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Erstsemester-Ausgabe - Iurratio

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Juristische Nachwuchsförderung e.V.<br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong><br />

Klausuren/Hausarbeiten, Technik und Tipps<br />

Vivien Eckhoff<br />

Wer will was von wem woraus?<br />

Jens-Peter Thiemann<br />

Was erwartet mich eigentlich im Strafrecht?<br />

Alexander Otto<br />

Wie funktioniert die Bundesrepublik?<br />

Hanna Furlkröger<br />

Erklärungsbewusstsein und Rechtsbindungswille<br />

Martin Schwab<br />

Wissenschaftlicher Beirat:<br />

Prof. Dr. Michael Kotulla<br />

Prof. Dr. Heribert Prantl<br />

Prof. Dr. Lena Rudkowski<br />

Prof. Martin Schwab<br />

ISSN 1867-660X<br />

Sonderausgabe 2011 | WWW.IURRATIO.DE<br />

Exklusiv-Partner dieser <strong>Ausgabe</strong>:


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

MANCHMAL FÄLLT DIE AUSWAHL SCHWER.<br />

DIE ENTSCHEIDUNG FÜR WHITE & CASE WAR EINFACH.<br />

Dr. Florian Kleinschmit, Associate bei White & Case<br />

„Mit White & Case habe ich die richtige Wahl getroffen. Das engagierte Team und unser globales Geschäft<br />

im Schnittfeld von Recht und Wirtschaft überzeugen mich jeden Tag: So konnten wir vor kurzem den Verkauf<br />

einer Fluggesellschaft erfolgreich begleiten. Jetzt verhandeln wir mit internationalen Investoren die Übernahme<br />

eines großen Industrieunternehmens.“<br />

White & Case ist eine der führenden internationalen Anwaltssozietäten. Wir beraten unsere Mandanten an<br />

38 Standorten in 26 Ländern weltweit. In Deutschland gehören wir zu den Top-10-Wirtschaftskanzleien – mit<br />

einem Führungsanspruch in vielen Rechtsgebieten. Basis unseres Erfolgs ist eine lebendige Kultur, die Leistung<br />

und Teamgeist verbindet. Die Förderung unserer Mitarbeiter steht bei uns im Mittelpunkt. Wir bieten vielfältige<br />

Möglichkeiten, das Talent und die Karriere unserer Mitarbeiter weiterzuentwickeln.<br />

Entscheiden auch Sie sich jetzt für uns. Weitere Informationen erhalten Sie unter:<br />

www.whitecase.com/careers/europe/germany<br />

Neu im App Store:<br />

Die White & Case Karriere-App für unterwegs.<br />

Unsere Standorte in Deutschland: Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, München<br />

2<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Liebe <strong>Erstsemester</strong>,<br />

liebe Leserinnen und Leser,<br />

volle Ziele im Sinne der juristischen Nachwuchsförderung gesetzt.<br />

So gehört es zu unseren Vereinsleistungen, dass alle Mitglieder die<br />

„<strong>Iurratio</strong> – Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen“ kostenlos<br />

nach Hause geschickt bekommen. In Planung für die nächsten Jahre<br />

sind die Einrichtung von Stipendien und die Organisation von Veranstaltungen,<br />

bei denen Studierende ihr Netzwerk erweitern und<br />

potentielle Arbeitgeber kennenlernen können. Schon jetzt können<br />

Mitglieder darüber hinaus bei Förderern unseres Vereins Rabatte<br />

für Leistungen und Produkte erhalten – wie beispielsweise bei dem<br />

Online-Karteikartenprogramm CoboCards.<br />

Für diejenigen unter Euch, die an einer Mitgliedschaft interessiert<br />

sind, haben wir in dieser <strong>Ausgabe</strong> auch unser Mitgliedschaftsantragsformular<br />

abgedruckt – Studierende zahlen gerade mal 10 Euro<br />

für ein Kalenderjahr Mitgliedschaft.<br />

Wir wünschen Euch, dass auch dank unserer Unterstützung der Weg<br />

durch das Studium nicht so lang und beschwerlich wird, wie es beim<br />

ersten Anblick der Wegstrecke bis zum Ziel eines erfolgreichen<br />

Staatsexamens erscheinen mag.<br />

Herzliche Grüße<br />

Sabrina Mokulys<br />

Vorsitzende <strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V.<br />

P.S.: Mehr Informationen über unseren Verein findet Ihr unter:<br />

www.iurratio.de/verein<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

stellvertretend für unseren Verein „<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung<br />

e.V.“ möchte ich Euch im Kreise der Jura-Studierenden<br />

herzlich willkommen heißen.<br />

Der Einstieg in das Studium ist sicherlich der Beginn eines neuen Kapitels<br />

im Laufe des Lebens eines Menschen. Er bedeutet häufig eine<br />

gravierende Umstellung des Alltags, verbunden mit z.B. dem Umzug<br />

in eine andere Stadt, der ersten eigenen Wohnung, dem Erledigen<br />

von Bürokratie sowie selbstverständlich und nicht zuletzt dem Verschaffen<br />

eines Überblicks über das neue Studienfach.<br />

Unser Verein hat sich insbesondere die juristische Nachwuchsförderung<br />

zur Aufgabe gemacht. Daher möchten wir Euch im letztgenannten<br />

Punkt unter die Arme greifen, und haben die Redaktion der<br />

„<strong>Iurratio</strong> – Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen“ gebeten, für<br />

Euch eine <strong>Erstsemester</strong>-Sonderausgabe als erste Orientierungshilfe<br />

zusammen zu stellen.<br />

Vielleicht überrascht es Euch, zu lesen, dass damit auch für uns ein<br />

neues Kapitel beginnt: Denn unser Verein wurde erst in diesem Jahr<br />

gegründet. Die vor Euch liegende „<strong>Iurratio</strong> - Sonderausgabe für <strong>Erstsemester</strong>“<br />

ist gewissermaßen die erste Maßnahme unseres Vereins.<br />

Die enthaltenen Inhalte bieten viele nützliche Informationen für das<br />

vor Euch liegende Studium.<br />

Aber auch während Eures Studiums wird unser Verein „<strong>Iurratio</strong> –<br />

Juristische Nachwuchsförderung e.V.“ ein treuer Begleiter sein und<br />

Euch zeigen, dass der Weg oftmals auch das Ziel sein kann. Denn<br />

Jura macht Spaß, entgegen aller Vorurteile!<br />

Darum haben wir uns neben der regelmäßigen Veröffentlichung<br />

einer Sonderausgabe für Studienanfänger auch weitere anspruchsdiese<br />

Sonderausgabe haben wir ganz speziell nur für Sie zusammengestellt,<br />

um Ihnen in den ersten Tagen Ihres Studiums eine kleine<br />

Orientierung zu geben. Auf den nächsten Seiten werden Sie erfahren,<br />

was Sie in den kommenden Monaten in den drei Kerngebieten des<br />

Rechts erwartet. Zudem hat meine Kollegin Eckhoff Ihnen wertvolle<br />

Hinweise zum Bearbeiten von Klausuren und Hausarbeiten zusammengestellt<br />

– ein Thema, das Sie die gesamte juristische Ausbildung<br />

hindurch begleiten wird. Wie diese Methodik dann auf den konkreten<br />

Lebenssachverhalt angewendet wird, können Sie an einigen<br />

Anfänger-Klausuren zu den für Sie relevanten Themen der ersten<br />

Semester nachvollziehen.<br />

Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen die einleitenden Worte<br />

unseres geschätzten Beirats-Mitglieds Prof. Dr. Martin Schwab. Er<br />

gibt Ihnen wirklich einige wichtige Hinweise für den Start in Ihre<br />

juristische Berufsausbildung, die Sie sich unbedingt zu Herzen nehmen<br />

sollten.<br />

Neben dieser <strong>Ausgabe</strong> veröffentlichen wir derzeit vierteljährlich eine<br />

kostenlose Ausbildungszeitschrift für Jurastudierende und junge Juristen.<br />

Neben aktuellen Titelthemen finden Sie darin wegweisende<br />

Ausbildungsaufsätze zu wichtigen Themen des juristischen Studiums<br />

und Vorbereitungsdienstes (auch Referendariat genannt). In jeder<br />

<strong>Ausgabe</strong> publizieren wir zudem Beiträge, die für das Schwerpunktstudium<br />

von Interesse sind. Auch finden Sie im Heft stets Fallbearbeitungen,<br />

mit denen Sie sich hervorragend auf Ihre Klausuren<br />

vorbereiten können. Meine Kollegen stellen Ihnen darüber hinaus<br />

lesenswerte Beiträge zu zentralen Themen in Studium und späterer<br />

Berufspraxis zusammen. Aufgelockert wird alles durch unsere Rubrik<br />

lawlifestyle mit spannenden, mitunter amüsanten Beiträgen zu<br />

law, life und style – der Name ist Programm.<br />

Ganz neu: Seit kurzem stellen wir Ihnen mit jeder <strong>Ausgabe</strong> auf acht<br />

Karteikarten neue Rechtsprechung und Rechtsprechungs-Klassiker<br />

zusammen. Damit und mit unserer Übersicht zu aktuelle, ausbildungsrelevanten<br />

Entscheidungen sind Sie immer „up to date“.<br />

Wer sind wir eigentlich? Wir sind ein ehrenamtlich tätiges Team von<br />

etwa 100 Studierenden, Doktoranden, Referendaren, Wissenschaftlichen<br />

Mitarbeitern, Berufsträgern und Professoren. Dabei suchen wir<br />

stets weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – v.a. Jurastudierende<br />

aus den ersten Semestern. Dabei sollten Sie keine Berührungsängste<br />

haben. Auch <strong>Erstsemester</strong> sind bei uns sehr willkommen und können<br />

sich stets in unserem Team dem jeweiligen Ausbildungsstand<br />

entsprechend verändern. Sollten Sie Interesse an einer Mitarbeit<br />

haben, schauen Sie doch mal unter www.iurratio.de/mitarbeit vorbei<br />

und nehmen Sie Kontakt zu uns auf. Wir freuen uns auf Sie!<br />

Für Ihr Studium wünsche ich vor allem viel Freude, viel Erfolg und<br />

das „nötige Glück“.<br />

Ihr<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

3


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

SCHWAB Begrüßung 6<br />

ECKHOFF Klausuren/Hausarbeiten, Technik und Tipps 8<br />

THIEMANN Wer will was von wem woraus? –<br />

„BGB AT“ die Basis des Zivilrechts 12<br />

OTTO Was erwartet mich eigentlich im Strafrecht? 15<br />

ECKHOFF<br />

Was sind eigentlich Grundrechte?<br />

Und wie gehe ich damit um? 18<br />

FURLKRÖGER Wie funktioniert die Bundesrepublik? 21<br />

Impressum Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Herausgeber: Jens-Peter Thiemann (V.i.S.d.P.)<br />

herausgeber@iurratio.de<br />

<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V., vertreten durch den Vorstand: Sabrina<br />

Mokulys (Vorsitzende), Judith Simon (stellv. Vorsitzende), Georg Dietlein (stellv.<br />

Vorsitzender)<br />

Chefredaktion: Alexander Otto, Vivien Eckhoff (Stellvertreterin),<br />

Hanna Furlkröger (2. Stellvertreterin)<br />

chefredaktion@iurratio.de<br />

Redaktion:<br />

Ressort Fallbearbeitungen (fallbearbeitung@iurratio.de) Hanna Furlkröger (Ltg.),<br />

Tamina Preuß, Larissa Bechthold<br />

Schreibpool Florian Waldhorst<br />

Unsere Ansprechpartner an den Standorten erreichen Sie unter unistadtname@iurratio.de,<br />

also z.B. die Standortleiterin in Bremen unter unibremen@iurratio.de.<br />

Wissenschaftlicher Beirat:<br />

Prof. Dr. Michael Kotulla (Universität Bielefeld),<br />

Prof. Dr. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung/Universität Bielefeld),<br />

Prof. Dr. Lena Rudkowski (Freie Universität Berlin)<br />

Prof. Martin Schwab (Freie Universität Berlin)<br />

Ausschluss: Namentlich gekennzeichnete Beiträge repräsentieren nicht unbedingt die<br />

Meinung der Redaktion.<br />

Lektorat: Annica Klemme, Susanne Bettendorf, Hanna Caesar<br />

Layout & Satz: Anja Krohn, Hamburg, layout@iurratio.de<br />

<strong>Iurratio</strong>-Logo: Tobias Kunkel<br />

Anzeigenabteilung: Sabrina Mokulys (Ltg.), Niels Grotjohann, Valentina Leis, Merissa<br />

Gabor, Kim-Aniko Naujok, Eva Mast, Björn Wittenstein, Lea Benning, Jenny Ryszka,<br />

Marlene Alker, Daniel Frey, anzeigen@iurratio.de<br />

Logistik: Xinia Bitterlich, Lars Buchtmann, Niels Grotjohann (Ltg.), Vanessa Faber<br />

logistik@iurratio.de<br />

Postanschrift: <strong>Iurratio</strong>, Röckumstraße 63, 53121 Bonn<br />

Redaktionsanschrift: Postfach 1540, 26645 Westerstede<br />

Auflage: 10.000 Exemplare<br />

Druck: Gutverlag, 48477 Hörstel, www.gutverlag.com<br />

Urheber- und Verlagsrechte Alle in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich<br />

geschützt. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen<br />

Einrichtungen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />

ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert werden.<br />

Autorenhinweise: Ausführliche Autorenhinweise finden Sie auf unserer Homepage<br />

www.iurratio.de<br />

Fallbearbeitung<br />

BALZER/<br />

KINDLER Anfänger im Zivilrecht: „Fit in den Sommer“ 24<br />

SOTIRIADIS Anfänger im Strafrecht: „Weltuntergangssekte“ 30<br />

FRANCK Anfänger im Straforganisationsrecht:<br />

„Operation Display Deterrence“ 33<br />

DURU<br />

Anfängerklausur Grundrechte:<br />

„Horrido und Waidmannsheil“ 36<br />

SCHWAB Erklärungsbewusstsein und Rechtsbindungswille:<br />

Zwei Begriffe mit gänzlich verschiedener Bedeutung! 41<br />

Lawlife Style 28/29<br />

Empfehlungen für die Muppet Show –<br />

„nicht nachahmenswert, aber auch nicht rechtswidrig“<br />

Lustiges und Kurioses aus der Rechtsprechung<br />

„Jura vom „Hören-Sagen“<br />

„Die Gretchen-Frage des Studienanfängers“ – Welches Gesetz?<br />

4<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

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Gesundheitsprüfung erhöht werden, damit passt sich der Versicherungsschutz<br />

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<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

5


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Liebe Studentinnen und<br />

Studenten im ersten Fachsemester Jura<br />

M it1 diesem Grußwort heiße ich Sie herzlich<br />

willkommen im Studium der Rechtswissenschaft.<br />

Sie haben sich für ein spannendes und lebendiges<br />

Studienfach entschieden. Über das Vorurteil,<br />

das Jurastudium sei „trocken“, werden Sie<br />

bald nur noch milde lächeln können. Sie werden<br />

nämlich in den nächsten Jahren existentiellen Fragen<br />

des menschlichen Zusammenlebens auf den<br />

Grund gehen: Wie funktioniert unser Gemeinwesen?<br />

An welche Regeln muß ich mich halten und<br />

wo darf ich meine Freiheiten in Anspruch nehmen?<br />

Was muß ich mir gefallen lassen und was<br />

Martin Schwab 1<br />

nicht – sei es von den Behörden, sei es von meinen Mitbürgerinnen<br />

und Mitbürgern? Was passiert, wenn ich rechtliche Grenzen überschreite?<br />

Sie werden lernen, wie man die Lösung von Konfliktfällen<br />

aus dem Gesetz ableitet, und ganz nebenbei und ganz automatisch<br />

werden Sie Kompetenzen erwerben, die Sie später, egal wohin die<br />

Flügel des Berufslebens Sie tragen, immer werden brauchen können:<br />

Sie werden lernen, schlüssig zu argumentieren und sich sprachlich<br />

präzise auszudrücken.<br />

Kurzum: Mit Ihrer Entscheidung für das Jurastudium haben Sie eine<br />

gute Wahl getroffen. Ich möchte aber nicht verhehlen, dass man Sie<br />

auch mit ungemütlichen Begleittönen konfrontieren wird. Da nämlich<br />

in einer juristischen Prüfung kein auswendig gelerntes Wissen<br />

abgefragt wird, sondern die Lösung von Fällen und damit eine reine<br />

Transferleistung, ist die Notengebung in unserem Fach recht streng:<br />

Wer 12 von 18 möglichen Punkten erzielt hat, darf sich schon zu den<br />

Besten zählen. Gerade diese strenge Notengebung bringt es mit sich,<br />

dass unter den Jurastudierenden verbreitet der Geist der Panikmache<br />

wabert. Potentielle künftige Arbeitgeber zeichnen ein Schreckbild<br />

von schier unerfüllbaren Anforderungen an ihre künftigen Bewerber/innen;<br />

kommerzielle Repetitoren (das sind Einrichtungen, in<br />

denen für viel Geld Nachhilfeunterricht für die Examensvorbereitung<br />

angeboten wird) machen ihr Geschäft mit der Examensangst<br />

der Studierenden, nicht zuletzt verunsichern sich die Studierenden<br />

gegenseitig.<br />

Mein ganz persönliches Ziel ist es, Sie mit den allfälligen Sorgen und<br />

Ungewissheiten nicht allein zu lassen – und vor allem möchte ich Sie<br />

ermuntern, sich von jenem Geist der Panikmache nicht anstecken zu<br />

lassen. Vieles von dem, was Sie vor allem von potentiellen Arbeitgebern<br />

und von kommerziellen Repetitoren hören, erschöpft sich in<br />

reiner Marktschreierei. Es gibt aber in der Tat ein paar Dinge, die Sie<br />

beachten sollten:<br />

ERSTENS:<br />

Sie sind noch von der Schule her gewöhnt, daß Sie eine bestimmte<br />

Stoffmenge für eine Prüfung lernen müssen und danach wieder<br />

vergessen können. An der Universität wird sich das ändern: Alles,<br />

was Sie vom ersten Tag an in den Vorlesungen hören, kann Ihnen<br />

in der staatlichen Pflichtfachprüfung am Ende des Studiums wie-<br />

1 Martin Schwab, Jahrgang 1967, studierte in Regensburg und Heidelberg Rechtswissenschaft und<br />

legte 1991 sein 1. Examen ab. Es folgte das Referendariat am Landgericht Heidelberg, das er 1994 mit<br />

dem 2. Examen abschloss. Er promovierte 1997, 2002 habilitierte er. Seit Oktober 2003 ist er Professor<br />

für Bürgerliches Recht, Verfahrens- und Insolvenzrecht an der Freien Universität Berlin.<br />

der begegnen. Ich möchte Sie daher dringend ermuntern, sich den<br />

Stoff der Vorlesungen ohne Rücksicht auf konkret bevorstehende<br />

Prüfungen zu erarbeiten. Bitte fangen Sie mit dem Lernen nicht<br />

erst in den letzten Wochen vor den Semesterabschlussklausuren<br />

an! Der Stoff wird nur dann dauerhaft in Ihrem Gedächtnis haften<br />

bleiben, wenn Sie ihn von Zeit zu Zeit wiederholen.<br />

ZWEITENS:<br />

Sie sind noch von der Schule her gewöhnt, daß in den Prüfungen<br />

niemals mehr abgefragt werden konnte, als im Unterricht behandelt<br />

wurde. Auch das wird sich ändern: Nur in seltenen Fällen<br />

kann in einer Vorlesung der gesamte Stoff behandelt werden, den<br />

Sie später in der staatlichen Pflichtfachprüfung wissen müssen.<br />

Die Vorlesung versteht sich vielmehr als Anregung, den Stoff selbständig<br />

zu vertiefen und sich auch mit rechtlichen Zweifelsfragen<br />

zu beschäftigen, die nicht im Unterricht behandelt wurden.<br />

DRITTENS:<br />

Sie sind noch von der Schule her gewöhnt, daß Prüfungstermine<br />

angekündigt wurden und Sie nur noch zu erscheinen brauchten.<br />

Das ist an der Universität keine Selbstverständlichkeit mehr: An<br />

vielen juristischen Fachbereichen müssen Sie sich selbstständig für<br />

die Prüfungen anmelden. Und für diese Anmeldung laufen Fristen,<br />

deren Versäumung zur Folge hat, daß Sie an den Prüfungen nicht<br />

teilnehmen können. Geben Sie sich hier bitte keine Blöße!<br />

VIERTENS:<br />

Im Studium der Rechtswissenschaft gibt es nicht die Kategorien<br />

„richtig“ oder „falsch“, sondern allenfalls die Kategorien „vertretbar“<br />

oder „nicht vertretbar“. Von Ihnen wird erwartet, daß Sie sich<br />

kritisch mit dem Stoff – und dabei durchaus auch kritisch mit den<br />

Positionen, die der/die Dozent/in im Hörsaal vertritt – auseinanderzusetzen.<br />

Haben Sie den Mut, sich Ihres eigenen Verstandes zu<br />

bedienen!<br />

Wenn Sie das aber alles beachten, werden Sie vieles von der nervlichen<br />

Anspannung, von denen vor allem Studierende in Examensnähe<br />

fortgesetzt berichten, für sich persönlich vermeiden können: Je<br />

früher Sie beginnen, kontinuierlich zu lernen, desto leichter wird Ihnen<br />

hinterher die Vorbereitung auf die Abschlußprüfungen – nämlich<br />

einerseits auf die universitäre Schwerpunktbereichsprüfung und<br />

andererseits auf die staatliche Pflichtfachprüfung – fallen. Ich selbst<br />

habe seinerzeit als Student recht frühzeitig damit begonnen, mich<br />

täglich und ohne den Anlass bevorstehender Klausuren mit dem<br />

Pflichtfachstoff zu beschäftigen, und konnte mir daher neun Tage vor<br />

der ersten Klausur im Staatsexamen den Luxus leisten, bis nachts um<br />

halb drei auf einem Fachbereichsfest mit meinem Keyboard aufzutreten,<br />

ohne die Sorge zu haben, dadurch mit meinem Lernpensum<br />

in Rückstand zu geraten. Je weniger Angst Sie haben, nicht genügend<br />

vorbereitet zu sein, desto selbstsicherer werden Sie die Prüfungen<br />

meistern. Und diese Selbstsicherheit werden Sie benötigen, um in<br />

den Prüfungen gut abzuschneiden.<br />

Einen gewichtigen Unterschied zu dem, was Sie noch von der Schule<br />

her kennen, möchte ich gesondert herausgreifen: Ihr Verhältnis zu<br />

6<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Ihren Professorinnen und Professoren. Waren Sie noch in der Schule<br />

mit ca. 30 – in den Leistungskursen z. T. noch mit deutlich weniger –<br />

Mitschülerinnen und Mitschülern im Klassenraum unterrichtet worden,<br />

so werden Sie sich im ersten Semester in einem prall gefüllten<br />

Hörsaal mit mehreren hundert Studierenden wiederfinden. An vielen<br />

juristischen Fachbereichen kommt ein Professor auf über 100 Studierende.<br />

Diese sog. Betreuungsrelation ist zugegebenermaßen schlecht.<br />

Dieser Zustand ist aber nicht auf ein Versagen der Universitäten zurückzuführen,<br />

sondern politisch gewollt, weil die Kapazitätenverordnung<br />

entsprechende rechnerische Vorgaben macht. Der Unterricht<br />

ist für Ihre Professoren/innen eine von mehreren Aufgaben: Als<br />

Hochschullehrer/in muß man außerdem (und, wenn man ernst genommen<br />

werden will, in erheblichem Umfang) Forschung betreiben<br />

und sich darüber hinaus noch in der akademischen Selbstverwaltung<br />

engagieren. Das bedeutet für Sie zweierlei: Zum einen müssen Sie es<br />

Ihren Professoren/innen nachsehen, wenn sie nicht zu jeder beliebigen<br />

Zeit ansprechbar sind und wenn sie nicht auf jede Frage, die<br />

Sie zu Ihrem Studium oder zum Stoff der Vorlesung haben, sofort<br />

antworten. Zum anderen aber müssen Sie es auch nicht hinnehmen,<br />

wenn ein/e Professor/in zur Schau trägt, daß ihm/ihr Ihr persönlicher<br />

Werdegang und Ihr Studienerfolg bedeutungslos sind: Wer an<br />

einer Universität lehrt, ist selbstverständlich auch Dienstleister und<br />

als solcher dazu aufgerufen, Sie in einem wichtigen Abschnitt Ihres<br />

Lebens engagiert zu begleiten. Sie brauchen nicht in der Anonymität<br />

eines Massenstudiengangs zu versinken. Sie dürfen und sollen das<br />

individuelle Gespräch mit Ihren Professoren/innen suchen!<br />

Überhaupt möchte ich Sie gerne ermuntern, aktiv an Ihrem Fachbereich<br />

mitzuarbeiten. Sie haben sich, anders als in der Schule, das<br />

Fach, das Sie studieren, selbst ausgesucht – Grund genug, sich nicht<br />

nur die nötigen Kenntnisse anzueignen, sondern sich auch in jener<br />

Institution zu engagieren, die Ihnen diese Kenntnisse vermitteln soll.<br />

Sie dürfen von Ihren Professoren/innen erwarten, dass sie ein Interesse<br />

an Ihnen um Ihrer selbst willen haben. Daß ein solches Interesse<br />

keinesfalls überall selbstverständlich ist, zeigt die folgende Passage,<br />

die ich jüngst in einem von drei Tübinger Kollegen verfassten Lehrbuch<br />

gelesen habe: „Die Lehre macht neben der Forschung nur einen<br />

geringen Teil des Aufgabenbereichs von Professoren und Assistenten<br />

aus. Für die Karriere als Wissenschaftler zählen didaktische Kenntnisse<br />

wenig. Kein Professor wird z. B. nach Tübingen berufen, weil<br />

er gute Vorlesungen hält.“ (Kühl/Reichold/Ronellenfitsch, Einführung<br />

in die Rechtswissenschaft, München 2011, S. 31). Aus diesen Zeilen<br />

– vor allem aus dem letzten Satz – spricht eine bemerkenswerte<br />

Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen der Studierenden. Wenn<br />

Sie das Gefühl haben, dass die Professoren/innen an der Fakultät, an<br />

der Sie das Studium aufgenommen haben, Ihnen mit einer solchen<br />

Haltung gegenübertreten, sollten Sie es dabei nicht bewenden lassen.<br />

An jedem Fachbereich gibt es organisierte Interessenvertretungen<br />

der Studierenden, die sog. Fachschaften. Diese werden sich um so<br />

erfolgreicher für bessere Studienbedingungen einsetzen, je breiter sie<br />

personell aufgestellt sind und je überzeugender das Mandat ist, das<br />

sie von den Studierenden erhalten haben; deshalb mein Aufruf an<br />

Sie: Gehen Sie unbedingt zu den Wahlen zur Fachschaft und zu den<br />

anderen akademischen Gremien, und stellen Sie sich, wenn es Ihre<br />

Zeit irgendwie zulässt, selbst für die Mitarbeit in diesen Gremien zur<br />

Verfügung!<br />

Vor Ihnen liegt ein spannender und bedeutsamer Lebensabschnitt.<br />

Sie werden eintauchen in eine große unbekannte Welt. Dies bedeutet<br />

aber nicht, daß Sie in dieser Welt untergehen müssen. Im Studium<br />

der Rechtswissenschaft darf man keine schnellen Erfolge erwarten.<br />

Es wird eine Zeitlang dauern, bis Sie hinter dem komplexen Gemenge<br />

von Vorschriften gedankliche Zusammenhänge erkennen. Sie<br />

dürfen und müssen also ein wenig Geduld mit sich haben. Ich wünsche<br />

Ihnen für Ihr Studium viel Erfolg und später für Ihren Beruf jenes<br />

Verantwortungsbewusstsein, das Sie benötigen werden, um den<br />

Menschen gerecht zu werden, deren Schicksal Ihnen anvertraut ist.<br />

Ihnen allen einen guten Start!<br />

Prof. Dr. Martin Schwab<br />

Wir danken den Sponsoren dieser <strong>Erstsemester</strong>-Sonderausgabe:<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

7


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Klausuren/Hausarbeiten, Technik und Tipps: 1<br />

von stv. Chefredakteurin Vivien Eckhoff (Braunschweig)<br />

1 Dieser Beitrag ist meiner Hausarbeit bei Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität Bremen, mit dem Titel „Justizsyllogismus und Subsumtion“ entsprungen. Danken möchte ich Herrn Wissenschaftlichen<br />

Mitarbeiter Alexander Otto, ebenfalls Universität Bremen, der aus seinen Tätigkeiten als Korrekturassistent einige Hinweise geben konnte.<br />

A. ALLGEMEINES 1<br />

Die Bearbeitung von juristischen Sachverhalten während des Studiums<br />

erfordert Genauigkeit und Disziplin. Dabei ist es gerade bei<br />

komplexeren Sachverhalten oder Hausarbeiten wichtig, eine übersichtliche<br />

Struktur und Gliederung zu finden. Dies hat mehrere<br />

Funktionen: Zum einen kann man damit komplexe Sachverhalte<br />

„aufhellen“ und sich vor dem eigenen Auge besser verdeutlichen.<br />

Zum anderen sollte es auch dazu führen, wichtige Einzelheiten<br />

nicht zu übersehen. Zuletzt kann es von Vorteil sein dem Korrekturassistenten<br />

mit einer systematischen Gliederung die Korrektur zu<br />

erleichtern. Eine Gliederung sollte deshalb sowohl in Klausuren, als<br />

auch in Hausarbeiten vorgenommen werden, wobei in Hausarbeiten<br />

noch deutlicher auf die Feingliedrigkeit geachtet werden sollte.<br />

In Klausuren führt eine Gliederung zu Übersichtlichkeit. An dieser<br />

Gliederung können die oftmals mit nur sehr wenig Zeit ausgestatteten<br />

Korrekturassistenten erkennen, ob wichtige Kernprobleme<br />

angesprochen werden. Zudem sind übersichtliche Klausuren und<br />

Hausarbeiten besser zu lesen, was den Korrektor gegenüber der<br />

Arbeit freundlicher stimmen wird (dieser Punkt sollte nicht unterschätzt<br />

werden!). Zudem hilft eine Gliederung jedem Prüfling bei<br />

der Strukturierung eines Sachverhalts und vermittelt eine Agenda,<br />

die kontinuierlich abgearbeitet werden kann.<br />

Ebenso wichtig ist aber das Werkzeug zur Darstellung juristischer<br />

Sachverhalte und deren gutachterliche Betrachtung. Auf die Einhaltung<br />

des Gutachtenstils wird (gerade in den ersten Semestern) besonderer<br />

Wert gelegt.<br />

B. GUTACHTENSTIL<br />

Im juristischen Studium bestehen die Prüfungen überwiegend aus<br />

Fallklausuren und Fallhausarbeiten. Der Klausurtext enthält einen<br />

Lebenssachverhalt, der juristisch betrachtet werden muss. Diese<br />

Begutachtung stellt nicht einen formlosen „Besinnungsaufsatz“ dar,<br />

wie man ihn vielleicht noch aus der Schulzeit kennt, sondern erfolgt<br />

in einer bestimmten Form. Die juristische Fallbearbeitung wird in<br />

der Ausformulierung im sog. Gutachtenstil vorgenommen. Der Gutachtenstil<br />

ergibt sich aus dem juristischen Syllogismus. Der Begriff<br />

des Syllogismus stammt von dem griechischen Wort syllogismos ab,<br />

welches „Zusammenrechnen“ und/oder „logischer Schluss“ bedeutet.<br />

Er ist also Bestandteil von Argumentation und dem daraus folgendem<br />

Ergebnis. Der Syllogismus ist der Kerngedanke der Lehre<br />

von der Folgerichtigkeit, sog. Logik 2 und wird auch das Schlussverfahren<br />

genannt. 3 Das Denkschema des Syllogismus stellt die Schlussfolgerung<br />

aus zwei Prämissen auf einen Schlusssatz, also auf eine<br />

Konklusion dar. 4 Mit dem Syllogismus kann man logisch beweisen,<br />

dass eine ganz bestimmte Ableitung aus dem Gesetz zu einem ganz<br />

bestimmten Ergebnis führen muss, wenn die Zwischenschritte jeweils<br />

richtig gebildet worden sind.<br />

Der aus dem juristischen Syllogismus abgeleitete Gutachtenstil<br />

1 Dieser Beitrag ist meiner Hausarbeit bei Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität Bremen, mit<br />

dem Titel „Justizsyllogismus und Subsumtion“ entsprungen. Danken möchte ich Chefredakteur Alexander<br />

Otto, der aus seinen Tätigkeiten als Korrekturassistent einige Hinweise geben konnte.<br />

2 Schwintowski, Juristische Methodenlehre, S. 61.<br />

3 Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, S. 15, §4.<br />

4 Joerden, Logik im Recht, S. 311.<br />

(auch: 4-Schritt-Methode) besteht, wie der Name es bereits sagt, aus<br />

vier Schritten, die immer „gegangen“ werden müssen.<br />

I. OBERSATZ<br />

I. OBERSATZ<br />

II. DEFINITION<br />

III. SUBSUMTION<br />

IV. KONKLUSION/ERGEBNIS<br />

Der Obersatz bildet gemeinsam mit der Konklusion den Rahmen<br />

eines jeden Gutachtens und eines jeden Prüfungspunktes.<br />

Der Obersatz wirft eine Frage auf, die dann mittels der anderen<br />

Schritte (2 + 3) geklärt und im Rahmen der Konklusion beantwortet<br />

wird. Die Fragestellung wird nicht direkt getätigt, sondern in der<br />

Form des Konjunktivs.<br />

Der Obersatz wird nicht nur für das gesamte Gutachten geschrieben,<br />

sondern für jeden einzelnen Prüfungspunkt.<br />

Bsp.: “A könnte sich gemäß § 240 StGB wegen Nötigung strafbar gemacht<br />

haben, indem er an einer Sitzblockade auf einer Bundesstraße<br />

teilgenommen hat und so den Autofahrern die Weiterfahrt verwehrte.“<br />

→ So könnte der Obersatz für ein Gutachten lauten, indem geprüft<br />

werden soll, ob sich der A wegen (nicht: einer !) Nötigung nach § 240<br />

StGB strafbar gemacht hat.<br />

Bei der Begutachtung eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts ist<br />

es immer erforderlich, die für die Strafbarkeit relevante Tathandlung<br />

im Obersatz kurz darzustellen (..., indem...). Die „indem“-Formulierung<br />

ist eine gängige Formulierung, die es ermöglicht, kurz und<br />

prägnant das Wichtigste in einem Satz unterzubringen.<br />

Beispiel:<br />

„Fraglich ist, ob der B den C an der Gesundheit geschädigt hat.“<br />

→ So würde ein Obersatz für einen einzelnen Prüfungspunkt aussehen.<br />

Hier würde man prüfen, ob das objektive Tatbestandsmerkmal<br />

der Gesundheitsschädigung aus dem Tatbestand des§ 223 I StGB<br />

vorliegt.<br />

Man sollte allerdings nicht jedes Mal denselben Satzanfang wählen.<br />

Das ist zu monoton und liest sich schlecht. Wer immer „Fraglich ist,<br />

...“ schreibt, hat unter Umständen Punktabzug wegen erheblicher stilistischer<br />

Mängel zu befürchten. Besser ist es zu variieren:<br />

• Weiter ist zu prüfen, ob...<br />

• Zu prüfen ist...<br />

• Der B müsste des Weiteren den C auch...<br />

• Eine weitere Voraussetzung ist, dass...<br />

Dies sind nur einige wenige Beispiele für verschiedene Formulierungsmöglichkeiten.<br />

Es gilt immer die aufzuwerfende Frage im Konjunktiv<br />

zu stellen, jedenfalls nicht in direkter Form. Ein Obersatz endet<br />

also niemals mit einem Fragezeichen. Einleitungen wie „Fraglich<br />

ist, ob…“ sollten auch nur dann zur Anwendung kommen, wenn der<br />

im Folgenden zu prüfende Kontext umstritten ist, es Abgrenzungs-<br />

8<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


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schwierigkeiten gibt oder berechtigte Zweifel am Vorliegen der zu<br />

prüfenden Voraussetzung bestehen, deren Vorliegen also tatsächlich<br />

„fraglich“ ist.<br />

II. DEFINITION<br />

Mittels Auslegung des Gesetzestextes wird dieser konkretisiert und<br />

genauer umschrieben. Es wird abstrakt vom Sachverhalt ermittelt,<br />

welchen Inhalts beispielsweise ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal<br />

ist, lediglich ein Rückgriff auf den Gesetzestext findet statt.<br />

Die Definitionen findet man in allen gängigen Kommentaren, in der<br />

Rechtsprechung oder in Lehrbüchern. Für die Klausur ist es von Vorteil<br />

die gängigsten Definitionen auswendig zu beherrschen, das spart<br />

Zeit und Nerven!<br />

Beispiel:<br />

„Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines<br />

wenn auch vorübergehenden pathologischen Zustands 5 .“<br />

→ So würde die Definition für das Tatbestandsmerkmal der Gesundheitsschädigung<br />

aus § 223 I StGB aussehen.<br />

Es gibt noch einen weiteren „Typ“ von Definitionen, die sog. Legaldefinitionen.<br />

