Klaren sind. Oder es ist zu verneinen – dann<br />
fehlt es schon am Tatbestandselement der „Erklärung“, weil die Absprache<br />
objektiv eine Gestalt angenommen hat, welche die Annahme<br />
rechtfertigt, dass die Beteiligten sich auf rechtlich nicht erheblichem<br />
Terrain bewegen wollten.<br />
Verkürzt mag man es so formulieren: „Fehlender Rechtsbindungswille“<br />
meint Fälle, in denen eine Erklärung schon objektiv nicht als<br />
rechtserheblich gedeutet werden kann; „fehlendes Erklärungsbewusstsein“<br />
meint Fälle, in denen die Erklärung objektiv rechtserheblich<br />
ist und der Erklärende dies aber nicht gewusst hat. Konsequent<br />
führt das Fehlen eines Erklärungsbewusstseins nicht zwingend zur<br />
Annahme eines reinen Gefälligkeitsverhältnisses 8 ; wäre es anders,<br />
so wäre die gesamte Diskussion um die Frage, ob das Erklärungsbewusstsein<br />
zwingendes subjektives Tatbestandsmerkmal der Willenserklärung<br />
ist, bereits im Ansatz nicht verständlich.<br />
6 BGHZ 97, 372, 377 ff.<br />
7 So mit Recht auch Bork, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. 2006, Rn. 595.<br />
8 Ebenso Bork (Fn. 8), Rn. 595.<br />
42<br />
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Juristische Nachwuchsförderung e.V.<br />
Eine Mitgliedschaft im Verein „<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung“<br />
stellt den bequemen und regelmäßigen Bezug der Zeitschrift<br />
„<strong>Iurratio</strong> – Die Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen“<br />
nach Hause sicher. Darüber hinaus profitieren die Mitglieder von<br />
den Vorteilen unserer Förderer, wie beispielsweise der dreijährigen<br />
Profimitgliedschaft beim Online-Karteikarten-Programm<br />
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Mit einer Mitgliedschaft unterstützt jedes Mitglied nachhaltig den oben beschriebenen<br />
Vereinszweck und das Projekt <strong>Iurratio</strong>. Darüber hinaus sorgt der<br />
Verein insbesondere durch die Übernahme der Druck- und Versandkosten für<br />
die Verbreitung der Zeitung unter den Mitgliedern und den juristischen Bibliotheken<br />
in Deutschland.<br />
Welche Ziele hat der Verein?<br />
Ziel des Vereins „<strong>Iurratio</strong> – juristische Nachwuchsförderung e.V.“ ist die Förderung<br />
des juristischen Nachwuchses, die Förderung der juristischen Ausbildung<br />
und der juris prudencia insgesamt. Außerdem soll die Kommunikation über<br />
Recht durch ideelle und materielle Unterstützung des bundesweiten juristischen<br />
Nachwuchsprojektes <strong>Iurratio</strong> sicher gestellt werden.<br />
Wie hoch ist der Mitgliedsbeitrag?<br />
Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt für Fördermitglieder als natürliche Person<br />
25,- Euro und als juristische Person 200,- Euro. Studierende zahlen bei Vorlage<br />
eines entsprechenden Nachweises nur 10,- Euro, wissenschaftliche Mitarbeiter<br />
nur 12,- Euro per annum. Sowohl Satzung als auch Beitragsordnung können in<br />
unserer Geschäftsstelle unter verein@iurratio.de angefordert werden.<br />
AUFNAHMEANTRAG IURRATIO – JURISTISCHE NACHWUCHSFÖRDERUNG E.V.<br />
Hiermit trete ich dem Verein „<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V.“ als Fördermitglied bei, als<br />
SchülerIn, StudentIn, ReferendarIn (ermäßigter Jahresbeitrag 10 €, entsprechende Nachweise sind dem Vorstand jährlich vorzulegen)<br />
Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in / Referandar/in (Jahresmitgliedsbeitrag 12 €)<br />
Natürliche Person (Jahresmitgliedsbeitrag 25 €)<br />
Juristische Person (Jahresmitgliedsbeitrag 200 €)<br />
Hiermit ermächtige ich den Verein „<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V.“ bis auf Wiederruf den oben angegebenen Beitrag von meinem Konto einzuziehen.<br />
Der Mitgliedsbeitrag wird bei Eintritt in den Verein unverzüglich, danach gemäß Beitragsordnung jeweils zum Anfang eines Kalenderjahres fällig. Die aktuelle<br />
Satzung und Beitragsordnung habe ich zur Kenntnis genommen.<br />
Firma/Titel/Frau/Herr:<br />
Straße:<br />
Name, Vorname:<br />
PLZ / Ort:<br />
Geburtsdatum:<br />
E-Mail:<br />
Beitrittsdatum:<br />
Telefon:<br />
Kontonummer:<br />
Bankleitzahl:<br />
Kreditinstitut:<br />
Kontoinhaber (falls abweichend):<br />
Ort, Datum:<br />
Unterschrift:<br />
Das ausgefüllte Formular senden Sie bitte postalisch an <strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V., Salzweg 62, 48431 Rheine oder per Fax an 05971 - 55922.<br />
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