Das sind Definitionen, die direkt im Gesetz zu finden<br />

sind. Teilweise sind sie daran zu erkennen, dass das Definierte in<br />

Klammern genannt wird.<br />

Beispiel:<br />

Unfallbeteiligter (§ 142 V StGB), Amtsträger (§ 11 I Nr. 2. StGB),<br />

Verbraucher (§ 13 BGB), Unternehmer (§14 BGB), Anspruch (§ 194<br />

BGB), Polizei (§ 2 Nr.1 BremPolG).<br />

→ Das sind nur einige wenige Beispiele von Legaldefinitionen. Diese<br />

kann und sollte man in seiner Bearbeitung verwenden und dabei<br />

auch den entsprechenden § benennen.<br />

In Hausarbeiten ist es erforderlich, Definitionen aus Rechtsprechung<br />

und Literatur zu belegen. Häufig lassen sich die Fundstellen für Definitionen<br />

in Kommentaren und Aufsätzen zu dem jeweiligen Thema<br />

finden.<br />

III. SUBSUMTION<br />

Als Subsumtion wird das „Einordnen eines Sachverhaltes unter eine<br />

Norm“ verstanden, welches auch als rechtliche Würdigung eines<br />

Umstandes beschrieben werden kann. Hinzu kommt die Vorstellung,<br />

dass der Sachverhalt die Merkmale des Gesetzes aufweist. 6 Es<br />

wird folglich mit Hilfe von Subsumtion eine Rechtsfolge für den konkreten<br />

Fall aus Rechtsnormen (auch aus Schrifttum und Gewohnheitsrecht)<br />

hergeleitet. 7<br />

Die Subsumtion ist der wichtigste Teil einer jeden Klausur und Hausarbeit.<br />

An dieser Stelle kann man die meisten Punkte sammeln, muss<br />

demzufolge aber genau und schlüssig argumentieren. Im Rahmen<br />

der Subsumtion wird der konkrete Sachverhalt unter die abstrakte<br />

Definition subsumiert. Man prüft also, ob die konkreten Abläufe, Zustände<br />

und Handlungen mit der Definition vergleichbar sind. Man<br />

argumentiert zum Beispiel, warum eine bestimmte Handlung gerade<br />

die Anforderungen der Definition erfüllt oder gerade nicht erfüllt.<br />

5 Fischer, StGB Kommentar, § 223, Rn. 6.<br />

6 Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, S. 15, § 4.<br />

7 Rothfuß, Logik und Wertung bei der Subsumtion, S. 1.<br />

Beispiel:<br />

(Sachverhalt in Kurzform: Nach dem Besuch in seiner Stammkneipe<br />

will A mit seinem Fahrrad nach Hause fahren. Er glaubt, dass er trotz<br />

Genusses einiger Weißbiere noch in der Lage ist, sicher nach Hause zu<br />

kommen. Er wird auf dem Weg wegen eines defekten Rücklichts von<br />

der Polizei angehalten.) „Fraglich ist, ob A ein Fahrzeug geführt hat<br />

(Obersatz). Ein Fahrzeug wird geführt, wenn der Fahrer das Fahrzeug<br />

selbst oder zusammen mit einem Anderen in Bewegung setzt oder in<br />

Bewegung hält. Von § 315c StGB werden nicht nur Kraftfahrzeuge<br />

gemäß § 1 II StVG, sondern auch andere Fahrzeuge ohne Motorkraft<br />

erfasst (Definition).“<br />

„A will nach dem Kneipenbesuch nach Hause fahren und benutzt dazu<br />

sein Fahrrad. Kennzeichnend für ein Fahrrad ist gerade, dass es vom<br />

Fahrer selbst, durch Treten der Pedale in Bewegung gebracht und gehalten<br />

wird. Deshalb fällt das Fahrrad trotz mangelnder Motorkraft unter<br />

den Fahrzeugbegriff des § 315c StGB.“ (Subsumtion)<br />

Der Umfang einer Subsumtion kann unterschiedlich ausfallen. Decken<br />

Definition und Sachverhalt sich eindeutig, unmissverständlich<br />

und ohne erkennbare Probleme, sollte die Subsumtion eher kurz ausfallen<br />

und nicht unnötig problematisiert werden.<br />

Sind Sachverhalt und Definition im Verhältnis zueinander aber eher<br />

problematisch, so muss das Problem mit der Subsumtion in gegebenem<br />

Umfang gelöst werden. Das erfordert häufig eine Darstellung<br />

von Meinungsstreiten. Wenn ein Problem dies erfordert, muss eine<br />

kurze Darstellung des Meinungsstandes auch in einer Klausur erfolgen.<br />

In Hausarbeiten ist die Aufarbeitung von Meinungsstreiten die<br />

Kernarbeit.<br />

Herrschen zu einem zivilrechtlichen oder sonstigen juristischen Problem<br />

verschiedene Meinungen, so sind sie in einer Hausarbeit gegenüberzustellen:<br />

Man stellt zunächst die Auffassung dar, subsumiert<br />

den Sachverhalt unter die entsprechende Meinung und kommt dann<br />

zu einem Zwischenergebnis. Diesen Vorgang wiederholt man dann<br />

für alle darzustellenden Meinungen. Kommen alle Auffassungen<br />

zum gleichen Ergebnis, so ist eine Stellungnahme nicht erforderlich<br />

und sollte nicht erfolgen. Bei verschiedenartigen Ergebnissen muss<br />

man alle Argumente für und gegen die jeweiligen Meinungen darstellen<br />

und dann in der Stellungnahme den Streit entscheiden.<br />

Meinungsstreite können auch in einer komprimierten Form dargestellt<br />

werden (also erst Vorstellung aller verschiedenen Meinungen<br />

und dann eine zusammenfassende Subsumtion), diesen Weg sollte<br />

aber nur der geübte Bearbeiter wählen, da dies schnell zu Ungenauigkeiten,<br />

Unverständlichkeiten und Unübersichtlichkeit führen kann.<br />

Meinungsstreite sind allgemein nur darzustellen, wenn sie für den zu<br />

bearbeitenden Fall von besonderer Bedeutung sind.<br />

In einer Hausarbeit bedient man sich dabei Literatur und Rechtsprechung.<br />

Beispiel:<br />

„Fraglich ist, ob eine Erste Hilfe auch erforderlich ist, wenn der Hilfsbedürftige<br />

trotz dieser versterben würde. In diesem Fall ist sich die Literatur<br />

uneins.<br />

Zum einen wird vertreten, dass die Hilfeleistung dann nicht mehr erforderlich<br />

ist, wenn jede Hilfe aussichtslos ist, insbesondere beim sofortigen<br />

Tod des Verunglückten 8 .<br />

Schließt man sich dem an, ist die Hilfe für O nie erforderlich gewesen. A<br />

hätte also keinerlei Hilfeleistungsversuche anstrengen müssen und wäre<br />

auch nicht wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323 c strafbar.<br />

Andererseits vertritt ein anderer Teil der Literatur, dass die Erforder-<br />

8 Küpper, Strafrecht BT 1, § 5, Rn. 80.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

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lichkeit der Hilfe dort zu bejahen ist, wo erst aus der Rückschau klar zu<br />

erkennen ist, dass der Verunglückte auch bei sofortiger ärztlicher Hilfe<br />

keine Überlebenschance hätte, die in Betracht kommende Hilfeleistung<br />

also vergeblich gewesen wäre 9 .<br />

Im vorliegenden Fall konnte man zum Unfallzeitpunkt lediglich erkennen,<br />

dass O u.a. erhebliche Kopfverletzungen erlitten hat. Eindeutige<br />

Todeszeichen sind keineswegs erkennbar gewesen. Erst später wird lt.<br />

Sachverhalt festgestellt, dass O nicht mehr zur Besinnung gekommen ist<br />

und auch mit umgehender notärztlicher Hilfe nicht mehr hätte am Leben<br />

erhalten werden können. Folgt man also der letzteren Auffassung<br />

wäre die Hilfe erforderlich gewesen.<br />

Diese Auffassung kommt der h.M. sehr nahe. Denn auch aus Sicht<br />

eines „verständigen Beobachters“ 10 darf man zum Unfallzeitpunkt kein<br />

Spezialwissen annehmen, mit dem man schon an der Unfallstelle hätte<br />

erkennen können, dass jede Hilfe zu spät kommt. Diese Auffassung<br />

wird damit gerade dem u.a. präventiven Schutzcharakter einer Strafnorm<br />

gerecht. Denn geht man davon aus, dass die im Nachhinein, am<br />

Ort nicht erkennbare, nicht bestehende Möglichkeit der Hilfeleistung<br />

strafbefreiend wirkt, verleitet dies unter Umständen zu einem geringeren<br />

Grad der Hilfsbereitschaft. Zudem würde dies dem besonderen<br />

Unrechtscharakter dieser Tat nicht gerecht werden, wenn es straflos<br />

bleibt, dass ein Täter eine hilflose Person in dem Bewusstein ihr könnte<br />

vielleicht doch geholfen werden auf sich gestellt liegen lässt.<br />

Im Ergebnis ist also der letzteren Auffassung zu folgen und im vorliegenden<br />

Fall die Erforderlichkeit der Hilfe zu bejahen.“<br />

→ Dieser Weg ist der, wie oben beschrieben, „sicherste“ Weg einen<br />

Meinungsstreit darzustellen.<br />

Beispiel für den komprimierten Weg:<br />

(Fall: Brandstiftung an einer Kneipe, an der im oberen Stockwerk eine<br />

Wohnung angeschlossen ist) „Ob diese Handlung für ein Inbrandsetzen<br />

einer Wohnung reicht, ist umstritten. Es handelt sich hier um ein gemischt<br />

genutztes Gebäude, wobei nur der gewerblich genutzte Bereich<br />

als Start des Feuers dienen sollte. Gemäß der herrschenden Meinung<br />

reicht es für das Inbrandsetzen aus, wenn sich das Feuer auf die den<br />

Wohnzwecken dienenden Bereiche ausbreiten kann. Laut einer anderen<br />

Ansicht ist ein Inbrandsetzen erst dann verwirklicht, wenn sich die<br />

abstrakte Gefahr des Brandes derart zugespitzt hat, dass die Rechtsgutsverletzung<br />

unmittelbar bevorsteht. Für die zweite Ansicht spricht,<br />

dass es sich hier um einen Verbrechenstatbestand handelt, der zum<br />

Schutz des Beschuldigten restriktiv ausgelegt werden sollte; dieses Argument<br />

kann jedoch vorliegend nicht überzeugen. Der § 306 a ist als Gefährdungsdelikt<br />

dem Schutze der Allgemeinheit verpflichtet, sodass von<br />

einem Inbrandsetzen schon ausgegangen werden kann, wenn das Feuer<br />

nur auf den Wohnungsteil übertreten kann. Zudem wollte A nicht nur<br />

die gewerblichen Gebäudeteile, sondern auch die Wohnung in der S<br />

wohnt, niederbrennen und wusste auch, dass sich die Wohnung dort<br />

befindet. Der ersten und herrschenden Ansicht ist somit zu folgen.“<br />

→ In diesen Beispielen führen die Meinungen zu verschiedenen Ansichten.<br />

Deshalb musste der Meinungsstreit entschieden werden.<br />

IV. ERGEBNIS/KONKLUSION<br />

An dieser Stelle beantwortet man kurz und prägnant die im Obersatz<br />

aufgeworfene Frage.<br />

9 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, § 23, Rn. 1046.<br />

10 BGHSt 17, 166, 169.<br />

Beispiel:<br />

„A hat sich wegen Nötigung gemäß § 240 StGB strafbar gemacht, indem<br />

er an einer Sitzblockade auf einer Bundesstraße teilnahm und den<br />

Autofahrern die Weiterfahrt verwehrte.“<br />

→ So könnte das Ergebnis/die Konklusion für ein Gutachten lauten,<br />

indem geprüft wurde, ob sich der B wegen (nicht: einer!) Nötigung<br />

strafbar gemacht hat.<br />

Beispiel:<br />

„Folglich hat B den C an der Gesundheit geschädigt.“<br />

→ So würde ein Ergebnis für einen einzelnen Prüfungspunkt aussehen.<br />

Hier hätte man geprüft, ob das objektive Tatbestandsmerkmal<br />

der Gesundheitsschädigung aus § 223 I StGB vorliegt.<br />

Diese 4 Schritte werden sowohl auf das gesamte Gutachten, als auch<br />

auf jedes zu prüfende Detail angewandt.<br />

Hier noch ein kleines Beispiel für einen zivilrechtlichen Fall:<br />

Obersatz:<br />

Für einen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung müsste<br />

der Schuldner die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben.<br />

Definition:<br />

Der Schuldner hat gemäß § 276 I BGB grundsätzlich Vorsatz und<br />

Fahrlässigkeit zu vertreten. Vorsatz ist das Wissen und Wollen des<br />

rechtswidrigen Erfolges. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche<br />

Sorgfalt außer Acht lässt.<br />

Subsumtion:<br />

A wusste vorliegend weder von der Reparatur, noch von einem<br />

Mangel. Er hat nichts zu der Unmöglichkeit (Pflichtverletzung) beigetragen.<br />

Ergebnis:<br />

Er hat diese somit auch nicht zu vertreten.<br />

C. PRÜFUNGSREIHENFOLGE<br />

Neben dem Gutachtenstil und der Reihenfolge der vier Schritte,<br />

muss auch eine Prüfungsreihenfolge eingehalten werden. Hierbei ist<br />

insbesondere im Strafrecht und im Zivilrecht zu unterscheiden.<br />

Im Strafrecht kann man verschiedentlich verfahren. Entweder man<br />

prüft nach der Schwere der Taten, nach dem Verhältnis in dem die<br />

Taten zueinander stehen oder man bildet chronologisch Handlungskomplexe<br />

und prüft in diesen Komplexen in der o.g. Reihenfolge.<br />

Was die für den Fall „beste“ Variante ist, hängt vom Fall ab und kann<br />

(leider) nicht pauschalisiert werden.<br />

Im Zivilrecht hingegen gibt es starre Vorgaben. Es gilt: Vertragliche<br />

Ansprüche sind immer vor gesetzlichen Ansprüchen zu prüfen. Insgesamt<br />

gilt folgende Prüfungsreihenfolge:<br />

I. Vertragliche Ansprüche<br />

1. Primäransprüche<br />

2. Sekundäransprüche<br />

II. Quasivertragliche Ansprüche (z.B. § 280 I i.V.m. § 311 II BGB)<br />

III. Allgemeine gesetzliche Ansprüche (z.B. § 426 I BGB)<br />

IV. Dingliche Ansprüche ( § 985 BGB)<br />

V. Deliktische Ansprüche (§§ 823 ff. BGB)<br />

VI. Bereicherungsrechtliche Ansprüche (§§ 812 ff. BGB)<br />

VII. Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB)<br />

10<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Diese Reihenfolge ist sowohl in Klausuren, als auch in Hausarbeiten<br />

strikt einzuhalten. Hinsichtlich einzelner Punkte (insbesondere GoA<br />

und Bereicherungsrecht) herrscht Uneinigkeit über die Prüfungsreihenfolge.<br />

Hier sollte man, soweit bekannt, auf die von dem jeweiligen<br />

Dozenten vertretene Auffassung oder einschlägige Literatur zurückgreifen.<br />

D. FORMALIEN EINER HAUSARBEIT<br />

Eine Hausarbeit muss neben der eigentlichen Fallbearbeitung noch<br />

einige weitere Dinge enthalten, die wiederum in einer bestimmten<br />

Reihenfolge angeordnet sein müssen.<br />

Die Hausarbeit besteht aus folgenden Elementen, die auch in folgender<br />

Reihenfolge in der Hausarbeit enthalten sein müssen:<br />

1. Deckblatt (ohne Seitenzahl).<br />

2. Sachverhalt (römische Seitenzahlen, beginnend mit II.).<br />

3. Inhaltsverzeichnis/Gliederung (fortlaufende römische<br />

Seitenzahlen im Anschluss an den Sachverhalt).<br />

4. Literaturverzeichnis (Seitenzahlen wie beim<br />

Inhaltsverzeichnis).<br />

5. Lösung bzw. Fallbearbeitung (arabische Seitenzahlen).<br />

6. Versicherung der eigenständigen Anfertigung und das<br />

ausschließliche Verwendung der .angegebenen Quellen.<br />

7. Unterschrift.<br />

Soweit im Sachverhalt der Hausarbeit zu den Formalien nichts anderes<br />

angegeben ist, gilt:<br />

· Zeilenabstand: 1 ½.<br />

· 1/3 Korrekturrand – also 7 cm (grundsätzlich rechts,<br />

kann aber je nach Dozent variieren).<br />

· Schriftgröße: 12 P., bei Standardschriftarten<br />

→ Arial, Times New Roman.<br />

· Fußnoten: 10 P., Schriftart wie im Gutachten selbst.<br />

E. GLIEDERUNG<br />

Sowohl Klausuren als auch Hausarbeiten sollten gegliedert werden.<br />

Klausuren sollten beispielsweise nach Anspruchsgrundlagen gegliedert<br />

werden. Es ist aber nicht erforderlich, dass sie so feingliedrig ist<br />

wie in einer Hausarbeit.<br />

Es gibt zwei verschiedene „Gliederungssysteme“. Dies sind die Dezimalgliederung<br />

und die alphanumerische Gliederung. Grundsätzlich<br />

gilt: „Wer ´a´ sagt, muss auch ´b´ sagen“!<br />

1. Dezimalgliederung 2. Alphanumerische<br />

Gliederung<br />

1.<br />

2.<br />

2.1<br />

2.2<br />

3.<br />

3.1<br />

3.2<br />

3.2.1<br />

3.2.2<br />

3.3 usw.<br />

Standard in juristischen<br />

Bearbeitungen<br />

▷<br />

A.<br />

I.<br />

1.<br />

a.<br />

b.<br />

2.<br />

a.<br />

a.a.<br />

b.b.<br />

a.a.a<br />

b.b.b<br />

c.c<br />

b.<br />

II.<br />

B. usw<br />

F. FORMALIEN EINER KLAUSUR<br />

Eine Klausur muss mit einem Deckblatt versehen werden. Das Deckblatt<br />

muss folgende Daten enthalten:<br />

1. Name (ggf. Anschrift)<br />

2. Matrikelnummer<br />

3. Anzahl Fachsemester<br />

4. Datum der Klausur<br />

5. Titel der Veranstaltung<br />

6. Dozent<br />

7. Veranstaltungskennziffer oder –nummer.<br />

Dieses Deckblatt muss als erstes Blatt der Klausur mitabgegeben werden<br />

oder als erste Seite angeheftet werden.<br />

Für die Gliederung gilt das oben bereits erwähnte Procedere.<br />

Innerhalb der Ausarbeitung sollten Zwischenergebnisse gemacht<br />

werden. Dies steigert die Übersichtlichkeit und ist somit ein wichtiger<br />

Bestandteil einer jeden Klausur. Jede Klausur endet mit einem<br />

Endergebnis, in dem praktisch die Zwischenergebnisse noch einmal<br />

zusammengefasst werden.<br />

Zudem muss immer ein Korrekturrand gelassen werden. In der Regel<br />

geht man von 1/3 der Seite aus und lässt diesen Rand auf der rechten<br />

Seite. Besondere Wünsche und Angaben des jeweiligen Dozenten<br />

sollten natürlich beachtet werden.<br />

G. HÄUFIGE FEHLER<br />

Da Gutachtenstil und Argumentationstechnik ein wichtiges Handwerkszeug<br />

für Juristen sind, sollte bereits zu Beginn des Studiums<br />

versucht werden, bei der Anwendung dieser bisweilen nicht gerade<br />

sehr beliebten Methoden Sorgfalt walten zu lassen. Möglichst früh<br />

sollten typische Fehler behoben werden.<br />

I. OBERSATZ<br />

Obersätze werden häufig zu oberflächlich formuliert und wichtige<br />

Bestandteile ausgelassen. Da der Obersatz aber die zu prüfende<br />

Fragestellung aufwirft, beschränkt und umschreibt, ist hier besondere<br />

Präzision erforderlich. Soweit es sich um den Obersatz für ein<br />

gesamtes Gutachten handelt sind alle wesentlichen Bestandteile zu<br />

nennen. Im Zivilrecht beispielsweise sind dies die sog. W´s (Wer will<br />

was von wem warum woraus). Häufig werden Obersätze diesbezüglich<br />

nicht genau genug formuliert. Angesichts der Umgrenzungsfunktion<br />

von Obersätzen sollte sich der Bearbeiter deshalb sorgsam<br />

überlegen, welche Fragestellung er beantworten möchte.<br />

Hinzukommt, dass häufig zu viele Prüfungspunkte in einen Obersatz<br />

integriert werden. So werden zum Beispiel gelegentlich von Klausurbearbeitern<br />

alle objektiven Tatbestandsmerkmale einer Körperverletzung<br />

gemäß § 223 I StGB in einen Obersatz gequetscht und im<br />

weiteren Verlauf auf Obersätze verzichtet. Das ist falsch. Jeder Prüfungspunkt<br />

muss mit einem eigenen Obersatz eingeleitet werden.<br />

Das vermeidet Verwirrungen und trägt zur Übersichtlichkeit eines<br />

Gutachtens bei.<br />

II. DEFINITION<br />

Bei der Definition muss strikt darauf geachtet werden, dass es nicht<br />

zu einer Vermischung mit der Subsumtion kommt. Häufig gelingt es<br />

Prüflingen nicht, diese beiden Schritte voneinander zu trennen.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

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III. SUBSUMTION<br />

Die Liste möglicher Fehlerquellen im Rahmen einer Subsumtion ist<br />

lang. Hier soll nur auf die häufigsten Fehler im Überblick eingegangen<br />

werden.<br />

1. ARBEIT MIT DEM SACHVERHALT<br />

Häufig geht der Blick auf den Sachverhalt verloren. In den meisten<br />

Fällen ist es so, dass die Sachverhalte ausreichend Argumentationsmaterial<br />

liefern. Dabei darf aber nicht der Fehler gemacht werden,<br />

dass der Sachverhalt lediglich wiedergegeben und nicht mit der Definition<br />

in Beziehung gesetzt wird. Es ist ja gerade die Aufgabe des<br />

Prüflings, den Sachverhalt unter die Definition zu subsumieren.<br />

Gelegentlich stehen die Bearbeiter einer Klausur oder Hausarbeit<br />

aber auch vor dem Problem, dass sie den Eindruck haben, der Sachverhalt<br />

liefere keine klaren Antworten auf ihre Fragen und lasse wesentliche<br />

Aspekte aus. Umstritten ist, wie damit umzugehen ist. Auf<br />

der einen Seite wird vertreten, dass der Sachverhalt in den Grenzen<br />

der sog. lebensnahen Auslegung interpretiert werden darf. Dies ist<br />

ein sehr schmaler Grad, bei dessen Beschreitung Vorsicht geboten<br />

ist. Andererseits wird jegliche Sachverhaltsauslegung für unzulässig<br />

erachtet. Wichtig ist nur: Sollten Bearbeiter das Bedürfnis haben, einen<br />

Sachverhalt auszulegen, sollten Sie dabei sehr vorsichtig sein und<br />

mit derartigen Interpretationen sparsam sein. So ist die Auslegung,<br />

die an einer norddeutschen Universität mal von einem Studierenden<br />

vorgenommen worden ist, dass alleinerziehende Mütter generell<br />

dazu neigen ein Problem mit Alkoholmissbrauch zu haben, fernab<br />

jeglicher lebensnaher Interpretation. Im Grundsatz gilt: „Der Sachverhalt<br />

ist heilig!“<br />

2. UMGANG MIT MEINUNGSSTREITEN<br />

Auch der Umgang mit Meinungsstreiten enthält einige Fehlerquellen.<br />

Insbesondere die Darstellung von Meinungsstreiten überfordert<br />

einige Bearbeiter gelegentlich. Wichtig ist, dass jeder Meinungsstreit<br />

klar strukturiert dargestellt und vermieden wird, verschiedene Meinungen<br />

wild durcheinander zu werfen. Ist ein Streitenscheid erforderlich,<br />

gelingt es vielen Bearbeitern bei der eigenen Stellungnahme<br />

nicht, sich von den Argumenten anderer ausreichend zu distanzieren.<br />

Eine Stellungnahme darf nicht aus einer Zusammenfassung der<br />

gerade dargestellten Auffassungen bestehen.<br />

IV. ERGEBNIS/KONKLUSION<br />

Gelegentlich wird aus dem Blick verloren, welche Frage im Obersatz<br />

aufgeworfen worden ist. Nur diese und nichts anderes sollte im Ergebnis<br />

beantwortet werden. Die Konklusion muss sich also eng an<br />

der Fragestellung im Obersatz orientieren.<br />

Unabhängig von diesen Fehlern im Bereich der 4-Schritt-Methode<br />

fällt auf, dass häufig Schwerpunkte falsch gesetzt werden. In Klausuren<br />

und Hausarbeiten sollte die meiste Energie in problematische<br />

Punkte investiert werden. Unproblematisches kann kurz und prägnant<br />

abgehandelt werden.<br />

Viel zu häufig wird den Fallfragen nicht gebührend Beachtung geschenkt.<br />

Insgesamt sollte ein Gutachten auf die Fallfrage fokussiert<br />

werden. In Kombination mit den erkannten Problemen gibt diese<br />

den Weg für eine erfolgreiche und ausgewogene Prüfung vor und eröffnet<br />

den Blick auf sich ggf. stellende Anschlussprobleme.<br />

Wer will was von wem woraus? – „BGB AT“ 1 die Basis des Zivilrechts<br />

von Herausgeber Jens-Peter Thiemann (Bielefeld) 2<br />

A. EINFÜHRUNG 12<br />

II. DIE SYSTEMATIK DES BÜRGERLICHEN GESETZBUCHES<br />

1 BGB=Bürgerliches Gesetzbuch<br />

2 Der Autor ist derzeit Rechtsreferendar am OLG Hamm und Herausgeber dieser Zeitschrift. Sie erreichen den Autor unter herausgeber@iurratio.de.<br />

Im folgenden Beitrag soll Ihnen ein erster Einblick in die Inhalte der<br />

im ersten Semester angebotenen Veranstaltung „BGB – Allgemeiner<br />

Teil“ gegeben werden.<br />

I. DAS BÜRGERLICHE GESETZBUCH<br />

Das Bürgerliche Gesetzbuch ist das zentrale Gesetzeswerk des<br />

Zivilrechts. Dabei regelt das Zivilrecht, ausgehend von der sog.<br />

„Privatautonomie“ 3 , als der Freiheit seine Rechtsverhältnisse selbst<br />

gestalten zu können, 4 die Rechtsbeziehungen von Rechtssubjekten,<br />

hierzu gehören insbesondere die Bürger als natürliche Personen und<br />

die von diesen gegründeten sog. juristischen Personen. Dabei wird<br />

sowohl das Verhältnis der Bürger als natürliche Personen zueinander,<br />

im Verhältnis zu von diesen gegründeten juristischen Personen<br />

sowie zwischen jur. Personen geregelt. Das bürgerliche Recht ist neben<br />

dem Arbeitsrecht, dem Handelsrecht, dem Gesellschaftsrecht,<br />

der Zivilprozessordnung und dem „Internationalen Privatrecht“ der<br />

wichtigste Teil des Zivilrechts innerhalb der juristischen Ausbildung<br />

für das erste juristische Staatsexamen.<br />

1 BGB=Bürgerliches Gesetzbuch.<br />

2 Der Autor ist derzeit Rechtsreferendar am OLG Hamm und Herausgeber dieser Zeitschrift. Sie erreichen<br />

den Autor unter herausgeber@iurratio.de.<br />

3 Privatautonomie bedeutet in erster Linie Vertragsfreiheit.<br />

4 Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 34. Auflage § 5 Rn. 1.<br />

Das Bürgerliche Gesetzbuch ist systematisch in fünf Bücher unterteilt:<br />

1. Buch: Allgemeiner Teil (§§ 1 – 240)<br />

2. Buch: Schuldrecht ( §§ 241 – 853)<br />

3. Buch: Sachenrecht ( §§ 854 – 1296)<br />

4. Buch: Familienrecht ( §§ 1297 – 1921)<br />

5. Buch: Erbrecht ( §§ 1922 – 2385)<br />

Die Systematik des BGB lässt sich am einfachsten an Hand der aus<br />

der Schulzeit bekannten mathematischen Methode „etwas vor die<br />

Klammer zu ziehen“ beschreiben. Die Inhalte des „Allgemeinen<br />

Teils“ gelten für das gesamte Bürgerliche Gesetzbuch, also für das 2.<br />

bis 5. Buch, sofern nicht in einem der anderen Teile etwas anderes,<br />

spezielleres geregelt ist. In diesem Fall tritt entweder die speziellere<br />

Regel an die Stelle der allgemeinen Regelung oder ergänzt und konkretisiert<br />

diese. Etwas anderes gilt grundsätzlich für die anderen Bücher:<br />

Regelungen des 2. Buches gelten beispielsweise nicht automatisch<br />

für das dritte, vierte oder fünfte Buch. Innerhalb des zweiten<br />

Buches gibt es beispielsweise auch einen allgemeinen Teil, der innerhalb<br />

des gesamten besonderen Teiles des Schuldrechts allgemeingültige<br />

Regelungen trifft, sonst aber nur in Ausnahmen für das 3. bis 5.<br />

Buch Gültigkeit hat.<br />

12<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

III. BGB – „ALLGEMEINER TEIL“<br />

Aufgrund der dargestellten Systematik kommt dem „Allgemeinen<br />

Teil“ des BGB eine besondere Bedeutung zu, die nicht zuletzt von<br />

Examenskandidaten oftmals unterschätzt wird: Der „Allgemeine<br />

Teil“ des Bürgerlichen Gesetzbuches bildet nicht nur die Basis des<br />

Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern des gesamten Zivilrechts. Das<br />

Verständnis spezieller Probleme und Regelungen der weiteren Bücher<br />

des BGB und sonstiger zivilrechtlicher Regelungen hängt nicht<br />

zuletzt davon ab, ob die Grundprinzipien des „Allgemeinen Teils“<br />

des BGB verstanden wurden.<br />

Innerhalb des Allgemeinen Teils werden die Grundregeln für Rechtsubjekte<br />

im Zivilrecht, also die Subjekte, die auf der Grundlage des<br />

Zivilrechts berechtigt und oder verpflichtet werden können, behandelt.<br />

Dabei kommt den Regelungen für die Begründung von<br />

Rechtsgeschäften (§§ 104-185 BGB, insbesondere zu Verträgen die<br />

§ 145-157 BGB, sowie zu den für den Abschluss von Verträgen notwendigen<br />

Erklärungen, einen Vertrag abschließen zu wollen, sog.<br />

„Willenserklärungen“ 5 ) eine besondere Bedeutung zu. 6<br />

B. KLAUSURPRÜFUNG, -THEMEN UND ANFORDERUNGEN<br />

Im Folgen sollen die wichtigsten Grundlagen für die Bearbeitung<br />

einer zivilrechtlichen Klausur sowie die typischen Probleme einer<br />

Anfängerklausur im BGB AT behandelt.<br />

I. KLAUSURPRÜFUNG<br />

1. DIE PRÜFUNG IM ZIVILRECHT<br />

Ausgangspunkt bürgerrechtlicher Klausuren ist immer die Frage,<br />

wer von wem ein Tun oder Unterlassen fordern kann, wie es beispielsweise<br />

auch in § 194 I BGB und somit im „Allgemeinen Teil“, legal<br />

definiert ist. 7 Dabei ist grundsätzlich die bereits in der Überschrift<br />

genannte Frage „Wer will was von wem woraus“ die Grundlage jeder<br />

Prüfung. Mit „wer“ ist der jeweilige Anspruchssteller gemeint, der<br />

etwas erhalten möchte. Mit „was“ ist der jeweilige Anspruchsgegenstand<br />

gemeint, der vom jeweiligen Anspruchsgegner („wem“) verlangt<br />

wird. Voraussetzung dafür ist, dass der Anspruchssteller eine<br />

Anspruchsgrundlage hat, aufgrund derer er zum Fordern des Anspruchsgegenstandes<br />

berechtigt ist („woraus“). 8<br />

Meist lauten die Klausuraufgaben etwa „K verlangt von V Herausgabe<br />

eines Fahrrades. Zu Recht?“ oder „Kann K von V Rückzahlung<br />

des Kaufpreises in Höhe von 1000,- € verlangen?“.<br />

In diesen Fällen ergibt sich bereits aus der Aufgabenstellung, „wer“<br />

von „wem“ „was“ will. Gelegentlich kommt es vor, dass diese Frage<br />

aus dem Kontext des Falles zu entnehmen ist. Hier lautet die Fragestellung<br />

dann meist „Wie ist die Rechtslage?“.<br />

Wenn also die Frage, wer von wem was will noch relativ einfach<br />

zu beantworten ist, so kommt es danach entscheidend darauf an,<br />

mögliche Anspruchsgrundlagen für das jeweilige Begehren des Anspruchsstellers<br />

zu finden. 9<br />

Dabei gibt es eine ganz klare Prüfungsreihenfolge:<br />

1. vertragliche Ansprüche (z.B. aus einem Kaufvertrag)<br />

2. Vertragsähnliche Ansprüche (z.B. aus einer<br />

Geschäftsführung ohne Auftrag)<br />

3. Sachenrechtliche Ansprüche (z.B. aufgrund einer<br />

Eigentümerstellung i.S.d. § 903 BGB)<br />

4. Bereicherungsrechtliche Ansprüche<br />

(z.B. aus einer ungerechtfertigten Bereicherung)<br />

5. Deliktische Ansprüche<br />

(z.B. auf Grund einer Unfallverursachung)<br />

Diese Prüfungsreihenfolge ist zwingend und folgt systematischen<br />

Gesichtspunkt. Dies ist am einfachsten so zu erklären: Wenn A und<br />

B einen (Kauf-)Vertrag i.S.d. § 433 I BGB über den Kauf eines Buches<br />

zum Preis von 10,- € schließen und B an A das Buch übergibt, dann<br />

hat B gegen A einen Anspruch auf Bezahlung des Buches aus § 433<br />

II BGB. Aufgrund des geschlossenen Vertrages, scheidet dann ein<br />

vertragsähnlicher Anspruch aus einer möglichen Geschäftsführung<br />

ohne Auftrag denklogisch aus. B handelte gerade nicht ohne Auftrag,<br />

sondern übergab das Buch an A auf Grund der Verpflichtung aus<br />

dem mit A geschlossenen Kaufvertrag gemäß § 433 I BGB.<br />

Da es allerdings eine Vielzahl vertraglicher, vertragsähnlicher, sachenrechtlicher,<br />

bereicherungsrechtlicher und deliktischer Ansprüche<br />

gibt und gerade in Fortgeschrittenen-Klausuren oftmals mögliche<br />

Anspruchsgrundlagen übersehen werden, sollte von Anfang an<br />

in jeder Klausur zumindest kurz über mögliche Anspruchsgrundlagen<br />

der hier genannten fünf Bereiche nachgedacht werden.<br />

2. DIE PRÜFUNG EINER ANSPRUCHSGRUNDLAGE<br />

Sobald die in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen ermittelt<br />

wurden, so ist dann zu prüfen, ob der mögliche Anspruchsinhaber<br />

im vorliegenden Fall tatsächlich einen Anspruch aufgrund einer bestimmten<br />

Anspruchsgrundlage hat.<br />

a) Anspruch entstanden?<br />

Zunächst ist dabei zu prüfen, ob ein möglicher Anspruch entstanden<br />

ist. 10 Hier wird die Frage geklärt, ob die tatbestandlichen Anforderungen<br />

einer Anspruchsgrundlage erfüllt sind.<br />

Sind diese Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, so gilt die jeweilige<br />

Rechtsfolge der Anspruchsgrundlage, sofern der jeweilige Anspruch<br />

tatsächlich noch besteht und der Anspruchsgegner seinerseits keine<br />

Rechte besitzt, die der Durchsetzung des jeweiligen Anspruches entgegenstehen.<br />

Diese Prüfung folgt dem Gedanken, dass zunächst festzustellen ist,<br />

ob tatsächlich ein Anspruch nach den Voraussetzungen einer Anspruchsgrundlage<br />

dem Grunde nach entstanden ist.<br />

b) Anspruch untergegangen?<br />

Dann ist zu prüfen, ob dieser Anspruch nicht möglicherweise dadurch<br />

erloschen bzw. untergegangen ist, dass der zugrundeliegende<br />

Vertrag nach Vertragsschluss unwirksam 11 oder unmöglich 12 geworden<br />

ist oder vielleicht der Anspruchsgegner den bestehenden Anspruch<br />

längst erfüllt hat. 13<br />

Dies soll an einem kurzen Beispielsfall 14 verdeutlicht werden:<br />

Der A hat bei B ein Fahrrad zum Preis von 100,- € gekauft. A zahlt<br />

an B die 100,- €. B übergibt an A das Fahrrad. Dennoch behauptet A,<br />

dass B ihm das Fahrrad nicht übergeben hätte und erhebt eine Klage.<br />

Hier haben sich A und B darauf geeinigt, das B an A gegen einen<br />

Preis von 100,- € ein Fahrrad aushändigt, also einen Kaufvertrag<br />

5 Eine Willenserklärung ist die Willensäußerung einer Person, die unmittelbar auf den Eintritt einer<br />

privatrechtlichen Rechtsfolge gerichtet ist (vgl. Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 34. Auflage, § 6 m.w.N.).<br />

6 Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 34. Auflage, § 5 Rn. 5.<br />

7 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. Rn. 8.<br />

8 Vgl. Medicus, Grundwissen zum Bürgerlichen Recht, 9. Auflage, Rn. 16.<br />

9 Ebenda.<br />

10 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage, Rn. 11.<br />

11 Z.B. durch eine Anfechtung i.S.d. §§ 142 ff. BGB, s. hierzu „typische Klausurprobleme“.<br />

12 Z.B. durch eine nachträgliche Unmöglichkeit i.S.d. § 275 I BGB.<br />

13 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage, Rn. 26, 27.<br />

14 Beachte: Die folgenden Ausführungen sind zu Zwecken der vereinfachten Darstellung nicht im<br />

Gutachtenstil gehalten. In einer Klausur muss der Gutachtenstil penibel eingehalten werden.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

13


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

i.S.d. § 433 I BGB abgeschlossen. Demnach kann A von B die Übergabe<br />

des Fahrrades verlangen. Der entsprechende Anspruch ist also<br />

entstanden. Allerdings hat B das Fahrrad bereits übergeben, so dass<br />

der Anspruch durch die Übergabe erfüllt wurde und damit gem.<br />

§ 362 I BGB erloschen ist. In diesem Fall ist der Anspruch zwar anfänglich<br />

entstanden, besteht aber aufgrund der Erfüllung ab dem<br />

Zeitpunkt der Übergabe nicht weiter. Jetzt könnte man denken, dass<br />

die Prüfung ob ein Anspruch überhaupt entstanden ist, hier überflüssig<br />

sei, da ja bereits erkennbar war, dass dieser durch die Erfüllung<br />

erloschen ist.<br />

Allerdings zeigt hier der Prüfling, dass er den Sinn und den Umgang<br />

mit Anspruchsgrundlagen verstanden hat. Daneben könnte auch die<br />

Erfüllung wiederum unwirksam sein. Dies wäre beispielsweise der<br />

Fall, wenn B das Fahrrad geklaut hatte und daher nicht an A übergeben<br />

durfte. In diesem Fall hätte B zwar scheinbar erfüllt, der bestehende<br />

Anspruch des A wäre jedoch nicht erfüllt worden und somit<br />

nicht erloschen.<br />

c) Anspruch durchsetzbar?<br />

Wenn ein Anspruch entstanden ist und dieser nicht „untergegangen“<br />

oder „erloschen“ ist, so kann dieser möglicherweise auf Grund einer<br />

sog rechtshemmenden Einrede aber vorübergehend oder dauerhaft<br />

nicht mehr (gerichtlich) durchsetzbar sein. Dies beruht unter anderem<br />

auf dem Grundsatz, dass nach einer bestimmten Zeit Rechtssicherheit<br />

für alle Beteiligten eintreten soll. Dies geht dann meist zu<br />

Lasten des Anspruchsinhabers. Es ist dann an ihm, seinen Anspruch<br />

rechtzeitig geltend zu machen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen,<br />

dass der Anspruchsgegner auf die sog. rechtshemmenden Einreden<br />

auch berufen muss, damit sie die gerichtliche Geltendmachung<br />

auch behindern können. 15<br />

Dies bedeutet, dass dem Anspruchsgegner ein Recht eingeräumt<br />

wird, dass den Anspruchsinhaber daran hindert, seinen Anspruch<br />

durchzusetzen.<br />

Dies soll kurz an einem Beispiel verdeutlicht werden:<br />

Fall: Der A hat bei B ein Fahrrad zum Preis von 100,- € gekauft. A<br />

zahlt die 100,- €. Trotz mehrfacher Aufforderung durch B holt A das<br />

Fahrrad aber mehr als 3 Jahre lang nicht ab.<br />

Grundsätzlich haben A und B sich über den Kauf des Fahrrades geeinigt<br />

und dabei einen wirksamen Kaufvertrag i.S.d. § 433 I BGB geschlossen.<br />

Nach der Rechtsfolge des § 433 I BGB kann A von B die<br />

Übereignung und Übergabe des Fahrrades verlangen. Allerdings hat<br />

A dies mehr als 3 Jahre nicht getan. Im „Allgemeinen Teil“ des BGB<br />

ist geregelt, dass Ansprüche nach einer gewissen Zeit, in der Regel 3<br />

Jahre, zwar weiterhin bestehen, aber die Durchsetzbarkeit „verjährt“.<br />

A ist grundsätzlich ein Anspruch auf Übergabe und Übereignung des<br />

Fahrrades gemäß § 433 I BGB entstanden. Diese Rechtsfolge ist aber<br />

aufgrund der beschriebenen Verjährung jedoch nicht mehr durchsetzbar.<br />

II. KLAUSURTHEMEN<br />

Klassisch wird in BGB AT-Klausuren meist geprüft, ob beispielsweise<br />

K von V aus einem Kaufvertrag i.S.d. § 433 I BGB einen Anspruch<br />

auf Übergabe einer Sache hat oder V von K gemäß § 433 II BGB<br />

einen Anspruch auf Bezahlung des Kaufpreises hat. Dabei geht es<br />

meist um die Frage folgender Probleme:<br />

1. ob ein Vertrag aufgrund der Minderjährigkeit des Käufers oder<br />

des Verkäufers möglicherweise „unwirksam“ war und damit kein<br />

Anspruch entstanden ist. - „sog. Minderjährigkeitsprobleme“,<br />

15 Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage, Rn. 28.<br />

2. um einen Vertrag, wo der Käufer oder der Verkäufer einen Dritten<br />

einschaltet und dieser dann den Käufer bzw. Verkäufer gegenüber<br />

dem Käufer bzw. Verkäufer vertritt bzw. der Dritte für diesen als Bote<br />

eine Erklärung übermittelt. Dabei erklärt oder übermittelt der Dritte<br />

meist entweder absichtlich oder unabsichtlich etwas anderes, als ihm<br />

durch den Käufer(Verkäufer) aufgetragen worden war. Dann ist meist<br />

danach gefragt, von wem der nicht vertretene Käufer(Verkäufer) die<br />

Erfüllung der vertraglichen Pflicht verlangen kann. – „sog. Stellvertretungsproblematiken“,<br />

3. um einen Vertrag, bei dem der Käufer oder Verkäufer versehentlich<br />

etwas anderes erklärt, als er erklären wollte oder bei dem der<br />

Käufer den Verkäufer über die tatsächlichen Eigenschaften des Kaufgegenstandes<br />

wissentlich täuscht. Dies wäre z.B. der Fall, wenn der<br />

Verkäufer an den Käufer wider besseres Wissen die Fälschung eines<br />

Bildes als Original verkauft. Dabei erklärt der Käufer meist, sich<br />

nicht mehr an den Kauf gebunden zu fühlen und will den Kaufpreis<br />

nicht bezahlen. - „sog. Anfechtungsproblematiken“.<br />

In anspruchsvolleren Klausuren sind die genannten Probleme nicht<br />

auf der vertraglichen Anspruchsgrundlage aus § 433 I BGB oder<br />

§ 433 II BGB zu prüfen, sondern auf der sachenrechtlichen Anspruchsgrundlage<br />

des § 985 I BGB und/oder der bereicherungsrechtlichen<br />

Anspruchsgrundlage des § 812 I 1 1.Alt BGB Gegenstand der<br />

Untersuchung. Dabei ist aufgrund der oben genannten Reihenfolge<br />

zunächst ein möglicher Anspruch aus § 985 I BGB zu prüfen.<br />

III. LITERATUR<br />

Auch im Zivilrecht sollte man sich ein Lehrbuch sorgfältig auswählen<br />

und sich dabei nicht von ausgeteilten Literaturübersichten beeinflussen<br />

lassen. Wichtig ist, dass man mit dem Lehrbuch gut lernen kann.<br />

Dafür kopiert man sich am besten einige Kapitel zum Probelesen aus<br />

den in Frage kommenden Lehrbüchern zu Vergleichszwecken und<br />

entscheidet sich dann für das Buch, mit dem man am besten arbeiten<br />

konnte.<br />

Gängige und durchaus empfehlenswerte Bücher sind die folgenden,<br />

beispielhaft benannten Werke:<br />

· Hans Brox/Wolf-Dietrich Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 35. Auflage<br />

2011, ISBN 978-3-8006-3905-2<br />

· Christian Förster, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Auflage 2011,<br />

ISBN 978-3-8114-9647-7b<br />

· Helmut Köhler, BGB Allgemeiner Teil, 35. Auflage 2011,<br />

ISBN 978-3-406-62598-5<br />

· Rolf Schmidt, BGB Allgemeiner Teil, 7. Auflage 2010,<br />

ISBN 978-3-86651-083-8<br />

Gleichwohl sollte sich jeder selbst mit dem Lehrbuchangebot befassen<br />

und völlig unbeeinflusst von Empfehlungen eine Kaufentscheidung<br />

treffen.<br />

C. FAZIT<br />

Der „Allgemeine Teil“ des BGB ist für die zivilrechtliche Ausbildung<br />

im juristischen Studium von besonderer Bedeutung und sollte daher<br />

intensiv geübt werden. Wenn man sich dem Zivilrecht allerdings<br />

grundsätzlich mit juristischen Methoden, insbesondere systematischen<br />

Überlegungen nähert, so sind zivilrechtliche Klausuren gut<br />

zu bewältigen.<br />

14<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Was erwartet mich eigentlich im Strafrecht?<br />

von Chefredakteur Alexander Otto (Oldenburg) 1<br />

1 Der Autor war bis August 2011 Rechtsreferendar am OLG Oldenburg und absolvierte seine<br />

A. Wahlstation EINLEITUNGbei der Staatsanwaltschaft Oldenburg. Im September 2011 schloss er seine juristische<br />

1<br />

Ausbildung mit der 2. Juristischen Staatsprüfung ab. Zuvor machte er 2006 an der Universität Bremen<br />

Das<br />

sein<br />

Strafrecht<br />

erstes<br />

ist<br />

Staatsexamen,<br />

eigentlich von den<br />

wo<br />

Lebenssachverhalten<br />

er auch von 2006<br />

her mit<br />

bis<br />

das<br />

zum Beginn seines Referendariats im September 2009<br />

interessanteste Rechtsgebiet, spielt allerdings in Studium, Referendariat<br />

Wissenschaftlicher und insbesondere in den Mitarbeiter Examensprüfungen am Lehrstuhl leider eine untergeordnete<br />

Sie erreichen Rolle. Zumeist Alexander wird sowohl Otto im ersten unter Staatsexamen alexander.otto@iurratio.de.<br />

als<br />

für Straf- und Strafprozessrecht, Prof. Dr. Edda Weßlau, war.<br />

auch<br />

im zweiten Staatsexamen nur eine einzige strafrechtliche Klausur<br />

geschrieben. Dies soll aber nicht über die tatsächliche Bedeutung des<br />

Strafrechtes hinweg täuschen.<br />

Strafrecht ist nicht nur eine untergeordnete Materie des öffentlichen<br />

Rechts, sondern ein eigenständiges und umfassendes Rechtsgebiet.<br />

Wesentliche Rechtsquellen des Strafrechts sind das Strafgesetzbuch<br />

(StGB) und die Strafprozessordnung (StPO). Aber auch in diversen<br />

anderen Nebengesetzen finden sich strafrechtliche Vorschriften, die<br />

allerdings für die Ausbildung im Studium nur von eher untergeordneter<br />

Rolle sind. Bis zum ersten Staatsexamen wird der Schwerpunkt<br />

der Ausbildung im Bereich des materiellen Rechts sein, im Referendariat<br />

spielt dann das Strafverfahrensrecht eine größere Rolle.<br />

Will man etwas wissenschaftlicher ausdrücken, was Strafrecht ist,<br />

kann man dies sehr gut mit dem folgenden Satz zusammenfassen:<br />

Das Strafrecht ist der Teil der Rechtsordnung, der die Voraussetzungen<br />

und Folgen der mit einer Strafe oder Maßregel der Sicherung<br />

und Besserung bedrohten Verhaltensweisen regelt. 2 Mit anderen<br />

Worten ausgedrückt ist Strafrecht die Rechtsmaterie, die sich im Wesentlichen<br />

mit dem Fehlverhalten von Bürgern befasst, das so erheblich<br />

ist, dass der Gesetzgeber dies mit Strafe bedroht hat.<br />

Das Strafgesetzbuch ist im Wesentlichen in zwei große Abschnitte<br />

geteilt: Es gibt einen sog. „Allgemeinen Teil“ und einen „Besonderen<br />

Teil“. Der „Allgemeine Teil“ befasst sich mit all denjenigen Regelungen,<br />

die so übergreifend sind, dass sie für alle Straftatbestände<br />

Geltung haben, soweit nicht besondere Ausnahmen bei den jeweiligen<br />

Tatbeständen geregelt sind. Der „Allgemeine Teil“ bildet also,<br />

will man Anleihen bei der Mathematik nehmen, die „Klammer“<br />

für alle strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen. So ist hier z.B.<br />

geregelt, was überhaupt Vorsatz und Fahrlässigkeit sind, wann eine<br />

Straftat nur versucht, wann sie beendet oder vollendet ist und wer<br />

überhaupt Täter einer Straftat sein kann.<br />

man zu dem Ergebnis kommen, dass sich T wegen einfacher Körperverletzung<br />

gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat, im Hinblick<br />

auf das Plastik-Schwert unter Umständen sogar wegen gefährlicher<br />

Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 Nr. 2 StGB schuldig gemacht<br />

hat. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ergebnis so nicht richtig sein<br />

kann, da T erst 10 Jahre alt ist und - wie jeder weiß - damit überhaupt<br />

noch nicht strafmündig ist. Insoweit muss man zusätzlich einen Blick<br />

in den „Allgemeinen Teil“ des StGB werfen: Bei einem Blick in § 19<br />

StGB stellt man dann schnell fest, dass T aufgrund seines Lebensalters<br />

von 10 Jahren schuldunfähig ist. Demnach kann er sich auch<br />

nicht wegen Körperverletzung strafbar machen. An diesem Beispiel<br />

wird deutlich, dass die Beurteilung der Frage, ob sich eine Person<br />

durch ein bestimmtes Verhalten strafbar gemacht hat, nicht allein<br />

dadurch beantworten lässt, dass man nur die Voraussetzungen der<br />

Strafvorschriften im „Besonderen Teil“ des StGB prüft. Hinzu kommen<br />

muss eine Prüfung der allgemeinen Vorschriften.<br />

B. WICHTIGE THEMEN DES STRAFRECHTS DER ERSTEN<br />

SEMESTER UND KLAUSURANFORDERUNGEN<br />

I. THEMEN<br />

Der Schwerpunkt der universitären Ausbildung wird in den ersten<br />

etwa vier Semestern auf die Vermittlung der Vorschriften des „Allgemeinen<br />

Teils“ gelegt. Dabei steht ganz zu Anfang das sog. vorsätzliche<br />

Begehungsdelikt im Vordergrund. Die Körperverletzung gem.<br />

§ 223 Abs. 1 StGB ist z.B. ein solches vorsätzliches Begehungsdelikt.<br />

Anhand der Körperverletzung oder aber auch z.B. des Diebstahls<br />

gem. § 242 StGB lässt sich dann recht gut der Tatbestandsaufbau erklären.<br />

Hierbei wird man zunächst lernen, dass es einen objektiven<br />

und einen subjektiven Tatbestand gibt. Im objektiven Tatbestand, das<br />

sagt auch schon der Name, werden die objektiven Voraussetzungen<br />

eines Straftatbestandes geprüft. Bei der Körperverletzung nach § 223<br />

Abs. 1 StGB sind dies z.B. die „körperliche Misshandlung“ 3 und die<br />

„Gesundheitsschädigung“ 4 . Soweit dies erforderlich ist, werden im<br />

objektiven Tatbestand dann auch noch die sog. Kausalität und objektive<br />

Zurechnung geprüft. Sowohl die Kausalität, mit der ein Ursachenzusammenhang<br />

abgebildet werden soll, als auch die objektive<br />

Zurechnung, die bestimmte Ergebnisse des Ursachenzusammenhanges<br />

korrigieren soll, werden Thema der ersten Semester sein.<br />

Der „Besondere Teil“ hingegen regelt in diversen Strafvorschriften,<br />

welches Verhalten unter welchen Voraussetzungen wie mit Strafe<br />

bedroht ist. Unterschied und Zusammenwirken von „Allgemeinem“<br />

und „Besonderem Teil“ des StGB lassen sich vielleicht an einem Beispiel<br />

ganz gut verdeutlichen:<br />

„Der zehnjährige T schlägt seine 45 jährige Mutter mit einem Spielzeug-Plastik-Schwert<br />

so, dass diese ein blaues Auge davon trägt.“<br />

Würde man dieses Verhalten strafrechtlich beurteilen wollen und<br />

nur einen Blick in den „Besonderen Teil“ des StGB werfen, würde<br />

Neben den genannten Themen des „Allgemeinen Teils des Strafrechts“<br />

werden in den ersten Semestern auch noch der Versuch (§§<br />

22, 23 StGB), die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit,<br />

sowie Aspekte von Rechtswidrigkeit und Schuld vermittelt. Ebenso<br />

werden die Unterschiede von Vorsatz und Fahrlässigkeit erklärt.<br />

Hinsichtlich des „Besonderen Teils“ des Strafrechts werden zunächst<br />

die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte und dann die Eigentumsund<br />

Vermögensdelikte im Vordergrund der Ausbildung stehen. In<br />

diesem Zusammenhang werden auch erste Probleme der einzelnen<br />

Straftatbestände aufgegriffen.<br />

1 Der Autor war bis August 2011 Rechtsreferendar am OLG Oldenburg und absolvierte seine Wahlstation<br />

bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg. Im September 2011 schloss er seine juristische Ausbildung<br />

mit der 2. Juristischen Staatsprüfung ab. Zuvor machte er 2006 an der Universität Bremen sein erstes<br />

Staatsexamen, wo er auch von 2006 bis zum Beginn seines Referendariats im September 2009 Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht, Prof. Dr. Edda Weßlau, war. Sie<br />

erreichen Alexander Otto unter alexander.otto@iurratio.de.<br />

2 Kindhäuser, Strafrecht AT, §1, Rn.1, S.29.<br />

3 Definition: Eine körperliche Misshandlung ist jedes üble, unangemessene Behandeln, das das körperliche<br />

Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt.<br />

4 Definition: Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines nicht nur vorübergehenden<br />

krankhaften Zustandes.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

15


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

II. KLAUSURANFORDERUNGEN<br />

Anfängerklausuren, die in aller Regel als sog. Semesterabschlussklausuren<br />

gestellt werden, halten sich vom Schwierigkeitsgrad in der Regel<br />

in Grenzen. Dennoch sollte man den Lernaufwand im Strafrecht<br />

nicht unterschätzen. Gerade im Strafrecht ist es wichtig, bestimmte<br />

Meinungsstreitigkeiten und die dazu vertretenen Theorien zu kennen<br />

und gegebenenfalls auswendig zu lernen. Dies gilt auch für die<br />

wichtigsten Definitionen. Im Rahmen der ersten Klausuren muss<br />

man in der Lage sein, einen Straftatbestand korrekt durchzuprüfen.<br />

Deshalb ist der Deliktsaufbau auch von ganz elementarer Bedeutung.<br />

Von Beginn an sollte man zudem darauf achten, dass man die strafrechtstypischen<br />

Fachausdrücke und Ausdrucksweisen beherrscht. So<br />

ist es ein grober Fehler, wenn man die Strafbarkeit einer Person prüft<br />

und dabei ständig von Ansprüchen redet. Ansprüche prüft man im<br />

Zivilrecht, nicht jedoch im Strafrecht. Deshalb prüft man immer die<br />

Strafbarkeit einer Person. Anspruchsgrundlagen gibt es deshalb auch<br />

nur im Zivilrecht und nicht im Strafrecht. Im Strafrecht spricht man<br />

von Straftatbeständen. Auch sollten Sie spätestens nach dem 3. Semester<br />

den Unterschied zwischen einem Vorsatz- und einem Fahrlässigkeitsdelikt<br />

kennen. Es ist grob falsch, wenn man z.B. eine fahrlässige<br />

Tötung nach § 222 StGB dergestalt prüft, dass man die Fahrlässigkeit<br />

in den subjektiven Tatbestand einordnet. Der Fahrlässigkeitsaufbau<br />

unterscheidet sich erheblich vom Aufbau eines vorsätzlichen Begehungsdeliktes.<br />

Dies sollte man sich auch in den ersten Semestern<br />

verdeutlichen.<br />

Wichtig ist auch der Umstand, in welcher Reihenfolge man mehrere<br />

Straftatbestände durchprüft. Dies kommt dann in Frage, wenn ein<br />

bestimmtes Verhalten einer Person u.U. mehrere Straftatbestände<br />

verwirklicht. In der Regel ist stets mit dem schwersten Delikt zu<br />

beginnen. Schwer meint hier jedoch nicht die Komplexität des Delikts,<br />

sondern die Strafandrohung. Hat eine Person z.B. durch den<br />

gezielten Einwurf eines Molotowcocktails in ein Jugendzentrum<br />

mehrere Menschen getötet, so ist nicht mit der Brandstiftung oder<br />

der Sachbeschädigung an dem Jugendzentrum zu beginnen, sondern<br />

mit dem Mord. Denn dieser ist mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe<br />

bedroht.<br />

C. KLAUSURAUFBAU - DAS „KNOW-HOW“<br />

Dieser Aufsatz soll sich auf die Darstellung der Prüfung eines vorsätzlichen<br />

Begehungsdeliktes beschränken. Beim vorsätzlichen Begehungsdelikt<br />

gibt es drei wesentliche Prüfungspunkte: Tatbestand,<br />

Rechtswidrigkeit und Schuld. Die Prüfung des Tatbestandes teilt sich<br />

dann wiederum in objektiven und subjektiven Tatbestand auf.<br />

Eine gute Übung um zu lernen, was im Tatbestand, was in der Rechtswidrigkeit<br />

und was in der Schuld geprüft wird, ist es, wenn man sich<br />

§ 223 Abs. 1 StGB durchliest und sich dabei Gedanken macht, welche<br />

Merkmale man wo prüfen könnte: Bereits aus dem ersten Halbsatz<br />

wird deutlich, dass man im objektiven Tatbestand zu prüfen hat, ob<br />

der Täter eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit<br />

geschädigt hat. Erforderlich ist also das Vorliegen bestimmter<br />

Tathandlungen und eines bestimmten Taterfolges. Man prüft, ob<br />

ein bestimmtes Verhalten eine körperliche Misshandlung darstellt<br />

(z.B. A schlägt mit einem Plastikschwert) und ob dieses Verhalten zu<br />

einem Taterfolg (z.B. blauer Fleck, blutende Platzwunde, Kratzer) geführt<br />

hat. Dabei ist ausschließlich auf die sog. äußeren Tatumstände<br />

einzugehen. Man hat also die subjektive Tatseite - das, was sich der<br />

Täter konkret vorgestellt hat oder was er bezweckt hat - nicht mit in<br />

die Prüfung mit einzubeziehen. Wie der Name es schon sagt, geht es<br />

im objektiven Tatbestand ausschließlich um die äußere Tatseite, also<br />

nur um das äußere Tatgeschehen.<br />

Im subjektiven Tatbestand prüft man dann die innere Tatseite, also<br />

beim vorsätzlichen Begehungsdelikt die Frage, ob der Täter mit Vorsatz<br />

(Wissen und Wollen hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale)<br />

gehandelt hat. Nur hier geht es dann darum, was sich<br />

der Täter vorgestellt hat, was er z.B. billigend in Kauf genommen hat<br />

oder aber auch, was er ausdrücklich mit seinem Verhalten erreichen<br />

wollte. 5<br />

Hat man festgestellt, dass der Täter objektiv und subjektiv tatbestandsmäßig<br />

gehandelt hat, prüft man im nächsten Schritt, ob sein<br />

Handeln auch rechtswidrig war. Sofern der Sachverhalt keinerlei<br />

Hinweise darauf gibt, dass an der Rechtswidrigkeit der Tat zu zweifeln<br />

ist, stellt man lediglich mit einem Satz fest, dass keine Rechtfertigungsgründe<br />

ersichtlich sind und der Täter damit rechtswidrig<br />

gehandelt hat. Es gibt aber auch durchaus Klausuren, die darauf angelegt<br />

sind, dass man den Schwerpunkt seiner Prüfungsleistung auf<br />

die Rechtswidrigkeit legt. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn Rechtfertigungsgründe<br />

wie Notwehr (§ 32 StGB), Nothilfe oder rechtfertigender<br />

Notstand in Betracht kommen.<br />

Ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass der Täter rechtswidrig gehandelt<br />

hat, prüft man im nächsten Schritt die Schuld.<br />

Hier verhält es sich ähnlich wie bei der Rechtswidrigkeit. Sind keinerlei<br />

Anhaltspunkte für Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgründe<br />

ersichtlich, kann man die Schuld mit einem Satz feststellen.<br />

Aber auch hier können Probleme lauern. Einige Klausuren<br />

sind darauf angelegt, dass man hier umfänglicher prüft.<br />

Kommt man zu dem Schluss, dass sowohl der Tatbestand als auch<br />

Rechtswidrigkeit und Schuld gegeben sind, ist im Ergebnis festzuhalten,<br />

dass sich die Person entsprechend strafbar gemacht hat.<br />

Wichtig ist auch, dass man lernt, wann eine Prüfung zu Ende ist. Dies<br />

kann an den unterschiedlichsten Stellen der Fall sein. Sind z.B. ausschließlich<br />

kumulative Tatbestandsmerkmale und nicht alternative<br />

Tatbestandsmerkmale vorgesehen, endet eine Prüfung bereits dann,<br />

wenn ein zwingendes Tatbestandsmerkmal nicht gegeben ist. Stellt<br />

man z.B. beim Diebstahl fest, dass die Sache dem Täter überhaupt<br />

nicht fremd ist, handelt er schon nicht objektiv tatbestandsmäßig, so<br />

dass die Prüfung bereits nach der Fremdheit der Sache abgebrochen<br />

werden muss.<br />

Stellt man hingegen bei der Körperverletzung nach § 223 StGB fest,<br />

dass eine körperliche Misshandlung nicht zu bejahen ist, ist die Prüfung<br />

dennoch fortzusetzen, weil auch die bloße Gesundheitsschädigung<br />

als eigenständiges Tatbestandsmerkmal für die objektive Tatbestandsmäßigkeit<br />

ausreichend ist. Kommt man bei seiner Prüfung zu<br />

dem Ergebnis, dass der Täter nicht vorsätzlich handelt, endet auch<br />

hier die Prüfung nach dem subjektiven Tatbestand. Genauso verhält<br />

es sich bei Rechtswidrigkeit und Schuld. Gibt es einen Rechtfertigungs-,<br />

Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgrund, so endet<br />

die Prüfung nach Feststellung eines solchen. Nur dann, wenn der<br />

Sachverhalt bzw. die Aufgabenstellung es eindeutig erfordern, ist eine<br />

hilfsgutachterliche Prüfung vorzunehmen. Ein Hilfsgutachten setzt<br />

5 Hier muss dann ggf. zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz (dolus eventualis)<br />

abgegrenzt werden oder die konkrete Vorsatzform (dolus eventualis, dolus directus 1. und 2. Grades)<br />

bestimmt werden.<br />

16<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

die eigentliche Prüfung dann fort. Man nimmt dann einfach an, dass<br />

das gerade abgelehnte Merkmal der Tat doch vorliegt und prüft vor<br />

diesem Hintergrund weiter.<br />

Für die Klausurvorbereitung ist es also wichtig, sowohl die Methodik<br />

(Gutachtenstil, Argumentationstechnik), den Deliktsaufbau als auch<br />

die materiell rechtlichen Probleme des Allgemeinen und Besonderen<br />

Teils zu lernen.<br />

D. SCHLUSSBEMERKUNGEN/LITERATUR<br />

Ein wichtiger Schritt der ersten Wochen des Studiums ist die Auswahl<br />

der richtigen Literatur zum Lernen, vor- und nachbereiten der<br />

Vorlesungen. Dabei sollte man – nicht nur aus finanziellen Erwägungen<br />

– darauf verzichten, wahllos alle auf den ausgeteilten Literaturübersichten<br />

benannten Bücher zu erwerben. Denn jeder Mensch<br />

lernt anders und hat andere Wünsche an die didaktische Aufbereitung<br />

und den Stil des Autors. Deshalb ist es viel sinnvoller, sich die<br />

Zeit zu nehmen, um die gängigen Lehrbücher in der Bibliothek in<br />

Ruhe einzusehen. Am besten kopiert man sich zur Nachbereitung<br />

eines Vorlesungsthemas die jeweiligen Kapitel aus den in Frage kommenden<br />

Büchern heraus und vergleicht diese untereinander. So kristallisiert<br />

sich schnell heraus, mit welchem Buch man sich beim Lernen<br />

am wohlsten fühlt – und das muss nicht unbedingt das vom Lehrenden<br />

vorgeschlagene Werk sein. Allerdings sollte man auch nicht<br />

zu den Sparversionen der Lehrbuchliteratur greifen. Da bekommt<br />

man in aller Regel nur eine oberflächliche Einführung in die gängigen<br />

Themen, die sich vielleicht locker liest, aber bei weitem nicht<br />

alle Themen abdeckt, die für die juristische Ausbildung von Relevanz<br />

sind. Solche Kurzlehrbücher oder Skripten dienen in der Tat eher als<br />

Einstieg oder kurze Wiederholung der absoluten „basics“.<br />

Die folgenden Werke hat der Verfasser im Laufe seiner juristischen<br />

Ausbildung intensiv genutzt und kann sie uneingeschränkt empfehlen:<br />

- Urs Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Auflage 2011,<br />

ISBN 978-3-8329-6467-2<br />

- Rolf Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Auflage 2011, ISBN<br />

978-3-86651-090-6<br />

- Johannes Wessels/Werner Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 40.<br />

Auflage 2010, ISBN 978-3-8114-9752-8<br />

Es gilt aber: Das beste Lehrbuch ist das, welches alle wesentlichen<br />

Themen abdeckt und mit dem man persönlich am besten lernen kann.<br />

Steige ein und starte durch!<br />

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Jens-Peter Thiemann<br />

mitarbeit@iurratio.de<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Was sind eigentlich Grundrechte? Und wie gehe ich damit um?<br />

von stv. Chefredakteurin Vivien Eckhoff (Braunschweig)<br />

A. EINLEITUNG<br />

I. ALLGEMEINES<br />

Dieser Beitrag soll Ihnen einen ersten Einblick in die Inhalte der vor<br />

Ihnen liegenden Veranstaltung „Verfassungsrecht“, in einigen Universitäten<br />

auch einfach „Grundrechte“ oder „Staatsrecht II“ genannt,<br />

geben. Was sind Grundrechte, welche Bedeutung haben sie, nicht<br />

nur für die stattfindenden Klausuren, sondern auch für die Hausarbeiten<br />

und wie prüft man Grundrechte eigentlich?<br />

Die Grundrechtslehre gehört zu dem Rechtsgebiet des Öffentlichen<br />

Rechtes, welches neben dem Zivilrecht und dem Strafrecht zum<br />

Pflichtfach jeder juristischen Ausbildung gehört. Die Grundrechtsveranstaltung<br />

ist bei Studierenden häufig eine der beliebtesten im<br />

Studium, was wohl nicht nur an der Anschaulichkeit der meisten<br />

Fälle liegt, sondern auch daran, dass sich jeder zumeist gut in diese<br />

hineinversetzen kann und ein gutes Rechtsgefühl einem schon in den<br />

meisten Fällen weiterhilft. Auch der Klausur- und Hausarbeitenaufbau<br />

ist - im Gegensatz zu denen im Zivilrecht oder anderen Rechtsgebieten<br />

- meistens der gleiche.<br />

Das Grundgesetz und dessen Grundrechte bilden in Deutschland<br />

das sog. höherrangige Recht und binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG<br />

die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.<br />

Danach stehen jedem Bürger wichtige Freiheits- und Gleichheitsrechte<br />

grundsätzlich uneingeschränkt zu. In der heutigen Zeit gelten<br />

Grundrechte nicht mehr nur als Abwehrrechte gegen den Staat, sondern<br />

auch als Leistungs-, Gleichheits- und Mitwirkungsgrundrechte. 1<br />

Grundsätzlich gilt es zwischen Gleichheitsrechten und Freiheitsrechten<br />

sowie den Justizgrundrechten zu unterscheiden. Gleichheitsrechte<br />

zielen primär darauf ab, dass es dem Staat verwehrt bleiben<br />

soll, sich in bestimmten Fällen anders zu verhalten, als er dies in der<br />

Vergangenheit bei gleichgelagerten Fällen getan hat. Sie haben also<br />

eine Nichtdiskriminerungs- oder Gleichbehandlungsfunktion 2 (Art.<br />

3 Abs. 1, 3 Abs. 2, 3 Abs. 3, 33 Abs. 1, 33 Abs. 2, 33 Abs. 3, 38 Abs. 1<br />

S. 1 GG). Freiheitsrechte sind solche, die dem Einzelnen bestimmte<br />

Handlungsfreiheiten und Rechte gewährleisten (Art. 2 Abs. 1, 2 Abs.<br />

1 i.V.m. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2, 4 Abs. 1, Abs. 2, 4 Abs. 3, 5 Abs. 1, 5 Abs. 3,<br />

6, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1,Abs. 3, 10, 11, 12, 13, 14, 16 Abs. 1,Abs. 2, 16a, 17,<br />

20 Abs. 4, 38 Abs. 1 S. 1 GG). Justizgrundrechte garantieren dem Einzelnen,<br />

seine Rechte gegenüber dem Staat durchsetzen zu können.<br />

Daneben gewährleisten sie bestimmte Verfahrensgrundsätze (Art. 19<br />

Abs. 4, 101 Abs. 1 S. 1, 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1, 103 Abs. 2, 103 Abs.<br />

3, 104 GG). Daneben gibt es noch die grundrechtsgleichen Rechte:<br />

Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103, 104 GG.<br />

B. KLAUSURTHEMEN UND ANFORDERUNGEN<br />

I. KLAUSURTHEMEN<br />

Art. 12 GG Berufsfreiheit (unverzichtbares Wissen hier: die Drei-<br />

Stufen-Theorie 3 ), Art. 8 GG Versammlungsfreiheit (Problem ist<br />

hier häufig der Versammlungsbegriff), Art. Art. 4 GG Glaubens-,<br />

Gewissens- und Religionsfreiheit (z.B. das Problem der Sekten),<br />

Art. 5 GG Meinungsfreiheit (die Abgrenzung von Tatsachenbehauptungen<br />

und Meinungen muss hier beherrscht werden), Art. 14 GG<br />

Eigentumsfreiheit (Inhalts- und Schrankenbestimmungen) und Art.<br />

3 GG Gleichheitsrechte (Unterscheidung und Prüfungsschema für<br />

die Gleich- und Ungleichbehandlung ist sehr wichtig) Thema dieser<br />

Klausuren sein.<br />

II. ANFORDERUNGEN<br />

In einer Klausur in den ersten Semestern liegen die Anforderungen<br />

noch relativ niedrig. Hauptsache ist, dass Sie das Grundkonzept<br />

verstanden haben und den Klausuraufbau (sowohl für Freiheitsgrundrechte<br />

als auch für Gleichheitsgrundrechte) beherrschen. Alle<br />

Grundrechte (es sind ja nicht so viele) sollten Ihnen geläufig sein, das<br />

heißt, Sie sollten die Schutzbereiche und die wichtigsten Problemstellungen<br />

kennen. Weiterhin sollten Sie die Definitionen für diese,<br />

am besten im Schlaf, beherrschen.<br />

C. KLAUSURAUFBAU – DAS „KNOW HOW“<br />

I. VERFASSUNGSBESCHWERDEN<br />

Verfassungsbeschwerden trennen sich in Zulässigkeit und Begründetheit.<br />

In der Zulässigkeit geht es vor allem darum zu prüfen, ob der<br />

Beschwerdeführer überhaupt eine Berechtigung hat, seine Verfassungsbeschwerde<br />

vor dem BVerfG zu führen. Da sich in den ersten<br />

Semsestern kaum Probleme in der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde<br />

ergeben werden, wird hier nur kurz auf die Prüfungsreihenfolge<br />

einer Zulässigkeit eingegangen und für Details auf die<br />

entsprechende Literatur verwiesen.<br />

Prüfungspunkte einer Zulässigkeit sind:<br />

I. Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG,<br />

§ 13 Nr. 8a BVerfGG<br />

II. Beteiligtenfähigkeit § 90 Abs. 1 BVerfG (Kann Beschwerdeführer<br />

Träger eines GR sein? → Jedermann)<br />

III. Prozessfähigkeit (GR-Mündigkeit des Beschwerdeführers)<br />

IV. Tauglicher Beschwerdegegenstand, § 90 Abs. 1 BVerfGG<br />

(Akte öffentlicher Gewalt)<br />

V. Beschwerdebefugnis § 90 Abs. 1 BVerfGG<br />

(Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung und Beschwerdeführer<br />

selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschwert)<br />

VI. Rechtswegerschöpfung § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG<br />

VII. Grundsatz der Subsidiarität<br />

VIII. Frist § 93 BVerfG<br />

Klassisch wird in einer Grundrechte-Klausur eine Verfassungsbeschwerde<br />

oder eine Normenkontrolle abgeprüft. (Klausuraufbau siehe<br />

unten, III., 1 und 2.)<br />

Am häufigsten, jedoch ohne Garantie, werden die Grundrechte<br />

1 Rolf Schmidt, Grundrechte, 12. Auflage 2010, S. 3, Rn. 12.<br />

2 Rolf Schmidt, Grundrechte, 12. Auflage 2010, S. 8, Rn. 18.<br />

3 Genauere Informationen zur Berufsfreiheit finden Sie auch auf der <strong>Iurratio</strong>-Karteikarte VerfR 3002<br />

„Das Apothekenurteil“, abzurufen auf unserer Homepage www.iurratio.de/rechtsprechung/karteikarten<br />

18<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Ist die Prüfung der Zulässigkeit abgeschlossen und kommen Sie zu<br />

dem Ergebnis, dass die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, und nur<br />

dann (ansonsten ist die Prüfung hier zu Ende, da eine unzulässige<br />

Verfassungsbeschwerde vom BVerfG nicht entschieden wird) fahren<br />

Sie mit der Prüfung der Begründetheit fort. In dieser Prüfung stellen<br />

Sie nun in den folgenden Schritten fest, ob der Beschwerdeführer<br />

ohne Rechtfertigung in seinen Rechten verletzt ist.<br />

I. Schutzbereich<br />

II. Eingriff<br />

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung<br />

1. Schranken<br />

2. Schranken-Schranken<br />

a. Formelle Verfassungsmäßigkeit (selten Thema in Klausuren<br />

der ersten Semester, hier wird das ordnungsgemäße<br />

Zustandekommen des Gesetzes geprüft)<br />

b. Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />

Bei der Prüfung einer Verfassungsbeschwerde in der Klausur müssen<br />

Sie sich hauptsächlich (!), nicht ausschließlich, mit diesen drei<br />

Prüfungspunkten auseinandersetzen: Schutzbereich, Eingriff und<br />

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung.<br />

In einer Klausur müssen Sie prüfen, ob der Beschwerdeführer in<br />

einem seiner Grundrechte (z. B. Art. 8 GG) verletzt ist. Dazu müssen<br />

Sie zuallererst den Schutzbereich dieses Grundrechtes aufzeigen. Ein<br />

Schutzbereich ist der Lebensbereich jeder Person, der handlungsund<br />

sachbezogen durch das Grundgesetz geschützt wird. Was genau<br />

dieser Lebensbereich ist, muss für jedes Grundrecht durch die Auslegungsmethoden<br />

4 entwickelt werden.<br />

Beispiel für Art. 8 GG:<br />

Der Schutzbereich des Art. 8 GG ist die Versammlung. Eine Versammlung<br />

liegt vor, wenn mehrere Personen zur gemeinsamen Verfolgung<br />

eines gemeinsamen Zweckes zusammenkommen und damit an der<br />

öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen. Geschützt werden sowohl<br />

öffentliche als auch nichtöffentliche friedliche Versammlungen unter<br />

freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen, die ohne Waffen stattfinden.<br />

Es gilt sodann zu prüfen, ob der vorgegebene Lebenssachverhalt auf<br />

den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit passt. Z. B. wäre das<br />

Zusammenkommen für eine Demonstration hier vom Schutzbereich<br />

erfasst, eine Geburtstagsfeier in einem Club jedoch nicht. Fällt der<br />

vorgegebene Fall in den Schutzbereich, muss noch festgestellt werden,<br />

ob ein Eingriff in diesen vorliegt, denn nur dann kann jemand<br />

auch in seinen Grundrechten verletzt sein. Ein Eingriff ist „jedes<br />

staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den<br />

Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich<br />

macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt,<br />

unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne<br />

Befehl und Zwang eintritt“. 5<br />

Unter diesem Punkt ist dann zu prüfen, ob die Maßnahme, gegen die<br />

sich der Beschwerdeführer wendet, überhaupt Eingriffsqualität 6 hat.<br />

4 Die Auslegungsmethoden sind die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische<br />

Auslegung. Maßgeblich für die Auslegung eines Schutzbereiches ist der objektive Wille des<br />

Gesetzgebers, der sich aus dem Wortlaut und den Sinngehalt ergibt.<br />

5 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, § 6, Rn. 251; eigentlich wird noch zwischen dem weiten<br />

und dem engen Eingriffsbegriff unterschieden, dazu wird auf entsprechende Literatur verwiesen.<br />

6 Wichtig ist dabei auch: dass es verschiedene Eingriffsbegriffe gibt: den klassischen und den modernen<br />

Eingriffsbegriff. Der moderne Eingriffsbegriff wird mittleiweile in ständiger Rechtsprechung vom<br />

BVerfG angewandt.<br />

Beispiel:<br />

Beidseitige polizeiliche Überwachung einer Demonstration durch mit<br />

Einsatzanzug, Helm und Schlagstock ausgerüstete Beamte wäre ein<br />

Eingriff. 7<br />

Nicht jeder Eingriff bedeutet aber gleichzeitig auch eine Verletzung<br />

des Grundrechtes. Denn der Eingriff könnte verfassungsrechtlich<br />

gerechtfertigt sein. Um dies beurteilen zu können, muss geprüft werden,<br />

ob die Maßnahme, welche einen Eingriff in das Grundrecht darstellt,<br />

zum einen die Qualität besitzt in das Grundrecht eingreifen zu<br />

dürfen und dann, ob dies im Einzelfall auch gerechtfertigt ist.<br />

Beispiel:<br />

Eine Versammlung wird durch die zuständige Behörde nach § 15 VersG<br />

verboten, weil eine ähnliche Veranstaltung im vergangenen Jahr zu<br />

Krawallen auf dem Demonstrationsweg führte und dabei Unbeteiligte<br />

Dritte zu Schaden kamen.<br />

Es gilt zu unterscheiden zwischen den sog. Schranken eines Grundrechts:<br />

der einfache Gesetzesvorbehalt, der qualifizierte Gesetzesvorbehalt<br />

und Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt. Grundrechte die<br />

laut GG „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt<br />

werden dürfen, haben einen sog. einfachen Gesetzesvorbehalt (z.B.<br />

Art. 2 Abs. 2, 10 Abs. 2 S. 1 GG). Ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt<br />

liegt vor, bei Grundrechten bei denen das GG nicht fordert, dass<br />

Eingriffe auf Grund oder durch ein Gesetz erfolgen können, sondern<br />

außerdem dieses Gesetz an bestimmte Situationen anknüpft oder<br />

bestimmten Zwecken dient oder bestimmte Mittel benutzt (z.B. Art.<br />

11 Abs. 2 GG). Darüber hinaus gibt es auch Grundrechte, die vorbehaltlos<br />

gewährleistet werden, also ohne Gesetzesvorbehalt sind. Hier<br />

sieht das Grundgesetz keine Eingriffe durch Gesetze vor (z.B. Art. 5<br />

Abs. 3 GG).<br />

Beispiel:<br />

Art. 8 Abs. 2 GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, weil<br />

er an Versammlungen unter freiem Himmel anknüpft. Diese können<br />

dann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden.<br />

Vorliegend haben wir im o. g. Beispiel eine Demonstration unter freiem<br />

Himmel, deswegen kann die Versammlungsfreiheit hier vom VersG<br />

eingeschränkt werden. Das Verbot genügt also dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt.<br />

Dies war im Prüfungsablauf die Prüfung der Schranken (s.o.). Darauf<br />

folgt die Prüfung der Schranken-Schranken. In einem ersten<br />

Punkt wird hierbei die Verfassungsgemäßheit des einschränkenden<br />

Gesetzes (hier des VersG) geprüft. Was diesen Teil betrifft sei auf den<br />

Beitrag zum Staatsorganisationsrecht verwiesen.<br />

Für die Prüfung des zweiten Punktes, der materiellen Verfassungsmäßigkeit<br />

müssen Sie sich nun fragen, ob die Maßnahme im konkreten<br />

Fall auch gerechtfertigt ist. Dies machen sie in folgenden<br />

vier Schritten:<br />

- Legitimer Zweck, legitimes Mittel<br />

- Geeignet<br />

- Erforderlich<br />

- Angemessenheit (auch: Verhältnismäßigkeit i. e. S.)<br />

Im legitimen Zweck und Mittel, kommt es darauf an, ob der vom<br />

Staat verfolgte Zweck als solcher verfolgt und das benutzte Mittel<br />

auch angewandt werden darf. Weiterhin muss das Mittel zur Errei-<br />

7 OVG Bremen NVwZ 1990, 1188.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

chung des Zweckes geeignet und auch erforderlich (i. S. e. mildesten<br />

Mittels) sein. Zum Schluss muss das Mittel für den zu erreichenden<br />

Zweck für den Einzelnen auch angemessen sein. In diesem Punkt<br />

müssen Aspekte wie Proportionalität und Zumutbarkeit für den Betroffenen<br />

gegeneinander abgewogen werden. Dieser Teil der Prüfung<br />

wird wohl immer am meisten Argumentation von Ihnen verlangen<br />

und am meisten Zeit in Anspruch nehmen, planen Sie daher ihre<br />

Klausur zeitlich so ein, dass Sie am Ende noch genügend Zeit für eine<br />

Abwägung haben.<br />

Dies ist der grundsätzliche Aufbau einer Verfassungsbeschwerde. Zu<br />

unterscheiden ist hier noch zwischen einer Rechtssatzbeschwerde<br />

und einer Urteilsbeschwerde: Eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde<br />

richtet sich gegen ein formelles Gesetz, eine Rechtsverordnung oder<br />

Satzung, welche ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht verletzt.<br />

Hierbei ist lediglich die Norm einer formellen und materiellen<br />

Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu unterziehen.<br />

Handelt es sich jedoch um eine Urteilsverfassungsbeschwerde, also<br />

eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen ein Urteil eines Gerichtes<br />

wendet, muss zunächst das Gesetz auf dessen Grundlage die Entscheidung<br />

gefallen ist, überprüft werden. Dann folgt die Prüfung der<br />

Anwendung dieser Norm durch das Gericht. Hier muss dann nochmal<br />

separat die Verhältnismäßigkeit (legitimer Zweck, Geeignetheit,<br />

Erforderlichkeit und Angemessenheit) des Urteils geprüft werden.<br />

Die Prüfung von Gleichheitsrechten unterscheidet sich von der Prüfung<br />

von Freiheitsrechten. Der Aufbau für die Gleichheitsrechte ist<br />

hier dargestellt und wird unterschieden in die unzulässige Ungleichbehandlung<br />

und die unzulässige Gleichbehandlung:<br />

- Ungleichbehandlung von wesentlich gleichen Sachverhalten oder<br />

Gleichbehandlung von wesentlich ungleichen Sachverhalten<br />

- Verfassungsrechtliche Rechtfertigung<br />

Ein Schutzbereich ist also nicht zu prüfen. Es geht hier lediglich darum,<br />

dass eine Vergleichsgruppe ermittelt wird und dann anhand<br />

von Vergleichsmerkmalen festgestellt werden muss, ob eine Gleichoder<br />

Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist oder nicht. In der Regel<br />

ist sie immer dann nicht verhältnismäßig, wenn sie willkürlich, sachfremd<br />

oder unverhältnismäßig erfolgte.<br />

II. NORMENKONTROLLE<br />

Eine weitere Verfahrensart, die Ihnen in Klausuren begegnen kann,<br />

ist die konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 GG. Auch hierauf<br />

müssen Sie - wenn auch selten - als Prüfungsstoff gefasst sein. Da<br />

der Anteil der Semesterabschlussklausuren in Form einer konkreten<br />

Normenkontrolle kaum prüfungsrelevant ist, wird hierzu auf die entsprechende<br />

Literatur verwiesen.<br />

D. LITERATUR<br />

I. KLASSISCHE LEHRBÜCHER<br />

Klassische Lehrbücher, die von Professoren häufig auch als Standardwerke<br />

bezeichnet werden sind z. B. folgende:<br />

· Jörn Ipsen, Staatsrecht II, Grundrechte aus dem Vahlen Verlag<br />

· Bodo Pieroth und Bernhard Schlink, Grundrechte,<br />

Staatsrecht II aus dem C.F. Müller Verlag<br />

· Rolf Schmidt Grundrechte aus dem Rolf Schmidt Verlag.<br />

Sie sollten auf keinen Fall einfach eines der Bücher kaufen. Gehen Sie<br />

in die Bibliothek und entscheiden Sie selbst, welches der Bücher Ihnen<br />

aufbaumäßig, lesetechnisch und im Hinblick auf die Übersichtlichkeit<br />

am besten gefällt. Die wichtigsten Dinge stehen erfahrungsgemäß<br />

sowieso in jedem Buch, es kommt nur darauf an, welches Sie<br />

am schnellsten verstehen und mit welchem Sie persönlich am besten<br />

lernen können. Achten Sie bei Lehrbüchern zu den Grundrechten<br />

auch darauf, dass diese einen Leitfaden für den Klausur- und Hausarbeitenaufbau<br />

enthalten, darauf kann besonders in diesem Rechtsgebiet<br />

nicht verzichtet werden.<br />

II. KOMMENTARE<br />

Kommentare wie „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.<br />

Der Kommentar für Ausbildung und Praxis“ von Hans Jarass und<br />

Bodo Pieroth oder „Grundgesetz. Kommentar“ von Michael Sachs<br />

sind die Hilfsmittel für Haus- und Seminararbeiten (da Sie in der<br />

Klausur keine Kommentare, sondern lediglich Gesetzestexte benutzen<br />

dürfen). In Kommentaren haben meist verschiedene Autoren die<br />

jeweiligen Artikel bzw. Paragraphen kommentiert. Dort finden Sie<br />

unter anderem wichtige Hinweise auf Entscheidungen der Gerichte<br />

(insb. OLGs, BGH und BVerfG), aber auch den aktuellen Meinungsstand<br />

in Literatur und Rechtsprechung. Dieser ist für die berühmten<br />

und besonders in Hausarbeiten zu berücksichtigenden Meinungsstreits<br />

besonders wichtig. Deswegen ist es für Sie auch unverzichtbar,<br />

immer den aktuellsten Kommentar zu benutzen und zu zitieren!<br />

Sollte dies nicht geschehen, kann das in vielen Fällen zu Punktabzug<br />

in der Gesamtnote einer Hausarbeit führen. Auch sollten Sie sich<br />

niemals mit nur einem Kommentar beschäftigen, dafür weichen zumeist<br />

die Meinungen der verschiedenen Autoren zu sehr voneinander<br />

ab und können zu einer einseitigen Sichtweise führen.<br />

III. ENTSCHEIDUNGSSAMMLUNGEN<br />

Wichtige Entscheidungssammlungen für die Grundrechte sind die<br />

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) diese werden<br />

in den Bibliotheken und in wissenschaftlichen Arbeiten, sowie<br />

beim Zitieren mit BVerfGE abgekürzt.<br />

Beispiel:<br />

BVerfGE 4, 80 = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Band<br />

4, Beginn der Entscheidung auf Seite 80.<br />

E. SCHLUSS<br />

Alles in allem ist zu sagen, dass die Grundrechtsveranstaltung im Studium<br />

sehr viel Spaß macht. Den meisten gelingt es schnell, sich in das<br />

System der Grundrechte und der Verfassungsbeschwerden einzufinden.<br />

Das Geheimnis hierfür ist das Auswendiglernen der Prüfungsreihenfolgen<br />

und der Schutzbereiche der GR. Wenn man sich in der<br />

Klausur nur auf die wirklich wichtige Argumentation konzentrieren<br />

kann, weil alles andere „sitzt“ kann man die Klausuren, die zumeist<br />

zeitlich von den Professoren eng geplant werden, gut meistern und<br />

sich eine gute Note mehr für die Zwischenprüfung abholen!<br />

20<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Wie funktioniert die Bundesrepublik?<br />

von stv. Chefredakteurin Hanna Furlkröger<br />

A. DER ERSTE EINSTIEG<br />

Das Staatsorganisationsrecht vermittelt Ihnen an den meisten Universitäten<br />

den ersten Einblick in das öffentliche Recht der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Im Laufe des Semesters werden Sie die obersten<br />

Staatsorgane samt ihrer Funktionen, das föderale Verhältnis<br />

von Bund und Ländern und die herausragenden Prinzipien kennen<br />

lernen, auf denen sich der deutsche Staat seit 1949 gründet. Sicherlich<br />

werden Sie aufgrund der Kenntnisse, die Sie bereits in Fächern<br />

wie Geschichte und Politik erworben haben, eine Vorstellung vom<br />

Aufbau und der Funktionsweise der Bundesrepublik haben, die Sie<br />

aufgreifen und vertiefen können.<br />

I. WARUM DAS „GRUNDGESETZ“ NICHT „VERFASSUNG“ HEIßT<br />

Oft wird zu Anfang des Semesters die historische Entwicklung<br />

Deutschlands von der Paulskirchen-Verfassung von 1848/1849 über<br />

die Reichsverfassung von 1871 und die Weimarer Reichsverfassung<br />

von 1919 bis zu dem am 23. Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetz<br />

skizziert. Das Grundgesetz war ursprünglich aufgrund der<br />

Teilung Deutschlands nur als Übergangsordnung 1 bis zur Wiedervereinigung<br />

gedacht, weshalb die Bezeichnung „Grundgesetz“ statt<br />

„Verfassung“ gewählt wurde. 2 Beim Ende der deutschen Teilung<br />

hatte das Grundgesetz sich allerdings derart bewehrt, dass von einer<br />

Neufassung Abstand genommen wurde. 3 Die geschichtlichen<br />

Grundlagen des Verfassungsrechts sind meist Thema einer gesonderten<br />

Grundlagenveranstaltung. Im weiteren Verlauf wird dann das<br />

Verfassungsrecht thematisiert. Dabei kommt dem Grundgesetz eine<br />

Doppelfunktion zu. Einerseits regelt es das Gesetzgebungsverfahren,<br />

bildet aber gleichzeitig die Grenze für neue vom Parlament erlassene<br />

Gesetze. Sofern diese nicht im Hinblick auf Verfahren und Inhalt den<br />

Vorgaben des Verfassungsrechts entsprechen, werden sie vom Bundesverfassungsgericht<br />

als verfassungswidrig verworfen. Zum materiellen<br />

Verfassungsrecht gehören alle für die staatliche Grundordnung<br />

wichtigen Normen, so etwa das Grundgesetz und die Landesverfassungen<br />

(„formelles Verfassungsrecht“) und der Einigungsvertrag 4 .<br />

Ebenso zum materiellen Verfassungsrecht zählen einfache, unterhalb<br />

der Verfassung angesiedelte Gesetze, soweit sie wie das Bundeswahlgesetz<br />

oder das Parteigesetz die Grundordnung ausgestalten. Schließlich<br />

bilden auch die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane z.B.<br />

des Bundestages materielles Verfassungsrecht, wenn sie Normen des<br />

Grundgesetzes konkretisieren. 5<br />

II. „EIN BLICK INS GESETZ ERLEICHTERT<br />

DIE RECHTSFINDUNG“ 6<br />

Dieses Sprichwort der Juristerei sollten Sie nicht nur in Ihren Anfangssemestern<br />

beherzigen! Lehrbücher und Kommentare enthalten<br />

viele wertvolle Hinweise, ersparen Ihnen aber nicht die konsequente<br />

Gesetzeslektüre. Den besten Überblick verschaffen Sie sich, indem<br />

Sie sich das Grundgesetz zur Hand nehmen und es anhand dieses<br />

1 Präambel a.F.: „ um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“.<br />

2 Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Einleitung, Rn. 1; in Art. 146 GG wird der Unterschied deutlich.<br />

3 Roelleke, „Brauchen wir ein neues Grundgesetz ?“ in: NJW 1991, 2441 m.w.N.<br />

4 Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR vom 31.08.1990, Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1990 II 885.<br />

5 Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, S. 1, 2.<br />

6 Das Zitat geht wohl auf den Kölner Professor und späteren (ersten) Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts<br />

Hans Carl Nipperdey zurück.<br />

Beitrags systematisch durchlesen.<br />

B. DAS GRUNDGESETZ IM ÜBERBLICK<br />

I. BEGINNEN SIE BEI DER PRÄAMBEL!<br />

Die Präambel spiegelt die Entstehungsgeschichte und Änderungen<br />

wieder, die sich seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ereignet haben.<br />

Die ursprüngliche Fassung enthielt ein Wiedervereinigungsgebot<br />

und wurde sie mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 neu<br />

gefasst; 7 beibehalten wurde der Verfassungsauftrag zur Integration<br />

Deutschlands in die Europäische Union (lesen Sie hierzu Art. 23<br />

GG). 8 Zum anderen drückt die Präambel das verfassungsrechtliche<br />

Selbstverständnis der Bundesrepublik aus. 9 Hier wird Bezug genommen<br />

auf das Deutsche Volk als verfassungsgebende Gewalt. Das<br />

Grundgesetz leitet sich nicht von einer anderen, früheren Verfassung<br />

ab, es legitimiert sich unmittelbar aus der Volkssouveränität. 10 Damit<br />

wird ein weiterer tragender Grundsatz des deutschen Verfassungsrechts<br />

angesprochen: Ohne das Demokratieprinzip (Art. 20 II 2 GG)<br />

wäre eine Legitimation durch das Volk nicht vorstellbar.<br />

Auf die Präambel folgen die Grundrechte in den Art. 1-19 GG, die<br />

in einem gesonderten Beitrag behandelt werden. Eine kurze Bemerkung<br />

dazu sei aber an dieser Stelle gestattet: Der erste Satz „Die<br />

Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 I 1 GG) ist gemeinhin<br />

bekannt, der zweite aber umso wichtiger „Sie zu achten und zu<br />

schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“; damit bindet<br />

das Grundgesetz alle Organe und Institutionen des Staates an die<br />

Achtung der Menschenwürde, eine Lehre, die das Grundgesetz aus<br />

den Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus gezogen hat. 11<br />

Sich gegen eine erneute Willkürherrschaft zu wappnen, war erkennbar<br />

Grundgedanke der Väter und Mütter des Grundgesetzes.<br />

II. DIE VERFASSUNGSRECHTLICHEN<br />

GRUNDENTSCHEIDUNGEN 12<br />

Dreh- und Angelpunkt der Verfassung ist Art. 20 GG, der die grundlegenden<br />

Prinzipien auflistet, die das öffentliche Leben der Bundesrepublik<br />

bestimmen: Republik, Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung,<br />

Sozialstaat und Bundesstaat.<br />

1. DIE „UNUNTERBROCHENE<br />

DEMOKRATISCHE LEGITIMATIONSKETTE“ 13<br />

Deutschland ist – das wird Sie wenig überraschen – eine parlamentarische<br />

Demokratie. Das Volk ist zwar Träger der Staatsgewalt („Alle<br />

Staatsgewalt geht vom Volke aus“, Art. 20 II 1 GG). Es kann diese<br />

Staatsgewalt aber – anders als das noch in der attischen Demokratie<br />

7 Art. 4 Nr. 1 des Einigungsvertrages; Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (BVerfGE) Bd. 5, S.<br />

127 f.; Hillgruber in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Rn. 2.<br />

8 BVerfG NJW (= Neue juristische Woche) Jg. 2009, S. 2267.<br />

9 Hillgruber (Fn. 7) Präambel Vor Rn. 1.<br />

10 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Präambel Rn. 2; weitere Nachweise bei Maurer, Staatrecht I, S. 84 f.<br />

11 vgl. Herdegen in: Maunz/Düring Grundgesetzkommentar Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 14 f.<br />

12 Davon zu unterscheiden sind die Staatszielbestimmungen, die den Staat verpflichten, auf die Verwirklichung<br />

bestimmter Ziele (Umweltschutz, Tierschutz – Art. 20 a GG) hinzuwirken, Degenhart,<br />

Staatsorganisationsrecht, S. 220 m.w.N. Der Unterschied zu den Grundentscheidungen des Art. 20 GG<br />

liegt darin, dass sie nicht die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik prägen, sondern so Maurer<br />

(Fn. 9) S. 166, „die Bundesrepublik das bliebe, was sie ist, auch dann, wenn die eine oder andere<br />

Staatszielbestimmung beseitigt würde“.<br />

13 Degenhart (Fn. 12), S. 10.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

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Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

der Fall war und in der Schweiz 14 teilweise noch der Fall ist – nur<br />

in beschränktem Maße selbst ausüben; es kann abstimmen, es kann<br />

wählen, es kann aber nicht alle Entscheidungen selbst treffen. 15 Daher<br />

statuiert Art. 20 II GG, dass das Volk als Souverän seine Repräsentanten<br />

regelmäßig durch Wahlen bestimmt. Wenn die Abgeordneten<br />

dann Gesetze erlassen, übt das Volk seine von ihm ausgehende<br />

Staatsgewalt aus. 16 Damit distanziert sich das Grundgesetz von anderen<br />

Staatsformen wie der Monarchie bis 1918 und der Diktatur von<br />

1933 bis 1945, die Deutschland geprägt hatten.<br />

a) One man, one vote?<br />

Um eine demokratische Legitimation tatsächlich begründen zu können,<br />

müssen Wahlen einige Voraussetzungen erfüllen. So normiert<br />

Art. 38 II 1 GG, dass die Abgeordneten des Bundestages „in allgemeiner,<br />

unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt<br />

werden. Allgemein ist eine Wahl, wenn grundsätzlich alle Bürger, die<br />

das achtzehnte Jahr vollendet haben, ein aktives und passives Wahlrecht<br />

haben. 17 Die Unmittelbarkeit der Wahl heißt, dass die Mitglieder<br />

einer Volksvertretung direkt ohne Einschaltung von Wahlmännern<br />

– wie es etwa in den USA üblich ist – gewählt werden. 18 Nach<br />

dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl muss zudem gewährleistet<br />

sein, dass jede Stimme das gleiche Gewicht hat: den gleichen Zählwert<br />

und die gleiche Erfolgschance. 19 Ein konkretes Wahlsystem für<br />

die Bundestagswahl bestimmt das Grundgesetz nicht. Der Gesetzgeber<br />

hat sich des Auftrages in Art. 38 III GG angenommen und die<br />

Details durch das Bundeswahlgesetz (bitte hereinschauen!) geregelt.<br />

Mit der „personalisierten Verhältniswahl“ (erste Stimme für den Abgeordneten<br />

aus dem zugehörigen Wahlkreis, zweite Stimme für die<br />

Landesliste einer bestimmten Partei) hat sich der Gesetzgeber für<br />

eine Kombination aus Mehrheitswahl und Verhältniswahl entschieden.<br />

20 Auch wenn dadurch unerwünschte Nebenwirkungen, wie die<br />

verfassungsmäßigen Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 BWahlG), die<br />

Fünf-Prozent-Hürde 21 (§ 6 Abs. 6 BWahlG) und das verfassungswidrige<br />

negative Stimmgewicht 22 auftreten, sind Sperrklauseln auf Bundesebene<br />

doch unabdingbar, um der Gefahr der Zersplitterung und<br />

einer daraus resultierenden Funktionsuntüchtigkeit des Parlaments<br />

entgegenzuwirken. 23 Nach dem Grundsatz der Freiheit der Wahl<br />

muss der Akt der Stimmabgabe zudem frei von Zwang und unzulässigem<br />

Druck bleiben, 24 dies korrespondiert mit der der Geheimheit<br />

der Wahl, die vor der Offenbarung schützt, wie jemand wählen will,<br />

wählt oder gewählt hat. 25<br />

14 Andreas Glaser, „Nachhaltige Entwicklung und Demokratie – Ein Verfassungsvergleich der politischen<br />

Systeme Deutschlands und der Schweiz, S. 6, 11 ff., 16 ff.<br />

15 Degenhart (Fn. 12) S. 10.<br />

16 BVerfGE 49, 89 (125) – „Kalkar“; BVerfGE 68, 1 (89) – „Raketenstationierung“; BVerfGE 93, 37 (66<br />

f.); Böckenförde in: Isensee/Kirchhof Handbuch des Staatsrechts Bd. II § 24 Rn. 15 f.<br />

17 Achterberg/Schulte in: v. Mangoldt/Klein/Starck Grundgesetzkommentar, Art. 38 Rn. 120.<br />

18 BVerfGE 47, 253 (279 f.); Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 38 Rn. 8.<br />

19 Anders als noch im preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht; BVerfGE 95, 335 (353 f.): allerdings soll<br />

hinsichtlich des gleichen Erfolgswertes bei der für zulässig gehaltenen Mehrheitswahl (eine Person ist<br />

gewählt, wenn sie die meisten Stimmen erhält) ausreichen, dass alle Wähler auf Grundlage gleichgroßer<br />

Wahlkreise, d.h. annähernd gleich großem Stimmgewicht an der Wahl teilnehmen können; Jarass/<br />

Pieroth (Fn. 2) Art. 38 Rn. 6.<br />

20 BVerfGE 16, 130 (140); m.w.N. Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 117 ff.<br />

21 Die Fünf-Prozent-Hürde wurde auf Bundes- und Landesebene für zulässig erklärt, BVerfGE 51, 222<br />

(236 f.); auf Kommunalebene wurde sie in NRW, Thüringen und Schleswig-Holstein von Landesverfassungsgerichten<br />

für unzulässig erklärt, in vielen Bundesländern daraufhin abgeschafft, vgl. VerfGH<br />

NRW OVGE 47, 304; Herdegen (Fn. 11), Art. 38 GG, Rn. 134.<br />

22 Das BVerfG hat in einem Urteil vom 3.7.2008 (BVerfGE 121, 268) entschieden, dass die zum negativen<br />

Stimmgewicht führenden Regelungen des BWahlG gegen die Grundsätze der Gleichheit und<br />

Unmittelbarkeit der Wahl verstoßen und den Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 30.6.2011 eine verfassungsgemäße<br />

Regelung zu beschließen. Da dies bisher nicht erfolgt ist, kündigte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts,<br />

Andreas Voßkuhle jüngst an, das BVerfG könne mit einer einstweiligen Anordnung<br />

einschreiten, sofern der Gesetzgeber beabsichtige, auch 2013 noch auf verfassungswidriger<br />

Grundlage zu wählen – beck-aktuell vom 2.9.2011<br />

23 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 121.<br />

24 BVerfGE 44, 125 (139); zur Wahlpflicht Haack „Wahlpflicht und Demokratie“ KritV 2011, 80.<br />

25 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 38 GG Rn. 10.<br />

b) „Ja zur Demokratie zu sagen, aber nein zu Parteien, ist nicht<br />

möglich“ 26<br />

Die Wahlgrundsätze führen Sie auf direktem Wege zu den Vereinigungen,<br />

durch die die Bürger an den Wahlen teilnehmen können.<br />

Art. 21 I 1 GG erteilt den Parteien den Auftrag, bei der politischen<br />

Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Sie sind zwar keine staatlichen<br />

Organe, werden aber vom Bundesverfassungsgericht als „verfassungsrechtliche<br />

Institutionen“ anerkannt. 27 Ihre Aufgabe ist zum<br />

einen die Einflussnahme auf die politische Willensbildung und zum<br />

anderen die Teilnahme an der Vertretung des Volkes (dazu § 2 I ParteiG).<br />

Durch die Parteien sollen also die unterschiedlichen Ansichten<br />

der Bürger zu politischen Fragestellungen kanalisiert und einem Lösungsansatz<br />

zugeführt werden, über den im Parlament debattiert und<br />

abstimmt werden kann. Sie bilden demnach das Bindeglied zwischen<br />

Volk und Staat. 28 Durch die Teilnahme an Wahlen stellen die Parteien<br />

sich und ihre Programme zur Abstimmung, das Volk entscheidet<br />

dabei über die Annahme der politischen und gesellschaftlichen<br />

Lösungsvorschläge (Stichwort: „demokratische Rückkopplung“ 29 ).<br />

In dieser Aufgabenverteilung kommt auch ihre ambivalente Stellung<br />

zur Ausdruck: Einerseits sind sie als Vereinigungen von Bürgern<br />

im gesellschaftlich-politischen Bereich des Volkes verwurzelt, 30<br />

und können diesbezüglich Grundrechte für sich in Anspruch nehmen<br />

(Art. 19 II GG), 31 andererseits sind sie, wenn sie im in Form<br />

von Fraktionen Parlament vertreten sind, an die Grundrechte und<br />

die verfassungsmäßige Grundordnung gebunden (Art. 20 III, Art. 1 I<br />

2 GG). Erst die mittels Art. 21 I 2 GG garantierte Gründungsfreiheit<br />

und Chancengleichheit gewährleisten einen freien Wettbewerb und<br />

machen Demokratie letztlich möglich. 32<br />

2. WOZU BRAUCHEN WIR DEN RECHTSSTAAT?<br />

Betrachten Sie nun die Art. 20 II 2, III, Art. 19 IV GG und blättern Sie<br />

zu Art. 1 III GG zurück! All diese Grundsätze bilden gemeinsam das<br />

elementare Rechtsstaatsprinzip. 33 Erkennbares Ziel der Mütter und<br />

Väter des Grundgesetzes war, die Konzentration und den Missbrauch<br />

von Macht zu verhindern. Dementsprechend folgt das Grundgesetz<br />

dem schon von John Locke (1690) und dem Baron de Montesquieu<br />

(1748) herausgearbeiteten Strukturprinzip der horizontalen Gewaltenteilung<br />

in die gesetzgebende (Legislative), vollziehende (Exekutive)<br />

und rechtsprechende (Judikative) Gewalt. Dabei ist die Legislative<br />

an die verfassungsmäßige Ordnung, d.h. des Grundgesetzes,<br />

Exekutive und Legislative an Recht und Gesetz gebunden, Art. 20 III<br />

GG. Weiteres Element des Rechtsstaatsprinzips ist die Gesetzmäßigkeit<br />

der Verwaltung, wonach die Verwaltung bei der Einschränkung<br />

von Grundrechten nur aufgrund eines Gesetzes tätig werden darf<br />

(Vorbehalt des Gesetzes) und Verwaltungsmaßnahmen nicht gegen<br />

bestehende Gesetze verstoßen dürfen (Vorrang des Gesetzes). 34 All<br />

diese Garantien und Prinzipien wären allerdings wertlos, gäbe es die<br />

Rechtsweggarantie gem. Art. 19 IV GG nicht. Derjenige, der durch<br />

die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt sieht, kann bei den<br />

Gerichten – in letzter Konsequenz beim Bundesverfassungsgericht –<br />

Rechtsschutz suchen und finden.<br />

26 Wolfgang Thierse (Bundestagsvizepräsident), Frankfurter Rundschau vom 11.7.1992.<br />

27 BVerfG 69, 92 (110); beim BVerfG liegt auch die alleinige Verbotskompetenz für Parteien, die darauf<br />

zielen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, Art.<br />

21 Abs. 2 S. 2 GG.<br />

28 Klein (Fn. 11) Art. 21 GG Rn. 159, auch BVerfGE 44, 125 (145) – Parteien als „Zwischenglied“.<br />

29 Maurer (Fn.10) S. 331, Rn. 14 ff.: ein Monopol auf politische Willensbildung haben die Parteien<br />

nicht.<br />

30 BVerfGE 20, 56 (100 f.); Klein (Fn. 11) Art. 21 GG Rn. 152 f.<br />

31 Degenhart (Fn. 12) S. 37 Rn. 82.<br />

32 BVerfGE 111, 382 (404); Jarass/Pieroth (Fn.2) Art. 21 GG Rn. 1.<br />

33 BVerfGE 20, 323 (331).<br />

34 Rolf Schmidt (Fn. 5) S. 59 Rn. 160. Näheres dazu hören Sie in der Vorlesung zum Verwaltungsrecht.<br />

22<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


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3. BUNDESRECHT BRICHT LANDESRECHT<br />

Dass die Bundesrepublik ein föderalistischer Bundesstaat ist, ist<br />

eigentlich keine Grundentscheidung, sondern vielmehr Folge der<br />

historischen Entwicklung. 35 Sowohl Bund als auch Länder haben<br />

jeweils eine eigene staatliche Organisation (Bundes- bzw. Landtag,<br />

Regierung, Verwaltung, Gerichte), sodass die Hauptaufgabe des<br />

Bundesstaatsprinzips darin besteht, Aufgaben auf Bund und Länder<br />

zu verteilen. 36 Verfolgen Sie die Systematik anhand der Lektüre des<br />

Grundgesetzes! Grundsätzlich ist das Verhältnis in Art. 30 GG geregelt,<br />

wonach die Länder für die Ausübung staatlicher Befugnisse und<br />

die Erfüllung staatlicher Aufgaben, insbesondere der Gesetzgebung<br />

(Art. 70 ff. GG) und Verwaltung (Art. 83 ff. GG) zuständig sind, soweit<br />

das Grundgesetz keine andere Regelung trifft. Nach Art. 31 GG<br />

kommt aber dem Bundesrecht im Fall einer Kollision mit Landesrecht<br />

der Vorrang zu. Dies gilt auch für das Landesverfassungsrecht.<br />

D.h., einerseits besitzen die Länder Verfassungsautonomie – das Volk<br />

eines Bundeslandes kann sich eine eigene Verfassung geben – andererseits<br />

wird die Autonomie durch das Homogenitätsprinzip (Art.<br />

28 I GG) eingeschränkt, wonach die verfassungsmäßige Ordnung<br />

in den Ländern den Grundentscheidungen des Grundgesetzes für<br />

Republik, Demokratie und Rechtsstaat entsprechen (nicht gleichen)<br />

muss. 37 Dies klingt paradox, zeigt aber nur, dass die Länder an höherrangige<br />

Grundsätze des Bundes gebunden sind. 38 In letzter Konsequenz<br />

kann der Bund ein Land mittels Bundeszwanges, Art. 37 GG,<br />

zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, wenn es diese nicht von<br />

sich aus erfüllen will.<br />

4. DIE EWIGKEITSGARANTIE<br />

Einige der vorgenannten Prinzipien wurden beim Entwurf des<br />

Grundgesetzes für derart fundamental erachtet, dass deren Bestand<br />

mit Hilfe einer Ewigkeitsgarantie (Art. 79 III GG) abgesichert wurde.<br />

So dürfen das Bundesstaatsprinzip und der Kernbestand eigener<br />

Aufgaben und Kompetenzen der Länder nicht abgeschafft werden. 39<br />

Darüber hinaus sind die Grundentscheidungen für die Achtung der<br />

Menschenwürde, Art. 1 I GG, die Demokratie, den Rechtsstaat, die<br />

Republik und den Sozialstaat, Art. 20 GG erfasst. 40 Alle anderen Normen<br />

können mit Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und -rat geändert<br />

werden, Art. 79 I, II GG.<br />

III. DIE OBERSTEN VERFASSUNGSORGANE<br />

1. WER WÄHLT EIGENTLICH DEN BUNDESPRÄSIDENTEN?<br />

Wer der erste Mann im Staate ist, kann wohl jeder beantworten.<br />

Aber wer kommt danach? Diese Frage wurde relevant, als Bundespräsident<br />

Horst Köhler am 31.05.2010 überraschend zurücktrat.<br />

Auch darauf hält das Grundgesetz eine Antwort in Art. 57 parat:<br />

Der Bundespräsident wird vom Bundesratspräsidenten 41 vertreten.<br />

Allein zum Zweck seiner Wahl tritt ein weiteres Verfassungsorgan<br />

zusammen: die Bundesversammlung. Sie besteht aus allen Bundestagsmitgliedern<br />

und von den Landtagen entsandten Personen des öf-<br />

35 So setzte sich das Deutsche Reich bei seiner Gründung 1871 aus 25 Bundesstaaten, u.a. Bayern,<br />

Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen und Preußen zusammen, m.w.N. Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 9.<br />

Dass es die Bundesländer gibt, war auch eine Vorgabe der Alliierten, die deren Ministerpräsidenten mit<br />

einem GG-Entwurf beauftragen.<br />

36 Maurer, (Fn.10) S. 285 Rn. 1.<br />

37 Degenhart (Fn.12) Rn. 464.<br />

38 BVerfGE 60, 175 (208).<br />

39 Hain (Fn.17) Art. 79 GG, Rn. 119 f. Einzelne Länder können abgeschafft werden, Art. 29 I 1 GG.<br />

40 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 79 GG, Rn. 6 ff; sofern keine neue Verfassung in Kraft tritt, Art. 149 GG.<br />

41 Dieser wird jährlich vom Bundesrat gewählt, Art. 52 I GG, derzeit amtierende Bundesratspräsidentin<br />

ist NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Protokollarisch steht der Bundesratspräsident an<br />

vierthöchster Stelle nach Bundespräsident, Bundestagspräsident und Bundeskanzler aber vor dem Bundesverfassungsgerichtspräsidenten<br />

(www.bmi.bund.de – Protokollarische Rangfragen)<br />

fentlichen Lebens. Zu den Aufgaben des Bundespräsidenten gehören<br />

die Ernennung und Entlassung der Regierungsmitglieder, Art. 63, 64<br />

GG, die Auflösung des Bundestages, Art. 68 I GG, die völkerrechtliche<br />

Vertretung des Bundes, Art. 59 GG und die Ausfertigung von<br />

Bundesgesetzen. Neben repräsentativen und administrativen Aufgaben<br />

hat der Bundespräsident eine Prüfungskompetenz, Art. 82 GG,<br />

da er nur verpflichtet ist, solche Gesetze auszufertigen, die nach den<br />

Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen sind. 42<br />

2. BUNDESTAG UND BUNDESRAT<br />

Das Parlament ist das einzige unmittelbar demokratisch legitimierte<br />

Verfassungsorgan. 43 So kommt dem Bundestag die Wahl anderer<br />

Staatsorgane gem. Art. 63, 94 I 2 GG zu, um die „ununterbrochene<br />

demokratische Legitimationskette“ zu gewährleisten. Daraus erklärt<br />

sich auch der „Parlamentsvorbehalt“, nach dem alle wesentlichen Regelungen,<br />

insbesondere solche, die in Grundrechte eingreifen, vom<br />

Parlament getroffen werden müssen. 44 Grundsätzlich entscheidet der<br />

Bundestag mit relativer Mehrheit der abgegeben Stimmen. Wann<br />

ausnahmsweise eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, ist im<br />

Grundgesetz explizit geregelt. Gemäß Art. 40 I 2 GG gibt sich der<br />

Bundestag eine Geschäftsordnung, die die Rechtsverhältnisse seiner<br />

Mitglieder, der Fraktionen, Abgeordneten, Ausschüsse und Untersuchungsausschüsse<br />

45 konkretisiert. Der Bundesrat rekrutiert sich nach<br />

Art. 51 I GG aus Mitgliedern der Landesregierung. Anders als der<br />

Bundestag, der jeweils für eine Legislaturperiode von vier Jahren zusammentritt,<br />

Art. 39 I 1 GG, können sich die Mehrheiten im Bundesrat<br />

mit den Ergebnissen von Landtagswahlen ändern.<br />

3. CHEFSACHE!?<br />

Die Bundesregierung besteht aus Bundeskanzler und den Bundesministern,<br />

Art. 62 GG. Ihr fallen sämtliche mit der Staatsleitung<br />

verbundenen Kompetenzen und Aufgaben zu, die allein durch<br />

Kompetenzbereiche anderer Verfassungsorgane begrenzt sind. 46 Die<br />

wohl wichtigste ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers,<br />

der nach Art. 65 S. 1, 4 GG die Richtlinien der inneren und äußeren<br />

Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt. Die Minister<br />

leiten unter dem Dach dieser Kompetenz ihr Ressort in eigener<br />

Verantwortung. Streitig ist, inwiefern der Kanzler Einzelfragen zur<br />

„Chefsache“ erklären und dem Minister diesbezüglich Weisungen<br />

erteilen darf. 47 Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern<br />

entscheidet die Bundesregierung als Kollegial, Art. 65 S. 3<br />

GG. Der Bundeskanzler wird vom Parlament gewählt und durch den<br />

Bundespräsidenten berufen, Art. 63 I GG. Er scheidet aus dem Amt,<br />

wenn ein neuer Bundestag zusammentritt, Art. 39 I 2 GG, er in der<br />

Vertrauensfrage unterliegt, Art. 68 I GG oder der Bundestag mittels<br />

konstruktiven Misstrauensvotums mit Mehrheit seiner Mitglieder<br />

einen Nachfolger wählt, Art. 67 I GG. 48<br />

42 Ob der Bundespräsident auf ein lediglich formelles Prüfungsrecht beschränkt ist, oder ihm auch ein<br />

materielles Prüfungsrecht zusteht, ist umstritten, die h.M. beschränkt das materielle Prüfungsrecht auf<br />

offensichtliche Verfassungsverstöße (Evidenzkontrolle), dazu Rolf Schmidt (Fn. 5), Rn. 591 ff.<br />

43 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 433.<br />

44 BVerfGE 49, 89 = NJW 1979, 359 (Atomkraftwerk – Schneller Brüter ).<br />

45 Siehe dazu Fallbearbeitung von Hellermann, <strong>Iurratio</strong> 2008 S. 54 ff.<br />

46 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 545.<br />

47 Dazu Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 65 GG Rn. 3 ff ; Achterberg in : Isensee/Kirchhof, Handbuch des<br />

Staatsrechts Bd. II § 52 Rn. 20 ff.; Herzog in: Maunz/Dürig, Art. 65 GG Rn. 6 ff., die wohl h.M. gesteht<br />

dem Bundeskanzler eine Weisungsbefugnis in Einzelfragen von besonderer Bedeutung für die Staatsleitung<br />

zu, sofern sie nicht in den unantastbaren Kernbereich des Ressorts eingreifen.<br />

48 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 555 ff.; zur Vertrauensfrage Gerhard Schröders BVerfG NJW 2005, 2669;<br />

Ipsen „Zur Regierung verurteilt? Verfassungsrechtliche Probleme der Vertrauensfrage nach Art. 68<br />

GG“ NJW 2005, 2201; Baumeister/Schenke „Vorgezogene Bundestagswahlen: Überraschungscoup oder<br />

Verfassungsbruch“ NJW 2005, 1844.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

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Sonder-Ausgab<br />

4. HÜTER DER VERFASSUNG 49<br />

Das Bundesverfassungsgericht ist damit betraut, die Normen des<br />

Grundgesetzes verbindlich auszulegen und anzuwenden und dafür<br />

Sorge zu tragen, dass Exekutive und Legislative nicht die vom<br />

Grundgesetz gezogenen Grenzen übertreten. 50 Seine Entscheidungen<br />

binden alle übrigen Staatsorgane, § 31 II BVerfGG. 51<br />

IV. WIE ENTSTEHT EIN GESETZ?<br />

Soll das Gesetz seine Funktion erfüllen, demokratische Legitimation<br />

zu vermitteln und Rechtssicherheit zu schaffen, so muss verlässlich<br />

geregelt sein, wer Gesetze erlässt und wie sie zustande kommen. 52 Die<br />

Legislative ist an die verfassungsmäßige Ordnung gem. Art. 20 III<br />

GG gebunden. Mithin muss ein Gesetz sowohl formell (dem Verfahren<br />

nach) als auch materiell (dem Inhalt nach) verfassungsgemäß<br />

sein, was von Ihnen im Rahmen einer Abschlussklausur und letzten<br />

Endes vom Bundesverfassungsgericht überprüft wird.<br />

Geregelt wird das Gesetzgebungsverfahren in den Art. 70 ff. GG.<br />

Dabei dürfte Ihnen bereits bekannt vorkommen, dass die Gesetzgebungskompetenzen<br />

zwischen Bund und Ländern aufgeteilt sind. Gebiete,<br />

auf denen dem Bund die ausschließliche, d.h. Kernkompetenz<br />

zukommt, sind im Grundgesetz, u.a. in Art. 73 I aufgezählt. Die Länder<br />

sind dabei nur dann zur Gesetzgebung befugt, wenn der Bund<br />

sie dazu ermächtigt, Art. 71 GG. Im Bereich der konkurrierenden<br />

Gesetzgebung sind die Länder gemäß Art. 72 I GG für die in Art. 74 I<br />

GG aufgelisteten Gebiete zuständig, solange der Bund keine Gesetzte<br />

erlassen hat. In den Fällen des Art. 72 II GG muss der Bund zudem<br />

nachweisen, dass eine bundeseinheitliche Regelung im gesamtstaatlichen<br />

Interesse erforderlich ist (Erforderlichkeitsklausel). 53 Mit dem<br />

Erlass eines Bundesgesetzes besteht eine Sperrwirkung für die Länder.<br />

54 In den in Art. 72 III GG aufgelisteten Fällen dürfen die Länder<br />

durch Gesetz von einer bestehenden Bundesregelung abweichen (für<br />

die Lateiner: lex posterior derogat legi priori) 55 . Daneben haben sich<br />

eng gefasste ungeschriebene Kompetenzen in richterlicher Rechtsfortbildung<br />

entwickelt. 56<br />

Die Mitwirkung des Bundesrates bei der Bundesgesetzgebung ist<br />

ein entscheidendes Element des Bundesstaatsprinzips. Der Grad der<br />

Mitwirkung bemisst sich nach der Art des Gesetzes: Einspruchsoder<br />

Zustimmungsgesetz. 57 Die meisten Gesetze sind Einspruchsgesetze,<br />

d.h. sie kommen ohne aktive Mitwirkung des Bundesrats<br />

zustande, der in das Gesetzgebungsverfahren nur eingreifen kann,<br />

indem er fristgerecht Einspruch einlegt. Dagegen ist nur in den vom<br />

Grundgesetz aufgezählten Fällen, in denen Länderinteressen voraussichtlich<br />

empfindlich tangiert werden, eine explizite Zustimmung<br />

des Bundesrates erforderlich, z.B. Art. 74 II GG.<br />

49 So sieht sich das BVerfG, wie in BVerfGE 1, 184 (195 f.) deutlich wird selbst, dennoch steht es nicht<br />

über, sondern unter der Verfassung und ist an den Maßstab des Grundgesetzes gebunden.<br />

50 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 93 Rn. 3.<br />

51 In den Fällen des Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. § 31 Abs. 2 BVerfG, Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG hat die Entscheidung<br />

sogar Gesetzeskraft.<br />

52 Degenhart (Fn. 12) S. 60.<br />

53 Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 72 GG, Rn. 20 ff. Die Regelungsziele sind alternativ zu verstehen. Bejaht<br />

wurde die Notwendigkeit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Rahmen der Sozialversicherung<br />

(BVerfGE 113, 167, 198), nicht aber bei unterschiedlichen Standards im Umweltrecht (Jarass/<br />

Pieroth (Fn. 2) Art. 72 Rn. 20). Hinsichtlich der Wirtschaft- und Rechtseinheit ist vor allem an europäische<br />

Vorgaben zu denken.<br />

54 BVerfGE 98, 265 (300); Jarass/Pieroth (Fn. 2) Art. 72 GG, Rn. 11.<br />

55 Dt.: Das spätere Gesetz geht dem früheren vor, Art. 72 III GG ist eine Ausprägung dieses Grundsatzes.<br />

56 Zur Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs, kraft Natur der Sache und zur Annexkompetenz<br />

mit Beispielen und Klausurhinweisen: Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 843 ff; Maurer (Fn. 10) S. 295 f.<br />

57 Rolf Schmidt (Fn. 5) Rn. 872.<br />

V. DIE AUSFÜHRUNG DER GESETZE DURCH DIE VERWALTUNG<br />

Aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik wäre es ineffizient,<br />

wenn der Bund für alle seine Zuständigkeitsbereiche eigene<br />

Behörden schaffen müsste. Daher bestimmt Art. 83 GG, dass die<br />

Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen. Es<br />

besteht, ähnlich dem Art. 70 GG, eine Zuständigkeitsvermutung für<br />

die Ausführung von Gesetzen durch die Länder. So verwundert es<br />

nicht, dass die Länder die Einrichtung ihrer Behörden selbst regeln<br />

können, Art. 84 Abs. I 1 GG.<br />

Hiervon macht Art. 85 GG eine Ausnahme: „Bundesauftragsverwaltung“<br />

bedeutet, dass die Länder die Gesetze nicht als eigene Angelegenheit,<br />

sondern lediglich im Auftrag des Bundes ausführen. Die<br />

Sachkompetenz verbleibt dabei beim Bund, während die Wahrnehmungskompetenz,<br />

d.h. das Handeln nach außen, den Ländern<br />

übertragen wird. 58 Die Bundesauftragsverwaltung liegt nur in den<br />

im Grundgesetz genannten Fällen vor, z.B. bei der Bundesfernstraßenverwaltung,<br />

Art. 90 GG. Dem Bund steht gegenüber den Landesministerien<br />

eine Fachaufsicht zu, d.h. er darf gemäß Art. 85 III GG<br />

Weisungen erteilen. Beschränkt wird dieses Weisungsrecht denklogisch<br />

nur durch die Gesetzgebungszuständigkeit, da eine Weisung<br />

nicht weiterreichen darf, als die Gesetzgebungszuständigkeit selbst. 59<br />

Außerdem ist nach dem Grundsatz der Bundestreue eine Weisung<br />

anzukündigen und dem Land Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.<br />

60 Die Weisung ist jeweils an die oberste Landesbehörde, i.d.R.<br />

an den zuständigen Landesminister, zu richten. 61 Ist das Land der<br />

Auffassung, dass die Weisung rechtswidrig ist, kann es im Wege des<br />

Bund-Länder-Streites eine Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht<br />

erwirken, Art. 93 I Nr. 3 GG. 62<br />

C. WIE BEIM LOTTO - OHNE GEWÄHR<br />

An den meisten Universitäten werden vorlesungsbegleitende Tutorien<br />

angeboten, in denen Sie die Techniken der Fallbearbeitung<br />

einüben können. Häufig thematisieren Abschlussklausuren als<br />

Fall- oder Frageklausur das Gesetzgebungsverfahren, die Grundentscheidungen<br />

und amtliche Warnungen 63 . Von den Verfahren sind<br />

das Organ-Streit-Verfahren und die Normenkontrollverfahren besonders<br />

relevant. Ihrer Lektüre seien diesbezüglich uneingeschränkt<br />

empfohlen:<br />

Maurer, Hartmut, Staatsrecht I, Verlag C.H. Beck München, 6. Auflage<br />

2010, 784 Seiten<br />

Degenhart, Christoph, Staatsorganisationsrecht, Verlag C.F. Müller,<br />

26. Auslage 2010, 363 Seiten<br />

Schmidt, Rolf, Staatsorganisationsrecht, Verlag Rolf Schmidt,<br />

10. Auflage 2010, 421 Seiten<br />

58 Wolst, Die Bundesauftragsverwaltung als Verwaltungsform, 1974, S. 54.<br />

59 BVerfGE 102, 176; Lerche, in: Maunz/Dürig, Art. 85 Rn. 49-69.<br />

60 BVerfGE 81, 310, 337 (Kalkar II).<br />

61 Suerbaum, in BeckOK GG, Art. 85 Rn. 36.<br />

62 BVerfGE 81, 310, 330 (Kalkar II); dazu Fallbearbeitung von Pietrzyk in: <strong>Iurratio</strong> 2011, 172.<br />

63 BVerfG NJW 2002, 2621 (Glykolwein); BVerfGE 105, 279 (Osho) BVerwG NJW 1989, 2272 (Jugendsekten);<br />

OVG Münster NJW 1997, 1459 (Warnung vor Scientology), dazu Fallbearbeitung Cremer/Jeand’Heur<br />

JuS 2000, 991.<br />

24<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Anfänger im Zivilrecht: „Fit in den Sommer“<br />

von Dr. Peter Balzer und Volker Kindler (Bonn)<br />

Dr. Peter Balzer ist Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht und Partner der Kanzlei Balzer Kühne Lang mit Sitz in Bonn.<br />

Er ist Lehrbeauftragter an den Universitäten Bonn und Siegen, Autor einer Fallsammlung zum Schuldrecht und zahlreicher<br />

Fachveröffentlichungen im Bank- und Kapitalmarktrecht.<br />

Volker Kindler hat sein Studium der Rechtswissenschaften in Bonn mit dem Schwerpunkt „Bank- und Kapitalmarktrecht“<br />

Mitte 2010 mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Danach war er als Tutor im Zivilrecht tätigt. Seit Mitte 2011 ist er<br />

Rechtsreferendar am Oberlandesgericht Köln und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kanzlei Balzer Kühne Lang in Bonn.<br />

I. SACHVERHALT<br />

F betreibt in Bonn ein großes Fitnessstudio. A ist dort seit dem Jahr<br />

2007 Mitglied, zuletzt hat er im August 2010 seine Mitgliedschaft<br />

(Monatsbeitrag € 29,-) um ein weiteres Jahr bis zum 31.7.2011 verlängert.<br />

Am Morgen des 15.9.2010 begibt sich A in das Studio des F,<br />

um sein regelmäßiges Ausdauertraining zu absolvieren. Nachdem er<br />

sich wie üblich kurz auf dem Laufband aufgewärmt hat, begibt sich A<br />

zu den Rudergeräten, um hier sein Training fortzusetzen. Leider ist<br />

das Rudergerät, das A für sein Training auswählt, defekt, da die Befestigung<br />

der Zugkette am Schwungrad abgerissen ist. Als A zum ersten<br />

Ruderzug ausholt, fällt er mangels Widerstands rückwärts vom<br />

Rollsitz herunter und zieht sich eine schmerzhafte Schulterprellung<br />

zu, die eine ärztliche Behandlung erforderlich macht.<br />

Es stellt sich heraus, dass bereits am Vorabend das Studiomitglied<br />

S den Mitarbeiter M des F, der für die Überwachung und Instandhaltung<br />

der Geräte zuständig ist, über den Defekt des Rudergerätes<br />

informiert hatte. M hatte sich vorgenommen, das Rudergerät zur Reparatur<br />

in den Keller zu bringen, dies aber in der Folge auf Grund der<br />

Hektik des Studiobetriebs wieder vergessen. Als A hiervon erfährt,<br />

macht er dem F Vorhaltungen, dass er sich nicht um die Sicherheit<br />

seiner Mitglieder kümmere. F ist der Meinung, dass er für das Fehlverhalten<br />

des M nichts könne. Er verweist auf eine schriftliche Arbeitsanweisung,<br />

die allen Mitarbeitern (und damit auch dem M) zur<br />

Kenntnis gebracht worden sei. Dort steht ausdrücklich, dass defekte<br />

Geräte unverzüglich entsprechend zu kennzeichnen und nach Möglichkeit<br />

aus dem Trainingsbereich zu entfernen sind. F kontrolliert<br />

auch regelmäßig, ob sich seine Mitarbeiter an diese Vorgabe halten;<br />

bei M hat es in der Vergangenheit keinerlei Beanstandungen gegeben.<br />

Nach seiner Verletzung hat A das Vertrauen in sein Fitnessstudio verloren<br />

und beschließt, nun zuhause zu trainieren. Aus diesem Grund<br />

bestellt er am 9.10.2010 beim Gerätehersteller G einen Crosstrainer<br />

„LifeFitness X7 Advanced“ zum Preis von € 4.999,-. Die Lieferung<br />

soll spätestens am 29.02.2011 erfolgen, da A das Gerät ab März 2011<br />

in seinen erweiterten Räumlichkeiten einsetzen will. Am 15.03.2011<br />

teilt G dem A schriftlich mit, dass er infolge gestiegener Lohn- und<br />

Materialkosten den Preis für den Crosstrainer auf € 5.499,- anheben<br />

müsse. A besteht auf Lieferung des Gerätes zum vereinbarten<br />

Preis von € 4.999,-. Hierzu ist G nicht bereit, er teilt A mit Fax vom<br />

17.03.2011 mit, dass dieser sich dann das Gerät anderweitig beschaffen<br />

müsse. A gelingt es erst am 20.03.2011, beim Händler H einen<br />

Crosstrainer „LifeFitness X7 Advanced“ zu erwerben, für den er allerdings<br />

€ 5.199,- aufwenden muss. Mit Schreiben vom 22.03.2011<br />

nimmt A den G auf Ersatz der Mehrkosten für die Anschaffung des<br />

Crosstrainers in Höhe von € 200,- in Anspruch. A verlangt weiter<br />

von F und M Ersatz der Behandlungskosten von € 300,- sowie ein<br />

angemessenes Schmerzensgeld von € 100,-.<br />

Wie ist die Rechtslage? Zu prüfen sind nur Vorschriften des BGB.<br />

II. LÖSUNG<br />

1. TEIL: DAS DEFEKTE RUDERGERÄT<br />

A. Ansprüche des A gegen F auf Zahlung von € 400,- (Behandlungskosten<br />

von € 300,- und Schmerzensgeld von € 100,-)<br />

I. ANSPRUCH DES A GEGEN F AUS §§ 280 I, 241 II BGB<br />

A könnte gegen A einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von<br />

€ 400,- aus §§ 280 I, 241 II BGB haben.<br />

1. SCHULDVERHÄLTNIS<br />

Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist zunächst das Bestehen<br />

eines Schuldverhältnisses zwischen A und A. Ein Schuldverhältnis<br />

besteht dann, wenn die eine Partei von der anderen ein Tun oder Unterlassen<br />

verlangen kann, § 241 I BGB. Zwischen A und F bestand,<br />

nachdem A seine Mitgliedschaft bis zum 31.7.2008 verlängert hatte,<br />

ein Fitnessstudiovertrag (typengemischter Vertrag mit miet- und<br />

dienstvertraglichen Elementen 1 , §§ 535, 611 BGB). Das erforderliche<br />

Schuldverhältnis liegt daher vor.<br />

2. PFLICHTVERLETZUNG<br />

Weiterhin müsste A eine aus diesem Schuldverhältnis resultierende<br />

Pflicht verletzt haben, § 280 I 1 BGB. Im Rahmen des bestehenden<br />

Fitnessstudiovertrages traf F nach § 241 II BGB die (Neben-)Pflicht,<br />

alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zu veranlassen, um<br />

Schädigungen der Mitglieder zu vermeiden. 2 In diesem Fall besteht<br />

die darin, dass, sofern bei einzelnen Geräten ein Defekt auftritt, diese<br />

unverzüglich zu kennzeichnen sind, damit Mitglieder bei der Benutzung<br />

nicht zu Schaden kommen. Diese Sorgfaltspflicht könnte auf<br />

Grund der unterbliebenen Kennzeichnung bzw. Entfernung des defekten<br />

Rudergerätes aus dem Trainingsbereich verletzt worden sein.<br />

1 LG Darmstadt, NJW-RR 1991, 1015.<br />

2 Katzenstein, Jura 2004, 800 ff; Mangel, in: Jauernig, § 241 Rn. 10.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

25


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Bearbeiterhinweis: Im Folgenden ist es wichtig zu erkennen, dass die<br />

Pflichtverletzung gerade nicht durch F sondern durch seinen Mitarbeiter<br />

M erfolgte. Die Zurechnung erfolgt dann über § 278 S. 1 BGB<br />

bei einem Erfüllungsgehilfen. 3 Dies dient dazu, dass sich derjenige,<br />

der sich der Arbeitsleistung Dritter zur Erfüllung eigener Verpflichtungen<br />

bedient, hierfür auch so haften soll, als hätte er die Verpflichtungen<br />

selbst übernommen. 4 § 278 BGB ist somit eine bloße Zurechnungsnorm,<br />

und keine eigene Anspruchsgrundlage. Anders jedoch<br />

bei einem Verrichtungsgehilfen. Hier handelt es sich bei § 831 um<br />

eine eigene Anspruchsgrundlage. 5<br />

Zwar ist F hierfür nicht selbst unmittelbar verantwortlich, ihm<br />

könnte aber das sorgfaltswidrige Verhalten seines Mitarbeiters M<br />

nach § 278 S. 1 BGB zuzurechnen sein. Dann müsste M Erfüllungsgehilfe<br />

des F gewesen sein.<br />

a) Erfüllungsgehilfe<br />

Erfüllungsgehilfe ist jede Person, der sich der Schuldner zur Erfüllung<br />

seiner Verpflichtungen aus dem Schuldverhältnis bedient. 6 M<br />

war Erfüllungsgehilfe i.S.d. § 278 S. 1 BGB, da er bei der Überwachung<br />

und Instandhaltung der Trainingsgeräte mit Wissen und Wollen<br />

des F in dessen Pflichtenkreis tätig wurde und daher auch die<br />

Sorgfaltspflichten des F zu erfüllen hatte.<br />

b) Sorfaltspflichtverstoß<br />

Gegen die ihm übertragenen Sorgfaltspflichten hat M verstoßen, indem<br />

er entgegen der Arbeitsanweisung nicht dafür sorgte, dass die<br />

Mitglieder durch das defekte Rudergerät nicht gefährdet wurden.<br />

c) Bei Ausübung seiner Pflichten<br />

Der Sorgfaltspflichtverstoß des M erfolgte auch in Ausübung der ihm<br />

von F übertragenen Pflichten und nicht nur bei Gelegenheit. 7<br />

3. VERTRETENMÜSSEN/VERSCHULDEN<br />

M müsste die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben. Der Schuldner<br />

hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, § 276 I BGB. Die<br />

Pflichtverletzung des M kann vorliegend durch die unterbliebene<br />

Kennzeichnung bzw. Entfernung des defekten Rudergerätes, die auch<br />

sorgfaltswidrig und damit fahrlässig i.S.d. § 276 II BGB 8 erfolgte, erblickt<br />

werden. Dieses ist dem F nach § 278 S. 1 BGB zuzurechnen.<br />

Bearbeiterhinweis: Nach § 280 I S.2 BGB findet eine Beweislastumkehr<br />

statt. 9 „Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung<br />

nicht zu vertreten hat“. Die Beweislast trifft damit den Schuldner und<br />

nicht, wie sonst üblich, den Gläubiger.<br />

4. SCHADEN<br />

Rechtsfolge der schuldhaften Pflichtverletzung ist, dass F dem A den<br />

hieraus entstehenden Schaden ersetzen muss. Der Umfang des zu leistenden<br />

Schadensersatzes bestimmt sich nach §§ 249 ff. BGB. Die<br />

Schadensberechnung erfolgt nach der Differenzhypothese, es ist also<br />

die Vermögenslage nach der Pflichtverletzung mit der Vermögenslage<br />

die ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, zu vergleichen. 10<br />

Nach § 249 II 1 BGB kann A somit Ersatz der Behandlungskostenvon<br />

€ 300,- verlangen. Weiterhin hat er gem. § 253 II BGB zudem einen<br />

Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von<br />

€ 100,- 11<br />

ERGEBNIS:<br />

A hat somit gegen F einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von<br />

€ 400,- aus §§ 280 I, 241 II BGB.<br />

II. ANSPRUCH DES A GEGEN F AUS § 831 I 1 BGB<br />

A könnte gegen F zudem einen Anspruch auf Schadensersatz in<br />

Höhe von € 400,- aus § 831 I 1 BGB haben.<br />

1. VERRICHTUNGSHILFE<br />

Dann müsste M Verrichtungsgehilfe des F gewesen sein und bei Ausführung<br />

der Verrichtung dem A rechtswidrig einen Schaden zugefügt<br />

haben.<br />

Verrichtungsgehilfe ist, wer von einem anderen (dem sog. Geschäftsherrn),<br />

von dem er weisungsabhängig ist, mit einer bestimmten Tätigkeit<br />

betraut worden ist. 12 Vorliegend war M als Mitarbeiter weisungsabhängig<br />

und übte bei der Überwachung und Instandhaltung<br />

der Trainingsgeräte eine ihm von F übertragene Tätigkeit aus. Er war<br />

damit Verrichtungsgehilfe des F i.S. von § 831 I 1 BGB.<br />

2. IN AUSFÜHRUNG DER VERRICHTUNG<br />

Weiterhin müsste er bei Ausführung der Verrichtung und nicht nur<br />

bei Gelegenheit gehandelt haben. 13<br />

Als er die Kennzeichnung bzw. die Entfernung des defekten Rudergerätes<br />

entgegen der Arbeitsanweisung unterließ, handelte M in Ausführung<br />

der ihm von F übertragenen Verrichtung.<br />

3. RECHTSWIDRIGE SCHÄDIGUNG<br />

Es müsste auch eine rechtswidrige Schädigung des A durch M vorliegen.<br />

14<br />

Dies ist durch die zugefügten Verletzungen des A der Fall. Indem M<br />

die Kennzeichnung bzw. die Entfernung des defekten Rudergerätes<br />

unterließ, setzte er eine Ursache dafür, dass A rückwärts vom Rollsitz<br />

herunterfiel und sich eine Schulterprellung zuzog. Hieraus resultierte<br />

ein Schaden des A in Höhe von € 400,- (Behandlungskosten<br />

von € 300,-; Schmerzensgeld in Höhe von € 100,-).<br />

4. KEINE EXKULPATION<br />

Nach § 831 I 2 BGB tritt die Ersatzpflicht aber nicht ein, wenn den<br />

Geschäftsherrn kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden<br />

trifft .15<br />

Ein solches Verschulden wird nach § 831 I 2 BGB grundsätzlich vermutet.<br />

Da M ein entsprechender Fehler in der Vergangenheit indes<br />

noch nie unterlaufen ist, muss davon ausgegangen werden, dass F ihn<br />

sorgfältig ausgewählt hat. Zudem hat F auch regelmäßig kontrolliert,<br />

ob M die Arbeitsanweisung einhielt. F kann sich somit nach § 831<br />

3 zur Vertiefung: Armbrüster, Grundfälle zum Schadensrecht, JuS 2007, 605.<br />

4 BGHZ 95, 128, 132 = BGH NJW 1985, 1939.<br />

5 Sprau in: Palandt, § 831 Rn.1.<br />

6 Stadler in: Jauernig, § 278 Rn. 6; Schmidt-Kessel in Prütting/Wegen/Weinreich, § 278 Rn. 7 f.<br />

7 Grundmann in: MüKo, § 278 Rn. 46.<br />

8 Vgl. ausführlich zum Begriff der Fahrlässigkeit: Lorenz, JuS 2007, 611.<br />

9 Ernst in: MüKo, § 280 Rn. 27 f.<br />

10 Teichmann in: Palandt, § 249 Rn. 6.<br />

11 Die Höhe des Schmerzensgeldes ist im Sachverhalt im Regelfall immer angegeben. In der Praxis<br />

richtet sich die Berechnung nach der Art und der Schwere der Verletzung, vgl. hierzu BGHZ 138, 391.<br />

Auch gibt es verschiedene Schmerzensgeldtabellen, u.a. vom ADAC, die einen ersten Anhaltspunkt liefern<br />

können. Vgl. weiterhin die Übersicht bei Jeager/Luckey, VRR 2010, 84.<br />

12 Sprau in: Palandt, § 831 Rn. 5; Wagner in: MüKo § 831 Rn. 14.<br />

13 Teichmann in: Jauernig, § 831 Rn. 8.<br />

14 Sprau in: Palandt, § 831 Rn. 8.<br />

15 Wagner in: MüKo, § 831 Rn. 33 f.<br />

26<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

I 2 BGB entlasten (exkulpieren), so dass eine Schadensersatzpflicht<br />

gegenüber A nicht besteht.<br />

ERGEBNIS:<br />

A hat daher gegen F keinen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe<br />

von € 400,- aus § 831 I 1 BGB.<br />

B. ANSPRUCH DES A GEGEN M AUS § 823 I BGB<br />

Anspruch des A gegen M auf Zahlung von € 400,- (Behandlungskosten<br />

von € 300,- und Schmerzensgeld von € 100,-).<br />

A könnte gegen M einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von<br />

€ 400,- aus § 823 I BGB haben.<br />

I. RECHTSGUTSVERLETZUNG<br />

Voraussetzung für das Bestehen dieses Anspruchs ist zunächst, dass<br />

M ein durch § 823 I BGB geschütztes Rechtsgut des A verletzt hat.<br />

§ 823 I schützt u.a. den Körper und die Gesundheit eines Menschen.<br />

Durch den Sturz des A vom Rollsitz ist sein Körper sowie seine Gesundheit<br />

verletzt worden, sodass eine Beeinträchtigung des Körpers<br />

und seiner Gesundheit vorliegt.<br />

II. ZURECHENBARKEIT DER RECHTSGUTSVERLETZUNG<br />

Die Handlung des M führt nur dann zu einer Rechtsgutverletzung,<br />

wenn diese ihm objektiv zugerechnet werden kann. 16 Dies setzt zunächst<br />

voraus, dass die Handlung adäquate kausal für die Rechtsgutsverletzung<br />

geworden ist. 17 Der Sturz ist darauf zurückzuführen, dass<br />

M das defekte Rudergerät nicht gekennzeichnet bzw. aus dem Trainingsbereich<br />

entfernt hat. M hat daher durch sein Verhalten die Ursache<br />

für die Rechtsgutverletzung des A gesetzt.<br />

III. VERTRETENMÜSSEN<br />

M müsste die Rechtsgutverletzung des A ferner zu vertreten haben,<br />

d.h. er müsste fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt haben,<br />

§ 276 I 1 BGB. Da M trotz Kenntnis des Defekts am Rudergerät die<br />

Kennzeichnung bzw. die Entfernung in der Folge vergessen hat, hat<br />

er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen, sodass<br />

die Rechtsgutverletzung nach § 276 II BGB fahrlässig und damit<br />

schuldhaft erfolgt ist.<br />

IV. RECHTSWIDRIGKEIT<br />

Die Rechtsgutsverletzung müsste auch rechtswidrig sein. Dieses ist<br />

immer dann der Fall, wenn keine Rechtfertigungsgründe vorliegen.18<br />

Auch die Rechtswidrigkeit der Rechtsgutverletzung ist gegeben,<br />

da keine Rechtfertigungsgründe zu Gunsten des M eingreifen.<br />

V. SCHADEN<br />

Als Rechtsfolge ordnet § 823 I BGB eine Haftung auf Schadensersatz<br />

an, dessen Umfang sich wiederum nach §§ 249 ff. BGB bestimmt. 19<br />

Bearbeiterhinweis: an dieser Stelle können Sie, da sich keine Abweichungen<br />

zu der oben vorgenommenen Berechnung ergeben, nach<br />

oben verweisen.<br />

Nach den obigen Ausführungen beträgt der ersatzfähige Schaden des<br />

A € 400,-.<br />

16 Teichmann in: Jauernig, § 823 Rn. 20.<br />

17 BGHZ 41, 123.<br />

18 Wagner in: MüKo, § 823 Rn. 304; BGHZ 122, 6 f.<br />

19 Sprau in: Palandt, vor § 823 Rn 17.<br />

ERGEBNIS:<br />

A hat daher gegen M einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe<br />

von € 400,- aus § 823 I BGB.<br />

2. TEIL: DER CROSSTRAINER<br />

A. ANSPRUCH DES A GEGEN G AUS §§ 280 I, III, 281 I BGB<br />

Anspruch des A gegen G auf Schadensersatz in Höhe von € 200,-<br />

A könnte gegen G einen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung<br />

in Höhe von € 200,- aus §§ 280 I, III, 281 I BGB haben.<br />

I. SCHULDVERHÄLTNIS<br />

Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist zunächst das Bestehen<br />

eines Schuldverhältnisses zwischen A und G. Zwischen A und G ist<br />

infolge der Bestellung des Crosstrainers „LifeFitness X7 Advanced“<br />

zum Preis von € 4.999,- ein Kaufvertrag i.S.d. § 433 BGB zustande gekommen.<br />

Ein Schuldverhältnis zwischen F und G bestand daher.<br />

II. PFLICHTVERLETZUNG<br />

Weiterhin müsste G eine aus diesem Schuldverhältnis resultierende<br />

Pflicht verletzt haben, § 280 I 1 BGB. 20 G hat entgegen der vertraglichen<br />

Absprachen den bestellten Crosstrainer nicht (spätestens) am<br />

29.02.2011 geliefert. Eine Pflichtverletzung des G liegt daher vor.<br />

III. VERSCHULDEN<br />

Das nach § 280 I 2 BGB erforderliche Verschulden wird vermutet 21 ;<br />

G hat sich nicht exkulpiert.<br />

IV. FRISTSETZUNG<br />

Für einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung müssen weiterhin<br />

die Voraussetzungen des § 281 BGB erfüllt sein. Nach § 281 I 1<br />

BGB ist insoweit erforderlich, dass der Gläubiger dem Schuldner erfolglos<br />

eine angemessene Nachfrist zur Leistung bestimmt. Eine solche<br />

Nachfrist hat F dem G indes nicht eingeräumt.<br />

Allerdings ist die Setzung einer Nachfrist nach § 281 II BGB u.a.<br />

entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig<br />

verweigert. Vorliegend hat G dem F sowohl mit Schreiben vom<br />

15.03.2011 als auch mittels Telefax vom 02.04.2011 zu erkennen gegeben,<br />

dass er den Vertrag nicht wie vereinbart erfüllen wird, sondern<br />

auf eine Änderung des Vertrages in Form einer Preiserhöhung<br />

besteht. Hierin liegt eine Erfüllungsverweigerung 22 des G, so dass die<br />

Setzung einer Nachfrist durch A nach § 281 II BGB entbehrlich war.<br />

V. SCHADEN<br />

Die Tatbestandsvoraussetzungen nach §§ 280 I, III, 281 BGB sind<br />

mithin erfüllt, A hat gegen G einen Anspruch auf Schadensersatz<br />

statt der Leistung, dessen Höhe sich nach §§ 249 ff. BGB bestimmt. G<br />

muss den A daher so stellen, als hätte er den bestellten Crosstrainer<br />

vereinbarungsgemäß zum Preis von € 4.999,- geliefert. Dann wäre es<br />

dem A erspart geblieben, sich den Crosstrainer bei H zum Preis von<br />

€ 5.199,- besorgen zu müssen. Der ersatzfähige Schaden des A beläuft<br />

sich demnach auf € 200,-.<br />

B. ERGEBNIS:<br />

A hat daher gegen G einen Anspruch auf Schadensersatz statt der<br />

Leistung in Höhe von € 200,- aus §§ 280 I, III, 281 BGB.<br />

20 Stadler in: Jauernig, § 280 Rn. 58.<br />

21 vgl. die Ausführungen unter A I c).<br />

22 Ernst in: MüKo, § 281 Rn. 50 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

27


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Empfehlung für die Muppet-Show:<br />

„nicht nachahmenswert, aber auch nicht rechtswidrig“<br />

Lustiges und Kurioses aus der Rechtsprechung<br />

Immer wieder wird man in den ersten Monaten seines Jurastudiums auf die Frage von Bekannten und Freunden, was<br />

man denn nun studiere, fassungslos angesehen und muss sich das Folgende anhören: „Was, Du studierst Jura? Das ist<br />

ja total trocken und langweilig!“ Nach der Lektüre der folgenden Urteile werden Sie darüber nur müde lächeln, aus<br />

dem Nähkästchen plaudern und von diesen kuriosen, mitunter sehr witzigen Urteilen berichten können.<br />

Und ja, es sind wirklich „echte Fälle“ und nicht lustige Ideen unserer Redaktion.<br />

Kein Schmerzensgeld bei Sturz aus Gefrierschrank<br />

Steigt ein Kunde in den Gefrierkühlschrank eines<br />

Großmarktes, um die im hinteren Bereich befindlichen<br />

Lebensmittel zu erreichen und stürzt<br />

auf dem Weg hinaus über eine zuvor bereits beim<br />

Einstieg überwundene Stufe, kann er vom Betreiber<br />

der Großmarkthalle keinen Schadensersatz wegen<br />

Verletzung der Verkehrssicherungspflicht verlangen.<br />

Der Kunde gab an, als er sich im Schrank befand,<br />

sei dir Tür hinter ihm zugefallen und das Innere<br />

des Glases sei beschlagen. Beim Hinausgehen<br />

stürzte der dann mit dem Karton in seinen Händen<br />

über die Stufe und erlitt einen Knochenbruch des<br />

Wadenbeins. Er wandte sich an den Betreiber des<br />

Großmarktes und verlangte Schmerzensgeld i.H.v.<br />

mindestens 4.000 Euro. Die Stufe, so der Kläger,<br />

hätte gekennzeichnet werden müssen, da sie auf<br />

Grund der schlechten Sichtverhältnisse in dem<br />

Kühlschrank und den beschlagenen Fenstern nicht<br />

erkennbar gewesen sei. Der Beklagte verwies auf<br />

die gute Beleuchtung des Gefrierschrankes und auf<br />

den Umstand, dass er nicht zum Betreten gedacht<br />

sei. Das Gericht wies die Klage ab. Wer schon die<br />

Stufe hinaufsteige, müsse selber wissen, dass er<br />

diese beim Gehen auch wieder hinunterzusteigen<br />

habe. Im Übrigen hätte er eine Selbstgefährdung<br />

auch dadurch abwenden können, dass er das Personal<br />

des Marktes um die Entnahme des Kartons<br />

hätte bitten können. AG München v. 01.08.2011,<br />

113 C 20523/10<br />

Jura vom „Hören-Sagen“<br />

Hörbücher stellen die perfekte Alternative oder Ergänzung für jeden<br />

dar, der seine Augen einmal schonen möchte oder schlichtweg<br />

in Situationen lernen möchte, in denen das Lesen unmöglich ist, wie<br />

z.B. beim Autofahren, Radfahren oder Joggen. Vorliegend werden die<br />

Hör-Materialien von Hemmer/Wüst und Niederle Media vorgestellt.<br />

Die Materialien von Hemmer/Wüst nennen sich Audio-Cards und<br />

wurden in Zusammenarbeit mit dem Verlag Ohrenmenschen produziert.<br />

Bisher werden die Bereiche BGB-AT, Schuldrecht, Sachenrecht,<br />

Deliktsrecht, Bereicherungsrecht und Staatsrecht angeboten; die Themengebiete<br />

Zivilprozessrecht, Strafrecht und weitere sind noch für<br />

diesen Herbst geplant. Die Audio-Cards können sowohl über den<br />

Shop des Verlages Ohrenmenschen, als auch den von Hemmer/Wüst<br />

bestellt werden; die praktische Option des Online-Downloads wird<br />

ebenfalls angeboten. Die Dateien sind alle im Frage-Antwort-Stil<br />

aufgebaut. Eine freundliche Männerstimme stellt die Fragen, danach<br />

ertönt ein kurzer Gong, der es einem ermöglicht, sich selbst Gedanken<br />

über die Antwort zu machen und schließlich beantwortet eine<br />

Frauenstimme die aufgeworfene Frage. Die Stimmen legen eine angenehme<br />

Betonung an den Tag, so dass man ihnen problemlos folgen<br />

kann. Alle Audio-Cards enthalten zusätzlich ein pdf-Dokument,<br />

welches den gesamten vorgetragenen Inhalt wortwörtlich enthält. Die<br />

Dateien sind in zwei Spalten aufgeteilt: Die linke Spalte enthält die<br />

Fragen, die rechte die Antworten, so dass man es ideal zum Selbsttest<br />

heranziehen kann, indem man die Spalte mit den Antworten mit<br />

einem Zettel abdecken und sich so selbst abfragen kann. Die Audio-<br />

Cards sind äußerst ausführlich. So hat z.B. allein das Komplettpaket<br />

der Audio-Cards zum BGB-AT einen Umfang von über 400 Minuten!<br />

Die Cards zum BGB AT bestehen aus drei Teilen, die man auch einzeln<br />

für je 19,95 € erwerben kann, das Komplettpaket kostet 44,80 €.<br />

Niederle Media bietet in seinem Sortiment vom BGB-AT über sämtliche<br />

Strafrechtsbereiche bis hin zu Nebengebieten wie Arbeitsrecht<br />

oder Handels- und Gesellschaftsrecht die gesamte Palette der juristischen<br />

Fachgebiete. Alle Hörbücher sind sowohl als Audio-CD als auch<br />

als mp3-Dateien erhältlich; letztere stehen auch online als Download<br />

inklusive pdf-Dateien im Originalwortlaut bereit. Die Dateien sind<br />

ebenfalls im Frage-Antwort-Stil aufgebaut; hier stellt eine Frauenstimme<br />

die Fragen, eine Männerstimme beantwortet diese dann direkt<br />

im Anschluss. Auch hier wird in einer angenehmen Tonlage vorgetragen,<br />

so dass man dem Vortrag sehr gut folgen kann. In den pdf-<br />

Dokumenten sind die Fragen und Antworten in einem fortlaufenden<br />

Text aufgeführt. Die Dateien bieten einen kompakten Überblick über<br />

die verschiedenen Themenbereiche, sind aber nicht so ausführlich<br />

wie die von Hemmer/Wüst; so wird vergleichsweise das Basiswissen<br />

BGB-AT in 79 Minuten dargestellt. Dies macht sich aber natürlich<br />

preislich bemerkbar. Die Audio-CD ist für 7,90 € erhältlich, der mp3-<br />

Download bereits für 5,99 €. Zudem werden auch verschieden CDs<br />

mit Standardfällen, Streitfragen oder Definitionen angeboten. Als<br />

Wiederholung, Auffrischung oder Ergänzung sind auch diese Hörbücher<br />

sehr zu empfehlen.<br />

Weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten unter:<br />

http://www.hemmer-shop.de/<br />

http://www.niederle-media.de/13.html<br />

28<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Polizisten dürfen nicht in Pornos mitspielen<br />

In einem Disziplinarverfahren wurde die Entfernung eines Polizeibeamten<br />

aus dem Beamtenverhältnis ausgesprochen, der wegen<br />

Beihilfe zur verbotenen Prostitution zu einer Geldstrafe von 30<br />

Tagessätzen verurteilt worden war und zuvor als Pornodarsteller in<br />

einem Film mitgewirkt hatte. Die Bundesrepublik klagte u.a. wegen<br />

der Beihilfe zur verbotenen Prostitution, der Mitwirkung in einem<br />

Pornovideofilm und den damit jeweils verbundenen nicht genehmigten<br />

Nebentätigkeiten auf Entfernung, da das Vertrauensverhältnis<br />

zu dem Beamten unwiderruflich zerstört sei. Das VG befand, der<br />

Beamte habe schuldhaft ein schweres Dienstvergehen begangen und<br />

dadurch das Vertrauen seines Dienstherrn und der Allgemeinheit<br />

endgültig verloren. Ein Beamter müsse innerhalb und außerhalb des<br />

Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein<br />

Beruf verlange. Das Verhalten des Beamten außerhalb des Dienstes<br />

sei in besonderem Maße geeignet gewesen, Achtung und Vertrauen<br />

in einer bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen. Zudem habe er sich<br />

auch nach seiner Verurteilung weiterhin im „Rotlichtmilieu“ aufgehalten<br />

und sei im Jahre 2008 anlässlich einer Polizeikontrolle sogar<br />

bei einer „Gang-Bang-Party“ in einem Bordell angetroffen worden.<br />

Der Polizeibeamte habe sich somit durch ein schweres Dienstvergehen<br />

endgültig untragbar gemacht, weshalb die Disziplinarmaßnahme<br />

der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu verhängen gewesen sei.<br />

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Verwaltungsgericht Stuttgart v.<br />

27.07.11, DB 23 K 5319/10<br />

Lehmann 0:1 Wiese –<br />

Nicht nachahmenswert, aber eben auch nicht rechtswidrig<br />

Das Gericht hatte die Frage zu beantworten, ob die folgenden<br />

Worte eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstellen: „Der<br />

Lehmann soll in die Muppet-Show gehen. Der Mann gehört auf die<br />

Couch. Vielleicht wird ihm da geholfen. Einweisen – am besten in<br />

die Geschlossene! Was soll ich da bitte machen? Geh ich ein Stück in<br />

die Mitte, geht der Ball in die kurze Ecke rein. Ich weiß nicht, warum<br />

über so ein Tor diskutiert wird. Schwachsinn.“ So reagierte die Bremer<br />

Nummer Eins Tim Wiese auf die kritischen Kommentare des ehemaligen<br />

Nationaltorwartes Jens Lehmann, der Wieses Leistung beim Spiel<br />

Werder Bremen gegen Tottenham Hotspurs kritisierte. Lehmann verklagte<br />

Wiese daraufhin auf Schmerzensgeld i.H.v. 20.000,00€. Das Gericht<br />

nahm eine fallbezogene Abwägung zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht<br />

des Klägers und der Meinungsfreiheit des Beklagten<br />

vor. Danach gelte im öffentlichen Meinungskampf der Grundsatz der<br />

Zulässigkeit der freien Rede. Die Meinungsfreiheit decke daher auch<br />

starke Formulierungen oder als unangemessen empfundene Kritik ab.<br />

Im Milieu des Profifußballs seien Schimpfwörter und die Austragung<br />

von Konflikten zwischen Sportlern über die Medien ohnehin an der<br />

Tagesordnung. Hierbei dürfe nicht jede Aussage auf die Goldwaage<br />

gelegt werden. Das Gericht wies die Klage ab und erklärte, solche<br />

Äußerungen seien zwar nicht unbedingt nachahmenswert, aber eben<br />

auch nicht rechtswidrig. Das Urteil war bei Redaktionsschluss noch<br />

nicht rechtskräftig. LG München v. 25.08.11, II 8 O 127/11<br />

Die Gretchen-Frage des Studienanfängers<br />

Jeder Jurastudent wird zu Beginn des Studiums vor eine wichtige<br />

Entscheidung gestellt: Welches Gesetz soll mich in den nächsten<br />

Monaten durch mein Studium begleiten? Hier gibt es in erster Linie<br />

zwei Möglichkeiten: Zum einen wäre da die imposant aussehende und<br />

bekannte Textsammlung Schönfelder nebst dem Sartorius, zum anderen<br />

die Gesetzestextsammlung des Nomos-Verlages. Beide haben<br />

ihre Vor- und Nachteile und sollen daher an dieser Stelle einmal überblickartig<br />

vorgestellt werden. Bei den erstgenannten Texten handelt es<br />

sich um Loseblattsammlungen, welche in unregelmäßigen Abständen<br />

durch Ergänzungslieferungen aktualisiert werden. Diese werden dann<br />

an die Stelle der veralteten Blätter geheftet, so dass ein Übertrag der<br />

Paragraphenverweise möglich ist. Die Kosten für diese Ergänzungslieferungen,<br />

deren Zusendung beim Kauf direkt bequem vereinbart<br />

werden kann, variieren je nach ihrem Umfang. In letzter Zeit lag die<br />

Preisspanne zwischen 6,50€ und 19,50€ pro Ergänzungslieferung.<br />

Der Schönfelder wird durch sein imposantes Äußeres mit dickem<br />

roten Einband und dem Gewicht von fast 3kg gern als Statussymbol.<br />

Neben dem BGB sind die Zivilprozessordnung (ZPO), das Handelsgesetzbuch<br />

(HGB), das Strafgesetzbuch (StGB) sowie etwa 100 weitere<br />

Gesetze enthalten. Das Gebiet des Öffentlichen Rechts muss ergänzend<br />

durch den Kauf des Sartorius abgedeckt werden.<br />

Die Gesetzessammlung des Nomos-Verlages kommt in drei gebundenen<br />

Teilen unterschiedlicher Außenfarbe daher. Der Einband der<br />

Bücher besteht aus dünnem Pappdeckel, so dass Beschädigungen<br />

kaum vermeidbar sind. Bei Gesetzesänderungen können diese Werke<br />

nicht ergänzt werden, sondern müssen neu erworben werden. Eingetragene<br />

Paragraphenverweise müssen komplett übertragen werden.<br />

Allerdings können die Bände auch einzeln gekauft werden. Ein Vorteil<br />

dieser Sammlung ist, dass sie leichter ist, die einzelnen Bände auch<br />

separat mitgenommen werden können und überflüssiges „Schleppen“<br />

entfällt. Wo man mit Schönfelder und Sartorius bereits fast 6 kg auf<br />

dem Rücken trägt, sind es an einem Tag mit einer Vorlesung zum<br />

Öffentlichen Recht und einer zum Zivilrecht mit den Nomos-Texten<br />

nicht einmal 1,2 kg. Zudem sind sie preiswerter und daher gerade für<br />

die ersten Semester, in denen manch ein Student nicht abzuschätzen<br />

vermag, ob er das Studium auch ernsthaft bis zum Abschluss betreiben<br />

kann, gut geeignet. Die drei Bände enthalten alles, was der Student<br />

benötigt. In den meisten Bundesländern sind beide Gesetzestexte für<br />

das erste Staatsexamen als Hilfsmittel zugelassen.<br />

Wer als <strong>Erstsemester</strong> ganz sparsam in den neuen und unbekannten<br />

Abschnitt des Lebens starten möchte, wird an die Einzelgesetze des<br />

dtv-Verlages verwiesen.<br />

Schönfelder: ISBN 978-3-406-46119-4, 38€ und Sartorius: ISBN 978-<br />

3-406-45645-9, 35€<br />

Gesetzestextsammlung von Nomos: ISBN 978-3-8329-6783-3, 44€<br />

dtv-Verlag: BGB ISBN 978-3-423-05001-2, 5€, StGB ISBN 978-3-<br />

423-05007-4, 7,90€, GG ISBN 978-3-423-05003-6, 5,90€<br />

Weitere interessante Berichte finden Sie auf unserer Homepage<br />

www.iurratio.de<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

29


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

Anfänger im Strafrecht: „Weltuntergangssekte“<br />

von Wiss. Mit. Dr. Georgios Sotiriadis (Universität Bremen)<br />

I. SACHVERHALT:<br />

Georgios Sotiriadis, Jahrgang 1979, ist Wissensch. Mitarbeiter<br />

am Lehrstuhl für Strafrecht einschließlich Grundlagen und Nebengebiete<br />

bei Prof. Dr. Felix Herzog. Er studierte Rechtswissenschaften<br />

an der Aristoteles Universität zu Thessaloniki,<br />

Griechenland und an der Humboldt Universität zu Berlin. Es<br />

folgte ein Masterstudium der Rechtswissenschaften (LL.M.) an<br />

der Freien Universität Berlin. Sotiriadis promovierte auf dem<br />

Gebiet des Strafrechts an der Humboldt Universität zu Berlin.<br />

B ist Anführer einer „Weltuntergangssekte“. In der Nacht zum<br />

21. Juni erscheint ihm Gott im Traum und befiehlt, dass die jüngste<br />

Mutter der Gemeinde getötet werden muss, um den Weltuntergang<br />

in der kommenden Nacht abzuwenden. Er weist deswegen das Gemeindemitglied<br />

M, den Ehemann der jüngsten Mutter der Gemeinde,<br />

an, seine Frau gleich nach dem Einschlafen mit dem Kissen zu<br />

ersticken und weiht den M ein, dass ansonsten der Weltuntergang<br />

drohe.<br />

Nach den Aussagen eines psychiatrischen Sachverständigen ist davon<br />

auszugehen, dass B tief davon überzeugt ist, dass Gott zu ihm gesprochen<br />

hat, und dass der M ein treu ergebenes Gemeindemitglied ist,<br />

das keinerlei Zweifel an der Wahrheit der Weissagungen des B hat.<br />

Um den Weltuntergang abzuwenden, tötet M am 21. Juni kurz nach<br />

22 Uhr seine schlafende, nichtsahnende Frau, indem er ihr ein Kissen<br />

auf das Gesicht drückt.<br />

Strafbarkeit von B und M?<br />

Ausführungen zur Schuldfähigkeit i. S. des § 20 StGB 1 sind nicht zu<br />

machen!<br />

II. LÖSUNGEN<br />

A. STRAFBARKEIT DES M NACH §§ 211, 212 STGB 2 ABS. 1<br />

M könnte sich des Mordes nach §§ 211, 212 Abs. 1 strafbar gemacht<br />

haben, indem er seine schlafende Frau mit einem Kissen erstickte.<br />

I. TATBESTAND<br />

1. OBJEKTIVER TATBESTAND<br />

a. Grundtatbestand des § 212 Abs. 1<br />

Zunächst müsste der M einen anderen Menschen getötet haben. M<br />

hat seine Frau mit einem Kissen erstickt. Diese Handlung bewirkt<br />

den Tod als irreversibles Erlöschen der Hirntätigkeit. Somit ist die<br />

Handlung des M auch kausal für den Tod seiner Frau und dieser ihm<br />

objektiv zurechenbar.<br />

b. Qualifikation des § 211<br />

Zudem könnte der M ein Mordmerkmal verwirklicht haben. In Betracht<br />

kommt an dieser Stelle das Merkmal „heimtückisch“ aus der 2.<br />

Gruppe der Mordmerkmale, die sich durch die besondere Verwerf-<br />

1 Soweit nicht anders bezeichnet, sind alle folgenden Normen solche des StGB.<br />

2 Alle nicht anderweitig bezeichneten §§sind solche des StGB.<br />

lichkeit ihrer Begehungsweise auszeichnen.<br />

Dieses Mordmerkmal ist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter<br />

dem Opfer in besonders niederträchtiger Weise seinen Schutz und<br />

seine Chance raubt, den Angriff auf sein Leben erfolgreich abzuwehren.<br />

Da die Bejahung eines Mordmerkmals eine besonders schwere<br />

Folge hat (lebenslange Freiheitsstrafe), ist dabei besondere Vorsicht,<br />

das heißt eine restriktive Auslegung, geboten. Aus diesem Grund<br />

sind die Anforderungen im Einzelnen umstritten. Ausgangspunkt<br />

für die Prüfung ist jedoch das Verständnis von Heimtücke als das<br />

bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers 3 . Arglos<br />

ist dabei, wer sich zum Zeitpunkt der Tat keines tätlichen Angriffs auf<br />

seine körperliche Unversehrtheit oder sein Leben versieht 4 . Die Ehefrau<br />

schläft, als der M sie erstickt. Bei Schlafenden stellt sich jedoch<br />

die Frage, ob diese überhaupt arglos bzw. zum Argwohn fähig sein<br />

können. Der BGH stellt hier darauf ab, ob das Opfer seine Arglosigkeit<br />

„mit in den Schlaf genommen“ hat. Die Fähigkeit zum Argwohn<br />

sei somit zu verneinen bei Personen, die vom Schlaf übermannt<br />

wurden 5 . Im Sachverhalt finden sich keine Hinweise dafür, dass die<br />

Ehefrau von dem Vorhaben ihres Mannes wusste, sodass davon ausgegangen<br />

werden kann, dass sie sich ahnungslos schlafen gelegt hat.<br />

Demnach ist sie als arglos zu beurteilen.<br />

Weiterhin müsste sie auch wehrlos, also aufgrund ihrer Arglosigkeit<br />

in ihrer Verteidigungsbereitschaft und –fähigkeit eingeschränkt<br />

sein 6 . Infolgedessen dass die Ehefrau schläft, besitzt sie keinerlei<br />

Möglichkeit, sich zu verteidigen. Ihre Abwehrbereitschaft während<br />

des Schlafs ist nicht nur erheblich, sondern gänzlich verhindert.<br />

Folglich ist sie auch wehrlos. Das Mordmerkmal der Heimtücke<br />

erfordert weiter ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit<br />

des Opfers in tückisch-verschlagener Weise. Ein solches liegt<br />

vor, wenn der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit nicht nur äußerlich<br />

wahrgenommen, sondern sich die zugrunde liegenden Umstände für<br />

seine Tatbegehung gerade zu Nutze gemacht hat 7 . M ist sich im Klaren<br />

darüber, dass seine schlafende Frau sich nicht wehren kann, und<br />

hat diese Situation, auf Anweisung des B, bewusst gewählt, um seinen<br />

„Auftrag“ durchzuführen. Ein bewusstes Ausnutzen ist also gegeben.<br />

(Anm.: Dieses Merkmal kann alternativ auch erst im subjektiven Tatbestand<br />

geprüft werden)<br />

Zur Einschränkung des weiten Anwendungsbereichs dieses Mordmerkmals<br />

und zur besseren Erfassung des Elements der „Tücke“,<br />

die durch eine derartige Mordhandlung besonders zum Ausdruck<br />

kommt, hat die Rechtslehre vorgeschlagen, neben der oben erläuterten<br />

Formel auch ein Handeln in feindlicher Willensrichtung zu verlangen,<br />

um darüber Mitleidstötungen zum vermeintlich Besten des<br />

Opfers auszuschließen 8 . Dieser Fall ist hier jedoch nicht einschlägig.<br />

Schließlich verlangt die h. L. einschränkend einen besonders verwerflichen<br />

Vertrauensbruch, womit jedoch zum Beispiel der klassische<br />

Meuchelmord aus dem Anwendungsbereich fallen würde 9 . In<br />

3 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 107; weitere Nachweise und aktuelle Rechtssprechung bei<br />

Geppert, Jura 07, 270.<br />

4 Vgl. BGHSt 28, 210; BGH NJW 06, 1008, 1010.<br />

5 Vgl. BGHSt 23, 119, 121; BGH NStZ 07, 523, 524; Fischer, StGB, § 211 Rn. 20.<br />

6 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 112.<br />

7 Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 115.<br />

8 So etwa Hassemer, in: JuS 71, 626, 630; s. auch Fischer, StGB, § 211 Rn. 21; Otto, in: Grundkurs Strafrecht<br />

Rn. 18.<br />

9 Eser, in; Schönke/Schröder/ § 211 Rn. 26 mwN.<br />

30<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Anbetracht dessen, dass vorliegend das Opfer die Ehefrau des Täters<br />

ist und daher ein Vertrauensverhältnis besteht, welches der M ausnutzt,<br />

kann der Streit jedoch offen bleiben. Das Drücken des Kissens<br />

während des Schlafs vom eigenen Ehemann und zwar ohne jeglichen<br />

für die Frau erkennbaren Grund stellt auf jeden Fall einen besonders<br />

verwerflichen Vertrauensbruch dar. Das Merkmal der Heimtücke<br />

kann daher bejaht werden. Weitere objektive Mordmerkmale sind<br />

nicht ersichtlich.<br />

2. SUBJEKTIVER TATBESTAND<br />

In subjektiver Hinsicht ist Vorsatz, also das Wissen und Wollen der<br />

Tatbestandsverwirklichung, in Bezug auf die Tötung ebenso wie in<br />

Bezug auf das objektive Mordmerkmal der Heimtücke erforderlich.<br />

a. Grundtatbestand des § 212 Abs. 1<br />

M will seine Frau töten, um den Weltuntergang abzuwenden. Er<br />

handelte diesbezüglich also mit zielgerichtetem Erfolgswillen, dolus<br />

directus 1. Grades.<br />

b. Qualifikation des § 211<br />

Dass er seine Frau im Schlaf mit dem Kissen erstickte, entsprach dem<br />

Tatplan, sodass die heimtückische Begehungsweise ebenfalls vom<br />

Vorsatz in Form des dolus directus 1. Grades umfasst ist.<br />

II. RECHTSWIDRIGKEIT<br />

Weiterhin müsste die Tat des M rechtswidrig sein. Fraglich ist, ob der<br />

M, vor dem Hintergrund, dass er die Welt retten wollte, gerechtfertigt<br />

ist.<br />

Mangels eines tatsächlich bevorstehenden Weltuntergangs liegt auch<br />

keine notstandsbegründende Gefahr nach § 34 vor. Vielmehr irrt der<br />

M gerade über die sachlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes.<br />

Folglich wäre dieser als (Erlaubnis-) Tatbestandsirrtum<br />

nach § 16 Abs. 1 (analog) zu behandeln, wenn die Umstände, über<br />

die der M irrt, im Fall ihres Vorliegens zu seiner Rechtfertigung führen<br />

würden 10 . Stünde aber in der Tat ein Weltuntergang bevor, käme<br />

es im Rahmen von § 34 bei der Verhältnismäßigkeit zu der Abwägung<br />

„Leben gegen Leben“. Diese ist jedoch unzulässig, sodass § 34<br />

an dieser Stelle scheitern würde. Aber auch in dieser Hinsicht unterliegt<br />

der M einem Irrtum. Er glaubt nicht nur fälschlicherweise an<br />

das Eintreten des Weltuntergangs, sondern auch daran, dass der Tod<br />

der gesamten Menschheit, die Tötung seiner Ehefrau rechtfertigen<br />

würde. Hierbei handelt es sich um einen Irrtum auf der Wertungsebene.<br />

Die vorliegende Konstellation des sog. Doppelirrtums wird im<br />

Ergebnis als Verbotsirrtum nach § 17 behandelt und ist daher in der<br />

Schuld zu prüfen 11 .<br />

Möglich ist auch die Bejahung eines Verbotsirrtums. Ein solcher<br />

(direkter Verbotsirrtum) liegt vor, wenn der Täter die seine Tat betreffende<br />

Verbotsnorm nicht kennt, sie für ungültig hält oder infolge<br />

unrichtiger Auslegung zu Fehlvorstellungen über ihren Geltungsbereich<br />

gelangt und aus diesem Grund sein Verhalten als rechtlich<br />

zulässig ansieht 12 . Aus dem Sachverhalt ergeben sich allerdings keine<br />

Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen Verbotsirrtums. M<br />

scheint sich des Unrechts seiner Tat bewusst zu sein. Der M hat die<br />

faktische Lage (bezüglich des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale)<br />

richtig eingeschätzt. Er wusste, dass durch seine Handlung seine Frau<br />

sterben würde und wollte auch dieses Ergebnis. Er agiert lediglich,<br />

„um den Weltuntergang abzuwenden“, er nimmt also irrig an, dass<br />

seine Handlung von einem Rechtfertigungsgrund gedeckt wäre, irrt<br />

sich also hinsichtlich der rechtlichen Bewertung der Umstände, die<br />

sein Verhalten rechtfertigen ließen. Somit handelt es sich dabei um<br />

einen indirekten Verbotsirrtum bzw. um einen Erlaubnisirrtum.<br />

Dessen Rechtsfolgen sind identisch mit denen des direkten Verbotsirrtums<br />

(§ 17) und auch auf der Ebene der Schuld zu prüfen.<br />

III. SCHULD<br />

Schließlich müsste die Tat des M schuldhaft begangen worden sein.<br />

Wie bereits festgestellt könnte die Schuld des M jedoch aufgrund<br />

eines Verbotsirrtums gemäß § 17 ausgeschlossen sein. Danach entfällt<br />

die Schuld, wenn der Irrtum vermeidbar war. Entscheidend ist,<br />

ob dem Täter sein Vorhaben unter Berücksichtigung seiner sozialen<br />

Stellung, seiner individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse hätte<br />

Anlass geben müssen, über dessen mögliche Rechtswidrigkeit nachzudenken<br />

oder sich zu erkundigen und er auf diesem Wege zur Unrechtseinsicht<br />

gekommen wäre 13 . Laut Sachverhalt handelte M als<br />

treu ergebenes Mitglied einer „Weltuntergangssekte“ auf Anweisung<br />

des Anführers B. Allein das Handeln auf Anweisung entbindet jedoch<br />

noch nicht von einer eigenen Gewissensanspannung. Die Tat<br />

des M entsprach den Vorstellungen einer Glaubensgemeinschaft,<br />

es liegen jedoch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass für ihn keine<br />

Zweifel auftauchten, die ihm Grund geboten hätten, sein Verhalten in<br />

Frage zu stellen. Erkundigungen, zumindest innerhalb der Gemeinde,<br />

hätten allerdings kein anderes Ergebnis hervorgebracht. Insofern<br />

besteht ein Unterschied zu dem vom BGH entschiedenen „Katzenkönig-Fall“,<br />

in dem der Täter sich lediglich in einem „neurotischen<br />

Beziehungsgeflecht“ befand, welches keine Unvermeidbarkeit seines<br />

Irrtums begründete, da der Täter Polizist war und es ihm nach Ansicht<br />

des Gerichts zumutbar gewesen wäre, eine Vertrauensperson<br />

zu fragen 14 . Zudem ist insbesondere das psychiatrische Sachverständigengutachten<br />

zu berücksichtigen, wonach der M keinerlei Zweifel<br />

an seinem Auftrag hegte.<br />

Auf der anderen Seite stellt die Rechtsprechung strenge Anforderungen<br />

an die Unvermeidbarkeit. Dies gilt umso mehr, wenn es um<br />

die Tötung eines anderen Menschen geht. Dabei kann der Irrtum<br />

schwerlich vermeidbar sein, da es sich um das grundlegendste rechtliche<br />

sowie auch ethische Handlungsverbot handelt. Es kann daher<br />

angeführt werden, dass der M zwar in seiner Sekte stark integriert<br />

war, aber dennoch davon auszugehen ist, dass er die in Deutschland<br />

allgemein geltenden Gesetze kannte und somit auch um das Verbotensein<br />

der Tötung wusste.<br />

IV. ERGEBNIS<br />

M hat sich des Mordes nach §§ 211, 212 Abs. 1 strafbar gemacht.<br />

B. STRAFBARKEIT DES B NACH §§ 211, 212 ABS. 1,<br />

25 ABS. 1 2. ALT.<br />

B könnte sich des Mordes in mittelbarer Täterschaft nach §§ 211, 212<br />

Abs. 1, 25 Abs. 1 2. Alt. strafbar gemacht haben, indem er dem M<br />

dazu anwies, seine schlafende Frau mit einem Kissen zu ersticken.<br />

10 Heinrich, Strafrecht, AT II, Rn. 1123.<br />

11 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 485; Heinrich, Strafrecht-AT II, Rn. 1148.<br />

12 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 461.<br />

13 Fischer, StGB § 17 Rn. 7; vgl. auch BGHSt 21, 18 ff.<br />

14 Vgl. BGHSt 35, 347 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

31


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

I. TATBESTAND<br />

1. OBJEKTIVER TATBESTAND<br />

Zunächst müsste der Tatbestand „durch einen anderen“ verwirklicht<br />

sein. Kennzeichen des Tatmittlers ist dabei seine unterlegene Stellung,<br />

die sich darin widerspiegelt, dass er nicht volldeliktisch handelt<br />

15 . Im vorliegenden Fall begeht B die Tötung der Ehefrau nicht<br />

selbst, sondern lässt sie durch den M vornehmen. Wie unter A. III.<br />

festgestellt, handelt jedoch dieser (der vermeintliche Tatmittler) aufgrund<br />

eines vermeidbaren Verbotsirrtums schuldhaft, sodass er den<br />

für den Tatmittler erforderlichen Strafbarkeitsmangel nicht aufweist.<br />

Von der Regel des Strafbarkeitsmangels des Tatmittlers werden jedoch<br />

Ausnahmen vor allem im Rahmen von Organisationsstrukturen<br />

statuiert (Stichwort „Täter hinter dem Täter“). Maßgebend in<br />

solchen Fällen ist, dass der als Hintermann fungierende Befehlsgeber<br />

das Gesamtgeschehen kraft seiner „Organisationsherrschaft“ bedingungslos<br />

in die von ihm gewünschte Richtung lenken kann und der<br />

Vordermann quasi beliebig austauschbar ist 16 . Für die Begründung<br />

einer mittelbaren Täterschaft bedarf es beim Hintermann eine überlegene<br />

Stellung aufgrund seiner Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens<br />

oder Wollens 17 .<br />

Handelt der Tatmittler in vermeidbarem Verbotsirrtum, stellt diese<br />

Vermeidbarkeit nach Ansicht des BGH und weiter Teile der Literatur<br />

kein Hindernis für die Annahme einer mittelbaren Täterschaft dar<br />

(Theorie der eingeschränkten Verantwortlichkeit). Denn das Merkmal<br />

der Vermeidbarkeit verkörpert kein sicheres Abgrenzungskriterium<br />

für den Beitrag eines Tatbeteiligten. Denn dem in vermeidbarem<br />

Irrtum handelnden Täter fehlt es zum Tatzeitpunkt in jedem<br />

Fall an Unrechtseinsicht, mit der Folge, dass auch in diesem Fall mittelbare<br />

Täterschaft grundsätzlich möglich ist. Entscheidend ist dann<br />

bei normativer Betrachtung die Art und Tragweite des Irrtums sowie<br />

die Intensität der Einwirkung durch den Hintermann 18 .<br />

Innerhalb einer religiösen Sekte wie die unseres Sachverhalts entstehen<br />

ebenfalls solche Hierarchien, die eine mittelbare Täterschaft<br />

rechtfertigen, wenn der Tatmittler aufgrund abergläubischer Ängste<br />

in einem vermeidbaren Verbotsirrtum handelt.<br />

In Betracht könnte ebenso eine Anstiftung gem. § 26 kommen, sodass<br />

das Verhalten des B gegenüber einem bloßen Bestimmen abgegrenzt<br />

werden muss. Bedenken hinsichtlich der Überlegenheit des B bestehen<br />

hier insoweit, als dass dieser laut Sachverständigengutachten tief<br />

davon überzeugt ist, dass Gott ihm befohlen hat, die jüngste Mutter<br />

der Gemeinde töten zu lassen, sodass er dem gleichen Irrtum unterliegt<br />

wie der M. Im Rahmen der Abgrenzung zu § 26 wird gefordert,<br />

dass der Hintermann die Schuldunfähigkeit des Tatmittlers oder die<br />

Umstände kennt, die den Schuldvorwurf entfallen lassen, und dass<br />

er die von ihm richtig erfasste Situation zur Begehung der von ihm<br />

gewollten Straftat ausnutzt 19 . Dem steht nach Ansicht des BGH ein<br />

ebenfalls beim Hintermann vorliegender Verbotsirrtum nicht entgegen,<br />

solange dieser mit Täterwillen und Tatherrschaft handelt 20 .<br />

Im vorliegenden Fall weist der B den M an, seine Frau im Schlaf mit<br />

einem Kissen zu ersticken. Dabei kommt ihm bereits aufgrund seiner<br />

Position als Anführer der Sekte eine gewisse Macht zu, die er auch<br />

gegenüber M nutzt und die sich darin bestätigt, dass dieser die Tat,<br />

15 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 535.<br />

16 Wessels/Beulke, Strafrecht At Rn 541; vgl. auch BGHSt 48, 77, 89.<br />

17 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 535.<br />

18 BGHSt 35, 347, 351 f.; Otto, Grundkurs Strafrecht, § 21, Rn. 84; Heinrich, Strafrecht-AT II, Rn. 1260.<br />

19 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 538.<br />

20 BGHSt 40, 257, 267.<br />

ohne sie in Frage zu stellen, ausführt. Zudem handelt es sich bei dem<br />

M laut Sachverhalt auch um ein treu ergebenes Gemeindemitglied.<br />

Für die Tatherrschaft des B spricht weiter, dass dieser dem M auch<br />

genau vorgibt, wie er seine Frau töten soll und dieser sich daran hält.<br />

Hätte z. B. der B vor der Tatbestandsverwirklichung dem M befohlen,<br />

die Tötung der Frau doch nicht durchzuführen, hätte der M von seiner<br />

Tat abgesehen. Im Ergebnis fungiert der M daher wie ein Werkzeug<br />

in der Hand des B, sodass dieser als mittelbarer Täter im Sinne<br />

des § 25 Abs. 1 2. Alt. zu qualifizieren ist.<br />

Der objektive Tatbestand ist damit erfüllt.<br />

2. SUBJEKTIVER TATBESTAND<br />

Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz, also das Wissen und<br />

Wollen der Tatbestandsverwirklichung.<br />

Zunächst müsste dieser die durch den Tatmittler begangene Tat umfassen.<br />

B wollte, dass der M seine Frau mit einem Kissen im Schlaf<br />

erstickt. Diesbezüglich hatte er also dolus directus 1. Grades. Aufgrund<br />

dessen dass er die Tatausführung auch genau vorgegeben hatte,<br />

erstreckt sich sein zielgerichteter Erfolgswille gerade auch auf das<br />

objektive Mordmerkmal der Heimtücke.<br />

Weiter müsste sich sein Vorsatz auch auf die eigene Tatherrschaft sowie<br />

die unterlegene Stellung des Tatmittlers beziehen. B ging davon<br />

aus, dass der M, als treu ergebenes Gemeindemitglied, seiner Aufforderung<br />

Folge leisten würde. Zudem teilte er selbst ihm mit, dass<br />

andernfalls der Weltuntergang drohe, sodass ihm auch die Umstände,<br />

die den Strafbarkeitsmangel des M begründen, bekannt waren.<br />

Folglich handelte er diesbezüglich mit dolus directus 2. Grades.<br />

Subjektive Mordmerkmale in der Person des B sind darüber hinaus<br />

nicht ersichtlich.<br />

Der subjektive Tatbestand ist somit ebenfalls zu bejahen.<br />

II. RECHTSWIDRIGKEIT<br />

In Bezug auf eine Rechtfertigung nach § 32 bzw. § 34 gelten die unter<br />

A. II. gemachten Ausführungen zu M entsprechend, mit der Folge,<br />

dass kein Rechtfertigungsgrund greift und die Tat des B daher rechtswidrig<br />

ist.<br />

III. SCHULD<br />

Schließlich ist die Schuld des B festzustellen. Wie bereits erwähnt<br />

unterliegt er dem gleichen Irrtum wie der M, der als Verbotsirrtum<br />

nach § 17 zu behandeln ist. Fraglich ist also dessen Unvermeidbarkeit.<br />

Im Vergleich zu M ergibt sich kein Unterschied daraus, dass der<br />

B Anführer der Sekte ist. Obwohl der Sachverhalt keine Anhaltspunkte<br />

dafür liefert, dass B die Mitglieder seiner Sekte bewusst in<br />

einen Irrglauben führen würde, kann nicht ernsthaft behauptet werden,<br />

dass er das Tötungsverbot der Rechtsordnung nicht kannte. Im<br />

Ergebnis ist daher auch im Fall des B von einer Vermeidbarkeit des<br />

Verbotsirrtums auszugehen, so dass seine Schuld entfällt, § 17 S. 1<br />

(andere Ansicht vertretbar).<br />

IV. ERGEBNIS<br />

B hat sich nach §§ 211, 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 2. Alt. strafbar gemacht.<br />

32<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Anfänger im Staatsorganisationsrecht: Operation Display Deterrence“<br />

Wiss. Mit. Gunnar Franck, LL.M.oec. (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)<br />

I. SACHVERHALT:<br />

Zu Beginn des Jahres 2008 kam es verstärkt zu Verstimmungen zwischen<br />

den USA und dem Staat X. Diese führten ab dem 20.03.2008<br />

zu Kampfhandlungen einer Allianz angeführt von den USA gegen<br />

das Regime im Staat X, die schließlich im Sturz des Regimes mündeten.<br />

Im Vorfeld des Konflikts hatte der Staat X angekündigt, sich<br />

Kampfhandlungen gegen alle Unterstützer der Alliierten vorzubehalten.<br />

Zu den Unterstützern zählte u. a. auch der Staat Z, der sich vom<br />

Staat X konkret bedroht sah und daher im Rahmen der NATO um<br />

Unterstützung durch die Verbündeten anfragte. Die NATO beschloss<br />

daher am 19.02.2008, den Staat Z zu unterstützen. Im Rahmen der<br />

sog. Operation Display Deterrence wurden sowohl AWACS-Flugzeuge<br />

als auch das Flugabwehrraketensystem PATRIOT zur Abwehr<br />

möglicher Raketenangriffe und Angriffe mit chemischen und biologischen<br />

Waffen durch den Staat X im Staat Z stationiert.<br />

Am 20.03.2008 beschloss die Bundesregierung, dass auch deutsche<br />

Soldaten der Bundeswehr in den Staat Z zur Erfüllung der Bündnispflicht<br />

entsandt werden. Die deutschen Soldaten nahmen daraufhin<br />

an allen Überwachungsflügen und anderen Maßnahmen im Rahmen<br />

der Operation Display Deterrence teil, ohne dass es letztlich zu<br />

Kampfhandlungen kam. Die NATO-Operation wurde am 30.04.2008<br />

offiziell beendet und daraufhin auch alle Soldaten der Bundeswehr<br />

aus dem Staat Z abgezogen.<br />

Die oppositionelle F-Fraktion im Deutschen Bundestag ist der Meinung,<br />

dass die Bundesregierung den Einsatz der Bundeswehr im<br />

Staat Z nicht hätte alleine beschließen dürfen. Vielmehr wäre nach<br />

der deutschen Verfassung und der darin verankerten starken Stellung<br />

des Parlamentes die Zustimmung des Bundestages zum Einsatz<br />

der Bundeswehr notwendig gewesen, zumal aufgrund der Aggressionen<br />

durch den Staat X auch konkrete Kampfhandlungen der Bundeswehr<br />

nicht unwahrscheinlich waren. Indem die Bundesregierung<br />

den Bundestag nicht beteiligte, seien dessen Rechte verletzt wurden.<br />

Die F-Fraktion beantragt am 23.03.2008 beim Bundesverfassungsgericht<br />

die Feststellung, dass das Vorgehen der Bundesregierung die<br />

Rechte des Bundestages verletzt hat.<br />

Hat der Antrag der F-Fraktion Aussicht auf Erfolg?<br />

Vermerk für den Bearbeiter:<br />

Völkerrechtliche Aspekte sind nicht zu behandeln. Auch Vorschriften<br />

des „Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung<br />

über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland“<br />

(Parlamentsbeteiligungsgesetz) 1 vom 18.03.2005 sind nicht zu prüfen.<br />

II. LÖSUNG:<br />

Der Antrag der F-Fraktion hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet<br />

ist.<br />

1 Zu dieser einfach-gesetzlichen Ausgestaltung siehe: Wiefelspütz, NVwZ 2005, 496-500.<br />

Gunnar Franck, Jahrgang 1983, ist Rechtsreferendar in Hamburg<br />

und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut<br />

für Ausländisches- und Internationales Privatrecht, Referat<br />

Nordeuropa. Er studierte Rechtswissenschaft an der Martin-<br />

Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der Universitete i<br />

Bergen in Norwegen mit dem Schwerpunkt Europäischesund<br />

Internationales Wirtschaftsrecht. Daneben absolvierte er<br />

den Ergänzungsstudiengang Wirtschaftsrecht am Institut für<br />

Wirtschaftsrecht in Halle (Saale).<br />

A. ZULÄSSIGKEIT DES ANTRAGES 2<br />

I. ZUSTÄNDIGKEIT DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS<br />

Vorliegend könnte ein Organstreitverfahren einschlägig sein. Die<br />

Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts hierfür ergibt sich aus<br />

Art. 93 I Nr. 1 GG; §§ 13 Nr. 5; 63 ff. BVerfGG.<br />

II. BETEILIGTENFÄHIGKEIT<br />

Des Weiteren müssten Antragsteller und Antragsgegner beteiligtenfähig<br />

sein.<br />

1. ANTRAGSSTELLER<br />

Antragsstellter ist die F-Fraktion. Sie könnte als „oberstes Bundesorgan“<br />

i. S. v. Art. 93 I Nr. 1 GG beteiligtenfähig sein. Hierunter fallen<br />

jedoch lediglich die in § 63 1. HS BVerfGG genannten Organe, mithin<br />

nicht Fraktionen.<br />

Die F-Fraktion könnte aber als „anderer Beteiligter“ i. S. v. Art. 93 I<br />

Nr. 1 GG, § 63 2. HS BVerfGG beteiligtenfähig sein. Hierfür müsste<br />

sie durch das GG oder durch eine Geschäftsordnung (GO) mit eigenen<br />

Rechten ausgestattet sein. Fraktionen sind nach Art. 53a I 2 GG,<br />

§§ 10 ff. Geschäftsordnung des Bundestages (GO BT) mit eigenen<br />

Rechten ausgestattet (u. a. Entsende- und Proporzrechte) und daher<br />

beteiligtenfähig. Damit ist die F-Fraktion zulässiger Antragssteller.<br />

2. ANTRAGSGEGNER<br />

Wie sich aus den Art. 62 ff. GG ergibt, ist die Bundesregierung selbst<br />

ein „oberstes Bundesorgan“ i. S. d. Art. 93 I Nr. 1 GG. Zudem ist sie<br />

auch ausdrücklich in § 63 BVerfGG genannt. 3 Die Bundesregierung<br />

ist daher ebenfalls beteiligtenfähig.<br />

III. STREITGEGENSTAND 4<br />

Es müsste auch ein zulässiger Streitgegenstand vorliegen. Dies ist<br />

jede rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners<br />

(vgl. § 64 I BVerfGG). 5 Hier geht es um den Beschluss der<br />

Bundesregierung, die Bundeswehr zu einem Einsatz in den Staat Z<br />

2 Zum Prüfungsaufbau eines Organstreitverfahrens vor dem BVerfG vgl. Degenhart, Staatsrecht I (24.<br />

Auflage, 2008), Rn. 750-756.<br />

3 Die Aufzählung der möglichen Beteiligten in § 63 1. HS BVerfGG ist rein deklaratorisch. Die Beteiligtenfähigkeit<br />

der Bundesregierung ergibt sich bereits direkt aus dem GG, hierzu: Pieroth, in: Jarass/<br />

Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 93 Rn. 5.<br />

4 Dieser gesonderte Gliederungspunkt ist nicht zwingend erforderlich. Diese Erwägungen können<br />

auch unter dem Prüfungspunkt der Antragsbefugnis erörtert werden.<br />

5 Degenhart, Staatsrecht I (24. Auflage, 2008), Rn. 751.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

33


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

zu entsenden, so dass eine Maßnahme des Antragsgegners (der Bundesregierung)<br />

vorliegt.<br />

IV. ANTRAGSBEFUGNIS<br />

Die F-Fraktion muss gem. § 64 I BverfGG geltend machen, dass<br />

die Maßnahme oder Unterlassung des Gegners eigene Rechte oder<br />

Organrechte aus dem GG verletzt. 6 Eine Verletzung in Fraktionsrechten<br />

kommt vorliegend nicht in Betracht. Jedoch könnten Rechte<br />

des Bundestages verletzt worden sein, indem die Bundesregierung<br />

ohne dessen Beteiligung über den Einsatz der Bundeswehr entschied.<br />

Hierfür ist es ausreichend, wenn die F-Fraktion die Möglichkeit einer<br />

Rechtsverletzung dartut. 7<br />

1. VERLETZUNG VON RECHTEN DES BUNDESTAGES<br />

Vorliegend könnte der Bundestag in seinen Beteiligungsrechten<br />

aus der Verfassung verletzt worden sein. 8 Insbesondere könnte der<br />

Bundestag in seinen Rechten aus Art. 59 II 1 GG verletzt worden<br />

sein. Des Weiteren kommen die Rechte aus Art. 115a I GG sowie die<br />

Rechte aus dem – aus einer Gesamtschau des GG entwickelten – sog.<br />

wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt in Betracht.<br />

2. GESETZLICHE PROZESSSTANDSCHAFT<br />

Fraglich ist aber, ob die F-Fraktion auch berechtigt ist, die Rechte<br />

des Bundestages geltend zu machen. Nach § 64 I BVerfGG können<br />

einzelne Organteile Rechte des Organs dem sie angehören im fremden<br />

Namen geltend machen (sog. gesetzliche Prozesstandschaft). Die<br />

F-Fraktion ist ein Organteil des Bundestages (siehe oben), so dass sie<br />

die Rechte des Bundestages – notfalls gar gegen den Mehrheitswillen<br />

des Organs Bundestag – geltend machen kann. 9<br />

Die F-Fraktion ist daher antragsbefugt.<br />

V. ANTRAGSFRIST<br />

Der Antrag wurde auch innerhalb von sechs Monaten nach Bekanntgabe<br />

der Maßnahme gestellt, § 64 III BVerfGG.<br />

VI. ORDNUNGSGEMÄßER ANTRAG<br />

Von der Ordnungsmäßigkeit des Antrages nach §§ 64 II, 23 BVerfGG<br />

ist auszugehen.<br />

VII. RECHTSSCHUTZBEDÜRFNIS 10<br />

Der F-Fraktion könnte aber das Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Dies<br />

ist u. a. der Fall, wenn der Antragsteller durch eigenes Handeln die<br />

Rechtsverletzung auf anderem Wege beseitigen kann. 11 Möglicher-<br />

6 Es muss erkannt werden, dass im Rahmen der Beteiligtenfähigkeit auch Rechte aus einer GO ausreichen,<br />

während bei der Befugnis lediglich Rechte aus dem GG geltend gemacht werden können.<br />

7 Im Rahmen der Antragsbefugnis ist nach st. Rspr. des BVerfG die Möglichkeit einer Rechtsverletzung<br />

bzw. die unmittelbare Gefährdung eines Rechtes ausreichend, siehe hierzu: Pieroth, in: Jarass/<br />

Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 93 Rn. 12.<br />

8 Hier ist entscheidend, dass die Bearbeiter kreative Ideen entwickeln, welche Rechte in Betracht kommen<br />

könnten. Solange nicht völlig fernliegende Rechte aufgeworfen werden, sind hier alle Gedanken zu<br />

einer möglichen Rechtsverletzung dienlich.<br />

9 Zu beachten ist aber auch, dass nach ständiger Rspr. des BVerfG (z. B. BVerfGE 70, 324, 354; 90, 286,<br />

343 f.) nur sog. ständige Untergliederungen des Bundestages im Rahmen der gesetzliche Prozessstandschaft<br />

für den Bundestag Rechte geltend machen können. Hierunter fallen z. B. Fraktionen, Gruppen<br />

und Ausschüsse, jedoch nicht der einzelne Abgeordnete, was ein sehr klausurrelevantes Problem darstellt.<br />

Siehe hierzu auch: Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 93 Rn. 12.<br />

10 Ausführungen hierzu sind nicht selbstverständlich. Für Bearbeiter, die hier Problembewusstsein erkennen<br />

lassen, besteht daher die Möglichkeit, durch gute Ideen Pluspunkte zu sammeln.<br />

11 Degenhart, Staatsrecht I (24. Auflage, 2008), Rn. 753.<br />

weise muss die F-Fraktion zunächst versuchen, die ihres Erachtens<br />

verfassungswidrige Maßnahme der Bundesregierung durch einen<br />

Beschlussantrag im Bundestag über den Einsatz der Bundeswehr<br />

abzuändern. Es ist jedoch festzustellen, dass die F-Fraktion als Oppositionsfraktion<br />

voraussichtlich gar keine Mehrheit hierfür auf sich<br />

vereinigen könnte. Im Übrigen ist die Frage, ob denn ein Bundestagsbeschluss<br />

überhaupt notwendig ist, ja gerade die umstrittene. Ein<br />

Beschluss des Bundestages würde daher nicht gleichsam automatisch<br />

die rechtliche Wirkung des Regierungsbeschlusses beseitigen können.<br />

Ferner ist das Organstreitverfahren nicht subsidiär gegenüber<br />

anderen – politischen – Handlungsmöglichkeiten. Andere realistische<br />

Handlungsalternativen hat die F-Fraktion nicht, so dass ein<br />

Rechtsschutzbedürfnis gegeben ist.<br />

VIII. ZWISCHENERGEBNIS<br />

Der Antrag der F-Fraktion ist zulässig.<br />

B. BEGRÜNDETHEIT DES ANTRAGES<br />

Der Antrag der F-Fraktion ist begründet, wenn der Beschluss der<br />

Bundesregierung verfassungswidrig ist und den Bundestag in seinen<br />

Rechten verletzt.<br />

I. VERFASSUNGSWIDRIGKEIT DES REGIERUNGSBESCHLUSSES<br />

Der Beschluss der Bundesregierung muss in formeller und/ oder in<br />

materieller Hinsicht verfassungswidrig sein. 12<br />

1. FORMELLE VERFASSUNGSMÄßIGKEIT DES BESCHLUSSES<br />

a) Zuständigkeit der Bundesregierung<br />

Zunächst müsste die Bundesregierung für den Entschluss über die<br />

Entsendung der Bundeswehr überhaupt zuständig gewesen sein.<br />

aa) Verbandskompetenz des Bundes<br />

Der Bund müsste – in Abgrenzung zu den Ländern – als Verband zuständig<br />

sein, den Einsatz der Bundeswehr zu regeln. Eine ausdrückliche<br />

Generalnorm, die die Entscheidungskompetenz bzgl. des Einsatzes<br />

der Bundeswehr regelt, findet sich im GG nicht. Jedoch weist<br />

Art. 32 I GG dem Bund die Kompetenz bzgl. der sog. auswärtigen<br />

Gewalt zu. Im Übrigen hat der Bund nach Art. 87a I GG die Kompetenz<br />

bzgl. der Aufstellung der Streitkräfte, sowie nach Art. 115 a<br />

I und Art. 35 III GG die Kompetenz über die Einsatzentscheidung<br />

im Rahmen des sog. äußeren bzw. inneren Notstandes. Aus dieser<br />

Gesamtschau ergibt sich, dass der Bund über den Einsatz der Bundeswehr<br />

entscheidet. 13<br />

bb) Organkompetenz der Bundesregierung<br />

Des Weiteren stellt sich die Frage, wer innerhalb des Gefüges „Bund“<br />

für die Entscheidung über den Auslandseinsatz der Bundeswehr<br />

zuständig ist. 14 Im Grundsatz ist die auswärtige Gewalt 15 eine Kom-<br />

12 Hier ist wichtig, dass die Bearbeiter sauber zwischen formellen und materiellen Aspekten der Prüfung<br />

unterscheiden. Es ist äußerst negativ, wird allein das Problem der Verfassungswidrigkeit des Bundestagsbeschlusses<br />

„an sich“ ohne genaue Verortung der Problematik diskutiert.<br />

13 Siehe hierzu auch: Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar (9. Auflage, 2007), Art. 87a Rn. 1.<br />

14 Von den Bearbeitern des Falles kann kein Spezialwissen bzgl. des Einsatzes der Bundeswehr verlangt<br />

werden. Jedoch soll hier Problembewusstsein erkennbar gemacht werden, da die Abgrenzung zwischen<br />

Rechten der Legislative (hier: Bundestag) und denen der Exekutive (hier: Bundesregierung) ein „Klassiker“<br />

des Staatsorganisationsrecht darstellt. Vgl. hierzu den Überblick bei Degenhart, Staatsrecht I (24.<br />

Auflage, 2008), Rn. 599; sowie bei Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (32. Auflage, 2008), §<br />

42 Rn. 17-20.<br />

15 Zu Begriff und Inhalt der „auswärtigen Gewalt“ siehe Schweitzer, Staatsrecht III (9. Auflage, 2008),<br />

Rn. 743-759.<br />

34<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

petenz der Exekutive, wobei der Bundeskanzler die sog. Richtlinienkompetenz<br />

inne hat und die Bundesregierung als Kollegialorgan<br />

handelt.16 Zur auswärtigen Gewalt zählt auch der Einsatz der Bundeswehr<br />

in auswärtigen Staaten, so dass grundsätzlich die Bundesregierung<br />

zuständig ist.<br />

Möglichweise ergibt sich aus dem GG jedoch eine Ausnahme, so dass<br />

im vorliegenden Fall der Bundestag über die Entsendung der Bundeswehr<br />

zu entscheiden hat.<br />

aaa)<br />

Zunächst könnte sich dies aus Art. 59 II 1 GG ergeben. Hierfür<br />

müsste die Entscheidung über die Entsendung der Bundeswehr aber<br />

ein völkerrechtlicher Vertrag im Sinne der Norm sein. Die Entscheidung<br />

ist zunächst erstmal aber nur eine einseitige Entschließung und<br />

kein völkerrechtlicher Vertrag, so dass Art. 59 II 1 GG nicht einschlägig<br />

ist.<br />

bbb)<br />

Die Bundeswehr wurde im Rahmen einer NATO-Operation tätig, so<br />

dass sich die Zuständigkeit des Bundestages aus Art. 24 I und II GG<br />

ergeben könnte. Vom Anwendungsbereich des Art. 24 GG ist aber<br />

nur der Beitritt zur NATO „als solcher“ erfasst und nicht die Teilnahme<br />

an einzelnen späteren Einsätzen der NATO. Damit scheidet auch<br />

Art. 24 GG als Kompetenznorm aus.<br />

ccc)<br />

Im Übrigen könnte der Bundestag die Kompetenz bzgl. der Entscheidung<br />

über den Einsatz der Bundeswehr kraft des parlamentarischen<br />

Kontrollrechtes nach den Art. 45a, 45b und 87a I 2 GG haben. Allerdings<br />

regeln diese Normen nur die parlamentarische Kontrolle und<br />

nicht die Befugnis über die Einsatzentscheidung, so dass sich auch<br />

hieraus keine Kompetenz des Bundestages ableiten lässt.<br />

ddd)<br />

Letztlich könnte sich noch aus Art. 115a I, III GG und dem hierin<br />

verankerten Entscheidungs- und Verwendungsrecht des Bundestages<br />

eine Kompetenz ableiten lassen. Jedoch war vorliegend beim<br />

Einsatz der Bundeswehr im Staat Z weder ein „Verteidigungsfall“ im<br />

Sinne des Art. 115a I 1 GG noch ein „Spannungsfall“ im Sinne des<br />

Art. 115a III, 80 I 1 GG gegeben, so dass sich auch hieraus keine<br />

Kompetenz ableiten lässt.<br />

Eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung an den Bundestag findet sich<br />

im GG also nicht.<br />

eee)<br />

Möglicherweise kann dem GG aber ein Prinzip entnommen werden,<br />

dass Einsätze der Bundeswehr auch über Art. 115a GG hinaus der<br />

vorherigen konstitutiven Zustimmung des Bundestages bedürfen.<br />

Hierfür sprechen zunächst die o. g. Kontrollrechte (ccc) sowie die<br />

erwähnten Entscheidungs- und Verwendungsrechte des Bundestages<br />

(ddd), die das Prinzip des sog. Parlamentsheeres repräsentieren. Aus<br />

dem Zusammenspiel der genannten Artikel des GG ergibt sich ein<br />

sog. wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt. Dies entspricht<br />

auch der Verfassungstradition in Deutschland. Bereits nach<br />

der Verfassung des Kaiserreiches und in der Weimarer Reichsverfassung<br />

war ein Parlamentsvorbehalt bzgl. des Einsatzes des Heeres<br />

enthalten. 17 Diese Erwägungen sind letztlich auch Ausfluss der sog.<br />

16 Vgl. hierzu die maßgebliche „Pershing-II-Entscheidung“: BVerfGE 68, 1 (85 f.) = NJW 1985, 603.<br />

17 Wissen um diesen Fakt kann freilich nicht vorausgesetzt werden.<br />

Wesentlichkeitstheorie. Diese besagt, dass alle „wesentlichen“ Entscheidungen<br />

vom Parlament selbst getroffen werden sollen. 18<br />

Gegen die Annahme eines solchen wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehaltes<br />

spricht jedoch, dass es gerade keine ausdrückliche<br />

Zuweisung im GG gibt. Darüber hinaus ist die auswärtige Gewalt<br />

grundsätzlich eine Angelegenheit der Exekutive und legislative<br />

Zugriffsrechte werden nur nach Maßgabe von Art. 59 II 1 GG gewährt.<br />

Außerdem war der Bundestag bereits im Rahmen von Art. 24<br />

I, 59 II 1 GG an der Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO<br />

beteiligt.<br />

Hiergegen lässt sich jedoch anführen, dass durch die damalige Zustimmung<br />

des Bundestages zur Beteiligung der Bundesrepublik an<br />

der NATO „als solche“ noch keine Zustimmung zu einem konkreten<br />

Einsatz der Bundeswehr, wie er vom 20.03. – 30.04.2008 erfolgte, erteilt<br />

wurde.<br />

fff) Position des BVerfG<br />

In seinen beiden hierzu maßgeblichen Entscheidungen „AWACS-I“ 19<br />

und „AWACS-II“ 20 schließt sich das BVerfG den Pro-Argumenten an<br />

und nimmt einen ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt bzgl. des<br />

„bewaffneten“ Einsatzes der Bundeswehr an. Das BVerfG spricht in<br />

staatstragender Weise davon, dass die Bundeswehr ein „Parlamentsheer“<br />

darstellt und dass das GG „die Entscheidung über Krieg und<br />

Frieden dem Deutschen Bundestag als Repräsentationsorgan des<br />

Volkes anvertraut“ hat. 21 Vorliegend lag im Staat Z eine konkrete Bedrohung<br />

durch den Staat X vor. Außerdem fanden bereits AWACS<br />

und PATRIOT-Systeme Anwendung, so dass bereits von einem „bewaffneten<br />

Einsatz“ im Sinne der Rspr. des BVerfG auszugehen ist. 22<br />

cc) Zwischenergebnis<br />

Folgt man der Ansicht des BVerfG, lag die Organzuständigkeit – zumindest<br />

auch – beim Bundestag und nicht allein bei der Bundesregierung.<br />

Der Beschluss der Bundesregierung ist daher schon formell<br />

verfassungswidrig, weil der Bundestag hätte beteiligt werden müssen.<br />

23 Wird dagegen ein wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt<br />

abgelehnt, war die Bundesregierung für die Entscheidung<br />

über die Entsendung der Bundeswehr zuständig.<br />

b) Verfahren und Form des Beschlusses der Bundesregierung<br />

Es ist davon auszugehen, dass Verfahren und Form gewahrt wurden.<br />

c) Zwischenergebnis<br />

Je nach Argumentation ist der Beschluss mangels Organzuständigkeit<br />

verfassungswidrig oder verfassungsgemäß.<br />

2. MATERIELLE VERFASSUNGSWIDRIGKEIT<br />

Hier stellt sich dasselbe Problem wie oben unter I. 1., nun aber in<br />

materieller Hinsicht. So kann insbesondere angedacht werden, ob ein<br />

Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung nach Art. 20 II 2 GG<br />

und das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 III GG vorliegt. Inhaltlich<br />

ist auf die Argumente von oben zu verweisen. Auch hier kann sich<br />

dann wieder je nach Argumentation entschieden werden. Wichtig ist<br />

18 Siehe hierzu: Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (32. Auflage, 2008), § 12 Rn. 43 und 44.<br />

19 BVerfGE 90, 286 (381 ff.) = NJW 1994, 2207 (2217 ff.) m. Anm. Schroeder, in: JuS 1995, 398.<br />

20 BVerfG NJW 2008, 2018 ff. m. Anm. Sachs, in: JuS 2008, 829.<br />

21 BVerfG NJW 2008, 2018 (2019).<br />

22 Zum Parlamentsvorbehalt für den Einsatz der Streitkräfte siehe Zippelius/Würtenberger, Deutsches<br />

Staatsrecht (32. Auflage, 2008), § 51 Rn. 16.<br />

23 Auch wenn bereits hier die Verfassungswidrigkeit festgestellt wird, ist es dennoch lohnenswert, weiter<br />

zu prüfen, ob der Beschluss der Regierung auch noch aus anderen Gründen verfassungswidrig ist.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

35


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

jedoch, dass die Diskussion um die Kompetenzzuweisung nur einmal<br />

ausführlich geführt werden darf. Entweder oben im Rahmen der Zuständigkeit<br />

oder – soweit dies nicht erkannt wird – hier als Problem<br />

der materiellen Verfassungsmäßigkeit. Wurde das Problem oben bereits<br />

ausführlich erörtert, kann auf diese Ausführungen verwiesen<br />

werden. Es darf sich aber kein Widerspruch ergeben. Wer oben die<br />

Kompetenz des Bundestages bejaht, muss folgerichtig auch hier eine<br />

materielle Verfassungswidrigkeit annehmen und umgekehrt.<br />

3. ZWISCHENERGEBNIS<br />

Folgt man der Ansicht des BVerfG, ist der Beschluss der Bundesregierung<br />

sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht verfassungswidrig<br />

(a. A. vertretbar). 24<br />

24 Soweit die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses bejaht wurde, endet die Prüfung des Antrages der<br />

F-Fraktion hier. Der Antrag ist als zulässig, aber unbegründet und daher nicht erfolgreich einzuschätzen.<br />

II. VERLETZUNG IN ORGANRECHTEN<br />

Durch den verfassungswidrigen Beschluss der Bundesregierung<br />

müsste der Bundestag in seinen Organrechten verletzt worden sein.<br />

Hier wurde der Bundestag in seinem Recht auf Abstimmung bzgl.<br />

der Entsendung der Soldaten der Bundeswehr, welches aus dem<br />

wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt folgt, verletzt.<br />

III. ERGEBNIS<br />

Der Beschluss der Bundesregierung ist daher sowohl in formeller als<br />

auch in materieller Hinsicht verfassungswidrig. Der Antrag der F-<br />

Fraktion ist damit begründet.<br />

C. GESAMTERGEBNIS<br />

Der Antrag der F-Fraktion ist somit zulässig und begründet und hat<br />

daher Erfolg.<br />

„HORRIDO UND WAIDMANNSHEIL“<br />

von Boris Duru (Universität Gießen)<br />

I. SACHVERHALT 1<br />

Boris Duru, Jahrgang 1980, absolvierte ein Studium der<br />

Rechtswissenschaften, internationalen und europäischen<br />

Rechts sowie der Verwaltungswissenschaften in Marburg,<br />

Hannover und Gießen u.a. Derzeit übt der Autor neben seinem<br />

Promotionsstudium (hilfs-)wissenschaftliche Tätigkeiten<br />

an den Universitäten Marburg und Gießen aus und ist<br />

Lehrbeauftragter an den Fachbereichen Rechts- und Erziehungswissenschaften<br />

der Universität Gießen.<br />

Seit kurzem ist E Eigentümer zweier zusammenhängender, in der<br />

Universitätsstadt Gießen gelegener Waldgrundstücke. Seine Grundstücke<br />

bilden mit anderen land-, forst- bzw. fischereiwirtschaftlich<br />

genutzten Grundstücken einen gemeinschaftlichen Jagdbezirk.<br />

Wegen seiner Eigentümerstellung ist E einer Jagdgenossenschaft<br />

zugehörig. Dieser Jagdgenossenschaft steht im gemeinschaftlichen<br />

Jagdbezirk das Jagdrechtsausübungrecht zu. Die Jagdgenossenschaft<br />

nutzt die Jagd durch Verpachtung an Dritte.<br />

Die gesetzlichen Bestimmungen ergeben sich aus dem BJagdG. Nach<br />

§ 1 BJagdG und § 3 BJagdG gehören Eigentum und Hege untrennbar<br />

zusammen. Eigentümer betroffener Grundstücke sind zur Jagdausübung<br />

verpflichtet. Eigentümer sind aber nach § 9 BJagdG mitgliedschaftlich<br />

in einer Jagdgenossenschaft organisiert. Nach § 10 BJagdG<br />

erfolgt die Jagdausübung durch die Jagdgenossenschaft. Die Jagdgenossenschaft<br />

stellt Abschußpläne auf und sorgt für deren Durchführung<br />

(§ 22 BJagdG). Die Ausübung des Jagdrechts kann durch<br />

die Jagdgenossenschaft an Dritte verpachtet werden (§ 11 BJagdG).<br />

Nach § 2 BJagdG sollen durch die Jagd ein artenreicher und gesunder<br />

Wildbestand erhalten, der Schutz vor Wildschäden gewährleistet<br />

und natürliche Lebensgrundlagen dadurch gepflegt und erhalten<br />

bleiben. In §§ 19 ff. BJagdG sind grausame Erlegungsmethoden<br />

verboten, beispielsweise das Verwenden von Schrot, gehacktem Blei,<br />

1 Es handelt sich um eine Klausur mit mittelschwerem Schwierigkeitsgrad. Der Sachverhalt beruht im<br />

Wesentlichen auf dem Beschluß des BVerfG vom 13. 12. 2006 - 1 BvR 2084/05.<br />

Pfeilen oder Schlingen jeder Art. Das Beunruhigen von Wild an dessen<br />

Zuflucht-, Nist-, Brut- oder Wohnstätten ist verboten. Das Wild<br />

ist vor vermeidbaren Schmerzen und Leiden zu bewahren. Die Jagd<br />

ist nur in den gesetzlich bestimmten Jagdzeiten erlaubt.<br />

All das war E vor der Übereignung nicht bewusst. E besitzt keinen<br />

Jagdschein. Er lehnt die Jagd aus ethisch-sittlichen Gründen ab.<br />

Der Jagd könne er keinen vernünftigen Grund abgewinnen. Es entspräche<br />

dem moralisch-verantwortungsvollen Umgang des Menschen,<br />

das Tier als Mitgeschöpf zu achten. Leben und Wohlbefinden<br />

des Tieres seien zu schützen. Leid, Schmerzen und Schäden seien<br />

diesem zu ersparen. Das sähe auch der Verfassungsgesetzgeber so,<br />

der den Tierschutz zum Verfassungsschutzgut erklärt habe. Es könne<br />

ferner nicht angehen, dass E seine eigenen Freiheiten einbüßen und<br />

für das bloße Freizeitvergnügen von Hobbyjägern herhalten müsse.<br />

Der Freizeit- und Erholungswert seiner Waldgrundstücke tendiere<br />

gegen Null. Die willkürliche und sinnlose Tötung von Lebewesen,<br />

verbrieft durch einen ‘Jagdfreischein’, gehöre abgeschafft, denn die<br />

“Hege mit der Büchse” schade insgesamt mehr als sie nütze.<br />

Nachdem sich E erfolglos durch die Instanzen geklagt hat, sieht er<br />

das Bundesverfassungsgericht als Heilsbringer. Bitte begutachten Sie<br />

die Erfolgsaussichten eines verfassungsrechtlichen Vorgehens des E<br />

anhand der angegeben BJagdG-Vorschriften. Gemeinschaftsrecht,<br />

insbesondere das Verhältnis zwischen EMRK und nationalem Recht,<br />

ist außer Acht zu lassen.<br />

II. LÖSUNG<br />

E könnte sich an das Bundesverfassungsgericht wenden, wenn ihm<br />

ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der zulässig und begründet ist.<br />

Als Rechtsbehelf kommt die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I<br />

Nr. 4 a GG, §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BVerfGG in Betracht. Hierbei handelt<br />

es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf des Bürgers gegen<br />

den Staat zur Durchsetzung des Grundrechtsschutzes. 2 Die Verfassungsbeschwerde<br />

müsste zulässig und begründet sein.<br />

2 Vgl. Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 1223.<br />

36<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

A. ZULÄSSIGKEIT<br />

I. BESCHWERDEFÄHIGKEIT<br />

E ist als natürliche Person („jedermann“), grundrechtsberechtigt, d.h.<br />

beschwerdefähig i. S. d. Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG.<br />

II. PROZESSFÄHIGKEIT<br />

E ist volljährig und geschäftsfähig. Er kann Prozesshandlungen selbst<br />

oder durch einen Bevollmächtigten vornehmen. E ist somit prozessfähig.<br />

3<br />

III. BESCHWERDEGEGENSTAND 4<br />

Gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG müsste sich E gegen<br />

einen Akt der öffentlichen Gewalt zur Wehr setzen. 5 Als ein solcher<br />

Akt kommen Handlungen aller drei Staatsgewalten in Betracht.<br />

Bestimmungen des BJagdG sind Akte der Legislative und stellen bereits<br />

einen tauglichen Beschwerdegegenstand dar. Darüber hinaus ist<br />

E mit seinem Antrag auf Grundrechtsschutz ist in allen staatlichen<br />

Instanzen erfolglos geblieben, wodurch weitere Akte staatlicher Gewalt<br />

der Exekutiven und Judikativen, vorliegen Liegen mehrere Akte<br />

der öffentlichen Gewalt in derselben Angelegenheit vor, steht dem<br />

Beschwerdeführer ein Wahlrecht zu. Das Wahlrecht folgt aus Art. 93<br />

I Nr. 4 a, §§ 90 I, 92, 93 I, 95 II BVerfGG 6 , es ist E überlassen, ob er nur<br />

gegen einzelne oder gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt vorgeht.<br />

Ohne die ausdrückliche Benennung des Beschwerdegegenstandes<br />

darf davon ausgegangen werden, dass sich der Beschwerdeführer<br />

mit der Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung<br />

zur Wehr setzen möchte, 7 denn im Zweifel ist anzunehmen,<br />

dass sich der Beschwerdeführer gegen alle staatlichen Akte<br />

wehren möchte, die sich in der Gestalt dieser letzten gerichtlichen<br />

Entscheidung manifestiert haben. 8 Nach den Angaben des E geht es<br />

ihm vornehmlich um Bestimmungen des BJagdG. Ein tauglicher Beschwerdegegenstand<br />

i.S.d. Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG<br />

liegt somit vor.<br />

IV. BESCHWERDEBEFUGNIS<br />

Gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG sowie § 90 I BVerfGG müsste E behaupteten,<br />

durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte<br />

oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. Entgegen<br />

des Wortlautes genügt das bloße Behaupten nicht. Es bedarf einer<br />

substanziierten Darlegung der Möglichkeit, selbst, gegenwärtig und<br />

unmittelbarer verletzt zu sein. 9<br />

3 Die Prozessfähigkeit ist im Verfassungsrecht nicht eigens geregelt, sodass es eines Rückgriffs auf allgemeine<br />

Prozessrechtsgrundsätze bedarf, vgl. Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger,BVerfGG, § 90<br />

Rn. 49; Detterbeck, Öffentliches Recht, ein Basislehrbuch, Rn. 957. Sie ist jedoch eine Sachentscheidungsvoraussetzung.<br />

4 Der Beschwerdegegenstand sollte sauber herausgearbeitet werden vgl. dazu Hinweis bei Gersdorf,<br />

Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, Rn. 20 f.<br />

5 Vgl. Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, Rn. 19.<br />

6 Zum Wahlrecht vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 1233; Pieroth-Jarass/Pieroth, Art. 93 GG Nr. 51 m.w.N.;<br />

wegen § 90 II BVerfGG und der Praxis des BVerfG handelt es sich jedoch nur um vermeintliches Wahlrecht,<br />

vgl. dazu Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 485.<br />

7 Vgl. Gersdorf, , Gusy, Rn. 38; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 213.<br />

8 Hartmann, in: Pieroth/Silberkuhl, die Verfassungsbeschwerde, Einführung, Verfahren, Grundrechte,<br />

§ 90 BVerfGG, Rn. 25 f., Rn. 51.<br />

9 Detterbeck Rn. 966 f.; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rn. 336 f.;<br />

Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 67.<br />

1. MÖGLICHE VERLETZUNG IN EIGENEN GRUNDRECHTEN<br />

Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. 10 Eine Rechtmäßigkeitsüberprüfung<br />

des einfachen Rechts erfolgt nicht. Im Falle von<br />

Urteilsverfassungsbeschwerden bedarf es grundsätzlich der Darlegung,<br />

fachgerichtliche Entscheidungen hätten spezifisches Verfassungsrecht<br />

verletzt. 11 Dieser bedarf es aber nicht, wenn die Verfassungswidrigkeit<br />

der Entscheidungen auf die Anwendung einer<br />

verfassungswidrigen Rechtsgrundlage zurückzuführen ist. Entscheidungen,<br />

die auf Grundlage eines verfassungswidrigen Gesetzes ergangen<br />

sind, sind ebenfalls verfassungswidrig. 12 Die Überprüfung<br />

von Rechtsvorschriften auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist ausschließlich<br />

dem BVerfG vorbehalten (Normverwerfungsmonopol). E geht es<br />

um Bestimmungen des BJagdG. Diese könnten E möglicherweise in<br />

dessen Grundrechten aus Art. 14 I GG, Art. 9 I GG, Art. 4 I GG sowie<br />

Art. 2 I GG verletzen.<br />

a) Art. 14 GG<br />

E ist Eigentümer zweier zusammenhängender Waldgrundstücke, die<br />

mit anderen Grundstücken einen gemeinschaftlichen Jagdbezirk bilden.<br />

Durch § 1 BJagdG wird die Jagdpflicht statuiert. Durch §§ 3, 9,<br />

10 BJagdG wird sie im Einzelnen konkretisiert. Die Jagdpflicht trifft<br />

nach § 3 BJagdG jeden Eigentümer von Grund und Boden. Aufgrund<br />

dieser Vorschriften ist E nicht möglich, sein Grundstückseigentum<br />

frei zu nutzen. Eine Verletzung seines von Art. 14 GG gewährleisteten<br />

Eigentumsrecht ist nicht ausgeschlossen.<br />

b) Art. 4 I GG<br />

Auf seinen Grundstücken hat E die Jagd zu dulden. Ein entgegenstehender<br />

Wille des E ist unbeachtlich, und zwar selbst dann, wenn der<br />

Wille des E ethisch-sittlich motiviert ist. Durch die Duldungspflicht<br />

von Handlungen, die E aus Gewissensgründen ablehnt, könnte E in<br />

Art. 4 I GG verletzt sein.<br />

c) Art. 9 I GG<br />

Wegen seiner besonderen Eigentümerstellung ist E per Gesetz Mitglied<br />

einer Jagdgenossenschaft nach § 9 BJagdG, ohne dass es seiner<br />

Einwilligung bedurfte. Dieser unfreiwillige Zusammenschlusses<br />

könnte E in seinem Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit<br />

nach Art. 9 I GG verletzen.<br />

d) Art. 2 I GG<br />

Eine Verletzung des subsidiären Auffanggrundrechts der allgemeinen<br />

Handlungsfreiheit ist möglich.<br />

2. BETROFFENHEIT 13<br />

Durch die Bestimmungen des BJagdG müsste E selbst, gegenwärtig<br />

und unmittelbar betroffen sein. E macht die Verletzung in eigenen<br />

Rechten geltend. Er ist von Regelungen des BJagdG als Eigentümer<br />

selbst betroffen. Als Adressat der Bestimmungen des BJagdG und der<br />

darauf ergangenen Entscheidungen ist E ferner gegenwärtig und unmittelbar<br />

betroffen.<br />

10 BVerfGE 7, 198, 207; 18, 85, 92.<br />

11 Schlaich/Korioth Rn. 221; Pieroth/Schlink, Rn. 1277 f.<br />

12 Detterbeck Rn. 968.<br />

13 Vgl. Sachs, Verfassungsprozessrecht Rn. 518 f.; Gersdorf, Rn. 36 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

37


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

V. RECHTSWEGERSCHÖPFUNG UND SUBSIDIARITÄT 14<br />

E hat alle Instanzen erfolglos durchlaufen, der Rechtsweg ist damit<br />

erschöpft, Art. 94 II 2 GG, § 90 II 1 BVerfGG. E hat nichts unversucht<br />

gelassen, um eine Anrufung des Bundesverfassungsgericht zu vermeiden.<br />

Das Subsidiaritätsgebot i.S.d. § 90 II 2 BVerfGG. ist gewahrt.<br />

VII. FORM/FRIST<br />

Zur ordnungsgemäßen Erhebung der Verfassungsbeschwerde<br />

müsste E das Schriftformerfordernis nach § 23 I 1 BVerfGG sowie<br />

die Monatsfrist gemäß § 93 BVerfGG einhalten.<br />

VII. ZWISCHENERGEBNIS<br />

Die Verfassungsbeschwerde des E ist folglich zulässig.<br />

B. BEGRÜNDETHEIT<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die angegriffenen<br />

Maßnahmen einen ungerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich<br />

von Grundrechten darstellen. 15<br />

I. VERLETZUNG ART. 14 GG<br />

1. EINGRIFF IN DEN SCHUTZBEREICH<br />

Art. 14 GG schützt alle vermögenswerten Rechte in ihrer konkreten<br />

gesetzlichen Ausgestaltung. 16 Ein Eingriff liegt in jeder Verkürzung<br />

der verfassungsrechtlich garantierten Eigentumsbefugnisse. 17 Als Eigentümer<br />

unterliegt E der Jagdausübungs- bzw. Jagdduldungspflicht<br />

auf seinen Grundstücken. Es ist ihm nicht möglich, nach Belieben<br />

mit seinem Eigentum zu verfahren. Ein Eingriff in den Schutzbereich<br />

liegt vor.<br />

2. QUALIFIZIERUNG DES EINGRIFFS<br />

Wegen Art. 14 I 2 GG sowie Art. 14 III GG bedarf es jedoch einer<br />

Einordnung und Abgrenzung des Eingriffs. 18 An Inhalts- und<br />

Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 I 2 GG sind andere<br />

Rechtfertigungsanforderungen zu stellen als an Enteignungsmaßnahmen<br />

nach Art. 14 III GG. 19 Während eine Inhalts- und Schrankenbestimmung<br />

nach Art. 14 I 2 GG die generelle und abstrakte<br />

Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber meint,<br />

handelt es sich bei der Enteignung um die Entziehung konkreter<br />

subjektiver Rechtspositionen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben<br />

im Einzelfall. 20 Die Entschädigungspflicht nach Art. 14 III 2 GG<br />

stellt kein taugliches Kriterium dar, Art. 14 I 2 GG und Art. 14 III 2<br />

voneinander abzugrenzen; anders hingegen die Güterbeschaffungsvorsorge.<br />

21 Bestimmungen des BJagdG betreffen alle Eigentümer<br />

im entsprechenden Anwendungsbereich. Es handelt sich um keine<br />

14 Vgl. Gersdorf Rn. 47 ff.; Sachs Rn. 523 ff.<br />

15 Detterbeck, Rn. 1009, 968; Gersdorf, Rn. 72.<br />

16 Vgl. Detterbeck, Rn. 784, 786, Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG Rn. 308; Epping, Grundrechte,<br />

Rn. 421, 446; vgl. ferner BVerfG, NJW 2005, 879, 880 m.w.N.: „Der Eigentumsschutz im Bereich des Privatrechts<br />

betrifft grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung<br />

in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher<br />

Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.“<br />

17 Detterbeck, Rn. 809; Axer-Epping/Hillgruber, Art. 14, Rn. 69.<br />

18 Bereits hier statt in der Rechtfertigung kann die Einordnung erfolgen vgl. Gersdorf Rn. 299; Epping<br />

Rn. 447, wenngleich a.A.<br />

19 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 38 Rn. 20 ff.; Detterbeck Rn. 814 ff.; kritisch hinsichtlich der gesetzlichen<br />

Ausgestaltung des normgeprägten Grundrechts hin zum „Umschlagen“ in eine verfassungswidrigen<br />

Ausgestaltung. Epping, Rn. 421 f. 429.<br />

20 Hufen § 38 Rn. 20, 28; Epping, Rn. 448 f., 458 ff.; Detterbeck, Rn. 820, 822; Berkemann, in: Umbach/<br />

Clemens Art. 14 Rn. 277 f.<br />

21 Epping Rn. 459; Detterbeck Rn. 823; Hufen, § 38 Rn. 20.<br />

Einzelfallregelung. Eine Güterbeschaffung unterbleibt. Durch die<br />

BJagdG-Bestimmungen werden dem E weder Eigentumspositionen<br />

noch damit verbundene Befugnisse entzogen. E ist und bleibt Eigentümer.<br />

Bestimmungen des BJagdG gestalten die Eigentumsbefugnisse<br />

lediglich näher aus. Entgegen dem subjektiven Empfinden des<br />

E, bleibt es diesem objektiv unbenommen über seine Grundstücke<br />

nach Belieben zu verfügen. Maßgeblich sind hierbei allein objektive<br />

Kriterien. Regelungen des BJagdG gestalten die Eigentumsordnung.<br />

Es handelt sich somit eine reine Inhalts- und Schrankenbestimmung.<br />

3. VERFASSUNGSRECHTLICHE RECHTFERTIGUNG<br />

Ein Eingriff in Gestalt von Inhalts- und Schrankenbestimmung in<br />

Art. 14 GG ist gerechtfertigt, wenn das in den Schutzbereich eingreifende<br />

Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist. 22<br />

a) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />

Bedenken hinsichtlich des Gesetzgebungsverfahrens bestehen nicht,<br />

Art. 70, 73 I, III Nr. 1, 74 Nr. 28, Art. 76 ff. GG.<br />

b) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />

Regelungen des BJagdG sind dann materiell verfassungsmäßig, wenn<br />

sie den besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />

an eine Inhalts- und Schrankenbestimmung genügen. 23 Hierbei<br />

ist insbesondere von Bedeutung, dass ein angemessener Ausgleich<br />

zwischen der Sozialbindung des Eigentums, Art. 14 III GG, 24 und<br />

dessen Privatnützigkeit stattgefunden hat. 25 Die grundeigentumsgebundene<br />

Zuordnung zu einem Jagdbezirk und die damit verbundene<br />

Jagdpflicht müssten in verhältnismäßiger Weise in Art. 14 I GG<br />

eingreifen. Dies ist dann der Fall, wenn der Gesetzgeber mit den<br />

gesetzlichen Bestimmungen des BJagdG ein legitimes Ziel verfolgt,<br />

dieses zur Zweckerreichung geeignet und erforderlich ist sowie widerstreitende<br />

Interessen in einem angemessen Verhältnis abgewogen<br />

wurden.<br />

aa) Legitimes Ziel<br />

Bundesjagdrechtliche Bestimmungen müssten einem verfassungslegitimen<br />

Ziel dienen. Die Ziele sind in § 2 BJagdG niedergelegt.<br />

Das BJagdG dient dem Arten- und Tierschutz (Art. 20 a GG).<br />

Ein artenreicher und gesunder Wildbestand ist ein schützenswertes<br />

Allgemeinwohlinteresse. Der Schutz vor Wildschäden an<br />

in Land- und Forstwirtschaft dient über dem Schutz der Rechte Dritter<br />

(Art. 14 I GG). Die Erhaltung und Pflege der natürlichen Lebensgrundlagen<br />

durch die Jagd, zugunsten der Allgemeinheit ist ein<br />

Gemeinwohlbelang, der der Sozialbindung des Eigentums (Art.<br />

14 I 2, II GG) als besondere Ausprägung des Sozialstaatsgebot 26<br />

(Art. 20 I GG) entspricht Verfassungslegitime Ziele liegen somit vor.<br />

bb) Geeignetheit<br />

Die eingesetzten Mittel müssten geeignet sein. Das ist dann der<br />

Fall, wenn sie das Erreichen der Ziele fördern. Fehlt den Mitteln die<br />

Zweckförderlichkeit, fehlt ihnen die Eignung. Gänzlich und offenkundig<br />

zweckförderlich untaugliche Mittel sind ungeeignet. Diesbezüglich<br />

kommt dem Gesetzgeber jedoch ein weiter Beurteilungs-<br />

22 Epping Rn. 470; Detterbeck Rn. 836.<br />

23 Vgl. dazu Papier-Maunz/Dürig, Art. 14 GG Rn. 311 f.; vgl. konkretes Formulierungsbeispiel bei<br />

Gersdorf Rn. 309.<br />

24 Art. 14 Abs. 2 GG ist keine Eingriffsermächtigung, eine solche ergibt sich ausschließlich aus Art. 14<br />

Abs. 1 S. 2 GG selbst; vgl. Epping Rn. 472.<br />

25 Vgl. dazu Epping Rn. 472 „Je stärker der soziale Bezug des Eigentumsobjekts ist, desto eher sind Einschränkungen<br />

gerechtfertigt.“ sowie zur sogenannten „Situationsgebundenheit“ des Grundeigentums<br />

Epping, Rn. 473; vgl. zur Sozialbindung des Eigentums sowie zum Verhältnis zwischen Art. 14 Abs. 1 S.<br />

2 GG sowie Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG Papier-Maunz/Dürig, Art. 14 GG, Rn 305, 308.<br />

26 Vgl. BVerfGE 25, 112, 117.<br />

38<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

spielraum zu, sodass die schlichte Möglichkeit, dem Zweck zu dienen,<br />

ausreicht. 27 Durch den organisatorischen Zusammenschluss von<br />

Grundstücken zu Jagdbezirken wird ein hinreichend großer Raum<br />

geschaffen, um die Jagdausübung und den damit verbunden verfassungsrechtlichen<br />

Rechtsgüterschutz gewährleisten zu können. 28 Eine<br />

evidente Ungeeignetheit der Bestimmungen ist mithin nicht ersichtlich.<br />

cc) Erforderlichkeit<br />

Fraglich ist, ob die eingesetzten Mittel erforderlich sind. Sie sind erforderlich,<br />

wenn es keine milderen, gleich geeigneten Mittel gibt, die<br />

Ziele zu erreichen, wobei dem Gesetzgeber wiederum eine Einschätzungsprärogative<br />

zukommt. 29 Als milderes Mittel käme eine staatsfreie<br />

Organisation des Jagdwesens in Betracht. Die Selbstregulierung<br />

der Natur als bloßes Ruhenlassen bzw. Außerkraftsetzen der Jagdpflicht<br />

ist kein gleich geeignetes Mittel, den in § 2 BJagdG ausgestalteten<br />

Verfassungs-Auftrag zu erfüllen. Das menschliche Eingreifen<br />

durch Jagd und Hege ist für einen ökologisch-ökonomisch Ausgleich<br />

notwendig. Wegen des Überangebots an Nahrung und mangels natürlicher<br />

Feinde würde sich das Wild unkontrolliert vermehren. 30 Die<br />

Bildung freiwilliger Zusammenschlüsse mag für einzelne Grundstückseigentümer<br />

ein weniger einschneidendes Mittel sein. Ein rein<br />

privates Jagdrecht birgt jedoch die Gefahr, dass den Jagdpflichten<br />

nicht nachgekommen wird. 31 Das würde zu Wildschäden führen und<br />

damit insgesamt den Schutz von Gemeinwohlbelangen gefährden.<br />

Vorhandene Bestimmungen des BJagdG sind erforderlich, um die<br />

genannten Ziele zu erreichen.<br />

dd) Angemessenheit<br />

Bestimmungen des BJagdG müssten angemessen sein. Eine staatliche<br />

Maßnahme ist angemessen, wenn die gewählten Mittel in<br />

einem angemessenen Verhältnis zum Ziel stehen. 32 Bei Inhalts- und<br />

Schrankenbestimmungen ist der Gesetzgeber nicht gänzlich frei, er<br />

hat die Zumutbarkeitsgrenze zu beachten. 33 An einen sachgerechten<br />

Ausgleich widerstreitender Interessen werden je nach Art und Bedeutung<br />

des betroffenen Eigentumsobjekts unterschiedliche Anforderungen<br />

gestellt. 34 Die schutzwürdigen Nutzungsinteressen des<br />

Eigentümers müssen mit den berechtigten Allgemeinwohlinteressen<br />

in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. 35 Der Eigentumsgebrauch<br />

soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Die Eigentumsnutzung ist<br />

deshalb sozialgebunden. Dies hat zur Folge, dass sozial motivierte<br />

Einschränkungen des Eigentumsfreiheitsrechts zugunsten von Gemeinwohlbelangen<br />

einfacher zu rechtfertigen sind. 36 Je wichtiger die<br />

soziale Funktion des Eigentums ist, desto größer sind die gesetzgeberischen<br />

Gestaltungsmöglichkeiten bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung<br />

des Eigentumsrechts. 37 Die mit der Jagd und Hege<br />

verbundenen Ziele weisen einen besonders starken sozialen Bezug<br />

auf (Art. 20 a GG sowie Art. 14 I GG). Um diesem Zweck nachzukommen<br />

und ohne dabei die Belange des Eigentümers außer Acht<br />

zu lassen, hat der Gesetzgeberfür einen Interessenausgleich gesorgt.<br />

Zwar kann der Eigentümer im Rahmen der bestehenden Gesetze mit<br />

27 Vgl. zur „Zweckeignung des Mittels“ Epping Rn. 52 m.w.N.; Detterbeck Rn. 484, 71 ff.<br />

28 BVerfG, Beschluß vom 13.12.2006 – 1 BvR 2084/05 Absatz-Nr. 17, = BVerfG, NVwZ 2007, S. 808 ff;<br />

alle Entscheidungen des BVerFG sind online abrufbar unter www.bverfg.de/entscheidungen jede nachstehende,<br />

nicht näher bezeichnete Entscheidung des BVerfG bezieht sich auf den vorstehenden Beschluß.<br />

29 Pieroth/Schlink Rn. 297; GersdorfRn. 272; EppingRn. 54.<br />

30 Zur Vorinstanz BVerwG, „fehlende Einsicht der Tiere“, in: BVerfG Absatz-Nr. 21 und 24.<br />

31 BVerfG Absatz Nr. 9 f., ; vgl. auch OVG Koblenz, Urt. v. 13.7.2004, Az.: 8 A 10216/04.<br />

32 Gersdorf, Rn. 273; Epping Rn. 56; Pieroth/Schlink Rn. 299.<br />

33 Jarass/Pieroth Art. 14 Rn. 38.<br />

34 Axer-Epping/Hillgruber Art. 14 Rn. 88.<br />

35 BVerfG Absatz-Nr. 5; sowie zur Ansicht des BVerwGAbsatz-Nr. 21; BVerfGE 110, 1, 28; 98, 17, 37;<br />

100, 226, 240.<br />

36 Epping Rn. 472; vgl. Badura, Staatsrecht, S. 269 Beachtung der „sozialen Gerechtigkeit“.<br />

37 BVerfGE 100, 226, 240.<br />

der Sache nach Belieben verfahren, allerdings erhält er einen Ausgleich.<br />

Die Nichtausübung der Eigentumsnutzung berücksichtigt<br />

der Gesetzgeber durch den Pachterlös. Rechtsgüter und Rechtspositionen<br />

des Eigentümers hat der Gesetzgeber über die Inhalts- und<br />

Schrankenbestimmug hinaus in einem ausgewogenen Verhältnis<br />

berücksichtigt. Zwar kann ein schutzwürdiges Vertrauen 38 bei der<br />

Abwägung eine Rolle spielen, nicht jedoch hinsichtlich der von E<br />

vorgetragenen Gesichtspunkte. Die Regelungen des BJagdG und<br />

die damit verbundenen Pflichten sind als besondere, auf den jeweiligen<br />

Grundstücken ruhende Last zu verstehen. Durch die Auflassung<br />

ist diese Last auf den neuen Eigentümer übergehen. E hat also<br />

niemals „lastenfreies“ Eigentum besessen. Eine etwaige Unkenntnis<br />

begründet hier keine berücksichtigungsfähige Vertrauensposition.<br />

Regelungen des BJagdG sind damit angemessen. Darüber hinaus, hat<br />

der Gesetzgeber im Rahmen von Art. 14 I 2 GG dem unveräußerlichen<br />

Kernbereich des Eigentumsrecht Rechnung zu tragen. Dem<br />

Eigentümer muss eine Rechtsposition verbleiben, die den Namen<br />

„Eigentum“ noch verdient. 39 Der Übergang des Jagdausübungsrechts<br />

auf die Jagdgenossenschaft ändert an der rechtlichen Zuordnung des<br />

Eigentums zu E nichts. E kann über seine Grundrechte im Rahmen<br />

der gesetzlichen Bestimmungen frei verfügen. Privatnützigkeit des<br />

Eigentumsrechts meint gerade keine absolut unbeschränkte Handlungsfreiheit.<br />

40 Das persönliche Empfinden kann weder über die<br />

wirtschaftliche Wertigkeit von Eigentum noch über rechtliche und<br />

tatsächliche Verfügungsbefugnisse bestimmen. Hinzu tritt eine Kompensation,<br />

für Nutzungsbeschränkungen erhält E ein „Surrogat“ 41<br />

in Gestalt von Mitwirkungsrechten in der Jagdgenossenschaft und<br />

eines Teilhaberechts aus der Jagdpachtnutzung durch eine geldwerte<br />

Entschädigung. 42 Also erbringt E kein unzumutbares Sonderopfer.<br />

Der Gesetzgeber hat die Privatnützigkeit ausreichend berücksichtigt<br />

und den Kernbereich nicht angetastet. Regelungen des BJagdG<br />

sind verhältnismäßig. Sie verletzen E nicht in seinem Grundrecht aus<br />

Art. 14 I GG.<br />

II.VERLETZUNG VON ART. 4 GG<br />

Im Falle einer etwaigen Verletzung von Art. 4 GG ist bereits das<br />

Verhältnis zwischen Art. 14 I GG und Art. 4 GG fraglich. Grundstückseigentumsgebundene<br />

Regelungen sind allein an Art. 14 I GG<br />

zu messen. 43 Für Art. 4 GG verbleibt daher nur „der Rest“. 44 Für die<br />

Schutzbereichseröffnung des Art. 4 I 2. Var. GG bedarf es einer Entscheidung,<br />

die ernstlich und sittlich ist und sich an den Kategorien<br />

von Gut und Böse orientiert, die der Einzelne in einer bestimmten<br />

Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt,<br />

so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln<br />

könnte. 45 Zur bloßen inneren Haltung (forum internum) muss Handeln<br />

hinzutreten. 46 Fraglich ist, ob von E eine für Art. 4 I 2. Var. GG<br />

relevante Handlung verlangt wird. Nicht jede Handlung fällt in den<br />

Schutzbereich des Art. 4 I 2 GG. Hier wird E kein bestimmtes Handeln<br />

aufgebürdet. Zwar ist die Jagd und damit die Tötung von Tieren<br />

auf den Grundstücken des E rechtlich möglich, jedoch wird E weder<br />

gezwungen, in der Jagdgenossenschaft noch an der Jagd und der damit<br />

der Tötung von Tieren mitzuwirken. Die Entscheidung, Tiere zu<br />

38 Vgl. EppingRn. 474; Axer-Epping/Hillgruber Art 14 Rn. 92, 98 f.<br />

39 BVerfG Absatz- Nr. 8; BVerfGE 24, 367, 389.<br />

40 Badura S. 269.<br />

41 So das BVerwG, in: BVerfG Absatz-Nr. 20.<br />

42 BVerfG Absatz-Nr. 22.<br />

43 Eine Schutzbereichsverstärkung des Art. 14 GG durch Art. 4 GG soll vermieden werden, so zwar<br />

OVG Koblenz Urt. v. 13.7.2004, Az.: 8 A 10216/04, aber dagegen BVerwG, sowie BVerfG Absatz-Nr. Absatz-Nr.<br />

18 und 23.<br />

44 Das stellt eine Konkretisierung der Schutzbereiche dar und keinen Fall der Konkurrenz, vgl. zu Konkurrenzfällen<br />

sehr anschaulich Winkler, Grundrechte in der Fallprüfung, S. 21.<br />

45 BVerfGE 12, 45, 55; BVerfGE 23, 191, 205; 48, 127, 173; BVerwG, NJW 2006, 77, 87.<br />

46 Hufen, § 24 Rn. 3, 5; Herzog-Maunz/DürigArt. 4 Rn. 132 f.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

39


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

töten, hat der Gesetzgeber getroffen. 47 Die Gewissensentscheidungsfreiheit<br />

besteht zwar in der Gewährleistung, „sich in seinem Rechtskreis<br />

gemäß seiner Gewissensüberzeugung zu verhalten“, sie führt<br />

aber nicht dazu, „in den Rechtskreis anderer gebietend oder verbietend<br />

hineinzuregieren.“ 48 „Aus der Gewissensfreiheit kann niemand<br />

das Recht herleiten, die Rechtsordnung nur nach seinen Gewissensvorstellungen<br />

zu gestalten, und verlangen, dass seine Überzeugung<br />

zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung<br />

gemacht wird. 49 Mit seinen ethisch-moralischen Wertvorstellungen<br />

möchte E aus Art. 4 I 2. Var. GG einen Anspruch ableiten,<br />

eigene Rechtsvorstellungen zulasten der Rechte Dritter und gesetzgeberischer<br />

Entscheidungen durchzusetzen. 50 Ein solcher Anspruch<br />

besteht nicht. Ein Eingriff in die Freiheit der Gewissensentscheidung<br />

liegt nicht vor.<br />

III. VERLETZUNG VON ART. 9 GG<br />

Wegen seiner besonderen Eigentümerstellung ist E zwangsweise Mitglied<br />

einer Genossenschaft nach § 9 BJagdG. Fraglich ist, ob diese Art<br />

des unfreiwilligen Zusammenschlusses vom Schutzbereich des Art. 9<br />

I GG umfasst ist.<br />

1. SCHUTZBEREICH<br />

Fraglich ist, ob E einen Anspruch auf Austritt aus der Jagdgenossenschaft<br />

hat. Dazu müsste die Jagdgenossenschaft in den Schutzbereich<br />

des Art. 9 I GG fallen und die negative Vereinigungsfreiheit von<br />

ihr gedeckt sein. Vereinigungen sind freiwillige Zusammenschlüsse<br />

mehrerer natürlicher oder juristischer Personen für eine längere<br />

Zeit zu einem gemeinsamen Zweck bei Unterwerfung unter eine<br />

organisierte Willensbildung. 51 Entgegen des Wortlauts ist nicht bloß<br />

das Bilden von Vereinigungen geschützt. 52 Zum positiven Schutz<br />

(gründen, beitreten, verbleiben, auflösen) tritt der spiegelbildliche<br />

Negativschutz hinzu, Vereinigungen nicht zu gründen, ihnen nicht<br />

beizutreten, bzw. aus ihnen austreten können. 53 Die Jagdgenossenschaft<br />

wurde aber nicht freiwillig von Privatpersonen gegründet,<br />

sondern kraft öffentlich-rechtlichen Hoheitsaktes geschaffen. 54 Sie ist<br />

eine juristische Person des öffentlichen Rechts die keine Vereinigung<br />

i.S.d. Art. 9 I GG ist sein könnte. Während in Art. 9 I GG die Begriffe<br />

„Verein“ und „Gesellschaft“ gebraucht werden, wird in Art. 9 II GG<br />

der Begriff der Vereinigung verwendet. Für den Schutzbereich ist zu<br />

schlußfolgern, dass der Begriff der Vereinigung den Oberbegriff für<br />

Vereine und Gesellschaften darstellt. 55 Wenn sich aber Art. 9 I GG<br />

auf die Grundform einer juristischen Person des Privatrechts, den<br />

Verein (§§ 21 ff. BGB) sowie auf die der privatrechtlichen Personengesellschaft<br />

(§§ 705 ff. BGB) bezieht, bleibt fraglich, ob juristische<br />

Personen des öffentlichen Rechts vom Schutzbereich erfasst sind.<br />

Eine Anwendung des Art. 9 I GG auf juristische Personen des öffentlichen<br />

Rechts wäre nur dann zulässig, wenn zwischen den in Art. 9 I<br />

GG genannten Instituten und der der juristischen Person des öffent-<br />

lichen Rechts Vergleichbarkeit bestünde. Das ist strittig. 56 Für eine<br />

Einbeziehung wird vorgebracht, dem Wortlaut des Art. 9 I GG seien<br />

keine Anhaltspunkte zu entnehmen, dass eine bestimmte Rechtsform<br />

für einen Schutz nach Art. 9 I GG erforderlich sei. Auch sei<br />

der Schutzzweck vergleichbar. Diese Art des zwangsweisen Zusammenschlusses,<br />

wodurch Einzelnen die Erfüllung öffentliche Aufgaben<br />

aufgebürdet werde, stelle die „stärkste Form des Eingriffs in die<br />

Vereinigungsfreiheit“ dar. Betroffen sei daher die klassische Grundrechtsfunktion<br />

als Abwehr gegen staatliche Maßnahmen. Dagegen<br />

wird im Wesentlichen die fehlende Vergleichbarkeit das Bestehen<br />

einer Schutzlücke (Schutz über Art. 2 I GG) vorgebracht.<br />

Juristische Personen des Privatrechts sowie Personengesellschaften<br />

kennzeichnen sich durch die Freiwilligkeit ihres Gründungsaktes<br />

als Ausfluss der Privatautonomie. Tertium comparationis kann<br />

deshalb nur die Freiwilligkeit sein. Ob Art. 9 I GG einen Anspruch<br />

auf Fernbleiben von der Eingliederungen in öffentlich-rechtliche<br />

Vereinigungen gewährt, kann dahingestellt bleiben, wenn der Eingriff<br />

verfassungsrechtlich sowohl nach Art. 9 I GG wie auch nach<br />

Art. 2 I GG gerechtfertigt ist. Beide Grundrechte sind nicht vorbehaltlos<br />

gewährt. Eingriffe sind möglich, wenn sie verfassungsrechtlich<br />

gerechtfertigt sind. Dem Einzelnen steht ein Anspruch auf sorgfältige<br />

Prüfung der Notwendigkeit einer Zwangsmitgliedschaft zu. 57<br />

Eine notwendige Mitgliedschaft ist nur anzunehmen, wenn sie der<br />

Wahrnehmung legitimer öffentlicher Aufgaben dient und auch im<br />

Übrigen verhältnismäßig ist. 58 Der Sinn und Zweck solcher Zwangsmitgliedschaften<br />

wirkt zugunsten des Bürgers und der Allgemeinheit.<br />

Der Bürger soll in eigener Verantwortung an der Wahrnehmung<br />

öffentlicher Aufgaben und Interessen beteiligt werden. 59 Wie oben<br />

gezeigt, werden durch das BJagdG verfassungslegitime Ziele wahrgenommen.<br />

Die Erwägungen im Rahmen des Art. 14 GG zur Effizienz<br />

der Wahrnehmung einer öffentlichen <strong>Ausgabe</strong> durch den Staat gelten<br />

auch hier. Es liegt keine verfassungswidrige Aufgabenüberschreitung<br />

vor. Die Zwangsmitgliedschaft ist notwendig, um dem Wohle der<br />

Allgemeinheit zu dienen. Eingriffe in Art. 9 I GG und in Art. 2 I GG<br />

wären verfassungsrechtlich jeweils gerechtfertigt. Einer Klärung der<br />

Schutzbereichseröffnung des Art. 9 I GG bedarf es damit nicht.<br />

IV. ERGEBNIS<br />

Die Verfassungsbeschwerde des E ist unbegründet.<br />

C. ENDERGEBNIS<br />

Wegen der zwar zulässigen, aber unbegründeten Verfassungsbeschwerde<br />

hat das verfassungsrechtlichen Vorgehens des E keine Aussicht<br />

auf Erfolg.<br />

47 BVerfG Absatz-Nr. 25.<br />

48 BVerwGAbsatz-Nr.18.<br />

49 BVerfGE 67, 26, 37.<br />

50 Vgl. BVerfG Absatz-Nr. 25, 26.<br />

51 Vgl. Epping Rn. 864; Detterbeck Rn. 678.<br />

52 Einer Ansicht nach gewähre Art. 9 GG keine negative Vereinigungsfreiheit, vgl. dazu Steinmeyer-<br />

Umbach/Clemens, Art. 9 Rn. 43 m.w.N., sowie Epping Rn. 877; vgl. im Übrigen Kannengießer-Schmidt-BleibtreuHofmann/Hopfauf,<br />

Art. 9 GG Rn. 7.<br />

53 Rixen-Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 9 Rn. 20; Bergmann-Hömig Art. 9 GG Rn. 3.<br />

54 Vgl. hinsichtlich des Merkmals der Freiwilligkeit Kepmer-von Mangold/Klein/Starck Art. 9 GG Rn.<br />

27 f; Bauer-Dreier, Art. 9 GG, Rn. 47.<br />

55 Detterbeck Rn. 676 ff.<br />

56 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 2617, 2617/2618; Detterbeck, Rn. 443; Epping, Rn. 881; Merten, HdbStR<br />

VII, § 165 Rn. 62, Steinmeyer, in: Umbach/Clemens Art. 9 Rn. 46 m.w.N.; Leibholz/Rinck, Art. 9 Rn.<br />

1 f. ; Löwer, in: v. Münch Art. 9 Rn. 20; Scholz AöR 100 (1975), 80, 124 f.; Scholz-Maunz/Dürig, Art.<br />

9 Rn. 89; Pieroth/Schlink, Rn. 792; Höfling-Sachs, Art. 9 Rn. 22: Cornils-Epping/Hillgruber, Rixen,<br />

in: Stern/Becker, Art. 9 Rn. 21; vgl. auch Hesse, Rn. 414; Bethge, JA 1979, 281, 284 f.; Murswiek, JuS<br />

1992, 116, 118 f.<br />

57 BVerfGE 38, 281, 298; BVerfG, NVwZ 2002, 335, 336.<br />

58 Vgl. Leibholz/Rinck Art. 9 GG Rn. 120; Bergmann-Hömig, Art. 9 GG Rn. 3.<br />

59 Epping Rn. 879.<br />

40<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


Sonder-Ausgab<br />

Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Erklärungsbewusstsein und Rechtsbindungswille:<br />

Zwei Begriffe mit gänzlich verschiedener Bedeutung!<br />

Prof. Dr. Martin Schwab, (FU Berlin)<br />

A. DAS ERKLÄRUNGSBEWUSSTSEIN<br />

Was man unter dem Begriff des Erklärungsbewusstseins zu verstehen<br />

hat, habe ich im letzten Jahr in dieser Zeitschrift in einem zweiteiligen<br />

Beitrag zu erläutern versucht 1 . Wir erinnern uns:<br />

Fall 1:<br />

Tourist T betritt einen Raum, in dem gerade Weine versteigert werden.<br />

Er vermutet dort einen Bekannten und sieht ihn, denn auch von Ferne,<br />

in diesem Raum. Er hebt die Hand, um seinem Bekannten zuzuwinken.<br />

Der Auktionator begreift dieses Handheben, den Gebräuchen in<br />

seinem Hause entsprechend, in dem Sinne, dass T das bisher abgegebene<br />

Höchstgebot um 1.000 Euro steigern will. Da keine weiteren Gebote<br />

abgegeben werden, erhält T den Zuschlag.<br />

Das Verhalten des T war im Fall 1 zwar von einem willensgetragenen<br />

Verhalten gesteuert; T hatte also Handlungswillen. Ihm fehlte aber das<br />

Erklärungsbewusstsein: Ihm war, als er die Hand hob, nicht bewusst,<br />

dass sein Verhalten überhaupt als rechtserhebliche Erklärung würde<br />

gedeutet werden können. Die Diskussion in Rechtsprechung und<br />

Schrifttum rankt sich nun darum, ob ein solches Verhalten gleichwohl<br />

als Willenserklärung angesehen werden kann. Spaltet man das<br />

Merkmal der Willenserklärung in den objektiven Tatbestand „Erklärung“<br />

und den subjektiven Tatbestand „Willen“ auf, so zeigt sich, dass<br />

die Kontroverse um die Rolle des Erklärungsbewusstseins sich am<br />

subjektiven Tatbestandselement entzündet: Die Frage lautet schlicht,<br />

ob der Handelnde (im Fall 1: T) überhaupt einen rechtlich erheblichen<br />

Willen gebildet hat. Verneint man diese Frage, so liegt eine<br />

Willenserklärung bereits im Ansatz nicht vor; bejaht man die Frage,<br />

so hat T im Fall 1 eine Willenserklärung abgegeben und kann diese<br />

allenfalls nach § 119 I BGB wegen Irrtums anfechten.<br />

B. DER RECHTSBINDUNGSWILLE<br />

Wenn man sich den Begriff des Rechtsbindungswillens in seiner<br />

Wortbedeutung vor Augen führt, scheint sein Vorhandensein bzw.<br />

Fehlen auf den ersten Blick ebenfalls das Element des „Willens“ innerhalb<br />

der Willenserklärung zu berühren. Und doch werden die<br />

einschlägigen Sachverhalte zeigen, dass dies nicht der Fall ist.<br />

I. BEISPIELSFÄLLE<br />

Fall 2:<br />

E ist Eigentümer eines PKW und bittet seinen Bekannten B, diesen<br />

PKW in die Werkstatt zu bringen. Auf der Fahrt zur Werkstatt verursacht<br />

B einen Verkehrsunfall. Haftet B dem E auf Schadensersatz?<br />

Fall 3:<br />

Maler M vereinbart mit dem Galeristen G, dass M seine Bilder im April<br />

2010 in den Räumen des G ausstellen darf. M und G vereinbaren, dass<br />

beiden dadurch keine Kosten entstehen sollen. Im März 2010 erklärt G<br />

dem M, dass er seine Räume anderweitig benötige und nicht zur Verfügung<br />

stellen könne. Kann M von G verlangen, seine Bilder im April<br />

2010 in den Räumen des G ausstellen zu dürfen?<br />

Fall 4:<br />

Das Ehepaar M und F hat einen acht Jahre alten Sohn S; das im Nachbarhaus<br />

wohnende Ehepaar N und G hat eine gleichaltrige Tochter T.<br />

S und T spielen häufig zusammen, bald bei den Eltern des S, bald bei<br />

den Eltern der T. Als T bei den Eltern des S zu Besuch ist, rutscht sie auf<br />

einer Bananenschale aus, die wegzuräumen die ansonsten zuverlässige<br />

Haushalthilfe von M und F versehentlich versäumt hat. T verletzt sich.<br />

Können N und G von M und F Schadensersatz fordern?<br />

Fall 5:<br />

M und F lernen sich bei einem Skiurlaub kennen und beginnen eine<br />

Liebesaffäre. Die Frage des M, ob F die „Pille“ nehme, bejaht F bewusst<br />

wahrheitswidrig. F wird von M schwanger und bringt das Kind zur<br />

Welt. M verlangt von F, ihn von seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem<br />

Kind freizustellen.<br />

II. DER OBJEKTIVE ERKLÄRUNGSTATBESTAND ALS PROBLEM-<br />

SCHWERPUNKT<br />

In sämtlichen soeben dargestellten Fällen 2 ist die Abgrenzung zwischen<br />

einem (rechtsverbindlichen) Vertrag und einer (nicht rechtsverbindlichen)<br />

Gefälligkeit aufgerufen. Die Unterscheidung richtet<br />

sich danach, ob die Parteien den Willen hatten, sich rechtlich zu<br />

binden (also: Rechtsbindungswille) oder nicht. Ob dieser Wille tatsächlich<br />

vorhanden war, lässt sich – als „psychologische“ Tatsache<br />

– kaum verlässlich ermitteln. Die Rechtsprechung schließt daher das<br />

Vorhandensein oder Fehlen des Rechtsbindungswillens aus den Umständen,<br />

insbesondere aus der objektiven Interessenlage. Diese Vorgehensweise<br />

führte in den Fällen 2 und 3 zur Bejahung, in den Fällen<br />

4 und 5 zur Verneinung des Rechtsbindungswillens:<br />

Im Fall 2 bejahte das OLG Frankfurt den Rechtsbindungswillen mit<br />

der Begründung, dem B sei mit dem PKW ein erheblicher wirtschaftlicher<br />

Wert anvertraut worden 3 . Der Gedankengang ist der<br />

folgende: Weil der PKW einen solchen Wert verkörpert, ist für B erkennbar,<br />

dass E auf eine sorgfältige Behandlung des Wagens Wert<br />

legt und eine solche Behandlung auch gerne von B rechtsverbindlich<br />

zugesagt wissen möchte. Bereits hier ist erkennbar, dass es nicht um<br />

ein vorhandenes oder fehlendes Erklärungsbewusstsein des B geht.<br />

Anders als in Konstellationen der in Fall 1 beispielhaft beschriebenen<br />

Art weiß B ganz genau, was er tut. Er befindet sich nicht im Irrtum<br />

darüber, dass sein Verhalten als rechtsverbindliche Erklärung gedeutet<br />

werden könnte. Das Problem liegt vielmehr in Wahrheit im<br />

objektiven Erklärungstatbestand: Die Frage lautet nicht, ob E und B<br />

tatsächlich einen Rechtsbindungswillen hatten; das lässt sich, wie soeben<br />

dargelegt, ohnehin kaum je beweisen. Die Frage lautet vielmehr,<br />

ob die Vereinbarung zwischen E und B, wonach B das Auto für E in<br />

die Werkstatt bringen soll, objektiv als Ausdruck eines Parteiwillens<br />

gedeutet werden kann, dass E und B sich rechtlich binden wollten.<br />

Es geht also bei der Abgrenzung zwischen Auftrag und Gefälligkeit<br />

in Wahrheit um die Auslegung nach §§ 133, 157 BGB; es geht darum,<br />

ob das Verhalten der Beteiligten als eine auf Herbeiführung einer<br />

Rechtsfolge (nämlich einer vertraglichen Bindung) gerichtete Erklärung<br />

und damit als Willenserklärung eingeordnet werden kann. Im<br />

1 Schwab, <strong>Iurratio</strong> 2009, 86 ff. (Teil I), 142 ff. (Teil II).<br />

2 Weitere Rechtsprechungsbeispiele bei AnwK-Schwab, BGB, 1. Aufl. 2005, § 662 Rn. 12 ff.<br />

3 OLG Frankfurt NJW 1998, 1232.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011<br />

41


Sonder-<strong>Ausgabe</strong><br />

Sonder-Ausgab<br />

praktischen Ergebnis bedeutet die vom OLG Frankfurt gefundene<br />

(und in der Sache überzeugende) Lösung, dass B dem E aus § 280<br />

I BGB wegen Pflichtverletzung aus einem Auftragsverhältnis Schadensersatz<br />

schuldet, sofern B den Verkehrsunfall zu vertreten hatte.<br />

Die gleiche Gedankenoperation begegnet im Fall 3. Der BGH bejahte<br />

hier einen Rechtsbindungswillen 4 und zog abermals die Interessenlage<br />

heran: Wenn ein bildender Künstler mit dem Inhaber einer Galerie<br />

vereinbart, seine Werke dort in einem bestimmten Zeitraum ausstellen<br />

zu dürfen, will er ersichtlich sich selbst damit bekannt machen<br />

und potentielle Kaufinteressenten für seine Werke werben. Daraus<br />

folgt, dass die Vereinbarung zwischen M und G im Fall 3 jedenfalls<br />

nicht als unverbindliche, rechtlich belanglose Abrede abgetan werden<br />

kann. Mindestens muss man annehmen, dass G dem M die Leihe<br />

seiner Räume, also die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung zugesagt<br />

hat. Der BGH ging aber noch weiter und nahm einen „Ausstellungsvertrag<br />

eigener Art“ an. Damit war dem G insbesondere das<br />

Kündigungsrecht aus § 605 Nr. 1 BGB genommen. Wieder ist die bereits<br />

anhand von Fall 2 gezeigte Vorgehensweise deutlich geworden:<br />

Aus der objektiven Interessenlage hat der BGH geschlossen, dass M<br />

und G offenbar an der Begründung einer rechtlichen Bindung interessiert<br />

waren; er hat die Erklärungen von M und G folglich anhand<br />

objektiv nachprüfbarer Umstände als Willenserklärungen gedeutet.<br />

Abermals sind damit §§ 133, 157 BGB zur Anwendung gekommen.<br />

Mit „Erklärungsbewusstsein“ im oben unter I. beschriebenen Sinne<br />

hat das nichts zu tun: M und G wussten, welche Abrede sie getroffen<br />

hatten; es ging nur noch darum, ob sie aus dieser Abrede berechtigt<br />

und verpflichtet wurden. Das hat der BGH mit Recht bejaht. M kann<br />

daher im Ergebnis von G die Überlassung der Galerieräume verlangen.<br />

Fall 4 verkörpert einen alltäglichen und geradezu typischen Fall des<br />

fehlenden Rechtsbindungswillens; letzterer wurde daher vom BGH<br />

mit Recht verneint 5 : Es gehört zur ganz natürlichen sozialen Entwicklung<br />

eines Kindes, dass es mit Kindern aus der Nachbarschaft<br />

spielt, dass es sich zu diesem Zweck in fremden Wohnungen aufhält<br />

und dort von den Eltern des „Gastgeberkindes“ beaufsichtigt wird.<br />

Wenn die Eltern des „Gastgeberkindes“ – im Fall 4: M und F – in dieser<br />

Weise Aufsicht führen, leisten sie einen Beitrag zu jener sozialen<br />

Entwicklung sowohl des eigenen Kindes als auch fremder Kinder, die<br />

bei ihnen zu Gast sind, tun dies aber nicht mit dem Willen, sich vertraglich<br />

zu derartigen Betreuungsleistungen zu verpflichten. Das bedeutet<br />

zum einen, dass N und G von M und F keinen Schadensersatz<br />

aus § 280 I BGB wegen Pflichtverletzung aus einem Schuldverhältnis<br />

verlangen können. Denn an einem solchen fehlt es; es ist insbesondere<br />

auch nicht durch Vertrag zustande gekommen. M und F müssen<br />

sich insbesondere nicht das Fehlverhalten ihrer Haushalthilfe nach §<br />

278 BGB zurechnen lassen; denn es fehlt an einem Schuldverhältnis<br />

zwischen M und F einerseits und N und G andererseits. Zum anderen<br />

würden M und F für Schäden, die T Dritten zufügt, auch nicht<br />

aus § 832 II BGB haften; denn sie haben die Beaufsichtigung der T<br />

nicht „durch Vertrag“ übernommen. Die Ablehnung eines Rechtsbindungswillens<br />

ist abermals der objektiven Interessenlage geschuldet.<br />

Erneut haben wir es nicht mit einer Situation zu tun, in der sich<br />

die Parteien über die rechtliche Erheblichkeit ihres Verhaltens im<br />

Unklaren befunden hätten. Vielmehr ging es – wie auch schon in den<br />

Fällen 2 und 3 – um die logisch vorgelagerte Frage, ob das Verhalten<br />

der Parteien überhaupt rechtlich erheblich war, ob es sich mithin bei<br />

4 BGH NJW 1995, 3389.<br />

5 BGH NJW 1968, 1874 f.<br />

verständiger Auslegung um Erklärungen handelte, die auf die Herbeiführung<br />

von Rechtsfolgen gerichtet waren.<br />

Auch im Fall 5 hat der BGH es zutreffend abgelehnt, in die Überlegungen,<br />

die M und F vor dem Eintritt in die körperliche Intimität<br />

zum Thema Empfängnisverhütung angestellt hatten, einen Willen<br />

zur rechtlichen Bindung hineinzudeuten 6 : Zwar kann nicht geleugnet<br />

werden, dass M sich gegen mögliche zukünftige Unterhaltspflichten<br />

absichern wollte. Aber er konnte in der gegebenen Situation – wenn<br />

man so will: in the heat of the night – von F nicht ernstlich die Abgabe<br />

von Erklärungen erwarten, die geeignet gewesen wären, eine solche<br />

Sicherheit rechtsgewiss zu verbürgen. Diese Erwägungen bewegen<br />

sich ein weiteres Mal auf der Ebene des objektiven Erklärungstatbestandes:<br />

M und F haben genau gewusst, was sie verabredet hatten;<br />

die Frage lautete nur, ob diese Verabredung nach §§ 133, 157 BGB als<br />

Ausdruck des Willens gedeutet werden konnte, eine rechtliche Bindung<br />

herbeizuführen.<br />

C. ZUSAMMENFASSUNG:<br />

Die vorstehenden Überlegungen haben deutlich gemacht, dass die<br />

Begriffe „Erklärungsbewusstsein“ und „Rechtsbindungswille“ für<br />

zwei gänzlich unterschiedliche Problemlagen stehen:<br />

I.<br />

Beim Erklärungsbewusstsein legt jemand ein Verhalten an den Tag,<br />

das – legt man die Maßstäbe der §§ 133, 157 BGB an – objektiv ohne<br />

weiteres als Willenserklärung gedeutet werden kann. Das Tatbestandselement<br />

der „Erklärung“ liegt in den einschlägigen Fällen also<br />

unproblematisch vor. Die Schwierigkeiten liegen allein beim Tatbestandselement<br />

des „Willens“: Der Erklärende weiß nicht, dass sein<br />

Verhalten überhaupt als Ausdruck eines rechtlichen Bindungswillens<br />

gedeutet werden kann.<br />

II.<br />

Beim Rechtsbindungswillen stellt sich demgegenüber eine logisch<br />

vorgelagerte Frage, nämlich die, ob das Verhalten der Beteiligten<br />

überhaupt objektiv aus Ausdruck eines rechtlichen Bindungswillens<br />

gedeutet werden kann 7 . Entweder ist das zu bejahen – dann liegt das<br />

Tatbestandselement der „Erklärung“ vor, und die Feststellung des<br />

„Willens“ bereitet keine Schwierigkeiten, weil die Beteiligten den Inhalt<br />

ihrer Absprache kennen und sich daher auch über deren rechtliche<br />

Bedeutung im Klaren sind. Oder es ist zu verneinen – dann<br />

fehlt es schon am Tatbestandselement der „Erklärung“, weil die Absprache<br />

objektiv eine Gestalt angenommen hat, welche die Annahme<br />

rechtfertigt, dass die Beteiligten sich auf rechtlich nicht erheblichem<br />

Terrain bewegen wollten.<br />

Verkürzt mag man es so formulieren: „Fehlender Rechtsbindungswille“<br />

meint Fälle, in denen eine Erklärung schon objektiv nicht als<br />

rechtserheblich gedeutet werden kann; „fehlendes Erklärungsbewusstsein“<br />

meint Fälle, in denen die Erklärung objektiv rechtserheblich<br />

ist und der Erklärende dies aber nicht gewusst hat. Konsequent<br />

führt das Fehlen eines Erklärungsbewusstseins nicht zwingend zur<br />

Annahme eines reinen Gefälligkeitsverhältnisses 8 ; wäre es anders,<br />

so wäre die gesamte Diskussion um die Frage, ob das Erklärungsbewusstsein<br />

zwingendes subjektives Tatbestandsmerkmal der Willenserklärung<br />

ist, bereits im Ansatz nicht verständlich.<br />

6 BGHZ 97, 372, 377 ff.<br />

7 So mit Recht auch Bork, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. 2006, Rn. 595.<br />

8 Ebenso Bork (Fn. 8), Rn. 595.<br />

42<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

<strong>Erstsemester</strong>-<strong>Ausgabe</strong> 2011


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25,- Euro und als juristische Person 200,- Euro. Studierende zahlen bei Vorlage<br />

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nur 12,- Euro per annum. Sowohl Satzung als auch Beitragsordnung können in<br />

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Satzung und Beitragsordnung habe ich zur Kenntnis genommen.<br />

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Geburtsdatum:<br />

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